Ein neuer Hofkaplan für Schnakensee


Überblick

Inhalt

Um das vakante Amt des Hofkaplans neu zu vergeben, hat die Baronin von Schnakensee ein Gesuch an die Tempel in Gratenfels gerichtet.

Auf dieses hin hatten sich fünf Personen gemeldet, die sich um das Amt bewarben.

Die mit diesen Personen geführten Gespräche fanden am 12. INGerimm des Jahres 1045 im Hotel Koschblick in Gratenfels statt.

Teilnehmer

Akt 1 - Die Dame:

Akt 2 - Die Synkretistin:

Akt 3 - Die Mutter:

Akt 4 - Der Junge:

Akt 5 - Die Löwin:

Das Schauspiel

Akt 1 - Die Dame

Die Baronin hatte zu der Vorstellung in das renommierte Hotel Koschblick geladen. Alassia war bereits zwei Tage zuvor in Gratenfels eingetroffen. Abgestiegen war sie in einer einfachen, aber sauberen Herberge, die vom Stadtkern ein ganzes Stück entfernt war. Rechtzeitig hatte sie sich angekleidet. Das Anlegen ihres Ornats führte sie immer in einer Art Ritual durch, geprägt von Respekt für die Herrin und für ihr Amt als Geweihte und mit einem Gebet verbunden. Rechtzeitig machte sie sich auf den Weg, aber erst kurz vor der vereinbarten Stunde betrat sie den Koschblick und ließ sich zu der Baronin führen.

In einem kleinen Versammlungsraum wurden Tische und Stühle an die Wand geschoben und lediglich ein mit Schnitzereien verzierter Holztisch in der Mitte des Raumes belassen. Hinter diesem stand vor einem schlichten Stuhl eine junge, großgewachsene Frau mit dunkelblonden Haaren, welche sie zu einem Zopf geflochten als Kranz um ihr Haupt trug. Sie war in ein eng anliegendes, dunkelgrünes Kleid gewandet, dessen weite Ärmel nur bis zu den Ellenbogen reichten. Eine gute Wahl bei diesen Temperaturen! Auf dem hochwertig wirkenden Stoff sind an den Bünden sowie dem knappen Kragen und dem Ausschnitt dunkelblaue Stickereien angebracht gewesen. Der weite Halsausschnitt betonte zudem ihre breiten Schultern. Als sich die Tür öffnete, wandte sie sich um und blickte in Richtung des Eingangs. Das ovale Gesicht lief in einem spitzen Kinn aus und wurde von einer langen Nase dominiert. Der Blick aus ihren blauen Augen wirkte distanziert, beinahe schon gelangweilt.

Zur Rechten der Gastgeberin stand eine zierliche, schlanke Frau. Sie war bestimmt gut einen halben Spann kleiner als die Baronin von Schnackensee. Ihr langes blondes Haar war kunstvoll aufgesteckt. Ihr Umhang trug ein Wappen, welches einen goldenen, auf grünem Hintergrund schreitenden Kranich darstellte. Der Wappenvogel hielt in der rechten Klaue eine silberne Kugel. Gekleidet war sie in ein edles schwarzes Kleid. Sie saß aufrecht und schaut euch mit ihren blauen Augen aufmerksam entgegen. Auf ihren Lippen lag ein leichtes Lächeln.

Links neben der Baronin von Schnakensee stand ein älterer, leicht gebückt stehender, hagerer Mann, dessen Haupt nur noch ein grauer Haarkranz zierte. Er trug ein helles Leinenhemd und darüber eine dunkelbraune Stoffweste mit auffälligen Knebel-Knöpfen aus Horn. Über der Weste hing eine schmale, aber weite Kette aus einem gold glänzenden Metall, in deren Mitte ein handtellergroßer Anhänger mit einem Symbol prangt, das entfernt an einen Vogel erinnerte.

Vor den Fenstern auf der linken Seite des Raumes, an einem der dort beiseite geschobenen Tische, wurden zwei Karaffen und einige Gläser aufgestellt. Eine ältere Dame mit einem engen, hochgeschlossenen dunkelblauen Kleid und streng hochgesteckten, bereits ergrauenden Haaren, rückte gerade noch die letzten Gläser auf dem Tisch zurecht, als sie sich ebenfalls zu euch umwandte und euch mit strengem Blick kurz musterte. Sie legte die Unterarme aufeinander und stand kerzengerade, was sie noch ernster wirken ließ.

Alassia betrat den Raum, ihre Haltung war aufrecht und ihr Schritt kraftvoll. In einem Abstand von gut zwei Schritt zum Tisch blieb sie stehen. Zur Begrüßung neigte sie kurz das Haupt. “Euer Hochgeboren, es ist mir eine Ehre! Die Zwölfe zum Gruße!” Ihr Blick schloss alle Anwesenden in die Begrüßung ein. Dann fiel ihr Blick wieder auf die Dame in der Mitte, in der sie die Baronin von Schnakensee vermutete. Als sie den leicht gelangweilten Blick der Dame sah, wurde ihre eigene Miene für einen ganz kurzen Moment spöttisch. “Mein Name lautet Alassia Marnion und ich bewerbe mich um die Stelle der Kaplanin an Eurem Hofe, Euer Hochgeboren.”

Vor den Betrachtern stand eine athletische, selbstbewusste Frau von 1,74 m in dem grün-goldenen Ornat der Hesindegeweihten. Die Robe glänzte und schien noch nicht alt zu sein. Um den Hals wand sich eine grüne Schlange aus Zinn. Das dunkle Haar unter dem Kopftuch war zu einem langen Zopf geflochten, der bis zum Steiß reichte. Ihr Gesicht war sonnengebräunt, um die grünen Augen und den Mund bildeten sich erste, feine Linien. Mit ihren vierzig Götterläufen war Alassia noch eine hübsche Frau, die eine Mischung aus Lebhaftigkeit, aber auch der Würde ihres Amtes ausstrahlte.

Als die Geweihte vor der großen, schlanken Baronin stand, hellte sich deren Miene etwas auf und auf ihrem Gesicht erschien ein unbeholfen wirkendes Lächeln. “Achja, ich erinnere mich an euer Schreiben!” Mit einem knappen Blick nach rechts nickte sie der neben ihr stehenden Frau zu. Die Stimme der Baronin von Schnakensee war etwas dunkler, als man es von einer Dame für gewöhnlich erwartete, hat jedoch einen sehr angenehmen, beinahe schon beruhigenden, monotonen Klang. “Es freut mich, dass ihr hier seid, Euer Gnaden.” Adula von Schnakensee neigte ihren Kopf leicht zur Seite und schien die vor ihr stehende Geweihte intensiv zu mustern. Nach einigen Sekunden straffte sie sich wieder und wies mit ihrer rechten Hand auf die Dame zu ihrer Rechten: “Dies hier ist ihre Hochgeboren Baronin Iriane Madalin von Kranick zu Kranickfluchs, eine…gute Freundin von mir.” Bei den letzten Worten blickte sie beinahe schon etwas verlegen zu der etwas älteren und kleineren Frau neben ihr hinab. Dann drehte sie den Kopf nach links und nickte zu dem älteren Mann: “Jasper von Niedersprötzingen, mein Truchsess und Verwalter. Ein treuer Diener meines Hauses, auf dessen Urteil ich Wert lege.” Wurden ihre Worte an die Baronin von Kranick merklich mit Wärme vorgetragen, so wirkte die Vorstellung Ihres Verwalters beinahe schon einstudiert und lieblos aufgesagt. Als sie ihren Blick wieder Alassia zuwendete, nickte sie kurz in Richtung eines Stuhles, welcher einzeln vor dem Tisch steht und fügte knapp hinzu: “Bitte!”, ehe sie sich selbst langsam setzte.

Der ältere Mann zu ihrer Linken hatte sich in leicht gebückter Haltung mit beiden Fäusten auf dem Tisch abgestützt und blickte Alassia währenddessen mit zusammengekniffenen Augen intensiv an. Auch während der Sätze der Baronin veränderte sich weder seine Miene, noch seine Haltung. Erst als die Baronin Platz nahm, ließ er sich ebenfalls, jedoch sehr, sehr gemächlich und von einem Ächzen begleitet, auf seinen Stuhl sinken.

Iriane nickte der Geweihten kurz zu und setzte sich ein paar Wimpernschläge nach Adula. Sie beobachtet die Szenerie weiter aufmerksam, weiterhin ein Lächeln auf ihren Lippen. Sie wandte sich an Alassia und sprach mit klarer, fester Stimme: “Ich hoffe eure Anreise war angenehm, Euer Gnaden”

“Danke! Ja, ich weilte in Angbar, als ich von Eurem Gesuch hörte. Die Anreise über den Greifenpass verlief ohne Störungen.” Alassia nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz. Ihr waren weder die geröteten Wangen der Baronin entgangen, noch die seltsame Beziehung zwischen Adula und ihrem Verwalter. Einen Moment lang huschte ihr die Frage durch den Kopf, ob sie in einem adeligen Haushalt, an dem es womöglich Intrigen geben könnte, richtig aufgehoben war. Andererseits war es nicht die Aufgabe eines Kaplans, für ein gutes Miteinander der ihm anvertrauten “Schäfchen” zu sorgen? Dem Blick Jaspers hielt sie mühelos stand und erwiderte ihn mit einer gewissen Herablassung. Auch studierte sie Iriane, deren Lächeln sie erwiderte und fragte sich, welche Rolle die Baronin von Kranick wohl spielen mochte. Alassia hätte sie als schwesterliche Freundin und Ratgeberin eingeordnet, wenn da nicht die geröteten Wangen der jüngeren Frau gewesen wären. Alassia wartete ab, ob die Baronin von Schnakensee das Wort an sie richten würde.

Die Baronin von Schnakensee gab der älteren Dame, die bei den Tischen an den Fenstern stand einen kurzen Wink, sodass diese vorsichtig, beinahe schon rituell damit begann, die bereitstehenden Gläser mit dem Inhalt der beiden Karaffen zu füllen. “Möchtet ihr einen…ehm…fruchtigen Sommerwein oder lieber ein Glas Wasser?”, richtete Adula ihr Wort emotionslos an Alassia, wobei sie ihren Blick irgendwo auf der Fensterseite des Raumes in die Ferne gerichtet zu haben schien.

“Bitte ein Glas Wasser. Ab und an trinke ich gerne mal ein gutes Glas Wein oder auch mal einen Humpen Bier, aber heute lieber nicht. Vielleicht möchtet Ihr etwas über meinen bisherigen Werdegang erfahren oder darüber, warum ich mich auf eine Stelle als Kaplanin bewerbe. Im Gegenzug würde ich gerne etwas über Euren Hof, Eure Erwartungen und das Aufgabengebiet Eures Hofkaplans erfahren.”, versuchte Alassia die Mauer des scheinbaren Desinteresses zu durchbrechen und begann sich zu fragen, was eigentlich mit ihrer Gastgeberin los war. Sie warf Iriane einen fragenden Blick zu. Das Glas Wasser lässt sie erstmal unberührt vor sich stehen.

Der Baronin von Schnakensee wurde ohne Aufforderung ein Glas mit Rotwein an die Seite gestellt, welches sie beherzt griff und mit Ausnahme eines Anstandsrests in einem Zuge leerte. Auch aufgrund der hohen Temperaturen in dem Zimmer zeigte sich augenblicklich wieder eine leichte Röte auf ihren Wangen. Nachdem die Geweihte andeutete, Details über den Hof der Baronin und die Erwartungen an den künftigen Hofkaplan erfahren zu wollen, blickte Adula etwas hilfesuchend zwischen ihrem Verwalter und Iriane von Kranick hin und her.

Iriana hielt sich sehr aufrecht in ihrem Stuhl, lächelte der jungen Frau aber aufmunternd und beruhigend zu.

Schließlich war es Jasper von Niedersprötzingen, der den kurzen, aber unangenehmen Moment der Stille brach. Seine Stimme war bereits brüchig, was er mit einer dezent erhöhten Lautstärke zu übertünchen versuchte: “Jaja, die Erwartungen, nicht?” Mit seiner rechten Hand rieb er sich an seinem, bereits wieder mit kurzen Bartstoppeln bewachsenen Kinn entlang. “Ein Kaplan ist unerlässlich für das Zeremoniell…”, Jasper von Niedersprötzingen nickte, sich selbst bestätigend. “...und ein Kaplan ist die Stütze der Baronin in Glaubensfragen!”, der ältere Herr konnte bei den letzten Worten ein leichtes Grinsen nicht verbergen, schien es aber nicht vor der Baronin verbergen zu wollen, sondern blickte sogar leicht in ihre Richtung. “Der ehemalige Kaplan, Ludolf, ein Geweihter des Herren Firun, is’ nicht oft da gewesen. Als er abberufen wurde, ham’s einige gar nicht gemerkt, hehe.”, Jasper von Niedersprötzingen lacht kurz auf, wonach er direkt zu husten beginnt. Noch während der letzten Huster hebt er seine Hand, als wolle er noch etwas wichtiges hinzufügen. Die Baronin, welche gerade zu sprechen anheben wollte, schloss daher wieder ihren Mund. “War aber ein Guter, der Ludolf. Wusste, was wichtig is’ in Schnakensee.” Er kniff die Augen zusammen und fixierte Alassia. “Reden wir mal Tacheles!”, dann deutete er mit seiner Faust einen Hieb auf den Tisch an. Alassia konnte sehen, dass Adula mit den Augen rollte, aber keinerlei Anstalten machte, ihren Verwalter zu unterbrechen. “Schnakensee ist keine wohlhabende Baronie. War’s auch nich’ und ist’s nie gewesen. Wer als Kaplan nach Schnakensee kommt, der tut das nicht wegen der Entlohnung, sondern weil er Land und Leute liebt und sich in der Natur seinen Göttern, welche auch immer das sein mögen, näher fühlt als in einem dieser protzigen, neumodischen Tempel hier!”. Nach seinen letzten Worten lehnte er sich, erneut leicht ächzend, wieder in seinem Stuhl zurück.

Um sicher zu gehen, dass ihr Truchsess nicht doch noch etwas hinzuzufügen hatte, blickte Adula kurz zu ihm und wartete einen Augenblick, ehe sie selbst sich wieder Alessia zuwandte. Sie lehnte sich nach vorne, stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte ihr Kinn auf ihre gefalteten Hände: “Was mein werter Truchsess sagt, ist zutreffend. Wir können später gerne darauf zurückkommen. Aber nun erzählt mir von euch!”. Adula von Schnakensee versuchte freundlich zu lächeln, es wirkte jedoch etwas unbeholfen.

“Es geht mir bei einer eventuellen Anstellung nicht so sehr um die Entlohnung, sondern um die Menschen, für die ein Geweihter - egal welcher Glaubensrichtung - sorgen soll! Wenn Ihr einen Kaplan wünscht, der das Land liebt,“ dabei blickte sie auf Jasper, “dann solltet Ihr besser einen Bewerber aus Nordgratenfels wählen oder einem Zugereisten die Gelegenheit geben, es lieben zu lernen. Wenn Ihr,” Alassia blickte auf Adula und ihren Verwalter, “einen Hofkaplan als bloße Staffage für einen schönen Hofstaat wünscht, würde ich nicht die richtige Person sein. Ich pflege nicht die Augen zu verschließen, vor Zuständen, die mir nicht tragbar scheinen.”

Die Angesprochenen schienen von diesen Aussagen überrascht und teilweise brüskiert. Alle der Geweihten gegenüber sitzenden Personen blickten sich untereinander irritiert an und es war schließlich der Verwalter, der wohl flüstern wollte, aber dennoch für Alassia gut hörbar zur Baronin sprach: “Was meint sie denn mit untragbaren Zuständen?”. Die Angesprochene zuckte mit den Schultern und wandte sich mit fragendem, beinahe schon neugierigem Blick an Alassia: “Wie…ähm…haben wir diese Andeutung denn aufzufassen?”. Noch bevor Alassia antworten konnte, stand mit einem Male die ältere Dame neben ihr und stellte ein Glas, gut gefüllt mit Wasser, vor der Geweihten ab. Beinahe schon mütterlich legte sie Alassia die Hand auf die Schulter, nickte ihr zu und lächelte dabei gütig, sodass man die Strenge, welche sie zuvor umgab, kaum noch erahnen konnte. Dann sprach sie zu ihr: “Nehmt einen Schluck.”, ehe sie die Baroninnen und den Verwalter in den Blick nahm und sagte: “Ihre Gnaden hat lediglich den Wunsch geäußert, ihr die Möglichkeit zu offenbaren, Nordgratenfels kennen und lieben zu lernen.”, dann fügte sie, zunächst an Alassia gewandt hinzu: “Wir Nordgratenfelser sind wie unser Land. Auf den ersten Blick mögen wir rauh und abweisend erscheinen, aber auf den zweiten Blick sind wir ehrlich und durchaus herzlich zu nennen.” Anschließend schritt sie, nach einem kurzen, erneuten Tätscheln auf Alassias Schulter, wieder zu den Tischen zurück und begann damit, auch die übrigen Gläser zu füllen.

