Bis zur Weggabelung

Ort: Grafschaft Isenhag, auf der Kaiserlichen Pfalz Angroschsgau

Zeit: RON 1046 B.F.

Inhalt: Ivetta von Leihenhof zum Storchengarten lässt die Ereignisse des Hoftages nachklingen und sorgt sich um die Zukunft und auch um ihre Aufgabe. Sie versucht, die nächsten Schritte zu sehen oder zu planen, doch kann sie nur bis zur nächsten Weggabelung sehen.

Eine Briefspielgeschichte von Galebquell

Bis zur nächsten Weggabelung

Nachdenklich verließ die Priesterin der Peraine das Amtszimmer der Kaiserin. Kaiserin Rohaja hatte sie nach dem mehr als nur bombastischen Ende des Hoftages noch zu einer persönlichen Privataudienz empfangen. Nicht einmal die Zeremonienmeisterin und persönliche Hofdame Ihrer Majestät, Elfgyva von Hardenfels, Gräfin zu Albenhus, war anwesend gewesen. Ein vertrauliches Gespräch war es gewesen, welches Ivetta mit Kaiserin Rohaja von Gareth, der ersten ihres Namens, hatte führen können. Dieses Vertrauen, welches die Kaiserin ihr, einer Geweihten der Peraine, entgegenbrachte, war etwas Besonderes. Sie hatten noch keine Lösung für das Anliegen gefunden, aber Ivetta hatte ihr Unterstützung und Hilfe sowie – viel gewichtiger – Vertrauen und Diskretion versichern können. Und die Kaiserin hatte dankend angenommen.

Jetzt schritt die grüne Dame allein und in Gedanken verloren durch die engen, wuchtigen Flure der archaischen Kaiserpfalz. Allein, weil ihr grüner Schatten seit Jahren nun nicht mehr an ihrer Seite weilte. Weilen musste. Ivetta hatte Peraines Ruf erhört und die Göttin selbst ihn zum Priester geweiht – nun unterstand Brin Mühlhauer nicht mehr ihrer Vormundschaft, sondern war Geweihter aus eigenem Recht. Mit eigener Verantwortung. Er war zu Brin von Angroschsgau geworden. Ivetta lächelte bei dem Gedanken an ihren Novizen und Ziehsohn, der er viele Jahre gewesen war. Aus dem unscheinbaren, schüchternen kleinen Bauernsohn war ein großer, gutaussehender, ernster und pflichtbewusster junger Mann geworden. Und nun ein geweihter Priester, der den Wunsch geäußert hatte, reisen zu dürfen.

Ivetta ging nicht allein, denn aus dem Schatten einer Ecke des Flurs löste sich eine hochgewachsene, kräftige Gestalt, ein junger Mann mit dunklem Haar und südländischem Erscheinungsbild in einem schwarzen Lederharnisch mit einem eingeprägten, roten Panther auf der Brust, und am Gürtel eine beeindruckende Streitaxt. Schweigend folgte er Ivetta mit schwerem Schritt. Ihr schwarzer Schatten, seit wenigen Monden – aber in dieser kurzen Zeit zu einem Vertrauten und Beschützer geworden. Ruhig schritt er hinter ihr her und unterbrach ihre Gedankengänge nicht. Viel war geschehen dieser Tage, vieles, was sie nicht erwartet hätte. Der Verrat der oder zumindest einiger, einflussreicher Zwerge, des Pfalzgrafen der Angroschsgau gar. Ein kaiserliches Gericht würde sich der Angelegenheit annehmen, der Reichskronanwalt – oder zumindest sein Vertreter, war doch der Graf selbst indisponiert – die Anklage erheben. Und Seine Hoheit, Herzog Hagrobald Guntwin vom Großen Fluss, hatte bereits angedeutet, dass sie, Ivetta von Leihenhof, Hüterin der Saat des Hauses der Segensreichen Mutter und Äbtissin des Therbûnitenklosters Storchengarten, eine der Beisitzerinnen sein könnte. Oh, es wartete viel Arbeit auf sie. Während die Ritter und Edlen und Barone feierten, ging sie, schweigend, nachdenklich durch die Flure schreitend, die anstehenden Ereignisse im Geiste durch. Ihre Haut war warm, vibrierte beinahe von innen nach außen. Sie hatte ihre Göttin in diesen Tagen oft genug angerufen und war erhört worden. Obzwar Ivetta nicht immer auf dem einfachen Weg ihrer Göttin, ihres Glaubens wandelte und mit Sicherheit viele Entscheidungen treffen musste, die weit außerhalb der Vorstellung vieler anderer Geweihter der Peraine lagen, war sie sich selbst im Scheitern der Anwesenheit und der Liebe ihrer Göttin bewusst. Doch was hatte die Göttin noch mit ihr vor? Ivetta wusste sich auf dem richtigen Weg, doch sah sie nicht weiter als bis zur nächsten Gabelung.

