Erleuchtungsfest in Tommelsbeuge

Erleuchtungsfest in der Baronie Tommelsbeuge

Burg Fischwacht, Baronie Tommelsbeuge, Boron/Phex 1046 BF

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Alassia Marnion schlug ihr Tagebuch zu, in dem sie gerade einen längeren Eintrag niedergeschrieben hatte. Der Nebelmond neigte sich dem Ende zu und im kommenden Monat, der Herrin Hesinde gewidmet, standen zwei Feiertage an. Am siebten Tag das Fest von Rohals Verhüllung, den sie getrost im kleinen Rahmen begehen konnte. Am 30. jedoch wurde in der Hesindekirche das Erleuchtungsfest begangen, der höchste Feiertag ihrer Kirche.

Den Posten als Hofkaplanin am Hofe des Barons von Tommelsbeuge hatte sie noch keinen halben Götterlauf inne. Der Hesindeschrein befand sich im Burggarten. Der Baron hatte den Hochzeitspavillon, in welchem er und seine Gemahlin im Frühjahr den Traviabund eingegangen waren, umbauen lassen. Alassia hatte ihn nach ihrer Ankunft als Gebetsstätte eingerichtet: Die Wände hatte sie mit grünem Tuch verhüllt, einen länglichen schmalen Tisch geschmückt und als Altar geweiht. Einige Bänke luden den Gläubigen zum Verweilen ein. Ein Kohlebecken spendete bei den Andachten Wärme und etliche Kerzenlaternen tauchten den Raum in ein warmes Licht. Alassia war noch auf der Suche nach einer kleinen Statue, die den Schrein zieren sollte, aber noch dachte sie über deren Gestaltung nach und wartete auf einen passenden Handwerker, der sie fertigen sollte. Auch wenn der Schrein in ihren Augen noch nicht vollständig wirkte, betete sie hier regelmäßig und hielt Götterdienste ab. Sie hatte die Gewissheit, dass die Göttin sie ein passendes Artefakt finden lassen würde, wenn es an der Zeit wäre…

Ihre Position am Hofe Seiner Hochgeboren Geribold von Fischwachttal und seiner Gemahlin füllte sie mit Freude und Weisheit aus. Ihr Rat und ihre Gesellschaft wurden geschätzt. Den Bewohnern der Burg und des unterhalb gelegenen Dorfes Tommelsbrück half sie Briefe und Schriftstücke zu lesen und zu verstehen. Einigen Willigen, Kindern und Erwachsenen, brachte sie lesen und schreiben bei. Ihre Götterdienste, die sie regelmäßig auch in Tommelsbrück abhielt, wurden inzwischen stärker frequentiert. Jetzt, nachdem sie das Gefühl hatte, sich auf Burg Fischwacht etabliert zu haben, wollte sie mit dem Begehen des Erleuchtungsfests einen weiteren Schritt gehen, um den Menschen im Gratenfelser Land den Glauben an die weise Herrin näher zu bringen.

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Sie erhob sich von ihrem Schreibtisch und begab sich zu den Gemächern Tsajas, der Baronsgemahlin von Tommelsbeuge. Ihr Klopfen wurde mit einem Herein erwidert, und sie trat ein. „Euer Gnaden, bitte nehmt Platz“, forderte die junge Frau sie auf. Genau wie Alassia selbst, weilte sie noch nicht lange in Tommelsbeuge. Ihre Vermählung mit Geribold hatte ja erst im vergangenen Peraine stattgefunden. „Danke, Euer Hochgeboren!“ Tsaja nähte an einem warmen Hemdchen, das für ein Mädchen einer sehr kinderreichen Familie im Dorf gedacht war. Die Zofe Adelke trat mit einem Teetablett und zwei Tassen zu ihnen und schenkte Kräutertee ein. „Danke!“ Alassia nahm die Tasse und genoss den würzigen Kräuterduft. „Leider regnet es heute. Ich hätte zu gerne ein wenig Pelura mit Euch gespielt, wenn Eure Pflichten es zugelassen hätten“, bedauerte Tsaja. „Gerne, wenn Efferds Segen nicht fällt und der Boden einigermaßen trocken ist. Am Ende des nächsten Monats steht ein wichtiger Feiertag an.“ „Ja, das Erleuchtungsfest. Leider wird es hier nicht so eifrig begangen.“ „Nun, natürlich möchte ich diesem Termin die nötige Aufmerksamkeit zukommen lassen, sofern Euer werter Herr Gemahl und Ihr selbst dies gutheißt.“ „Eine hervorragende Idee! Was schwebt Euch vor?“ „Licht spielt eine zentrale Rolle. Das Dorf würde ich gerne einbeziehen, wenn es recht ist.“ „Dann lasst uns überlegen, was wir machen können und dann fragen wir meinen Gatten beim Mittagsmahl, was er davon hält.“