Alassias strenger Gesichtsausdruck milderte sich etwas, als sie die Mienen der anderen sieht. Sie dankt der älteren Dame für das Wasser. “Ich meine damit, dass ich Ungerechtigkeit oder Pflichtvergessenheit nicht gut heiße und ich auch unangenehme Themen nicht unter den Tisch kehre. Dies sehe ich als meine Pflicht als Seelsorger. Natürlich sind die Förderung der Geistesgaben ebenfalls von großer Bedeutung, wie es sich für eine Dienerin der Herrin Hesinde gehört.” Alassia schöpft einen Moment nach Atem. “Nun möchte ich Euch aber über mich berichten. Nach meiner Ordinierung ging ich einige Jahre auf Reisen, um zu forschen und habe der Herrin Hesinde nicht mit Tempeldienst gedient. Nachdem ich nun als reifere Frau die Forschungsreisen aufgegeben habe und seit einiger Zeit wieder meinen Pflichten im Tempel nachkomme, ist in mir die Erkenntnis gereift, dass ich meine Zukunft eher im Dienste der Menschen sehe und nicht so sehr im Studium. Aus diesem Grund habe ich mich um die Stelle als Kaplanin am Hofe Eurer Hochgeboren beworben. Mir als Dienerin der Zwölfe liegt nicht daran, irdische Reichtümer anzuhäufen, denn für meinen Unterhalt wird immer gesorgt sein. Es geht mir darum, meinen Dienst im Auftrage der Herrin Hesinde zu verrichten. Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht auch irdische Freuden zu schätzen weiß oder mich in Angelegenheiten einmische, die privat sind. Was darf ich Euch noch über mich berichten?”

Iriane hatte dem Wortwechsel aufmerksam zugehört. Nachdem die Geweihte zu Ende gesprochen hat, richtete sie schmunzelnd das Wort an die Frau: “Wenn ihr euch als reife Frau seht, euer Ganden, eine Frage? Wie viele Sommer zählt ihr? Wobei Alter ja bei weitem nicht das wichtigste ist!”

“Ich wurde vor 40 Götterläufen geboren. Mit 40 Jahren bin ich reifer als mit 20 und ich hoffe, dass ich mit 60 oder mehr Götterläufen nochmals weiterentwickelt haben werde. Nein, Alter ist nicht unbedingt entscheidend, aber man verändert sich, entwickelt neue Ansichten und Denkweisen. Und bewusst sprach ich von Reife, nicht vom Alter.”, erwiderte die Geweihte.

Iriane lächelte unwillkürlich weiter: "Ja, da habt ihr recht, dies mag bei manchem ein großer Unterschied sein. Wie Calla schon sagte, wir Nordgratenfelser sind nicht so rau, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.” Hier nickte sie kurz in Richtung der älteren Frau. Sie wandte sich wieder an Alassia: "Wo haben euch eure Forschungen überall hingeführt?”

Alassia blickte einen Moment nach unten und reiste in ihrer Erinnerung zurück, viele Götterläufe zurück. “Im Jahre 1018 BF hatte ich die große Ehre die Expedition Seiner Spektabilität Orchit von Hirschfurten nach Altaia zu begleiten. Damals war ich eine junge Novizin und es war ein besonderes Erlebnis, diese Stätte besuchen zu dürfen, zumal es nun niemals wieder möglich sein wird, dorthin zu gelangen. In Kuslik habe ich mich dem Studium und der Erforschung einiger Artefakte gewidmet, die aus dem geheimen und verlorenen Hort der Herrin Hesinde von der Insel Pailos stammen.” Alassia verstummte für einen Moment und mit einem leichten Seufzer fuhr sie fort: “Im Ingerimm 1035 BF erfüllte ich meine Pflicht gegenüber den Göttern und Menschen und folgte Ihrer Majestät Rohaja von Gareth in die Wildermark, wo wir in einer Schlacht, die man nun die “Märkische Schlacht” nennt, die Region befriedeten.”

Während der ältere Mann während der Erzählungen Alassias zustimmend nickte und die Lippen dabei anerkennend aufeinander legte, beugte sich die junge Baronin von Schnakensee langsam immer weiter nach vorne und musterte die Geweihte eindringlich, ohne jedoch ein Wort zu verlieren. Als Alassia abgeschlossen hatte, lehnte sich Adula wieder zurück und blickte fragend zu Iriane.

Iriane hatte ebenfalls aufmerksam zugehört,an der ein oder anderen Stelle ebenfalls genickt. Sie bemerkte den Blick von Adula und wandte sich wieder an die Geweihte: “Eure Herrin hat euch wahrlich auf weite Pfade geführt. Ich höre aus euren Berichten ein gewisses Interesse an den praktischen Tätigkeiten des Lebens, nicht nur zur Theorie. Verzeiht Euer Gnaden, aber den Dienern eurer Herrin wird oftmals eine praktische Seite abgesprochen. Wie seine Wohlgeboren von Niedersprötzingen schon angedeutet hat, sind die Lehen aus Nordgratenfels weder reich noch in erster Linie der Wissenschaft zugetan. In ihnen leben hart arbeitende, ehrliche Menschen, die meisten können weder Lesen noch Schreiben und haben in ihrem Alltag wenig Zeit sich mit Wissenschaften zu befassen.Was reizt euch an einer Stellung in dieser Umgebung?“ Am Gesichtsausdruck der Baronin sah man deutlich, dass sie die Frage ohne Hintergedanken aussprach, das Lächeln der Frau war weiterhin offen und freundlich.

“Ihr habt Recht, viele meiner Schwestern und Brüder im Glauben sind ausschließlich der Theorie und dem Studium der Bücher zugewandt. Meine Persönlichkeit ist anders angelegt. Ich habe Interesse an jeder Form von Studium und ich erachte die Praxis genauso wichtig wie die Theorie. Im Laufe meiner Studien-Reisen habe ich viele praktische Fähigkeiten erworben. In langen Götterläufen des wissenschaftlichen Studiums habe ich selbstverständlich auch meinen wissenschaftlichen Horizont erweitert. Immer hatte ich das Gefühl, dass die Herrin mich auch im Dienste der Gläubigen sieht. Ob meine Aufgabe darin besteht, einem Analphabeten einen Brief vorzulesen und zu beantworten oder gar jemandem Lesen und Schreiben beizubringen oder am Hofe zu unterstützen, keine Aufgabe ist mir zu gering. Ich weiß, dass die Aufgaben an einem Baronshofe weltlicher Natur sind, aber ich war auch schon immer der Welt zugewandt und nicht ausschließlich der Kontemplation.”

Adula lauschte den Worten der Geweihten und ihr Gesicht schien sich immer weiter aufzuhellen. Alassia erkannte sogar ein Glänzen in den Augen der Baronin, als sie ihre Ansprache beendet hatte.

Es war schließlich Jasper, der als erster von den Anwesenden mit seiner leiernden Stimme zu sprechen begann: “Gut gesprochen, gut gesprochen!”, er nickte dabei anerkennend, bevor er fragend in die Runde blickte: “Hat noch jemand eine Frage an Ihre Gnaden? Oder…”, sein Blick ging zu Alassia, “...möchtet ihr noch etwas erfahren?”

“Ja, ich habe noch eine Frage und bitte empfindet das nicht als neugierige Aufdringlichkeit. Ihr erwähntet die prekäre finanzielle Lage der Baronie. Haben Euer Hochgeboren denn Pläne, an dieser Situation zu arbeiten? Wie gesagt, ich frage nicht aus Neugier, nur wenn ich mich für eine Position entscheide, möchte ich sicher sein, an dieser Stelle erwünscht zu sein und unterstützend wirken zu können. Ich erwähnte bereits, dass ich meine Meinung vertrete - selbstverständlich mit allem gebührenden Respekt.” Alassia blickte dabei Adula direkt an, aber ihr freundlicher Gesichtsausdruck milderte die Strenge ihrer Worte. Dann fügte sie noch hinzu: “Auch wenn das Salär für mich nicht von entscheidender Bedeutung ist, gehört es an diesem Punkt dazu, darüber zu sprechen. Wie wird ein Hofkaplan auf Burg Schakensee untergerbacht? Mein Reitpferd wäre ebenfalls zu versorgen.” Alassia lächelt schelmisch mit glänzenden Augen: “Gibt es vielleicht eine kleine oder winzige Bibliothek? Falls nicht, wäre es freundlich, mir ein- oder zweimal im Jahr zu gestatten, einen kleinen Bildungsurlaub zu nehmen.”

Adulas Blick ging wieder zu ihrem Verwalter, der den Blick bemerkte und sich kurz räusperte. “Also für eure Unterkunft ist gesorgt. Das Zimmer von Ludolf ist noch immer frei. Is direkt im Bergfried, müsst nicht beim Gesinde hausen!” Zur Unterstützung seiner Worte hob er die Augenbrauen und nickte dabei. “Speisen könnt’s mit Emina und mir. Morgens, mittags, nachmittags und abends, kostet euch also auch keine Ausgaben.” Er hob vier Finger in die Höhe, um Alassia die Anzahl der täglich gebotenen Mahlzeiten nochmals vor Augen zu führen. “Pferd ist auch kein Problem, haben ‘nen großen Stall auf der Burg, da ist noch jeeeede Menge Platz.” Mit seiner Hand machte er eine ausschweifende Geste, ehe er nachdenklicher wurde und einen Moment überlegte. “Achja, Bibliothek wolltet ihr wissen. Hm, nunja…”, seine Augen schienen nach etwas draußen vor den Fenstern zu suchen. “Also eine Bibliothek, jaja, eine Bibliothek haben wir schon, aber…”, er richtete seinen Blick wieder auf Alassia und zuckte mit den Schultern, “...die wird wohl eine Enttäuschung für eine so gelehrte Dame wie euch sein. Ich sag’s wie’s ist.” Er rieb sich kurz am Kinn und grübelte. “Ach, Urlaub wolltet ihr!” Er begann breit zu grinsen und nickte Alassia väterlich zu. “Urlaub könnt ihr haben, sollt’ euch ja nicht langweilen bei uns. Geburtssegen, Sterbesegen, Hochzeitssegen…da is’ man froh, wenn man auch mal was anderes sehen kann, nicht?”

Die Baronin von Schnakensee lauschte ihrem Verwalter zunehmend ungeduldig und rutschte auf ihrem Stuhl aufgeregt wie ein kleines Kind hin und her. Als sie sicher war, dass Jasper seine Ausführungen beendet hatte, nickte sie eifrig zu Alassia und fügte hinzu: “Wir sind auch häufiger auf Reisen! Oft sogar hier in Gratenfels!”

Iriane lächelte ob der Ungeduld von Adula und schmunzelte leicht vor sich hin. Sie bedachte die junge Frau mit einem warmen Blick, bevor sie sich wieder lächelnd zu der Geweihten wandte.

Alassia schien einen Moment nachzudenken. Dann erwiderte sie: “Das heißt, Ihr bietet dem Hofkaplan Kost und Logis?” Sie wandte den Blick von Jasper zu Adula: “Lassen Euch Eure Pflichten in Eurem Lehen Zeit für häufige Reisen? Oder handelt es sich um geschäftliche Reisen, mit denen Euer Hochgeboren die Lage der Baronie zu verbessern gedenkt? Euer Hochgeboren hat meine diesbezügliche Frage noch nicht beantwortet”.

Die Baronin schien von der Frage überrascht und wandte sich dann mit hilfesuchendem Blick an Iriane.

Doch zunächst war es der Verwalter der Baronin, der erneut zu sprechen begann: “Jaja, Kost und Logis! Und natürlich einen monatlichen Lohn! Ludolf erhielt…”, er blickte an die Decke und schien zu überlegen, “...ich meine, er erhielt fünf Golddukaten im Monat. Ich bin auch Kämmerer der Baronie, müsst ihr wissen. Ich habe fast alle Zahlen im Kopf!”. Jasper von Niedersprötzingen nickte sich selbst mit zufriedenem Gesichtsausdruck zu. “Wir können sicher auch sieben Golddukaten im Monat zahlen. Zunächst. So langsam geht es wieder bergauf, möcht’ ich sagen.” Mit stolzem Blick schaute er nach rechts zu Adula, die jedoch noch immer auf Iriane starrte. Nachdem der Verwalter das bemerkte, wandte er sich wieder an Alassia: “Genügt das euren Ansprüchen?”

“Ja, das reicht für meine Bedürfnisse. Ich erwähnte ja bereits, dass es mir nicht um Gold geht.” Alassia schaute erwartungsvoll die beiden adeligen Damen an und harrte der Beantwortung ihrer offenen Fragen.

Iriane wandte sich lächelnd an Alassia und dachte kurz nach, bevor sie sprach: “Die Pflichten und die Verantwortung, die eine Baronie zu führen mit sich bringen, sind mannigfaltig. Reisen dienen den Amtsinhabern niemals nur aus einem Grund. Sie dienen natürlich auch dem Knüpfen von Kontakten, gerade in Metropolen oder an anderen Adelshöfen." Hier machte sie eine kurze Pause und trank einen Schluck von ihrem Wasser. “Immer in der Hoffnung, etwas für sein Lehen rauszuschlagen. Ländliche Reisen dienen natürlich auch der Entspannung. Zudem hält man so natürlich auch Kontakt zu seinen Untertanen und hat ein offenes Ohr für Sorgen und Nöte auf dieser Ebene.” Dann deutete sie auf Jasper: “Wenn man einen guten und verlässlichen Truchsess an seiner Seite hat wie den guten Jasper, fällt es natürlich leichter, Reisen anzutreten.“ Nach Beantwortung der Frage lehnte sie sich zurück und nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Becher. Sie nickt mit einem warmen Lächeln Adula zu, richtete ihre Aufmerksamkeit allerdings zügig wieder auf Alassia.

Alassia dachte einen Moment über das Gehörte nach. “Nun… Gut! Danke für Eure Antwort.” Sie blickte noch einmal auf die jüngere Baronin. Das Wasserglas stand immer noch unangetastet vor ihr. “Ich habe keine weiteren Fragen. Darf ich noch eine Auskunft geben? Falls nicht, so würde ich mich empfehlen. Ich bleibe noch bis morgen früh in Gratenfels und reise dann zurück nach Angbar, wo ich im dortigen Hesindetempel auf Nachricht von Euch warten werde.”

Wahrend die junge Baronin ihrer Standesgenossin nach deren Ausführungen zufrieden anlächelte, schoben sich die Augenbrauen von Jasper von Niedersprötzingen zusammen und seine Unterlippe nach oben. Sein Gesicht glich für einen Moment einer Grimasse.

Auf die Frage der Geweihten hin, richtete sich die Aufmerksamkeit von Adula jedoch wieder auf diese und sie eilte sich, schnell zu antworten: “Jaja, selbstverständlich! Sagt oder fragt, was immer ihr möchtet!”

“Verzeiht, Euer Hochgeboren, ich meinte, ob Ihr noch etwas von mir wissen möchtet.”

Adula von Schnakensee stieg die Röte ins Gesicht. “Achso, ja…ähm…nein, ich glaube nicht.” Sie blickte zu ihren beiden Sitznachbarn. Ihr Verwalter schüttelte den Kopf und winkte ab.

Iriane nickte der Frau lächelnd, mit einem offenen Gesichtsausdruck zu: “Habt Dank euer Gnaden, es war sehr angenehm, eure Bekanntschaft zu machen. Ich wünsche euch eine unproblematische Rückreise. Mögen die Götter über eure Wege wachen.”

“Eure Hochgeboren, es war mir eine Ehre, Euch kennenlernen zu dürfen! Danke, dass Ihr mich zu diesem Gespräch geladen habt! Möge der Segen der Zwölfe stets auf Euch und Euren Häusern ruhen!” Alassia verbeugte sich kurz vor Adula und Iriane, aber auch vor Calla und Jasper. Dann verlässt sie gemessenen Schrittes den Raum. Das Glas Wasser stand unberührt am Tisch, wo Calla es abgestellt hatte.

Die Baronin von Schnakensee nickte Alassia freundlich lächelnd zu, als diese den Raum verließ und wandte sich, nachdem die Tür geschlossen wurde, aufgeregt an Iriane: “Und? Wie fandest du sie?”

Iriane lächelt Adula an und dachte kurz nach, bevor sie antwortete: “Hmm, eine gute Frage. Interessant, mit Sicherheit eine intelligente und aufmerksame Frau, aber das ist bei einer Anhängerin der Hesinde ja auch nicht verwunderlich. Ich bin mir halt nicht sicher, ob sie sich in Nordgratenfels auf Dauer sehen kann, sie die Situation in Schnackensee richtig einschätzt. Aber wir haben ja noch ein paar weitere Bewerber, warten wir den Tag ab.” Sie schaute kurz in Richtung Jasper: “Was sagt ihr, euer Wohlgeboren?”

Jasper von Niedersprötzingen schien in Gedanken versunken. Ausdruckslos blickte er in die Leere. Als er seinen Namen vernahm, richtete er sich im Stuhl wieder etwas auf und stammelte zunächst: “Ich…äh…ja…also…abwarten finde ich richtig.” Dann, nach einer kurzen Pause, während der er Luft zu holen schien, blickte er Iriane mit zusammengekniffenen Augen an. “Ganz recht, euer Hochgeboren! Beeindruckende Frau, aber wir warten noch ab.”.

Dann klopfte es erneut an der Türe…

Akt 2 - Die Synkretistin

Die rotgoldene Robe über den weißen Gewand, sowie die zwei Sphärenkugeln am Gürtel wiesen die Frau als einfache Priesterin des Praios aus. Sie war ungewöhnlich groß und kräftig, fast muskulös gebaut. Ihre welligen braunen Haare, nur schwer von einem Pferdeschwanz gebändigt, lagen unter der halbhohen Filzkappe. Ihr ovales Gesicht mit dem spitzen Kinn und dem breiten Mund lagen auf einem breiten muskulösen Hals. Der Blick ihrer braunen Augen kreiste ruhig über die Anwesenden.

“Dem Herren Praios zum Gruße, Ringard von Falkenhaupt, Donatori Lumini...”, grüßte die Frau in den 30ern, doch sie zögerte. So ruhig ihr Blick auch war, schien sie überrascht über das vorgefundene Beiwerk. Ihr Blick endete bei den Damen am verzierten Tisch. “Hochgeboren?”, fragte sie mit ihren Augen zwischen den beiden Frauen hin und her wandernd.