Unvermittelt nahm sie wahr, wohin sie ihre Schritte und ihr Nachdenken geführt hatten. Wieder stand sie im Garten der alten Pfalz, ein kleines, mit einer niedrigen Mauer abgegrenztes Fleckchen am Rand der Burgmauer. Die Angroschim hatten wenig Verwendung für einen Kräutergarten, wuchsen ihre Pilze und Flechten doch unterirdisch. Doch die wenigen menschlichen Bewohner der Pfalz benötigten Gewürze und Heilkräuter, die hier angebaut wurden. Und nun auch Knoblauch; zahlreiche Triebe reckten bereits ihre Köpfe aus dem fruchtbaren Boden im Garten der Burg, ein kleines unerwartetes Geschenk ihrer Göttin. In einer Ecke des Gartens stand der kleine improvisierte Schrein, grün gedeckt, mit Erntegaben und Pflanzenbündeln versehen. Noch stand der Mörser darauf, in dem Brin mit geweihtem Öl und gesammelten Knoblauchzehen eine Paste für seinen ersten Heilungssegen hergestellt hatte. Es roch immer noch intensiv nach dieser Paste, ein Hauch von Frische aus dem Lein- und Olivenöl und der durchdringende Geruch des Knoblauchs. Über ihr stand der Mond, eine klare, helle Sichel, am klaren Sternenhimmel in dieser Rondra-Nacht. Sie trat an den Altar und legte die Hand darauf. Es war als vibriere der Holztisch mit der grünen Decke und den Opfergaben unter ihrer Hand wie ein Bienenstock, summend, tief, deutlich spürbar. Sie hatte ihn nicht speziell geweiht, doch die Göttin selbst hatte hier gewirkt und für einen kurzen Moment der Ewigkeit einen Rückzugsort geschaffen. Ivetta schloss die Augen, sog die kalte Nachtluft, den Duft nach Kräutern und nach Knoblauch in sich ein. Sie wusste den Kor-Geweihten nahe bei sich, im Schatten im Garten stehend, aber sie nahm ihn nicht störend wahr. „Oh Göttin, Peraine.“ hauchte sie in die Nacht. „Was wird die nahe Zukunft bringen?“ Kaum waren die äußeren Feinde besiegt, krochen die inneren Feinde aus ihren Löchern. Der Verrat der Zwerge und der geplante Giftanschlag auf die Kaiserin konnten nicht ignoriert werden. Der Zorn einer Drachin über den Raub ihres Kindes ebenfalls nicht. Ein Hermelin lauerte ebenfalls in den tiefen Schatten. Und dann waren da auch noch jene Feinde, die sich nicht so leicht zeigten. Unbewusst warf sie einen Blick über ihre Schultern, suchend, witternd, als lauere das Ungesehene Grauen in der Dunkelheit. Als sie Korim erblickte, atmete sie ruhig durch. Sie dachte an Rahjan, der irgendwo in der Burg tanzte oder feierte. Sie dachte an Brin, der sich seiner Aufgabe als Priester stellte und schon in jungen Jahren tiefere, erschreckendere Erkenntnisse hatte gewinnen müssen als viele andere Geweihte. Sie dachte an Hartuwal, ihren Namenswahrer. Und sie dachte an Lucrann, ihren Freund und Vertrauten in Schatten und Tod. Sie war nicht mehr allein.

Sie hatte mit der Kaiserin auch über die Feinde gesprochen – und nun wusste die Herrscherin und Kriegerin Rohaja, dass Ivetta ihr beistehen würde. Wie auch ihrer Schwester. Ob sie es auch konnte – das mochten die Götter entscheiden. Ivetta sog erneut scharf die Luft durch die Nase ein und legte den Kopf in den Nacken, schloss für einen Moment die Augen. Dann öffnete sie sie wieder und schaute in den Himmel, betrachtete die Sternbilder. Jene Sternbilder, die sich seit einigen Jahren stark veränderten. Das Schwert hatte seine Spitze verloren – so wie die Rondra-Kirche ihre Schärfe. Der Rabe hatte eine seiner Schwanzfedern verloren, die Schlange bildete nun einen Kreis. Was bedeutete dies alles? Sie war keine Astrologin, dazu musste sie Ronan fragen. Welche Aufgabe hatte sie in all diesen Ereignissen? Sie war eine Heilerin, sie diente dem Leben und der Göttin des Lebens. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ivetta schüttelte sich und wandte den Blick vom Himmel ab. Sie sah ohnehin nur bis zur Weggabelung, nicht darüber hinaus. Und es standen erste Aufgaben an, die sie als Geweihte fordern würden: Eine Seelenprüfung. Die Prüfung dieses zwergischen Pilzes mit Hilfe des Digitabulums, des Heiligen Handschuhs Peraines. Ein Besuch mit der Horaskaiserlichen Gesandten in der Herzogenveste auf der Suche nach ihrer neu entdeckten Base.

Ivetta straffte die Schultern, ließ sie zweimal kreisen und genoss das kurze Knochenknacken. Doch zuvor: Lächelnd drehte sie sich zu Korim um, der stoisch hinter ihr stand. „Bleibst du hier und wartest auf meine Rückkehr?“ Der Korgeweihte sah seinen Schützling an. „Ich möchte noch ... ein wenig den Wind unter den Schwingen fühlen.“ Sie trat hinter den Altar und entkleidete sich. Dann hockte sie sich hin, murmelte „Merulae sim.“ und spürte wie kribbelnd und knisternd die ihr innewohnende magische Kraft über und durch ihren Körper lief und ihn sanft schrumpfte und in eine neue Form brachte. Dann schlug sie mit ihren olivbraunen Flügeln und flatterte los, glitt aus dem Garten heraus, flog um die Burg herum und genoss den Wind unter ihren Flügeln.

Auch wenn sie nur bis zur nächsten Weggabelung sehen konnte – diesen Weg ging sie nicht mehr allein.