„Womit wollt Ihr die Prozession anführen? Wir haben weder eine Reliquie noch eine Statuette, die man verwenden könnte“, gab Tsaja zu bedenken. „Nun, ich dachte vielleicht an ein Buch oder an ein Licht.“ Alassia runzelte die Stirn, und überlegte, wo man in der kurzen Zeit noch einen kultischen Gegenstand herbekommen könnte. „Nun, was haltet Ihr von einem Banner?“ „Ein Banner? Wo soll das denn so schnell zu bekommen sein? Es ist Winter und das Reisen ist beschwerlich.“ Tsaja lächelte: „Nun, wir werden es selbst nähen.“ „Nähen?“ „Ja, nähen und besticken. Wenn Ihr mir einen Entwurf fertigt, dann werden Adelke und ich das Banner besticken. Es darf nicht zu groß sein, sonst wird es nicht rechtzeitig fertig. Etwa einen Halbschritt hoch und etwas schmaler. Das Gestänge kann uns sicher jemand im Dorf fertigen oder vielleicht haben wir auch etwas da, was passt“, überlegte Tsaja. Adelke war an eine Truhe getreten und holte einige grüne Stoffe hervor, die sie den beiden Frauen präsentierte. „Danke Dir, Adelke!“ Tsaja wählte einen robusten dunkelgrünen Wollstoff, der auch Feuchtigkeit aushalten würde. „Zum Besticken würde ich gelbe oder goldene Fäden verwenden. Der Entwurf darf nicht zu viele kleine Details enthalten, sonst ist das Motiv aus der Ferne nicht zu erkennen.“

An der Mittagstafel lauschte Geribold interessiert den Plänen seiner Kaplanin, die gemeinsam mit Tsaja den möglichen Ablauf des Festes skizzierte. Gerne stellte er einen Ochsen für das Fest zur Verfügung und spendierte obendrein noch ein Fass „Waldecker Helles“. Tsaja schlug vor, die anwesenden Kinder mit einem Geschenk zu überraschen, um das Fest auch für sie zu einem besonderen Erlebnis zu machen. Die Nachbarn aus Bösalbentrutz sowie einige der Vasallen wollte man zu Gast laden.

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Am Nachmittag begaben sich Alassia und Tsaja hinunter nach Tommelsbrück, um mit dem Bürgermeister Wido Flemmler über das geplante Fest zu sprechen.

„Euer Hochgeboren! Euer Gnaden! Welche Ehre! Bitte tretet ein!“ Wido führte seinen hohen Besuch in die gute Stube. Eine Magd brachte Getränke und bediente die beiden Frauen. „Was führt Euch zu mir? Was kann ich für Euch tun?“ Tsaja legte ihm die Pläne für das Fest dar. „Nun, was meint Ihr, Meister Flemmler? Werden sich die Leute über das Fest freuen und mit gebührendem Eifer an der Prozession teilnehmen?“ „Das will ich meinen! Ein ganzer Ochse und ein Fass Freibier! Seine Hochgeboren und Ihr, Euer Hochgeboren, seid wahrlich großzügig!“ Wido verneigte sich eilfertig. Alassia musste lächeln: „Ich hoffe, dass man sich nicht nur über Speis‘ und Trank freut, sondern auch den religiösen Anlass im Auge behält!“ „Selbstverständlich, Euer Gnaden!“ Dieses Mal verbeugte sich der Mann vor der Hesinde-Geweihten. „Ich werde mich mit den Ältesten beraten, was Tommelsbrück zu dem Fest beisteuern kann und Euch berichten!“. Alassia und Tsaja leerten ihre Becher und verabschiedeten sich.

Die Tage vergingen wie im Fluge. Tsaja und Adelke arbeiteten an dem Banner und Alassia brütete über ihrer Predigt. Die Gäste wurden geladen und für ihre Ankunft wurden entsprechende Vorbereitungen getroffen. In der Burgküche wurde eifrig gekocht und gebacken. Zwischen Alassia, Tsaja und Wido Flemmler gab es mehrere „Konferenzen“ über den Ablauf des Festes. Sowohl auf der Burg als auch im Dorf übte Alassia mit den Leuten die Choräle und Lieder, die sie für den Anlass gewählt hatte und es waren etliche Gesangsstunden nötig, bis die Geweihte mit dem Resultat einverstanden war!