Die jüngere und deutlich größere der beiden Frauen nickte der Geweihten freundlich zu und wies auf den Stuhl der ihr gegenüber auf der anderen Seite des Tisches stand, es sie selbst Platz nahm und der ältere Mann sowie die kleine aber hübsche Frau zu ihrer Rechten es ihr gleich taten. Noch während sie sich setzte, ohne die Augen von Ringard abzuwenden, begrüßte sie diese mit den Worten: “Es ist mir eine Freude, euch heute empfangen zu dürfen, Euer Gnaden. Meine Vertraute, die Baronin von Kranick, und mein Verwalter, Jasper von Niedersprötzingen, werden mich mit ihrem Urteilsvermögen unterstützen.”

Der ältere Mann setzte sich langsam und von einem Ächzen begleitet, während er Ringard abschätzend musterte. Als er schließlich saß, blickte er an Ringard vorbei zu der älteren Dame, die am Fenster stand und nickte anschließend knapp.

Nachdem die Baronin von Kranick sich ebenfalls gesetzt hatte, nickte sie der Geweihten knapp zu. Sie sprach mit klarer, fester Stimme: “Ich hoffe, eure Anreise war angenehm, Euer Gnaden.” Der Gesichtsausdruck der Frau blieb unnahbar, aber freundlich, der Blick ihrer blauen Augen aufmerksam.

Ringard blieb stehen und nickte der Baronin von Kranick zu: “Hochgeboren.”, und dann zum Vogt: “Wohlgeboren. Seid gedankt für die Option, mich euch vorzustellen und vielleicht eine gemeinsame Zukunft zu schaffen. Mein Weg war kurz und bis auf ein paar fahrlässige Fuhrwerke bestand keine Unpässlichkeit.”

“Ah, ihr seid aus der Stadt?”, der Verwalter der Baronin schien seine Neugier nicht verstecken zu wollen. Er sprach mit einer etwas brüchigen Stimme, was er wohl mit einer etwas höheren Lautstärke vertuschen wollte. “Und woher seid ihr ursprünglich? Auch von hier?”. Er hatte die Fingerspitzen aufeinander gelegt und ließ sie in kurzer Folge gegeneinander tippen.

Ringard blickte den Verwalter mit leicht gerunzelter Stirn an. Irgendetwas schien sie leicht zu irritieren. Aber sie fing sich. "Ich diene seit vielen Götterläufen dem Haus der Sonne hier gleich die Straße runter.", Ringard deutete dabei in Richtung Marktplatz. "Doch meine Wurzeln liegen in Falkenhaus, im Praios der Grafenmark, an den Ausläufern des Koschs, Wohlgeboren."

“Falkenhaus, Falkenhaus, jaja…” Jasper blickte an die Decke und schien zu überlegen, ehe er das Grübeln verwarf und wieder zu Ringard schaute. “Wir sind dem Götterfürsten auch sehr verbunden. Also meine Familie und ich. Mein Neffe ist sogar dem Ruf des Herrn gefolgt und dient ihm ebenfalls hier in Gratenfels. Eblaus von Niedersprötzingen, kennt ihr sicherlich.” Doch ohne eine Antwort der Geweihten abzuwarten, sprach er weiter. “Ist aber in Nordgratenfels nicht jeder so, möcht’ ich sagen. Da ist der Herr Praios nicht ganz so wichtig, wie weiter im Süden.” Er nickte sich selbst zu und hob dabei eine Augenbraue. “Also, sind dennoch götterfürchtige Leut’, aber andere Götter sind auch wichtig, versteht ihr?” Der Verwalter wog seine rechte Hand hin und her.

Ringard nickte deutlich. “Mein Motto lautet alles wider der Finsternis. Dabei können wir nicht allein stehen. Wir brauchen uns alle. Die Zwölfe, die Halben, die Alten und Mada. So lange es nicht wider der Ordnung ist und dem Feind aller dient, sollen sie machen, was sie wollen. Aber nicht unbedingt direkt vom dem Tempel.” Sie blickte Jasper interessiert an.

Iriane schaute die Geweihte an, ein leichtes Erstaunen in den blauen Augen. Sie schaute deutlich interessierter als beim Eintreffen der jungen Götterdienerin. “Welcher Strömung in euer Kirche gehört ihr an, euer Gnaden?” Der beiläufige Tonfall wurde durch das Interesse im Blick eindeutig nicht untermauert.

"Realistin, meiner Einschätzung nach, Hochgeboren." Ringard sprach dies mit fester Stimme. Vermutlich so fest wie ihre Überzeugung. "Für eine Prinzipistin fehlt mir der unnötige horasische Patriotismus. Doch die abseits der Politik stehenden Aspekte sprechen mir aus dem Herzen."

Der Blick der jungen Baronin von Schnakensee verriet, dass sie keine Ahnung hatte, wovon die beiden anderen Frauen sprachen. Sie neigte sich daher leicht nach links zu ihrem Verwalter und flüsterte diesem etwas zu. Jasper von Niedersprötzingen zuckte daraufhin mit den Schultern und räusperte sich kurz, ehe er sich mit etwas brüchiger Stimme an die Geweihte wandte: “Euer Gnaden, bitte erhellt uns. Wie unterscheidet sich dieser…äh…Prizipismus von den in den Nordmarken üblichen Glaubens...hmmm…prinzipien?”

Iriane beugte sich leicht vor, an dieser Antwort war sie ebenfalls sehr interessiert.

Ringard runzelte kurz die Stirn und des sich dargebotenen Szenarios. “Nun der Prinzipismus entstand im Horasreich. Die dort damit einhergehende Verehrung des Horas und Verklärung des Bosparanischen Reiches lehne ich ab. Jedoch bin ich der Überzeugung, dass eine größere Toleranz gegenüber der Magie zum Vorteil gereicht. Dort, wo Magie der Ordnung nicht schadet, kann sie der Gemeinschaft der Kinder der Zwölf dienlich sein. Zusätzlich empfinde ich eine größere Toleranz gegenüber den anderen Kirchen wichtig und eine vorurteilsfreie Sicht auf den Synkretismus angebracht. Ein gerechtes Urteil ist nur mit einem freien Geist möglich.”

Die junge Geweihte konnte in überraschte Gesichter blicken, die sich gegenseitig fragend ansahen. Auch gingen ab und an Blicke zu der älteren Dame, die bei den Tischen am Fenster stand. Diese lächelte allerdings nur gleichbleibend freundlich in die Runde. Es war schließlich wieder der ältere Verwalter, der sich als erster sammelte und das Wort erhob: “Das sind…ähm…überraschende Worte, möcht’ ich sagen, jaja.” Dann räusperte er sich kurz und fügte beinahe schon kleinlaut hinzu: “Und dieser Sün…ke...tismus…dem man…äh…ganz offen gegenüberstehen soll. Was hat es denn mit dem auf sich?”

Die Geweihte nickte dem Verwalter zu. “Mir ist meine Abweichung von der hier üblichen Strömung durchaus bewusst. Ich habe mich einige Zeit mit der Invasion der Finsternis im Osten befasst und bin zu dem Schluss gekommen, dass eine Fokussierung mehr auf das weltliche und die Zusammenarbeit mit allen göttergefälligen Kräften erfolgversprechender gewesen wäre.” Sie blickte kurz in die Runde und endete wieder beim Verwalter. “Synkretismus ist die Verschmelzung von mehreren Glaubensvorstellungen zu einer Entität. Nehmt zum Beispiel den Glauben an Tsatuara oder Peraisumu. Diese Glaubensvorstellungen sind in Nostergast weit verbreitet und ein Einfluss auf das Grenzgebiet in den Nordmarken ist nicht auszuschließen. Sicher, es ist archaisch und birgt die Gefahr, sich von der Ordnung zu entfernen, doch grundsätzlich sind diese Glaubensvorstellungen immer noch im Kreis der Zwölf zu finden. Habe ich damit eure Frage beantwortet?”, schloss Ringard ab.

“Achso, Synkretismus, jaja, hehe…”, der alte Verwalter nickte lächelnd in die Runde, “...ist eine gute Sache, halten wir in Schnakensee ebenso!” Die Baronin blickte ihren Truchsess verständnislos an, woraufhin dieser mit den Schultern zuckte und hinzufügte: “Heißt bei uns nur nicht so kompliziert, näch?” Er wandte sich wieder an Ringard und machte einen entschlossenen Gesichtsausdruck: “Darf ich offen zu euch sein, euer Gnaden?” Man sah der Baronin an, dass ihr die Frage Jaspers nicht geheuer war.

Iriane kräuselte kurz die Stirn und sendete Jasper einen warnenden Blick. Sie wandte sich lächelnd an die Geweihte und stellte gleichzeitig mit dem Mann eine Frage “ Ihr spracht von größerer Toleranz gegenüber den magischen Strömungen. Schließt dies -eine göttergefällige Handlungsweise vorausgesetzt- auch Magie ausserhalb der Gildenstrukturen mit ein?”

Der alte Truchsess beugte sich nach vorne und blickte etwas verwundert in Richtung der Baronin von Krankick. Dann lehnte er sich langsam wieder zurück, während er kaum merklich den Kopf schüttelte.

Ringard schürzte die Lippen. "Ein komplexes Thema. Die Worte der Wahrheit des Heliodans von 1036 besagen, dass wir Dienerinnen des Götterfürsten Magie zu neutralisieren haben, wo immer sie die Ordnung der Welt bedroht. Sie kann vom gelehrten Gildenmagier kommen oder von der Hexe in einer Höhle im Berg. Die Gildenmagie ist von sich aus wohl geordnet und schafft somit eine gute Grundlage für ein verlässliches Auskommen. Wald- und Wiesenhexen sind von Natur aus ungestümer und sehen ein Vergehen möglicherweise nicht so arg, wie ich. Jedoch diene ich der Gerechtigkeit und ohne Schuld einen Menschen zu verurteilen, ist eine Störung der Ordnung. Daher kann ich nicht mit zweierlei Maß messen. Wer im Kreise der Zwölf lebt und zaubert, genießt meine Toleranz." Neugierig blickte sie zur Baronin.

Jasper von Niedersprötzingen lauschte der Geweihten mit zusammengekniffenen Augen und zwischendurch war von ihm ein stilles, heiseres Lachen zu hören. Dennoch blickte er, ebenso wie Ringard selbst, anschließend erwartungsvoll zu seiner Baronin.

Adula von Schnakensee spürte die Blicke und wendete ihren Kopf hilfesuchend von links nach rechts, ehe ihre Augen bei der älteren Zofe am Fenster haften blieben und sie diese beinahe schon flehend ansah. Die Frau nickte ihrer Herrin milde lächelnd zu und sprach dann mit gütigem Ton: “Ihr seht mich ebenso überrascht, wie ihr es seid, euer Wohlgeboren.”, dann, an Ringard gewandt: “Eure Worte versprechen Harmonie und Ausgleich, Gerechtigkeit und Güte…” Der Satz wurde unterbrochen von dem Schlag einer flachen Hand auf die Tischplatte. Es war der alte Truchsess, der seine Geste mit den Worten: “Ha! Na sag’ ich doch!”, kommentierte und dabei sehr, sehr zufrieden aussah. Nicht ganz so zufrieden blickte die Zofe der Baronin, die ihn für einen kurzen Augenblick böse anfunkelte, ehe sie sich wieder zu einem freundlichen Gesichtsausdruck zwang.

Adula von Schnakensee hingegen schien zu überlegen. Sie hatte ihren Kopf leicht zur Seite geneigt und beobachtete die Geweihte gedankenverloren.

Iriane betrachtet die junge Frau interessiert und nickte leicht mit dem Kopf: “Eine interessante Antwort für eine Dienerin eurer Kirche euer Gnaden. Ihr solltet euch mit meiner Base mal unterhalten, sie vertritt eine recht ähnliche Position in dieser Frage. Sie ist auch eine Dienerin des Götterfürsten.” Iriane machte einen zufriedenen Eindruck über die Antwort der jungen Geweihten. ”Was reizt euch an der Stelle am Hofe ihrer Hochgeboren? Die Aufgabengebiete werden sich von euren bisherigen Tätigkeiten ja schon unterscheiden.” Iriane schaute sie fragend und offen an.

Ringard hatte kurz mit einem Stirnrunzeln die lautstarke Reaktion des Truchsess betrachtet. Ihre Blicke waren auch zur Zofe, zur Baronin und abschließend Iriane gewandert. "Oh, eine gleichgesinnte Dienerin des Götterfürstens ist mir sehr willkommen. Es bieten sich so wenig Möglichkeiten des Austauschs." Sie blickte anschließend, ihre Gedanken sammelnd, zur Decke. "Die ganze Bandbreite der Aufgaben einer Praiosgeweihten. Hier im Tempel ist alles sehr strukturiert und es gibt Experten für alle Tätigkeiten. Doch ich bin der Überzeugung, dass wir einen umfassenden Handlungskanon verinnerlicht haben müssen, um bestmöglich die Kirchen der 12 zu schützen. Ich kann vieles Neues lernen, Altes auffrischen und auch Dinge lernen, denen ich im Tempel bisher bequem ausweichen konnte."

Iriane nickte und lächelte die Frau an “Eure Einstellung scheint für das Amt einer Hofkplanin in den nördlichen Landen des Herzogtums geeignet. Ich habe keine weiteren Fragen an euch, euer Gnaden." Sie schaute zuerst in Richtung von Adula, dann zu Jasper: “Habt ihr noch Fragen an ihre Gnaden?”

Der alte Truchsess sprach als erster. Er blickte entschlossen, beinahe schon grimmig, zu Ringard und sprach mit heiserer Stimme: “Nein, euer Wohlgeboren, ich habe keine Fragen mehr. Bin voll und ganz überzeugt!”, woraufhin sich ein schmales Lächeln auf seinen Lippen abzeichnete und man bei genauem Hinsehen erkannte, dass er zu der Zofe am Fenster schielte.

Die Baronin von Schnakensee blickte noch immer mit leicht geneigtem Haupt zu der Geweihten des Götterfürsten, als sie durch die Ansprache der älteren Baronin wohl aus ihren Gedanken gerissen wurde. Sie blickte zunächst zu Iriane von Kranick, dann zu Jasper von Niedersprötzingen und als dieser weitere Fragen verneinte, schloss sie sich an: “Nein, ich habe auch keine Fragen mehr.” Dann erhob sie sich langsam von ihrem Stuhl.

Plötzlich schnellte der Oberkörper des Verwalters der Baronin nach vorne und seine Augen waren weit geöffnet. “Ah! Erreichen! Wie können wir euch erreichen?”

Ringard nickte den Anwesenden zu und erhob sich ebenfalls. “Im Haus der Sonne, sollte ich keinen Dienst in der Tempelhalle tun, lasst nach mir rufen.” Sie nickte abschließend dem Truchsess zu und blickte dann nochmal in die Runde. “Praios Segen über Euch und den weiteren Tag. Auf Wiedersehen.”, anschließend verließ sie den Raum.

Adula von Schnakensee blieb stehen und als ihr Truchsess neben ihr sich ebenfalls erhob und zu sprechen ansetzte, hob sie ihren linken Arm und machte damit eine schneidende Bewegung: “Jetzt nicht, Jasper, wir wollen heute noch fertig werden. Wir besprechen uns später!”. Der angesprochene murmelte etwas vor sich hin und brummelte dann: “Gut.” Nach einem kurzen Räuspern wandte er sich Richtung Türe und rief: “Der Nächste!”

Akt 3 - Die Mutter

“Peraine zum Gruße”, warf Kunida fröhlich lächelnd in den Raum. Sie war eine kleine und gleichzeitig propper gebaute Frau. Sie hatte rote Pausbäckchen und fröhliche Schweinsäuglein. Das lange braune Haar hatte sie geflochten, bevor sie es unter einem grünen Kopftuch verborgen hatte. Schlichte Nadeln aus Bronze hielten das Tuch an seinem Platz. Sie trug weiterhin eine schlichte, aber robuste grüne Robe, genagelte Lederschuhe und den Überwurf, der sie als Tempelvorsteherin auszeichnete. Letzterer war neu und die Säume mit fliegenden Störchen bestickt. Auf der üppigen Brust und dem breiten Rücken waren verschiedene Blüten eingestickt. Wer in Kräuterkunde bewandert war, erkannte die Blüten diverser Heilkräuter. Die Ärmel des Überwurfs waren den Blütenkelchen von Glockenblumen nachempfunden. Auf dem Arm hielt sie einen Jungen von vielleicht zwei Sommern. Er hatte den Daumen im Mund und schaute mit großen Augen in die Runde.

Etwas überrascht blickte die große, schlanke Frau auf das kleine Kind und schob die Augenbrauen zusammen, als sie beinahe schon beiläufig erwiderte: “Ja, Peraine zum Gruße!”. Die Stimme der Baronin von Schnakensee ist etwas dunkler, als man es von einer Dame für gewöhnlich erwartet, hat jedoch einen sehr angenehmen, beinahe schon beruhigenden, monotonen Klang. Nach einem Moment scheint sie sich zu besinnen und wandte ihre Augen wieder Kunida zu. Das Lächeln schien, als müsse sie sich dazu zwingen.

Der ältere Mann zu ihrer Linken stand leicht gebeugt und stützte sich mit seinen Fäusten auf dem Tisch ab. Mit zusammengekniffenen Augen begutachtete er den Jungen, den Kunida auf den Armen trug, ehe er mit beinahe schon freudig erregter Stimme, dem Kind zugewandt, fragte: “Naaa, und wer bist denn duuu? Naaa, mein Kleiner?”, ehe er kurz zusammenzuckte und Kunida fragend ins Gesicht blickte: “Oder etwa meine Kleine?”

Das Kind vergrub vor Schreck das Gesicht im Busen seiner Mutter. "Das ist Adalbald Parinor. Er wollte nicht bei seinem Vater draußen warten", sagte sie fröhlich und wippte dabei mit ihrem Oberkörper ein wenig. "Meine anderen Kinder sind auch da. Soll ich sie holen? Dann könnt ihr gleich die ganze Familie kennenlernen."

“Nein!”, die Baronin schaltete sich etwas vehementer als beabsichtigt in das Gespräch ein, was durch ihren hernach überraschten Gesichtsausdruck verraten wurde. Sie räusperte sich kurz, ehe sie mit gedämpfter Stimme weitersprach: “Das ist jetzt nicht nötig.” Sie wies mit der ausgestrecken Hand auf die etwas ältere und kleinere Frau zu ihrer Rechten, ohne diese jedoch anzublicken. “Dies ist ihre Hochgeboren Iriane von Kranick. Eine enge Vertraute von mir.” Dann mit ihrer linken Hand auf den Herren zu ihrer linken, der anfing, Grimassen in Richtung des kleinen Adalbald zu schneiden und dabei selbst vergnügt wie ein kleines Kinds gluckste: “Jasper von Niedersprötzingen, mein Truchsess und Verwalter!” Als der angesprochene seinen Namen hörte, hielt er inne und blinzelte dem Kleinen nur nochmals kurz mit einem Auge zu. “Nehmt bitte Platz.”, sprach die Baronin von Schnakensee kühl und setzte sich sodann selbst.

Iriane musste über die Reaktion des Verwalters kurz schmunzeln, hatte sich aber schnell wieder im Griff. Sie setzte sich einen Wimpernschlag nach Adula hin und lächelte der Frau und dem Jungen freundlich zu. `Wie viele Kinder hat die Frau wohl? Und einen Ehepartner, na gut-Kinder kommen nicht von selbst `dachte sie bei sich. Sie nickte der Frau zu und sprach mit klarer, fester Stimme: “Ich hoffe eure Anreise war angenehm, Euer Gnaden”.

"Habt Dank. Es ist ja nicht weit. Nur drei Tage von Amleth hierher", lächelte Kunida und setzte sich. Der Stuhl ächzte dabei leise. Adalbald lugte vorsichtig hervor und sah die Grimassen des Alten. Erst skeptisch, dann grinsend, drehte er sich im Arm seiner Mutter und streckte dem Alten seine pummeligen Ärmchen entgegen. "Mögt Ihr keine Kinder, Hochgeboren?", fragte die Geweihte direkt.

Adula von Schnakensee blickte überrascht und drehte ihren Kopf in Richtung ihrer Sitznachbarin, dann, wissend, dass sie selbst angesprochen wurde, wieder zurück zur Geweihten. “Ich…ähm…”, sie schüttelte sich kurz, “...weiß nicht, wie diese Frage gemeint sein soll.” Ein nächster hilfesuchender Blick ging an die ältere Frau, die zuvor noch bei den Tischen am Fenster stand, sich jedoch bereits auf dem Weg zu den beiden Baroninnen befand, eine Karaffe und ein Glas in der Hand. Adula musste daher ihren Kopf recht weit drehen, um sie zu erblicken. Noch bevor die Dame hinter der Baronin angekommen war, sprach sie jedoch schon in einem mütterlichen Tonfall über den Tisch hinweg zu Kunida, ohne diese jedoch anzublicken: “Möchtet ihr oder euer Sohn vielleicht ein Glas Wasser haben, euer Gnaden? Bei dieser Hitze sollte man ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen.” Dann blieb sie hinter Adula von Schnakensee stehen, die sich langsam wieder nach vorn drehte, und begann, das Glas in ihrer Linken mit einer dunkelroten Flüssigkeit zu füllen. Während das Glas neben ihr abgestellt wurde, begann die Baronin ihrerseits nun wieder zu der Geweihten zu sprechen, mit einer nicht direkt zu deutenden Entschlossenheit in ihrer Stimme: “Ich selbst habe keine Kinder, falls ihr das wissen möchtet.”

Iriane lächelte der Geweihten zu und nickte mehr zu sich selbst: “Meine beiden Söhne sind aus diesem Alter schon lange raus, sie zählen 24 und 21 Sommer. Zur Großmutter haben sie mich allerdings noch nicht gemacht. Das wird wohl auch noch etwas auf sich warten lassen.” Dann blickte sie die Frau wieder an: “Wieviele Kinder habt ihr, euer Gnaden?”

“Nein, nein, Hochgeboren. Ich wollte Euch nicht zu nahe treten. Mir schien es nur so, als ob Ihr Adalbalds Anwesenheit missbilligen würdet. Was ich aber nicht ändern kann, oder werde.” Sie wandte sich Iriane zu: “Bis jetzt sind es vier. Eine Schwester meines Mannes ist noch unvermählt. Sie ist Leibzofe der Junkersfrau Sina von Altenwein, geborene Artigas. Ein hübsches Ding. Ende Travia müsste sie zwanzig Ernten voll haben. Es ließe sich bestimmt ein Treffen arrangieren.”

Adula schwieg beim ersten Satz der Geweihten und zuckte lediglich mit den Schultern, wobei sie die Mundwinkel gleichgültig herabhängen ließ. Sie nahm einen kräftigen Schluck des Getränks, welches nun neben ihr stand. Dann blickte sie zu Iriane, es schien Adula nichts auszumachen, dass diese nun das Gespräch führte.

Die ältere Zofe kam derweil um die Tafel gelaufen und holte auf dem Weg eines der Wassergläser von den Tischen am Fenster, welches sie vor Kunida abstellte und den kleinen Jungen dabei knapp anlächelte. Der Verwalter der Baronin folgte ihrem Gang mit einem Blick aus zusammengekniffenen Augen und leicht mürrischem Gesichtsausdruck.

Irian hörte der Frau weiterhin aufmerksam und lächelnd zu, sie hob die zierliche Hand kurz beschwichtigend an: “Nun, habt Dank für euere Angebot euer Gnaden, aber ihr seid ja nicht hier, um für meinen Sohn eine geeignete Gattin zu finden. Ich entnehme eure Worten, dass eure Familienplanung noch nicht abgeschlossen ist?”

“Es schadet nicht, sich umzuhören und eigene Kandidaten ins Spiel zu bringen. Was die Familienplanung angeht, so gefällt es der Herrin Peraine, wenn nicht nur Vieh und Felder, sondern auch der Mensch fruchtbar ist. So es Ihr Wille ist, werde ich weitere Kinder zu Dere bringen, wenn nicht, dann nicht.” Sie lächelte, machte das Zeichen der Ähre über dem Glas, nahm das Wasser und gab ihrem Sohn ein wenig davon, der aber das Gesicht weg drehte, war der Grimassenmann doch spannender, und trank dann selbst. “Wonach genau sucht Ihr denn, Hochgeboren Schnakensee? Neben meinen theologischen Fertigkeiten habe ich auch derische Talente. Ich kann Euch die Bücher und den Haushalt führen, kenne mich mit Tieren und Ackerbau aus, wobei ich von der Zucht nur die Grundlagen verstehe. Natürlich verstehe ich mich auch auf die Heilkunst, was sogar Gifte einschließt und aufs Lenken von Lastkarren sowie aufs Töpfern. Und wenn Ihr dereinst Kinder haben solltet, dann kann ich ihnen Lesen und Schreiben beibringen.”

Jasper von Niedersprötzingen hatte zwischenzeitlich aufgehört, Grimassen zu schneiden und folgte den Ausführungen der Geweihten aufmerksam. Als Kunida ihren Satz beendete, wartete er gar nicht ab, was die Baronin eventuell erwidern wollte, sondern begann direkt zu sprechen: “Hmm…lesen und schreiben ist wichtig…und rechnen auch!”, er erhob dabei seinen Zeigefinger, ehe er fortfuhr: “Aber wir haben bereits Kämmerer und Scriptorin.” Er warf einen kurzen Seitenblick auf die Baronin, ehe er sich wieder Kunida zuwandte: “Etwas Leben in den zugigen Hallen von Burg Schnakensee wäre aber ganz schön.” Dann zwinkerte er dem kleinen Adalbald wieder zu.

Die Baronin selbst zuckte kurz zusammen und ein kühler Blick traf ihren Verwalter. “Haben wir mit den ganzen Arbeitern und dem tagtäglichen Lärm nicht schon genug Leben auf Burg Schnakensee? War euch das nicht zu viel?” Sie lächelte dabei hämisch, was der alte Truchsess nur mit einem Knurren kommentierte. Dann drehte Adula sich zu der Geweihten und versuchte, milde zu lächeln. “Es ist gut, wenn ihr so viel beitragen könnt. Mein Kämmerer ist nicht mehr der Jüngste.”

Jasper von Niedersprötzingen schüttelte unmerklich den Kopf und hob zu sprechen an. Doch bevor er etwas sagen konnte, stand die alte Zofe hinter ihm und goss ihm ebenfalls von der roten Flüssigkeit ins Glas, während sie sich dabei recht weit nach vorne beugte. Kunida konnte nicht sehen, ob sie dabei etwas zu Jasper sagte, aber dieser nickte der Zofe knapp zu.

Die Baronin sprach indes weiter: “Woher kommt ihr? Wart ihr schon einmal in Nordgratenfels?”

“Mein Bruder, den Ihr sicher gleich auch noch befragen werdet, und ich sind auf dem Gutshof Storchennest aufgewachsen. Das liegt im Edlengut Storchenflug in der Baronie Schwertleihe. Ich habe dann meine Ausbildung hier in Gratenfels durchführen dürfen. Ich bin schon in Honingen und im Storchengarten gewesen, aber nur als Pilgerfahrt. Firunwärts der Angbarer Reichsstraße war ich noch nicht.”

Adula, die nach vorne gebeugt den Worten Kunidas lauschte, verzog ihre Mundwinkel zu einem schwer zu deutenden Lächeln, während sie wissend nickte. “Schwertleihe also, hmmm…”

Es war wieder Jasper von Niedersprötzingen, der Kunida direkt ansprach, während die ältere Dame, die ihm kurz zuvor noch ein Glas eingeschenkt hatte, bereits wieder zurück zu den Tischen bei den Fenstern geschritten war. Der Verwalter räusperte sich kurz und begann dann zu sprechen, wobei seine Stimme steht ein wenig leierte: “Schwertleihe liegt nun auch am Gebirge, nicht? Jaja. Aber in Nordgratenfels wandern die Sonnenuhren anders…hmmm…gemächlicher, täte ich meinen!” Er trank einen Schluck aus dem Glas um seiner Stimme wieder Kraft zu geben, was jedoch nur leidlich gelang: “Was ich sagen möchte, dort haben sich noch alte Traditionen gehalten, die respektiert werden wollen, wenn man selbst den Respekt der Menschen dort erhalten möchte.” Dann wandt er sich nach rechts zu Adula. “Das ist doch so, nicht wahr Euer Hochgeboren?”

Die Angesprochene schloss kurz die Augen und machte einen beinahe schon genervten Gesichtsausdruck, ehe sie sacht zu nicken begann und ihm, ohne Jasper anzublicken, antwortete: “Ja Jasper, das ist so.” Dann fixierte sie erneut Kunida und fügte mit etwas schärferem Ton hinzu: “Alle in Nordgratenfels respektieren die Zwölfe. Das steht außer Frage!”

"Es gibt Bräuche und es gibt Bräuche", antwortete sie rätselhaft. "Meine Ausbildung war eher konservativ, pragmatisch. Ich halte mich an die Lehren des Zwölfgötter-Edikts. Bräuche, die eher dem Volksglauben zuzuordnen und theologisch harmlos sind, kann ich tolerieren. Bräuche, die anderen, älteren Glaubenssystemen entspringen, werde ich unterbinden. Mein Bruder folgt dem mystischen Zweig unserer Kirche. Er mag hier größere Toleranz aufbringen, dort wo sich alter und neuer Glaube überschneiden. Doch, dass müsst Ihr ihn selbst fragen."

Kunida blickte nach ihrer Ausführung in zustimmend nickende Gesichter, lediglich die ein oder andere Falte zwischen den Augenbrauen verriet, dass man das soeben Gesagte kurz sacken lassen wollte. Der Verwalter der Baronin murmelte währenddessen etwas unverständlich vor sich hin, sodass die Baronin sich in seine Richtung drehte und nachfrug: “Was meintet ihr?”. Der ältere Mann knirschrte mit den Zähnen und presste zwischen diesen hervor: “Na, wenn das doch nur immer so einfach zu unterscheiden wäre!”. Man sah Adula an, dass sie darüber nachdachte, was ihr Verwalter und auch Kunida zu ihr sagten. Schließlich wandte sie sich wieder der Geweihten zu und sprach bedächtig, so als würde sie jedes einzelne Wort abwägen, bevor sie es ausspricht: “Ich…danke euch…für eure…ehrlichen Worte.” Dann blickte sie zu der Baronin von Kranick neben sich, um sich zu vergewissern ob diese noch etwas beizutragen hatte.

Iriane hatte dem Wortwechsel zwischen ihrer Standesgenossen und dem Vogt aufmerksam zugehört. Sie lächelte ein wenig vor sich hin. Bei den Worten der Geweihten schaute sie interessiert auf, runzelte kurz die Stirn und wirkte kurz durcheinander. “Verzeiht euer Gnaden, ich muss kurz etwas nachfragen. Sprecht ihr von eurem Bruder im Glauben oder von Geburt? Zu Beginn des Gespräches habt ihr vom Vater des Jungen gesprochen? Ihr seht mich verwirrt?” Sie lächelte die Frau dabei allerdings freundlich an.

“Oh verzeiht. Dann möchte ich für Klarheit sorgen. Vor der Tür steht mein Mann Tsamar aus dem Hause Runstein und passt auf die drei anderen Kinder auf. Dem Aufruf ihrer Hochgeboren ist aber auch mein Bruder Liutwin gefolgt. Er ist nicht nur Bruder im Geiste, sondern auch mein leiblicher kleiner Bruder. Das Haus Storchenflug ist der Herrin Peraine sehr verbunden, und so gab es in dieser Generation zwei von sechs Kindern, welche von Ihr erwählt wurden. Mein ältester Bruder ist der Vogt der Baronie Schwertleihe. Ich bin die Drittgeborene und Liutwin ist der Letzte.”

Iriane lächelte die Frau an. “Habt Dank. Nun verstehe ich, Bruder und Gatte. Verzeiht, ich hatte euch zu Beginn des Gesprächs wohl falsch verstanden., hier nickte sie kurz, bevor sie sich wieder an die Geweihte wandte: “Welcher Profession geht euer Mann nach?”

“Er ist Wildhüter. Sollte es hier keinen Bedarf mehr geben, so würde er die Kinder hüten und den Tempelgarten sowie unsere bescheidene Scholle führen, die doch zum Tempel gehört, oder nicht?”

Die Personen gegenüber von Kunida sahen sich fragend an. Jasper von Niedersprötzingen kratzte sich den Kopf und dabei entfuhr ihm ein fragendes: “Äähhhh…”. Die Baronin zwang sich zu einem Lächeln und nahm Kunida wieder in ihren Blick: “Wir haben auf der Burg keinen Tempel. Nur einen kleinen Firun-Schrein.” Ihr Verwalter fügte dann etwas kleinlaut hinzu: “Im Dorf, da ham’ wir einen Peraine-Tempel, der ist dem Frieder. Also, ähm, dem Perainfried. Näch?” Er suchte mit seinem Blick nach Bestätigung durch die Baronin. Adula schien ihn aber nicht zu beachten, sondern auf Kunidas Reaktion zu warten. Bevor diese jedoch etwas erwidern konnte, mischte sich eine weitere Stimme in das Gespräch, die von der alten Zofe, die wieder bei den Fenstern stand, stammte. Mit fester und sehr pointierter Stimme sprach sie: “Ach, da schau! Ein Wildhüter! Das ist schade, dieses Amt wurde erst kürzlich neu besetzt.” Als Kunida zu ihr blickte, hatte sich die Dame jedoch bereits wieder weggedreht und goss ein weiteres Glas Wasser ein, sodass ihr Gesichtsausdruck nicht zu sehen gewesen ist.

"Und wer bist Du, gutes Kind", fragte Kunida honigsüß, während Adalbald ihr vom Schoß rutschte und mit einem breiten Grinsen auf den lustigen Grimassenmann zustapfte.

Die drei Personen auf der anderen Tischseite blickten geschlossen hinüber zu der älteren Dame, die ihnen den Rücken zugewandt hatte und gemächlich Wasser in Gläser füllte. Adula von Schnakensee knirschte sichtbar mit den Zähnen, hatte nach einigen Augenblicken jedoch ein Einsehen und antwortete Kunida: “Dies ist Calla von Muggenloch, meine Leibzofe.”

Als ihr Name genannt wurde, drehte sich die Angesprochene auf dem Absatz um, stand kerzengerade und legte die Unterarme aufeinander. Mit einem aufgesetzten, übertrieben gütigen Lächeln blickte sie die Baronin von Schnakensee an und fragte knapp: “Herrin?”.

Adula winkte ab und blickte wieder zu Kunida. “Tut nichts zur Sache. Was sie an…”.

Mitten im Satz wurde sie dadurch unterbrochen, dass ihr Verwalter nun den kleinen Adalbald entdeckt zu haben schien, der vor ihm stand und sich an der Tischkante festhielt. “Hoho! Wen haben wir denn da?”, rief Jasper von Niedersprötzingen aus und ließ seine rechte Hand wie eine Spinne über den Tisch kriechen, direkt auf Adalbald zu, der freudig gluckste.

Die Baronin stütze ihre Ellenbogen auf dem Tisch ab und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Ein leises Murmeln war von ihr zu hören, ehe sie ihr Gesicht wieder erhob und die Geweihte tonlos frug: “Möchtet ihr sonst noch etwas wissen?”

Kunida schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich aber anders. "Nein, Hochgeboren. Was ich noch erfragen wollte, geht mich erst etwas an, wenn ich Hofkaplanin bin, vorher nicht." "Inne, inne", rief der Kleine erfreut, gefolgt von einem fröhlichen: "Hehe." Mit seinen pummeligen Ärmchen und den kleinen, dicken Fingerchen versuchte er die "Spinne" zu fangen und hatte seine wahre Freude daran.