Es war kalt geworden und es hatte auch schon geschneit. Frost lag auf allen Pflanzen und ließ auch die Burgmauern weiß glitzern. Tsaja und Adelke stellten das Banner fertig und Alassia ihre Predigt, aber es hatte seine Zeit gedauert, bis sie wirklich damit zufrieden war.

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Schließlich war der Tag des Erleuchtungsfestes da! Die Burgmauern waren mit Fackeln und Feuerkörben geschmückt, damit man die erleuchtete Burg weithin würde sehen können. Tsaja selbst hatte in Tommelsbrück überprüft, dass alles an seinem Platz war. Der Ochse wurde zeitig auf den Grill gepackt, die Geschenke für die Kinder waren bereitet. Auch das Fass Bier stand bereit. Auf dem Dorfanger war das Lagerfeuer aufgeschichtet und wartete nur noch darauf, von der Geweihten entzündet zu werden. Der Weg zur Burg war mit Fackeln bestückt, die der Prozession die Richtung weisen sollten. Zur Mittagsstunde trafen die Gäste ein und wurden von Geribold und Tsaja mit einem wohlschmeckenden Mahl bewirtet. Aus Landgräflich Bösalbentrutz waren Irminella und Balther von Eberbach mit ihrem Sohn Rondrik erschienen. Vom Edlengut Bösalbentrutz war Roana von Fischwachttal, Geribolds Nichte, angereist. In Vertretung seiner Mutter Madalin, erschien Praiophan von Lerchentrutz vom Junkergut Tommelsfurt zum Fest und vom Rittergut Brinborn kam Praiolore von Eychstädt mit ihrer Tochter Isaena.

Alassia betete und meditierte in dem Schrein im Garten. Tsaja ließ ihr zu Mittag heiße Rinderbrühe und etwas Brot bringen, damit sie sich wärmen und stärken konnte.

Zur Hesindestunde versammelten sich das Baronspaar, seine Gäste, der Hofstaat, der Bürgermeister, die bedeuteten Bürger und die jungen Leute aus Tommelsbrück im Garten vor dem Schrein. Alle Lichter und Feuer waren bereits entzündet worden. Alassia trat vor die Gläubigen und segnete sie mit erhobenen Händen: „Das Licht Hesindes erleuchte Deinen Geist“!

Dann nahm sie das Banner aus der Hand Adelkes, stimmte den Kanon „Herrin Hesinde, sende uns Dein Licht und Deine Weisheit“ an und schritt vor den Gläubigen, die in den Gesang einstimmten, Richtung Burghof und dann weiter zum Burgtor hinaus, den Pfad hinab gen Tommelsbrück. Ein leichter Schneefall setzte ein und die zarten Flocken schimmerten im Fackelschein wie Diamanten.

Der Weg zum Marktflecken war nicht weit und bald kam das ebenfalls festlich beleuchtet Tommelsbrück in Sicht. Singend zog die Prozession in den Ort ein, wo sich die Bewohner anschlossen, die nicht zur Burg gekommen waren. Gemeinsam zog man weiter zum Dorfanger, wo Alassia die Standarte an den Bürgermeister Wido Flemmer überreichte, der sie ehrerbietig in Empfang nahm und sich zu Alassia stellte, die vor dem Holzhaufen Aufstellung nahm. Sie hob an:

Heute wollen wir den höchsten Feiertag der Mutter der Weisheit zusammen begehen. Das Fest der Erleuchtung - doch was feiern wir hier denn überhaupt?

Das Lichterfest bildet das Ende des Hesinde-Zyklus‘. Etwas geht zu Ende, aber es beginnt auch etwas Neues! Ein weiteres Hesindejahr beginnt! Lasst uns das feiern! Veränderung und Wandel sind unabdingbare Bestandteile des Lebens und zwei Aspekte der Allwissenden! Auf den Herbst folgt der Winter, das Alte stirbt. Auf den Winter folgt der Frühling, die Natur erwacht neu und die Früchte reifen über den Sommer bis zum Herbst. Der Kreislauf setzt sich fort. So wollen es die Götter!