Der Verwalter musste bei dem Gelächter des Kleinen mit einstimmen. “Hehehe…hohoho”, war es von ihm zu vernehmen, als er seine alten, faltigen Händen immer wieder über den Tisch hinweg auf Adalbald zukrabbeln ließ.

Die Baronin nickte derweil Kunida zu und bedankte sich knapp: “Habt Dank für eure Zeit.” Dann warf sie einen Blick nach links und schüttelte ob des Schauspiels ihren Kopf, ehe sie, wieder an die Geweihte gerichtet, sprach: “Vielleicht solltet ihr den werten Jasper von Niedersprötzingen als Kindermädchen in eure Dienste nehmen.” Der Angesprochene überging die Bemerkung. Oder er vernahm sie nicht.

"In dem Falle, wäre der Verwalterposten wieder vakant", überlegte Kunida laut mit einem Grinsen im Gesicht. "Was meint Ihr, Herr von Niedersprötzingen, soll ich auf das Angebot Eurer Herrin eingehen? Ihr hütet meine Kinder und ich übernehme den Verwalterposten?"

Der alte Mann blickte Kunida zwar nicht an, denn er war noch zu beschäftigt damit, den kleinen Jungen zu bespaßen, aber er antwortete ihr, an Adalbald gewandt, dennoch: “Ha! Das wäre doch mal was, na mein Kleiner, hehe. Der alte Jasper glaubt aber, dass dein Vater da etwas dagegen haben würde, näch? Deine junge, hübsche Mutter gegen den alten Jasper tauschen, das wäre nicht in seinem Sinne, hehe. Na schau, was kommt denn da gekrabbelt?!?!?”

Die Lippen der Baronin hatten sich derweil zu einem Strich verengt. Sie erhob sich, nickte der Geweihten knapp zu und sprach kühl: “Ich glaube, wir haben uns ausreichend besprochen. Vielen Dank für eure Zeit. Ihr könnt gerne euren Bruder herein bitten.”

Iriane musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen aufgrund der Situation. Sie nahm einen Schluck ihres Wassers und atmete tief ein. Dann wandte sie sich an die Geweihte und nickte knapp, lächelte aber weiterhin. “Habt Dank. Ich bin gespannt darauf, euren Bruder kennenzulernen.”

“Ich habe Euch zu danken”, sagte die Geweihte und neigte ihr Haupt. Sie ging ein paar Schritte richtung Tür und streckte die Hand aus: “Kommst du, Adalbald?” Der Kleine blickte unsicher zu seiner Mutter und tappste dann langsam auf sie zu. Als die Beiden Hand in Hand bei der Tür angekommen waren, drehte er sich noch einmal um und rief: “Üh-hüüüs”, während er wild und ein wenig ungelenk sein freies Ärmchen schwenkte.

Während die junge Baronin sich angestrengt auf ihrem Stuhl zurücklehnte, blickte ihr Verwalter mit zusammengekniffenen Augen winkend dem kleinen Adalbald hinterher und man konnte an seinem zuckenden Oberkörper sehen, dass er dabei lachen musste. Nach einem verstohlenen Seitenblick auf seine Herrin, die ihn jedoch nicht beachtete, streckte er gegenüber dem kleinen Adalbald dann sogar die Zunge heraus. Die Zofe der Baronin hielt Kunida die Tür auf und schloss diese, als die Geweihte mit ihrem Kind hindurchgegangen war mit einer knappen Verabschiedung und einem etwas zu gestellt wirkenden Lächeln: “Es war uns eine Freude, euer Gnaden.”

Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, ging sie mit eiligen Schritten und einem erbosten Gesichtsausdruck auf Jasper von Niedersprötzingen zu und stützte sich mit ihren Fäusten vor ihm auf dem Tisch ab. Sie neigte sich nach vorne und flüsterte ihm zischend zu: “Würde der Truchsess der Baronin sich bitte angemessen verhalten!”. Jasper lehnte sich zurück und winkte nur ab, noch immer mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Iriane musste über die Reaktion der Frau grinsen, verbarg dies allerdings hinter einem kleinen Nießer. “Seid nicht zu streng mit ihm Calla, der Kleine ist aber auch drollig.”, sagte sie lächelnd zu der strengen Zofe.

Calla von Muggenloch überging die Bemerkung, nickte der Baronin von Kranick jedoch kurz zu, als sie auf ihrem Weg zurück zu den Tischen am Fenster an ihr vorbei ging.

Adula schien das Schauspiel nicht zu beachten. Sie stand auf und streckte sich. Dann sagte sie, mit ausdrucksloser Stimme, mehr zu sich selbst: “Und jetzt noch zwei.”

Akt 4 - Der Junge

“Poch, poch, poch, poch!” Vier schnell aufeinanderfolgende Töne drangen durch den Raum. Nachdem man ihn herein gebeten hatte, betrat ein junger Mann den Raum. Er war Anfang zwanzig, 86 Finger groß und, im Gegensatz zu seiner Schwester, eher schlank. Das braune Haar war zu einer Tonsur geschnitten und das Gesicht glatt rasiert. Anstelle des obligatorischen Kopftuches trug er eine grüne Kalotte. Robe und Überwurf waren schlicht und neu, die Säume zierte ein Ährenmuster. Ein einfacher Strick diente ihm als Gürtel und an den Füßen trug er Sandalen. Die grünen Augen strahlten freundliche Güte aus. “Möge die Herrin wohlwollend Ihre Hände über euch halten”, grüßte er die Anwesenden.

Während die Baronin von Schnakensee den jungen Geweihten gezwungen anlächelte, wurde der ältere Herr, der zu ihrer Linken saß, gerade von einem kleinen Hustenanfall geplagt, sodass er, den rechten Handrücken vor deinem Gesicht, Liutwin mit der linken Hand knapp winkte. Calla von Muggenloch stand kerzengerade vor der Tischreihe an den Fenstern und hatte die Hände vor dem Bauch gefaltet. Sie schien Liutwin aufrichtig anzulächeln und senkte ihm gegenüber kurz ihr Haupt. Adula wies mit ihrer Hand auf den freien Stuhl ihr direkt gegenüber und sprach in aufgesetzt freundlichem Tonfall: “Vielen Dank, wir freuen uns über euer Erscheinen. Iriane von Kranick, Baronin von Kranick,” sie blickte zu der kleineren Frau rechts neben sich, dann nach links zu dem älteren Mann, dessen Hustenanfall sich gerade zu beruhigen schien, “...und Jasper von Niedersprötzingen, Truchsess von Schnakensee.” Dann nahm sie Platz und frug den jungen Geweihten, ohne ihn dabei anzublicken: “Möchtet ihr etwas trinken? Wasser, Wein?”

"Liutwin Tsabert von Storchenflug, angenehm. Ich nehme einen halben Kelch vom Wein und für den Herrn von Niedersprötzingen einen Becher Wasser."

Ob ihr der Scherz entgangen war oder sie nicht zum Scherzen aufgelegt gewesen ist, war nicht ersichtlich, jedenfalls winkte die Baronin von Schnakensee der Dame am Fenster knapp zu und sprach in befehlsgewohntem Ton: “Calla, ihr habt es gehört.” Jasper von Niedersprötzingen hingegen hatte sein Husten gerade im Griff, als er zum Lachen ansetzen musste und stattdessen nur ein weiterer, trockener Hustenanfall von ihm zu vernehmen gewesen ist. Die Zofe begann daraufhin, zwei Gläser zu füllen und stellte Liutwin wie gewünscht ein halb volles Glas Rotwein auf den Tisch, während sie ihn gütig, beinahe schon mütterlich anlächelte. Die nächsten Schritte führten sie um den Tisch herum zu dem Truchsess, doch bevor sie auch vor ihm das Glas platzierte, klopfte sie ihm mit der flachen Hand auf den Rücken, sodass noch ein letztes, kräftiges Husten zu vernehmen war, ehe er sich beruhigte. Der alte Verwalter wedelte daraufhin mit der Hand durch die Luft und murmelte einen Dank an die Zofe, ehe er ein verschmitztes Grinsen aufsetzte und Liutwin mit zur Seite geneigtem Kopf musterte und mit krächzender Stimme sprach: “Habt den Humor eurer Schwester, tät’ ich sagen, näch?!?” Adula von Schnakensee sah ihn daraufhin verständnislos an und wandte sich danach direkt an Liutwin, als sie mit emotionsloser Stimme vortrug: “In Nordgratenfels sind die Baronien abgelegen und dünn besiedelt. Als Kaplan reist man von Dorf zu Dorf, die meist zig Meilen entfernt liegen, und spricht die meiste Zeit Geburts-, Hochzeits- und Grabsegen. Sonst erlebt man nur wenig. Klingt das für euch interessant?” Ihr Verwalter, der gerade einen Schluck Wasser aus seinem Glas nehmen wollte, ließ dieses langsam wieder sinken, schob die Augenbrauen zusammen und blickte fragend zu seiner Herrin, deren Blick jedoch weiterhin auf Liutwin fixiert gewesen ist.

"Es war nicht meine Absicht, Euch zu belustigen. Wenn Ihr den Becher in einem Zug leert, kann sich Eure Lunge beruhigen und das Schlucken vermag derweil den Hustenreiz zu mindern. Natürlich könnt Ihr dafür auch Wein verwenden, doch ziemt es sich nicht, in Gegenwart von Fremden, wie mir, und außerhalb eines fröhlichen Gelages, einen Becher voll des guten Rebensaftes hinunterzustürzen." Liutwin lächelte den Truchsess an und wandte sich dann Adula zu. "Hochgeboren, ich tue, was die Herrin Peraine mir befiehlt. Und lenke meine Schritte dorthin, wo sie mich haben will. Ob es mir gefällt, von Ort zu Ort zu wandern, oder nicht, ist dabei nicht von Belang. Es macht mir aber nichts aus, falls Ihr das wissen wollt. Die Herrin hat es gefügt, dass ich nun hier bin. Wenn Ihr einen wandernden Hofkaplan benötigt, so will ich das gerne für Euch tun. Welche Aufgaben schweben Euch denn genau vor, abgesehen von den gerade genannten?" Auch hier beendete er seine Rede mit einem Lächeln.

Iriane lächelte den jungen Mann mit einem relativ warmen Lächeln offen an: "Verzeiht euer Gnaden, zuvor eine andere Frage. Ihr reist mit der Familie eurer Schwester. Habt ihr schon eigene Kinder oder eine Gattin? Oder einen Partner?”

"Bis jetzt war es mir nicht vergönnt, eine eigene Familie zu gründen. Sollte es den Göttern nicht gefallen, mir jemanden zur Seite zu stellen, so kann ich mich zu gegebener Zeit um Waisenkinder kümmern und sie wie meine eigenen betrachten. Natürlich müsste ich dann die entsprechenden rechtlichen Verwicklungen klären."

Adulas Blicke folgten stumm dem Wortwechsel von Liutwin zu Iriane und wieder zurück. Ihrem Gesicht waren keine Emotionen zu entnehmen. Auch ihr Truchsess, Jasper von Niedersprötzingen, schien dem Gespräch nicht zu folgen, denn seine Augen schienen irgendetwas in dem Raum hinter dem jungen Geweihten der Peraine zu suchen. Als dieser seine Antwort beendet hatte, erhob der alte Verwalter jedoch seine brüchige Stimme und wechselte überraschend das Thema: “Ihre Hochgeboren haben es schon angedeutet. Nordgratenfels ist ein dünn besiedeltes, wildes Land.” Dann räusperte er sich kräftig. “Hier und dort haben sich noch altmodische Traditionen und auch…hmmm…Kulte erhalten.” Er fixierte Liutwin und kniff die Augen dabei ganz eng zusammen, sodass kaum mehr als zwei schmale Schlitze zu erkennen waren. “Wenn man das Vertrauen und den…ähm…Respekt der Nordgratenfelser erlangen will, dann sollte man ihre Bräuche ebenfalls respektieren. Selbst wenn diese auf den ersten Blick etwas…hmmm…sonderbar anmuten können.” Jasper von Niedersprötzingen lehnte sich mit auf dem Tisch abgestützten Unterarmen langsam nun so weit nach vorne, wie sein Oberkörper es zuließ. Er wirkte dabei beinahe wie eine riesige Raupe, die langsam auf den Geweihten zu kroch, während sie gefräßig auf die Antwort wartete.

"Altes Recht ist gutes Recht. Sagt man bei uns in den Nordmarken und was ist Recht anderes als Tradition. Folglich gilt: alte Tradition ist gute Tradition. Oder irre ich da? Wenn diese Lande ein Korb voller Äpfel sind, roter, grüner und gelber, und darunter ein Fauliger, so vertraue ich darauf, dass die Herrin mich den Faulen erkennen lässt. Es wäre doch Verschwendung, deswegen den ganzen Korb wegzuwerfen. Der Korb ist die Güte meiner Herrin, welche die Bewohner dieser Lande fasst. Jeder Apfel muss für sich begutachtet werden und die Faulen aussortiert. Aber ob ein Apfel groß oder klein, süß oder sauer, rot, gelb oder grün ist, ist doch egal, solange sie in den Korb passen."

Iriane schaut den jungen Mann freundlich an und nickte ”Wohl gesprochen euer Gnaden. Aber zu eurer Frage von vorhin. Eure Aufgaben sind neben den genannten alle kirchlichen Angelegenheiten bei Hofe, das Seelenheil der Familie eurer Lehnsherrin, Göttinnedienste, der Beisitz bei Gerichtsverhandlungen und die Seelsorge der euch anvertrauten Seelen”

Jasper von Niedersprötzingen nickte zum Abschluss der Ausführungen des jungen Geweihten anerkennend und warf seiner Herrin einen Blick zu, die jedoch selbst die Baronin von Kranick beobachtete und ihn nicht wahrnahm. Als Iriane von Kranick ihre Ausführungen beendet hatte, fügte Adula, mehr an ihre vertraute als an Liutwin gewandt, noch hinzu: “Und uns ab und an auf unseren Reisen begleiten, das gehört auch noch dazu.”.

"Wenn das alles ist, sehe ich da kein Problem. Außer bei den Gerichtsverhandlungen. Sollte ich da zufällig im entlegensten Winkel Eures Lehen verweilen, müsstet Ihr mit der Verhandlung warten, bis ich zurück bin. Oder aber Ihr bestimmt einen festen Gerichtstag, zu dem ich immer auf Eurer Burg anwesend sein muss. Von Notfällen einmal abgesehen, natürlich." Er lächelte. "Aber das sind Details, die wir später klären können."

Jasper von Niedersprötzingen winkte ab und knurrte dabei: “Ach, macht euch darüber keine Gedanken, zu Gericht sitzen wir nicht wirklich oft. Die meisten Edlen haben sich das Recht abgedungen, selbst das Friedensgericht abhalten zu können.” Der alte Verwalter wog seinen Kopf hin und her und brummte dabei. “Is’ also nicht allzu viel zu tun, in dieser Hinsicht, tät’ ich meinen, näch?” Sein Blick ging zu seiner Baronin, die knapp nickte. Dann lehnte sich der Truchsess wieder nach vorne und stützte seine Ellenbogen abermals auf dem Tisch ab. “Ich bin ein alter Mann und bleibe meist auf der Burg, Reisen tut meinen alten Knochen nicht mehr so gut. Eigentlich is’ auch Gratenfels schon zu weit für mich.” Er musste kurz husten, sammelte sich dann aber wieder. “Also müsst ihr auch hier und dort für die Baronin sprechen und ihren…hmmm…Willen vertreten.” Sein Zeigefinger der rechten Hand flog unkoordiniert wirkend durch die Luft. “Gegenüber dem Volk, gegenüber ihren Edlen und Rittern, aber vielleicht auch in…ähm…politischer Mission. Oder ähnlichem.” Langsam lehnte er sich wieder zurück und wedelte dabei mit seiner Hand, als wolle er eine Fliege verscheuchen. “Jaja, das kann schon passieren. Nicht gleich, seid noch jung, näch? Aber vielleicht bald schon. Wer weiß? Der Kaplan steht in ihren Diensten und spricht für sie, jaja.” Dann musste er erneut husten und sein Oberkörper bog sich dabei nach vorne, ehe er sich, erschöpft wirkend, wieder in den Sitz sinken ließ.

Die Baronin zeigte zum ersten Mal in diesem Gespräch eine emotionale Regung. Sie wirkte mit einem Mal nachdenklich und senkte ihren Blick. Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte sie auf die Tischplatte und schien zu überlegen.

Iriane schaute kurz von Jasper zu Adula und wartete kurz, ob sie das Wort erheben wollte. Als diese keine Anstalten machte, wandte sie sich an den jungen Mann: “Seine Wohlgeboren hat recht, auch wenn dies ebenso selten vorkommt, wie zu Gericht zu sitzen.” Hier zögerte sie kurz und setzte hinterher: “Zumindest in Kranick”. Sie sah Luitwin direkt an: “Wäre dies denn ein Problem für euch? Ihr würdet natürlich vorher Inhalte mit ihrer Hochgeboren oder seiner Wohlgeboren besprechen.” Hier nickte sie nochmals kurz.

Besorgt stand der Geweihte nun auf. “Habt Ihr diesen Husten schon lange, Wohlgeboren? Und dieses Zucken? Ich würde mir das mal gerne ansehen, wenn ich darf. Auf jeden Fall empfehle ich einen Tee aus Spitzwegerich mit Honig. Nehmt Waldhonig, der ist nicht ganz so süß. Und da Ihr schon in Gratenfels seid, ein Bad in den Schwefelquellen. Was das Politische angeht, bin ich inzwischen so weit ausgebildet, dass ich einen Tempel führen kann. Somit traue ich mir zu, Ihre Hochgeboren zu vertreten, wenn es nötig ist. Ich muss nur wissen, wie groß der Spielraum ist. Man kommt in Verhandlungen nicht weit, wenn man starr an seinen eigenen Zielen festhält und nicht bereit ist, Kompromisse einzugehen. Und einen Rat hätte ich bereits: wenn Ihr einen Fremden für dieses Amt besetzt, der dann auch noch die unangenehmen Entscheidungen trifft und/ oder verkündet, wird das Volk Euch weiterhin lieben.” Das ‘solange ihr es nicht übertreibt’ behielt er für sich.

Jasper von Niedersprötzingen winkte ab. “Ach, das ist das Alter, mehr nicht. Und der Husten…ja, der Husten kommt wohl von der trockenen Luft hier drinnen, jaja.” Dennoch schien der alte Mann über etwas nachzudenken.

Adula von Schnakensee hingegen lauschte den Ausführungen des jungen Geweihten und nickte an der ein oder anderen Stelle. Schließlich pflichtete Sie Liutwin knapp bei: “Ja, das ist gut.”

Doch bevor sie noch etwas hinzufügen konnte, mischte sich ihr Verwalter wieder ein und frug Liutwin ganz direkt: “Der Spitzwegerich, ist der gegen den Husten oder das…äh…andere?”

"Gegen den Husten. Das Andere müsste erst genauer untersucht werden."

Der alte Truchsess brummte kurz und wandte sich dann wieder an seine Baronin: “Tät sich gut mit dem Frieder und seiner Adula verstehen, der Junge, näch?” Die Baronin wirkte noch immer leicht abwesend, pflichtete ihrem Verwalter aber bei, ohne ihn wirklich anzuschauen: “Ja, sicher.”, woraufhin Jasper erwiederte: “Könnte fast ihr Bub’ sein, wenn er etwas schweigsamer wär’.” Dann blickte er wieder zu Liutwin und lachte still in sich hinein, während er den jungen Geweihten mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck bedachte und nickte. “Wir haben nämlich einen kleinen Tempel der Peraine in Schnakensee. Unten im Dorf, nich’ weit von der Burg.” Dann klopfte er sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel und klang beinahe schon freudig erregt, als er in die Runde sprach: “Also ich für meinen Teil hab mir mein Bild von dem Jungen gemacht!”, und dann auch seinen Blick über die Anwesenden schweifen ließ: “Möcht’ noch wer was wissen?” Die junge Baronin schüttelte den Kopf, jedoch ohne dabei jemanden anzublicken. Ihr Gesicht hatte dabei einen schon fast traurigen Ausdruck angenommen. Als sich Jasper bereits wieder von ihr abwendete, schob sie jedoch ein tonloses: “Nein.”, hinterher.

Iriane war der Gesichtsausdruck von Adula nicht verborgen geblieben, sie kräuselte kurz ihre Stirn, wandte sich allerdings dem jungen Mann wieder zu und zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. ”Ich danke euch, euer Gnaden. Ihr habt uns ein gutes Bild von euch gegeben. Habt ihr noch Fragen?”

"Ja", sagte der Geweihte und ging auf Adula zu. Leise, freundlich fragte er: "Hochgeboren, wie geht es Euch?"

Als die Baronin von Schnakensee bemerkte, dass sie gemeint gewesen ist und der junge Geweihte auf sie zukam, spannte sie sich mit einem Male an und ihr Oberkörper zuckte zurück. Ihr Gesicht verriet einen Schrecken, ganz so, als habe man ihr einen bösen Streich gespielt. “Was…wie?” Nach einem kurzen Augenblick hielt sie beide Hände abwehrend vor ihren Oberkörper: “Mir…mir fehlt nichts. Ihr könnt euch wieder setzen!”, den letzten Worten verlieh sie eine Schärfe, die sie wohl so nicht beabsichtigte, denn sie fügte schnell in einem versöhnlichen Ton hinzu: “Das viele Gerede und…und die trockene Luft.” Dann zwang sie sich zu einem Lächeln.

Iriane wandte sich lächelnd an Calla: “Wärt ihr so freundlich, das Fenster kurz zu öffnen und etwas frische Luft herein zu lassen.” Dann stand sie auf und goss Adula einen Becher Wasser ein und brachte ihn ihr. Sie drückte der jungen Frau kurz die Schulter. “Nimm mal einen Schluck Wasser, das wird dir gut tun.” Dann setzte sie sich wieder und trank selbst einen Schluck.

Die ältere Zofe war im Begriff etwas zu sagen, als die Baronin von Kranick ihr zuvor kam. Sie schloss ihren Mund, auf dem sich ein breites Lächeln zeigte, während ihre Augen glänzten. Sie nickte Iriane von Kranick mit einer leichten Verbeugung zu und antwortete knapp aber freundlich: “Wie ihr wünscht, Euer Hochgeboren.”, dann drehte sie sich um und machte sich daran, zwei der Fenster zu öffnen, was von einem quietschenden Geräusch begleitet wurde. Sogleich drang auch der Lärm der Straßen deutlich hörbar in das Zimmer, begleitet von einem Schwall warmer Luft, der ein wenig nach Schwefel roch.

Der Geweihte lächelte. "Auch, wenn meiner Herrin der Müßiggang ein Greuel ist, so weiß sie doch, dass wir nur Menschen sind und keine Mühlräder. Pausen sind erlaubt, sofern man es nicht übertreibt. Nehmt Euch ruhig eine Viertelstunde, bevor Ihr den nächsten Kandidaten ruft."

Die junge Baronin nickte eifrig, während sich in ihrem Gesicht eine leichte Röte zeigte. “Gut, das werde ich tun. Danke.”

Ihr Verwalter begann zu Krächzen, ehe er sich kurz räusperte und mit halbwegs fester Stimme weitersprach: “Beim nächsten Mal, näch? Steht sicher schon die nächste vor der Tür. Aber dann ist’s das auch gewesen heut’.” Man konnte ein tiefes Seufzen von ihm vernehmen.

Iriane nickte dem jungen Mann freundlich zu: “Ja, ein kleine Pause wäre vielleicht wirklich gut. Habt ihr denn nun noch Fragen, euer Gnaden?”

“Nein. ich denke, ich sollte Ihrer Hochgeboren Ihre Pause gönnen. Sollte sie sich für mich entscheiden, so lassen sich Details wie Unterbringung, Reiserouten, Dienstplan und Vergütung auch später noch besprechen. Möge Peraine euch neue Kraft schenken.” Er segnete die vier Anwesenden und neigte sein Haupt.

“Das ist…sehr freundlich von euch.”, stammelte die Baronin und erhob sich langsam. “Wie können wir euch erreichen, euer Gnaden?”

"Bis Ende des Mondes werde ich hier im Gratenfelser Tempel Dienst tun. Danach wollte ich den neuen Sankta-Theria-Pilgerpfad begehen und die Drachentage in Kontemplation in Honingen verbringen. Nächstes Jahr würde ich dann weiter durch Nordgratenfels ziehen, wobei ich noch nicht weiß, wohin mich meine Herrin führen wird. Es sei denn natürlich, Ihr möchtet mich an Euren Hof holen. Dann werde ich meine Pläne dementsprechend ändern."

Die Baronin nickte mit gleichmütigem Gesichtsausdruck. “Gratenfels, gut. Wir wollen uns bis morgen entschieden haben.” Sie blickte zaghaft in die Runde. “...aber Ihr erhaltet auf jeden Fall eine Nachricht von uns.”

Jasper von Niedersprötzingen erhob sich ebenfalls umständlich von seinem Stuhl und nickte dem Geweihten zufrieden zu.

Iriane lächelte dem jungen Mann freundlich zu: “Eine gute Heimreise, euer Gnaden."

"Das wünsche ich euch auch. Mögen die Götter über eure Wege wachen." Er neigte noch einmal das Haupt und wandte sich zum Gehen.

Als der junge Geweihte aus der Tür getreten war, blickte Adula von Schnakensee zu ihrer Zofe und nahm dabei das Glas in die Hand: “Calla, noch einen Wein bitte. Und mach’ das Fenster wieder zu, dieser Gestank ist ja nicht zum aushalten!” Während die Leibzofe der Baronin beiden Bitten stumm nachkam, blickte Adula in die Runde: “Bitte lasst uns das schnell hinter uns bringen. Nur noch eine Person. Das wird hoffentlich nicht allzu anstrengend.” Dann leerte sie das Glas in einem Zug und atmete anschließend erleichtert durch. Sie stellte es vor sich ab, straffte sich und rief in Richtung der Türe: “Tretet ein!”

Akt 5 - Die Löwin

Die Tür öffnete sich und herein trat eine Frau, die sich offensichtlich bücken musste, um durch die Tür zu passen. Kaum durch die Tür streckte sie den Rücken durch und salutierte militärisch. Ihre schwarzen Haare hingen zur rechten Seite ihres Gesichts herab, während auf der linken Hälfte des Schädels jedoch jeder Haarwuchs fehlte. Stattdessen verunzierte eine schlecht verwachsene Narbe das eigentlich ästhetische Gesicht der Dame. Offensichtlich musste sie ein Prankenhieb schwer verletzt haben; das linke Auge hatte die Klaue knapp verfehlt. Doch das Augenlid war nicht verschont geblieben, sodass sie das linke Auge unnatürlich zusammenkniff. Der Wappenrock der Rondrakirche in Rot und Weiß ruhte auf ihren breiten, muskulösen Schultern. Zwar hatte sie stramm Haltung eingenommen, doch schien sie das nicht davon abzuhalten, erst einmal die Lage zu überprüfen - unterbewusst ließ die Geweihte der Leuin die Augen von einer Seite des Raumes zur anderen gleiten und identifizierte die wichtigsten Personen sowie alle Ausgänge. Nach einem Moment des Schweigens nahm sie die Rechte herunter und verneigte sich knapp vor den Hochadeligen im Raum. Als sie wieder aufsah, schien sie auf eine Erlaubnis zu warten, zu sprechen. Doch konnte man in den Augen der Hünin auch noch ein anderes Gefühl glitzern sehen: “Eine Vorstellung also? Hier? In einem ‘Hotel’?”

Die Baronin von Schnakensee musterte die Geweihte während ihres Eintretens interessiert, jedoch verriet ihr Gesicht dabei keinen Gedanken. Auch auf der Narbe im Gesicht blieb ihr Blick eine Weile haften, sie quittierte diesen Anblick jedoch lediglich mit einem leicht zur Seite geneigten Kopf. Einige Sekunden herrschte eine für Außenstehende beinahe schon unangenehme Stille im Raum, als plötzlich vom Tisch zur linken ein helles Klirren zu vernehmen war. “Verzeiht mir bitte meine Unachtsamkeit, hohe Herrschaften!”, sprach die ältere Dame, die in der einen Hand eine gläserne Karaffe hielt, gegen welches sie wohl versehentlich mit einem noch ungefüllten Glas, welches sie in der anderen Hand trug, gestoßen sein musste. Dabei verneigte sie sich knapp in Richtung der beiden Frauen auf der anderen Seite des Tisches. Die hochgewachsene, schlanke Frau in der Mitte räusperte sich hiernach kurz und begann zu sprechen: “Es freut mich, dass ihr heute hier seid, euer Gnaden.” Die Stimme der Baronin von Schnakensee war etwas dunkler, als man es von einer Dame für gewöhnlich erwartet, hatte jedoch einen sehr angenehmen, beinahe schon beruhigenden, monotonen Klang. Sie wies mit der ausgestreckten Hand auf die etwas ältere und kleinere Frau zu ihrer Rechten, ohne diese jedoch anzublicken. “Dies ist ihre Hochgeboren Iriane von Kranick. Eine enge Vertraute von mir.” Dann mit ihrer linken Hand auf den Herren zu ihrer linken, der sich leicht gebückt mit den Fäusten auf dem Tisch abstützte und Herrat mit mahlendem Unterkiefer und zusammengekniffenen Augen entgegen blickte. “Jasper von Niedersprötzingen, mein Truchsess und Verwalter!”

Als der angesprochene seinen Namen hörte, nickte er Herrat zu und sprach mit einer bereits leicht brüchigen Stimme, die er jedoch durch seine Lautstärke zu übertünchen versuchte: “Ah, ein kräftiger Geweihter der Rondra, ein ganzer Kerl! Das ist ja etwas erfreulich anderes am heutigen Tage!”. Dann schlug er mit einer Faust auf den Tisch und ließ sich langsam in den Stuhl hinter ihm zurücksinken.

Der Baronin schlich sich bei den Worten ihres Verwalters eine leichte Röte auf die Wangen, ehe sie sich ebenfalls langsam setze und dabei auf einen Stuhl wies, der auf Herrats Seite vor dem Tisch stand: “Nehmt bitte Platz.”

Die resolute Geweihte quittierte dies nur mit einem knappen, aber durch den ganzen Raum vernehmlichen: “Danke, Euer Hochgeboren!” Mit zwei langen Schritten durchmaß sie die Distanz und setzte sich den hohen Herrschaften gegenüber. Ganz offensichtlich war sie nicht das erste Mal mit einem Mann verwechselt worden, schien ihr dieser Lapsus doch so gar nichts auszumachen. Und so ganz einfach war es nicht, zu identifizieren, ob die breite, mächtige Brust einfach nur aus Muskeln bestand. Seit der Zant ihr Gesicht verunstaltet hatte, waren auch die Züge ihrer Wangenknochen nicht mehr gut zu erkennen. Mit ernstem Gesichtsausdruck blickte sie langsam von Gastgeber zu Gastgeber.

Hinter dem Tisch stolzierte derweil die ältere Dame mit Glas und Karaffe entlang, blieb hinter dem Verwalter der Baronin stehen, goss etwas von der klaren Flüssigkeit ein und beugte sich vor, um das halbvolle Glas neben Jasper von Niedersprötzingen abzustellen. Nur unmerklich bewegten sich ihre Lippen, als ihr Kopf sich in der Nähe der Ohren des alten Mannes befand, der hiernach überrascht seine Augenbrauen hob und ihm ein kurzes: “Oh!”, entfuhr.

Die Baronin von Kranick setzte sich ebenfalls. Sie hob kurz die Hand an den Mund, um ein Schmunzeln hinter einem leisen Niesen zu verstecken. `Jasper benötigt mal ein paar Augengläser', dachte sie amüsiert. Dann musterte sie ihrerseits die eingetretene Priesterin. `Eine interessante Frau, aber sie hat bestimmt ihre Geschichte` Dann richtete sie sich mit klarer, fester Stimme an die Geweihte, beugte sich beim Sprechen etwas nach vorne: “Ist euch der Ort dieser Zusammenkunft nicht genehm, Euer Gnaden?”

Herrats rechter Mundwinkel zuckte unmerklich nach oben. „Ach, es ist - etwas ungewohnt, Euer Hochgeboren. Feine Gasthäuser meide ich normalerweise“, konstatierte die Ritterin der Göttin, als wäre es selbstverständlich, warum. Als sie merkte, dass dies nicht der Fall war, setzte sie hinterher: „Wohlstand und Genusssucht versuchen uns. Sie lenken ab. Wer der Leuin dient, lebt anders.“ Die Rondrianerin blickte ihrer Gegenüber direkt in die Augen, so als wollte sie hindurchblicken - mitten in die Seele. Das vernarbte Augenlid verlieh ihrem Blick etwas Schneidendes; so, als ob der Geweihten die Pranke gewachsen war, die die Wunde geschlagen hatte.

Die ältere Frau, welche noch immer bei dem Verwalter der Baronin stand, neigte sich abermals zu ihm herab, woraufhin dieser ihr nur knapp zunickte.

Die Baronin von Schnakensee blickte Herrat indes fragend an und es brach aus ihr hervor, wobei ihre Worte vor allem Neugier verrieten: “Wie wollt ihr der Leuin denn mitten im Nirgendwo dienen? Selbst die diebischen Rotpelze haben sich seit vielen Jahren nicht mehr nach Schnakensee verirrt.”

„Eure Lande sind im Nirgendwo, Euer Hochgeboren?“, schnaubte Herrat, so als ob sie diese Einlassung kein Stück verstand. „Ich dachte, sie bilden die Front im Kampf gegen die Niederhöllen, die Verderber der Ordnung, den Ork und den Rotpelz und ihre wilden Götzen! Die Frontlinie verläuft in jedem von unser - in unserem Kopf und hier!“ Die Ritterin der Göttin schlug sich mit der Rechten auf die linke Brust, die von dem Schlag hohl widerhallte. „Wir Nordmärker sind das Rückgrat des Reiches. Hier wachsen Tag um Tag junge Männer und Frauen heran, die Soldaten der zwölfgöttlichen Lande sein können - oder verweichlichte Sesselpupser. Der Dienst an Rondra in Schnakensee? Der beginnt bei diesen jungen Leuten und endet bei Euch, euer Hochgeboren.“

Die Angesprochenen Personen gegenüber der jungen Geweihten blickten sich gegenseitig mit einem fragenden Gesichtsausdruck an. Es war letztlich der alte Verwalter der Baronin, welcher zuerst wieder zu Worten fand: “Junge Dame,” er räusperte sich kurz und setzte sich etwas aufrechter, “wir, ähem, wir nehmen mal an, ihr seid gerade auf dem Weg nach Linnebrück um einen Geburtssegen zu sprechen. Weil…ähem…,” er räusperte sich erneut und nahm dann einen Schluck aus dem Glas, das neben ihm stand, “...na, weil da ein Kind geboren ist.” Er nickte sich selbst zu, ehe er weiter sprach. “Jetzt seht ihr aus dem Augenwinkel einen Rotpelz im Fischerswald!” Er kniff bei dem Satz ein Auge zusammen und zeigte mit dem Finger auf Herrat. “Und eben dieser Rotpelz tut dort…ähem…Pilze sammeln, ja, genau!” Jasper deutete einen Fausthieb auf den Tisch an. “So ist es, der Rotpelz sammelt Pilze am Waldrand! Was hieltet ihr für die…ähem…legitime Vorgehensweise?” Mit einem Blick aus Neugier und schelmischer Vorfreude fixierte er Herrat. Auch die Baronin hatte sich weiter nach vorne gelehnt, legte ihre gefalteten Hände auf dem Tisch ab und schien gespannt auf die Antwort der Geweihten.