In dieser dunklen Jahreszeit brauchen wir Licht, Licht von Kerzen, von Öllampen, von Lager- und Herdfeuern! Sonst bleibt es dunkel und kalt. Doch nicht nur derisches Licht brauchen wir! Das Licht der Erkenntnis, von Hesinde gesandt, soll unseren Geist erhellen! Ohne dieses Licht bleiben wir im Dunkel, sind nur leere Hüllen, tumb und dumm, ohne Wärme und Gefühl. Heute wollen wir das Licht Hesindes, welches für Weisheit, Erkenntnis, Klugheit und Gelehrsamkeit steht, feiern! Und wir bitten:

Herrin Hesinde, sende uns Dein Licht und Deine Weisheit, dass sie uns leiten, zu Deinem heiligen Hain!

Allweise Herrin, segne uns! Naclador, Beschützer der Wahrheit, stehe uns bei! Heilige Canyzeth, erleuchte uns!

Und mögen alle Zwölfe unseren teuren Herren Baron und seine junge Gemahlin stets segnen und behüten!

Ita sit! (So sei es!)

Noch einmal erhob sie die Hände und segnete die Versammelten, da nun auch alle Dörfler anwesend waren: „Das Licht Hesindes erleuchte Deinen Geist“!

Nach ihrem erneuten Segen stimmte die Geweihte den Kanon „Herrin Hesinde, sende uns Dein Licht und Deine Weisheit, dass sie uns leiten, zu Deinem heiligen Hain!“ an. Die Gemeinde setzt nach und nach ein. Der Gesang tönt wohlklingend durch die Nacht, das häufige Üben hat sich gelohnt!

Während die Gläubigen den Kanon sangen, dirigiert von Wido Flemmler, umrundete Alassia den Holzstoß und entzündete ihn an mehreren Stellen mit ihrer Fackel. Das Feuer brannte trotz des Schneefalls mit hellen, aufschlagenden Flammen.

Mit den Worten: „Nun gehet hin und feiert Hesindes Licht“ schloss sie den Götterdienst ab.

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Meister Flemmler bat Geribold, ein paar Worte zu sprechen, bevor man ihm Zapfhahn und Hammer reichte, um das Bierfass anzustechen.

„Bewohner von Tommelsbeuge, ich weiß, dass sich viele von Euch gefragt haben, warum das Amt meines Hofkaplans mit einer Dienerin der Allweisen Mutter besetzt wurde und nicht, wie in Gratenfels eher üblich, mit einem Geweihten des Herrn Praios oder einer Geweihten der Herrin Rondra. Denn Klugheit und Weisheit sollen mich stets vor allen anderen Tugenden bei der Führung Tommelsbeuges leiten, so wie sie jeden Dere-Bürger bei seinen Handlungen leiten sollten. Ich danke Ihrer Gnaden Marnion für ihre Unterstützung und ihre Arbeit hier in meiner Baronie! Ich danke allen Zwölfen für das Prosperieren Tommelsbeuges und dafür, mir eine Frau wie meine teure Gemahlin an die Seite gestellt zu haben. Jetzt lasst uns feiern und gemeinsam auf das, was uns gelungen ist, anstoßen!“ Mit diesen Worten schlug der Baron den Zapfhahn in das Bierfass und begann den ersten Krug zu füllen. Dann löste Wido Flemmler ihn ab.

Die Tommelsbrücker ließen die Herrin Hesinde und das Tommelsbeuger Baronspaar hochleben und tranken ausgiebig auf deren Wohl.

Tsaja und ihre Zofe Adelke verteilten Gaben an die Anwesenden Kinder. Ein jedes erhielt einen Apfel und eine Schlange aus einem süßen Teig mit Augen aus Rosinen. Bier wurde ausgeschenkt und der gegrillte Ochse zerlegt und verteilt, dazu wurde frisches Brot und Soße gereicht.

Für die vornehmen Damen waren Sessel mit Decken und Fellen gebracht worden. Die Küchenmeisterin Ariana Simis kredenzte den edlen Damen Glühwein und Punsch, während die meisten Herren einen Krug Bier bevorzugten.

Der Schnee fiel weiterhin, ohne Hesindes Lichter zu löschen und bedeckte die Wiesen und Wälder, den Marktflecken und die Burg mit einer weißen, glänzenden Pracht.

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Einige Tage später:

In Anwesenheit des Baronspaares und seines Hofes erhielt das Hesinde-Banner der Prozession einen Platz an der Wand hinter dem Altar. Zufrieden blickte Alassia auf das Artefakt, welches nun den Schrein vervollständigte. Hesinde hat wohlgetan!

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Autorin: Windwanderer SGS mit Dank an Bösalbentrutz