Auch die ältere Frau beugte sich mit interessierten Blick weiter nach vorne. `Die Antwort interessiert mich brennend' dachte die Baronin bei sich.

„Ist es Rotpelzen in Eurem Territorium erlaubt, Pilze aufzulesen, Euer Hochgeboren?“, frug die Rondrianerin irritiert.

Die Baronin von Schnakensee blickte hilfesuchend zu ihrem Verwalter, der sich genüsslich zurücklehnte und weiterhin zu Herrat blickte. Ob er dem Blick der Baronin bewusst auswich, war nicht eindeutig einzuschätzen. Adulas Gesichtsausdruck verfinsterte sich dennoch. Sie wollte dieses Spiel mit ihrem Verwalter jedoch nicht länger spielen und nahm die Geweihte wieder in den Blick. Der Baronin war anzusehen, dass sie verärgert war. Entsprechend erregt klang ihre Stimme, als sie Herrat antwortete: “Was heißt erlaubt!?! Ich habe es nicht verboten! Wem denn auch? Irgendeinem Häuptling, der noch nicht einmal einen ‘hochoffiziellen Erlass der Baronin’ lesen kann?”. Adula machte eine dramatische Geste mit ihren Händen, als sie von dem Erlass sprach. Jasper von Niedersprötzingen schien mit dieser Antwort jedoch zufrieden, denn er nickte leicht und schob dabei die Lippen nach vorne. Aber Adula schien sich langsam in Rage zu reden: “Sollen diese verfluchten Rotpelze doch in ihrem Wald sitzen und ihre Pilze sammeln und wasweisichnoch! Wald haben wir in Schnakensee mehr als genug! So lange sie unsere Höfe in Frieden lassen, sind mir diese…diese…diese tumben Tiere gleich!” Sie hieb auf den Tisch, um ihre Worte zu unterstreichen. Dann nickte sie Herrat auffordernd zu: “Also sagt dem alten Mann, was er hören will. Toleriert ihr die Rotpelze und ihre Götzen?”

Jasper zuckte kurz zusammen, sein Blick blieb aber weiter neugierig auf Herrat gerichtet.

Iriane hob erstaunt eine Augenbraue beim Ausbruch ihrer Standesgenossin hoch. Ihre Aufmerksamkeit lag allerdings weiterhin auf der Reaktion der Geweihten.

"Nein, bei Rondras Feuerschweif, das tue ich nicht!", erwiderte Herrat nicht weniger heftig. "Die Rotpelze sind eine Pest unserer Lande. Die, die in den Wäldern herumstreifen und sich unkontrolliert vermehren, fallen irgendwann über Eure Bauern her, Euer Hochgeboren! Der eine Pilzesammler mag harmlos wirken. Doch wo der herkommt, ernährt er einen ganzen Stamm! Kann dieser ungestört wachsen und gedeihen, wird er zur Geißel der Holzfäller und Viehtreiber." Herrat räusperte sich. "Euer Test, Herr von Niedersprötzingen, stellt eine aufrechte Anhängerin der Leuin nicht vor eine Herausforderung: Wie soll ich aufrechten Herzens einen Geburtssegen im Namen der Großen Löwin sprechen, wenn ich das wilde Geschöpf, das die Gemeinschaft des Kindes bedroht, habe laufen lassen?"

Jasper von Niedersprötzingen lauschte den Ausführungen der Geweihten der himmlischen Leuin aufmerksam und nickte hier und da. Seine Augen kniff er immer weiter zusammen, so als wollte er durch Herrat hindurch blicken. Als diese endete, sprach er sie, noch immer nickend, an: “Jaja, da habt ihr wohl gesprochen. Wohl gesprochen!”, ehe er seinen Blick zu den Fenstern richtete.

Die junge Baronin atmete tief aus und schien sich kurz zu sammeln. In einem emotionslosen Tonfall entgegnete sie der Geweihten: “Habt Dank für eure ehrlichen Worte und verzeiht mir die meinen. Der heutige Tag war recht anstrengend.” Sie atmete nochmals tief durch und frug Herrat ganz direkt: “Möchtet ihr noch etwas wissen?”

Dann kam die ältere Frau mit einem Glas, das gut mit einer rötlichen Flüssigkeit gefüllt wurde, zu der Baronin und stellte dieses neben Adula ab, während sie beruhigend ihre Hand auf die Schulter ihrer Herrin legte. Die Zofe lächelte Herrat dabei freundlich zu: “Darf ich euch ebenfalls etwas anbieten, euer Gnaden? Wasser, Wein…?”

Iriane trug weiterhin einen ernsten, nachdenklichen Gesichtsausdruck zur Schau. Irgendwas schwirrte ihr im Kopf rum, sie kam nur nicht drauf. Wo hatte sie den Namen der Frau schon mal gehört, dies war noch nicht lange her…Sie nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Becher.

“Nein”, antwortete Herrat der Zofe knapp. Nach einem Moment der Stille setzte sie hinterher. “Danke.” Die Geweihte richtete sich in ihrem Stuhl auf. Ihre Augen waren fest auf die junge Baronin gerichtet. Man merkte der Rondrianerin an, dass diese Stühle ihr nicht lagen - bei genauem Hinsehen konnte man erkennen, dass der Stuhl schlicht zu klein für die breit gebaute Frau war. Dennoch murrte sie nicht, sondern quetschte sich in diese unbequeme Enge. “Ja, Euer Hochgeboren. Warum habt Ihr Herrn von Niedersprötzingen gerade so geantwortet? Ein harter Tag stählt unseren Körper und schärft unseren Geist. Eure Antwort jedoch war nicht wie eine geschliffene Klinge, sondern so flexibel wie Wasser. Ihr seid der Frage ausgewichen. Warum?” Diese einfache, intime Frage ging Adula unter die Haut. Der Nachdruck, der in der Stimme der Geweihten lag, war elektrisierend.

Adulas Blick lag abwesend vor ihr auf der Tischplatte, als Herrat zu sprechen begann. Nach ihren Worten und der abschließenden Frage hob die junge Baronin ganz langsam ihren Kopf und fixierte dabei die Geweihte aus zusammengekniffenen Augen. Wirkte sie zuvor noch überfordert und genervt, so glich sie nunmehr einer Raubkatze kurz vor dem Sprung. Ihre blauen Augen funkelten und in ihrem Gesicht zeigte sich eine Wildheit, die man zuvor nicht erahnen konnte. Während sie ihre vor sich liegenden Hände langsam zu Fäusten ballte, kratzen ihre Nägel gut hörbar über das Holz des Tisches. Jede Faser ihres Körpers schien zum Zerbersten angespannt. Sie zog schließlich ihre Lippen langsam auseinander und zeigte ihre Zähne.

Plötzlich unterbrach ein lautes Klirren die angespannte Stille, gefolgt von einem Aufschrei, der Schmerzen verriet: “Aaahhhh….aaahhhh!”. Die ältere Zofe stand bei den Tischen am Fenster und hatte den Gästen im Raum ihren Rücken zugewandt. Um sie herum lagen Glasscherben auf dem Boden und sie stand inmitten einer kleinen Wasserpfütze. Ihr Oberkörper krümmte sich langsam nach vorne, während sie immer wieder dieses jammernde Geräusch ausstieß: “Aaahhhh….aaahhhh!”. Der Verwalter der Baronin war der erste, der reagierte. Er sprang von seinem Stuhl auf, welcher mit einem lauten Poltern hinten über kippte. Er eilte dann, so schnell er es noch vermochte, hinter den beiden Baroninnen entlang in Richtung der Fenster, wobei er sich mit seiner rechten Hand ab und zu an der Wand abstützte: “Calla! Calla!”, rief er der Zofe zu.

Iriane schaute von Adula zu Herrat und wieder zurück. Sie wandte sich mit gerunzelter Stirn an die Geweihte: “Euer Gnaden, ihr verwechselt ausweichend Antworten mit….”, weiter kam sie nicht, sie wurde durch die Schmerzensrufe der Zofe unterbrochen. Sie stand kurz nach Jasper auf, war deutlich schneller als der Mann und erreichte die Frau nach wenigen Schritten. Als sie an Adula vorbei ging, drückte sie kurz beruhigend, wie beiläufig die Schulter der jungen Frau. Mit ruhiger, sachlicher Stimme sprach sie die Zofe an: Calla, was ist passiert?”

Die alte Frau hielt mit der rechten Hand ihre Linke umklammert und man konnte sehen, wie langsam etwas Blut durch ihre Finger rann. “Ahhh…”, jammerte sie, “...ich Schussel. Es tut mir leid, es tut mir so leid!” Dann war auch Jasper von Niedersprötzingen an den Tischen angekommen und er schnaufte laut hörbar, ob seinen eiligen Spurts durch das halbe Zimmer. Bei seinen letzten Schritten knirschte das zerbrochene Glas unter seinem Stiefel. “Da ist ja Blut!”, rief er das Offensichtliche aus, wobei sich seine Stimme beinahe überschlug, und begann etwas aus seinem Gürtel zu nesteln. Nach wenigen Augenblicken hatte er ein Tuch in der Hand, welches er, an Iriane vorbei, zu Calla hielt: “Hier, nimm!”

Die Geweihte der Leuin wusste die Gefahren einer Situation einzuschätzen. Als der Krug noch nicht auf dem Boden aufgeschlagen war, wusste sie, dass sich die Zofe an der Hand verletzt hatte. Hier war keine Eile - und insbesondere keine blitzende Klinge - gefordert. Aber ihr kam schon etwas komisch vor, wie sich die Frau an der noch nicht geborstenen Karaffe verletzte. In Ruhe erhob sie sich und entnahm ihrer Feldtasche, der an ihrem Gürtel hing, einen Streifen Verbandszeug. Damit schritt sie zu Calla und streckte ihre rechte Hand aus. “Zeigt mir die Verletzung, ich werde sie verbinden.” Als Rondrianerin hatte sie Erfahrung im Verschließen von Feldverletzungen; insbesondere von Schnitten.

Iriane trat eine Schritt zurück, um die großgewachsene Frau zur Zofe durchzulassen. Sie trat zu Adula und suchte den Blickkontakt zu ihrer Freundin. Sie nutzte es, dass die Aufmerksamkeit auf dem Missgeschick von Calla lag. “Lass dich nicht reizen, beruhige dich.”, sagte sie mit einem offenen Lächeln. Sie sprach so leise, dass die Worte nur Adula mitbekam.

Während die ältere Frau das Tuch des Verwalters ignorierte, drehte sie sich langsam zu der Geweihten um und blickte diese dankbar an. Sie nahm ihre rechte Hand von ihrer Linken und hielt diese dann zögerlich nach vorne. Es war ein kleiner, etwa zwei Finger breiter Schnitt zwischen Daumen und Zeigefinger zu sehen, aus dem langsam etwas Blut tropfte. “Hier...Ist es schlimm?”, frug sie Herrat zögerlich. Von Jasper von Niedersprötzingen war nur ein Brummen zu vernehmen, als er sein Tuch wieder einsteckte und sich langsam auf dem Rückweg zu seinem vormaligen Sitzplatz machte.

Adula fuhr sich mit ihren Fingerspitzen zweimal durch ihre Haare und zwang sich zu einem Lächeln, als sie mit ihrem Blick Iriane suchte. Sie nickte dabei und klang ein wenig verzweifelt, als sie sich flüsternd an ihre Standesgenossen wandte: “Können wir für heute nicht Schluss machen, ja?”

Iriane lächelte weiterhin beruhigend und leise zu ihrer Freundin: “Ich denke, dass wir das hier”, hier deutet sie kurz auf Herrat, “noch zu Ende bringen sollten. Es wird ja nicht mehr lange dauern. Alles weitere können wir dann morgen nach dem Frühstück besprechen. Schaffst du das?”

Adula atmete tief durch und nickte Iriane stumm zu, dann nahm sie die Geweihte in den Blick, die gerade ihre Zofe versorgte.

Iriane drückte kurz die Hände von Adula, wandte sich dann wieder dem Geschehen zu.

“Nein, der Schnitt ist nicht tief. Er wird in wenigen Tagen verheilen, vorausgesetzt, die Wunde wird sauber gehalten.”, erwiderte die Geweihte ein wenig technisch. Mit wenigen Handgriffen saß ein - streng angelegter - Verband. Hierauf trat die Geweihte zurück an ihren Stuhl und wartete neuerlich stramm auf eine Aufforderung, sich wieder zu setzen. Ihr Blick war fest auf die beiden Hochadeligen gerichtet und verriet keine emotionale Regung; jedenfalls beachtete man das feine Zucken der Wangenmuskulatur nicht.

Die Zofe der Baronin zuckte beim Verbinden ihrer Hand kurz zusammen, unterdrückte aber - mit Ausnahme eines kurzen Zischens - jeden Laut. Als der Verband angelegt war, begutachtete sie diesen zufrieden und blickte die Geweihte freundlich und dankbar an: “Habt vielen, vielen Dank, euer Gnaden! Ich werde euren Rat berücksichtigen!”

Adula von Schnakensee brauchte einen Moment, ehe sie die Geste der Geweihten verstand: “Ähh…ja, setzt euch! Und…äh…danke für eure schnelle und kompetente Hilfe.” Ihr Blick ging bei den letzten Worten zu ihrer Zofe, die ihr gütig und zufrieden zunickte. Dann wandte sich die Baronin wieder an Herrat und ihr Tonfall wurde fester: “Ich vermag eine Klinge durchaus zu führen. Auf dieses…Spiel hier habe ich jedoch wenig Lust. Diplomatie, gut überlegte Antworten, Ausflüchte…Nein,”, Adula schüttelte langsam, aber entschieden den Kopf, “...darin habe ich keine Übung. Und es ist mir auch zuwider.” Die junge Frau verzog ihr Gesicht, als hätte sie Essig gekostet. Dann atmete sie tief durch und versuchte in gelassenerem Tonfall zu fragen: “Möchtet ihr sonst noch etwas wissen, euer Gnaden?”

"Ausflüchte und Diplomatie braucht man nur, wenn man nicht zu seinem Wort stehen kann", pflichtete die Ritterin der Göttin bei. "Eine Hofkaplanin muss der mahnende Stachel im Fleisch des Lehensherren sein. Entscheidet Ihr Euch, mich zu wählen, Euer Hochgeboren, werde ich diese Aufgabe erfüllen. Erwartet dann auch keine Zurückhaltung von mir." Die Rondrianerin setzte eine rhetorische Pause. "Ich habe keine weiteren Fragen."

Adula von Schnakensee nickte der Geweihten knapp zu und stand auf. “Dann danke ich euch und wir werden uns zur Beratung zurückziehen. Wie erreichen wir euch, euer Gnaden?”

Iriane hatte den Ausführungen der Frauen mit halben Ohr zugehört und kurz den Kopf geschüttelt `Woher kam ihr der Name der Frau bekannt vor, sie kam einfach nicht drauf’. Sie zwang sich wieder am Gespräch teilzunehmen und schenkte dem Gespräch ihre Aufmerksamkeit. Sie wandte sich nochmals kurz an die Frau und sprach mit etwas härterem Tonfall, aber weiterhin lächelnd: “Wenn man bei dieser Aufgabe nicht vergisst, wer die Herrin im Gut ist, mögen eure Ausführungen durchaus ihren Reiz haben, euer Gnaden." Dann nahm sie einen Schluck aus ihrem Becher und schaute die Geweihte direkt an.

"Wie auch, Euer Hochgeboren? Der Mahner trifft nie selbst Entscheidungen. Seine Aufgabe ist es nur, Entscheidungen anzuleiten. Die Verantwortung der Entscheidung haben Herr Praios und seine löwengleiche Schwester anderen überantwortet. Das heißt nicht, dass man mit jeder Entscheidung zufrieden sein muss." Die Geweihte hielt dem Blick Irianes ohne Zögern stand. Aug in Aug verweilten sie für einen Moment, dann trat ein Lächeln auf die Lippen der Rondrianerin, das die Narbe in ihrem Gesicht zu einer Fratze verzerrte. "Eure Entscheidung, Hochgeboren von Schnakensee, könnt Ihr dem Leuentempel zu Rondraldshöhe zukommen lassen."

Iriane wirkte ob der Antwort der Geweihten zufrieden und nickte ihr kurz zu. Sie wich dem Blick der Frau ebenfalls nicht aus, ein freundliches Lächeln im Gesicht.

Adula blickte zwischen den beiden Frauen hin und her. Ihr Gesichtsausdruck wirkte hierbei überraschend gleichgültig. Zuletzt blieb ihr Blick auf Herrat haften und sie schien das Lächeln der Geweihten kurz zu studieren, ehe sie ihr knapp zunickte: “Rondraldshöhe. Gut. Wir werden euch so oder so informieren. Danke.” Die junge Baronin straffte sich und stand nun kerzengerade.

Auch die Rondrianerin erhob sich und salutierte den beiden Baroninnen. Ohne große Umschweife verbeugte sie sich und schritt auf den Ausgang zu, so dass ihre strammen Schritte auf dem Holzboden wie Donnerschläge widerhallten. An der Tür wandte sie sich noch einmal um und rief durch den Raum, dass allen Anwesenden die Ohren klirrten: „Die Götter zum Gruße, die Löwin voran! Geht Euren Weg, Hochgeboren. Geht ihn mit Mut und in festem Glauben. Geht ihn aufrecht und tapfer. Versteckt Euch nicht, dann seid Ihr ein leuchtendes Beispiel für Eure Untertanen. Möge Rondra Euch in leisem Wind und donnerndem Sturm begleiten.“ Ohne eine Antwort zu erwarten, packte sie die Türklinke und bückte sie umständlich unter dem Türstock durch. Dann war die Frau, die wie ein Paukenschlag war, verschwunden.

Akt 6 - Die Entscheidung

Adula von Schnakensee ließ sich erschöpft in ihren Stuhl fallen und massierte ihre Schläfen mit ihren Zeigefingern. “Endlich vorbei!”, sprach sie zu sich selbst. Dann blickte sie auf und sah zu ihrer Zofe: “Danke, Calla!”

Die Angesprochene lächelte nur milde und hob ihre verbundene Hand. Sie sprach mit mütterlichem Tonfall zu ihrer Herrin: “Nur ein kleiner Schnitt, euer Wohlgeboren. Und einige Silbertaler für das zerbrochene Glas, das kann ich euch aber ersetzen, wenn ihr möchtet.”

Die Baronin winkte ab: “Schon gut, du hast wie immer das Richtige getan. Ich danke dir, ich hätte mich nicht reizen lassen sollen.” Dann blickte sie zu Iriane: “Was meinst du? Welche war die Richtige?” Das Räuspern ihres Truchsesses, der sich mit einem Ächzen ebenfalls erhoben hatte, ignorierte sie.

Iriane lächelte ihre Freundin an: “Eine gute Frage, aus meiner Sicht sind 3 der Geweihten durchaus geeignet, um an deinem Hof diese Rolle auszufüllen. Ihre Ganden Alassia ist eine interessante Frau, ich bin mir aber nicht sicher, ob sie die Stelle richtig einschätzt und sich nicht schnell im Alltag unterfordert fühlt. Natürlich hätte sie so Zeit, ihren eigenen Forschungen und Interessen weiter zu verfolgen.” Sie nahm kurz eine Schluck ihres Wassers, bevor sie weitersprach. “Ihre Gnaden Ringard hat mich sehr überrascht für eine Dienerin des Götterfürsten. Sie wäre mit Sicherheit eine standhafte Vertretung, wenn sie für sich sprechen müsste oder soll. Ich denke, dass deine Edlen vor ihr auf jeden Fall von Beginn an Respekt zeigen würden. Mein geheimer Favorit jedoch ist Seine Gnaden Liutwin. In dem Jungen steckt mehr, als man auf den ersten Blick sieht, glaube ich. Er wirkt zart und schwach, ist es aber nicht. Zudem steht er stark im Glauben.” Hier dachte sie kurz nach. "Seine Schwester wäre für deine Bauern gut, aber für dich nicht!” Das führte die Baronin nicht weiter aus. “Ihre Ganden Herrat ist für mich auf dem letzten Platz. Der Name sagt mir was, doch ich komme nicht drauf, woher ich ihn kenne. Allerdings hinterlässt die Erinnerung keinen positiven Beigeschmack.” Sie kräuselte kurz die Stirn, es ärgerte sie, dass sie nicht drauf kam, woher ihr der Name geläufig war. “Zudem sehe ich zu viel Konfliktpotential zwischen dir und ihrer Gnaden. Ich glaube auch, dass sie im Glauben, recht zu handeln, durchaus Alleingänge übernehmen könnte.” Iriane holte kurz Luft, stand auf und ging ein paar Schritte, um sich die Beine zu vertreten. Dann ging sie zum Tisch und goss sich einen Wein ein. Sie nahm einen tiefen Schluck des Rebensaftes und schloss kurz die Augen.

Calla von Muggenloch, die direkt von der Baronin von Kranick stand, lächelte dieser zufrieden zu und nickte. Das Gesicht ihrer Freundin Adula von Schnakensee konnte die Baronin jedoch nicht sehen. Auch schien diese nichts erwidern zu wollen, denn es war der alte Verwalter Schnakensees, der sich nach einem Moment der Stille stöhnend aufrichtete und schließlich das Wort an die Anwesenden richtete: “Na, das sehe ich gänz ähnlich, wenn ich meine Meinung ebenfalls kundtun darf.” Ein, zwei Ächzer später, schien er sich ganz aufgerichtet zu haben und sprach weiter: “Der Rondrianer…ehm…Frau…hehe,” er räusperte sich kurz, “...also nein. Das gäb’ nichts Gutes, jaja. Und auch wenn ich den Kleinen mochte, dann wär’ diese von Storchenflug auch nicht geeignet.” Er winkte der Zofe der Baronin kurz zu, sodass diese die Karaffe mit Wasser nahm und sich auf den Weg zu Jasper von Niedersprötzingen machte. “Bei der Reihenfolge der Favoriten, ja, da habe ich eine geringfügig abweichende Meinung, möcht’ ich sagen.” Auf ihrem Weg zu dem Truchsess blieb die Zofe mit der Karaffe in der Hand abrupt stehen und fixierte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Dieser schien das jedoch nicht wahrzunehmen, sondern sprach weiter. “Der Junge hat mir gut gefallen, sehr gut sogar! Aber…”, abwägend ließ er seinen Kopf langsam von einer Seite auf die andere pendeln, “...diese Praios-Geweihte, die hat genau das…ehm…richtige Gedankengut für Schnakensee, möcht’ ich sagen. Zudem würde uns eine Geweihte des Götterfürsten als Kaplan am Baronshof in den Augen des hiesigen Adels sicher aufwerten. Das gilt es zu bedenken. Es ist auch eine politische Entscheidung, wen ihr erwählt.” Calla von Muggenloch stand noch immer gut zwei Schritt entfernt und schien zu einer Säule erstarrt. Noch immer in der Bewegung verharrt, sprach sie mit Kälte in der Stimme zu den Verwalter: “Es ist wenig verwunderlich, dass ein von Niedersprötzingen eine Praiotin zu seiner Favoritin erklärt.” Der Angesprochene kniff die Augen zusammen und blickte zur Zofe. Aus seinem Munde kam nur ein fragendes: “Hm?”

Schließlich mischte sich auch Adula von Schnakensee ein, die ein wenig enttäuscht in die Leere des Raumes blickte und beinahe schon gedankenverloren in die Runde frug: “Warum nicht diese Dienerin der Hesinde? Die hat mir am besten gefallen!”. Dann schien sie sich der Doppeldeutigkeit der Worte bewusst zu werden und sie errötete leicht. Sie blickte zur Baronin von Kranick und fügte entschuldigend hinzu: “Ich meine, weil…sie ist schon so viel herumgekommen und hat so viel zu erzählen!” Sie machte drei schnelle Schritte und stand hinter Iriane, der sie behutsam die Hand auf die Schulter legte. “Die anderen sind so…langweilig.”

Iriane schmunzelte ob der Aussage von Adula, schloss kurz die Augen, um nachzudenken. Dann drehte sie sich um und schaute sie an: “Ich stimme dir, wie gesagt, zu, dass Alassia eine interessante Person ist. Ich bin mir halt nicht sicher, ob sie die Ausdauer für diese Stelle hat und ob sie zu deiner Bevölkerung passt.” Hier zuckte sie kurz mit den Schultern. “Zum Ende hin ist es deine Entscheidung, meine Liebe, wir können dir nur mit Rat und Tat zur Seite stehen“. Sie lächelte ihre Freundin warm an.

Adula erwiderte die Worte ihrer Freundin mit einem zufriedenen Lächeln, ehe sie den Kopf drehte und zu ihrer Zofe und ihrem Verwalter blickte. Beide standen etwas zwei Schritt voneinander entfernt und sahen sich mit Zorn oder gar Verachtung im Gesicht gegenseitig an. Adula schien das nicht zu bemerken oder zu überspielen, als sie an beide die Frage richtete: “Wie ist eure Meinung?”

Jasper von Niedersprötzingen reagierte als erster auf die Ansprache seiner Herrin. Mit zwei, drei watschelnden Schritten drehte er sich so, dass er ihr zugewandt gewesen ist. Dann kratzte er sich am Kopf und brummte dabei. “Jaja, ‘s wird schon so sein, näch?” Er blickte im Raum umher und schien die passenden Worte zu suchen. Die Zofe begann gehässig zu grinsen. “Du hast ihrer Hochgeboren nicht zugehört, nicht wahr?”, frug sie den Truchsess mit herausforderndem Tonfall, der daraufhin nur abwinkte und kurz ächzte.

“Schluss ihr beiden!”, mischte sich Adula von Schnakensee bestimmt ein und blickte verständnislos zwischen Zofe und Truchsess hin und her. “Jasper, Calla, glaubt ihr, die Hesindegeweihte wäre eine gute Wahl?”

Calla von Muggenloch setzte ein fürsorgliches Lächeln auf und wandte sich ebenfalls in Richtung ihrer Herrin: “Sie wäre mit Sicherheit eine gute Wahl…aber nicht die Beste!” Auf dem Gesicht der Baronin zeigte sich ein wenig Enttäuschung, während ihr Verwalter kurz und heiser lachte: “Eh, eh, eh…”. Dann räusperte er sich und fügte beinahe schon entschuldigend hinzu: “Na, wenn man es genau nimmt, dann wäre die beste Wahl die Hesinde-Dienerin als persönliche Kaplanin der Baronin. Der Junge…der…ähm…Peraine…als Mann für das Volk, der auch Verwaltungssachen tut. Is’n kluger Kopf!” Er nickte sich selbst zustimmend zu. “Ja, und diese von Falken…ding. Ähm…die Praiotin eben, ja. Also die ist die richtige Frau am richtigen Ort, möcht’ ich sagen. In Glaubenssachen tät’ ich ihr vertrauen. Kann für alle ein Gewinn sein. Ist eine Frau des…ähm…Ausgleichs. Auch für Sachen über die Baronie hinaus, näch? Tät’ uns gut zu Gesicht stehen!” Er griff nach der Stuhllehne und hielt sich daran fest, ehe er fortfuhr: “Können aber nicht alle drei nehmen, ist schade.” Mit kühler Stimme zischte die Zofe den Verwalter an: “Eben! Und wenn wir uns für einen entscheiden müssen, dann nicht für eine Geweihte des Praios!”. Jasper von Niedersprötzingen zuckte als Antwort mit den Schultern.

Die Baronin von Schnakensee blickte noch immer enttäuscht und schien kurz zu überlegen, ehe sie ihre Zofe direkt ansprach: “Warum nicht?”

Noch bevor diese antworten konnte, mischte sich auch der Truchsess wieder ein und drehte seinen Kopf grinsend ebenfalls in Richtung der Zofe: “Ja, warum nicht?"

Calla von Muggenloch ignorierte ihn und blinzelte Adula von Schnakensee zu, ehe sie ihr antwortete: “Das könnte als falsches Zeichen gedeutet werden. Es dauert, bis man Vertrauen geschaffen hat. Das kann Jahre, Jahrzehnte dauern. Zeit, die man verschwendet.” Sie wandte sich dann direkt dem Truchsess zu und ihre Stimme wurde härter: “Ausserdem könnten das diese Argenklamms”, sie spie das letzte Wort förmlich aus, “...als Aufforderung verstehen, sich am Hof zu positionieren. Ständig würden sie um sie herumschwänzeln und sie mit Forderungen und Vorschlägen belästigen, sodass sie kaum ihrer Berufung nachgehen kann.”

Adula von Schnakensee blickte hilfesuchend zu ihrem Verwalter, so als könne sie das Gesagte nicht einordnen. Dieser wirkte jedoch niedergeschlagen und blickte zu Boden, als er an Calla gerichtet entgegnete: “Welcher Argenklamm denn? Hadmar ist gefallen und sein Junge…pfff! Hast du vor dem Angst?”

Adula wurde ungeduldig, sie sprach den Verwalter direkt an: “Wer ist das?”

Dieser winkte ab: “Ach, der junge Bursche…hmmm…komme nich’ auf den Namen. Na, egal.” Er machte eine wegwerfende Bewegung mit seiner Hand. “Auf jeden Fall, den habt ihr kurz nach eurer…hmmm…kurz nachdem ihr selbst zur Baronin wurdet, vereidigt. Sein Vater ist…auch im Osten geblieben.” Der Verwalter schien die letzten Worte genau abzuwägen, ehe er mit festerer Stimme fortfuhr: “Und der Bub’, das war so ein blasser, dünner Junge mit kaputtem Bein.” Jasper von Niedersprötzingen begann zu lächeln, blickte aber weiterhin zu Boden.

Adula von Schnakensee schien sich zu erinnern. Sie schloss kurz die Augen und sprach: “Ja, ich erinnere mich. Vage. War das nicht der Krüppel, der nicht knien konnte?”

“Eh, eh, eh, eh…”, Jasper von Niedersprötzingen musste lachen und man merkte, dass er wohl in einer belustigenden Erinnerung schwelgte. “Jaja, wollte sich dann sogar auf den Boden legen!”, er schüttelte den Kopf.

Die Baronin öffnete die Augen und schien sich ebenfalls erinnern zu können, hastig fügte sie hinzu: “Ja, richtig! Und du hast ihm dann einen Stuhl geholt! Da lag er schon halb vor mir auf dem Boden!”. Auch sie schien ob dieser Erinnerung belustigt, denn ein seltenes, breites Lächeln zeigte sich auf ihren Zügen.

Jasper, noch immer sichtbar belustigt, drehte seinen Kopf in Richtung der Zofe und frug: “Der macht dir Sorgen, Calla?” Die Zofe wirkte etwas pikiert und man merkte, dass sie um die richtige Antwort rang. “Ja, aber…wer weiß, vielleicht ist er nur noch fanatischer wegen seinem Gebrechen! Hinterlistig und gerissen, wer weiß das schon?” Der Truchsess schüttelte als Antwort nur verständnislos den Kopf.

Adula von Schnakensee räsuperte sich, woraufhin sie die Aufmerksamkeit der Anwesenden hatte. Sie nickte in die Runde und meinte: “Jasper hat Recht!”, woraufhin dieser sichtbar überrascht schien. Doch sie sprach noch weiter: “Wir nehmen alle drei!”. Zufrieden blickte sie in die Runde, in der sich nur langsam die Gewissheit über das ausbreitete, was die Baronin gerade sagte.

Während die Zofe wie erstarrt wirkte, schien sich der Truchsess als erster wieder zu sammeln. “Ähm…ja…ähm…wie wollen wir die drei denn bezahlen? Einer is’ schon nicht einfach, näch?” Er wirkte ernsthaft besorgt.

Die Baronin jedoch schien von ihrer Idee überzeugt und der Einwand ihres Verwalters ließ die Entschlossenheit nicht aus ihrer Mimik schwinden: “Du hast es selbst gesagt, der Diener der Peraine wäre ein hervorragender Verwalter. Es soll zunächst Frieder unterstützen und auch dir zur Hand gehen. Er könnte dein Nachfolger werden in einigen Jahren!” In Calla von Muggenloch kam nun langsam etwas Regung, sie blickte mit offenem Mund zu dem alten Truchsess. Man sah, dass sie gerade etwas erwidern wollte, doch die junge Baronin sprach einfach weiter: “Die Dienerin des Götterfürsten wird unsere Hofkaplanin. Es stimmt, das wäre politisch klug. Und ja,” sie blickte zu ihrer Zofe, “...sie wird sich das Vertrauen der einfachen Leut’ erst erarbeiten müssen. Aber sie ist noch jung und hat Zeit!” Dann drehte sie sich ein Stück, sodass sie die Baronin von Kranick direkt anblicken konnte. Adula lächelte freudig, als sie sprach: “Und die Geweihte der Hesinde wird mein…nein, unser persönlicher Beistand. Wir können eine Wache einsparen, um sie zu bezahlen, sie hat doch sogar schon in einer Schlacht gekämpft!” Dann ging der Blick wieder zu Jasper, als sie hinzufügte: “Und wenn das nicht reicht, dann verkaufen wir eben noch mehr Pferde!”

Jasper von Niedersprötzingen atmete tief durch und entgegnete knapp: “Naja, wir ham’ nich’ mehr viele.” Calla von Muggenloch hingegen blickte hilfesuchend zu Iriane von Kranick. Sie wirkte beinahe schon verzweifelt.

Iriane verfolgte den Wortwechsel zwischen den drei anwesenden Personen mit gerunzelter Stirn. `Hier geht es nicht um sachliche Argumente`, schoß es ihr durch den Kopf. Sie nahm Calla genauer in den Blick, das Verhalten kannte sie von der Frau nicht. Sie wandte sich an die ältere Frau: ”Wo liegen deine Bedenken gegen eine Priesterin des Götterfürsten genau, Calla?” Dann dachte sie nochmals kurz nach. “Ich habe einen meiner Vasallen von dem jungen Argenklamm reden hören, er hatte keine Bedenken gegen die Familie. Der Edle von Kranickteich ist eigentlich ein verlässlicher Berichterstatter.” Hier zuckte sie kurz mit den Schultern, bevor sie sich nochmals an Adula wandte. “Meine Liebe, ich verstehe deine spontane Entscheidung. Aber drei Hofkaplane -ich würde dir davon abraten. Selbst wenn du Besitz veräußerst, wird dies auf Dauer nicht zu finanzieren sein. Zudem würden dir unsere Nachbarn Hochmut und Arroganz vorwerfen, befürchte ich.“ Sie lächelte kurz warm zu ihrer Freundin. “Ich weiß, dass dir nicht alle Entscheidungen leicht fallen, aber hier wirst du wohl eine treffen müssen.”

Während Jasper von Niedersprötzingen über die Worte der Baronin von Kranick sichtlich erfreut gewesen ist, konnte man das über die Gesichter der beiden anderen Damen nicht sagen. Die Lippen der Zofe verengten sich zu einem Strich. Man sah ihr an, dass dies nicht die Reaktion war, die sie sich von der Baronin von Kranick erhoffte. Nach einem Augenblick sammelte sie sich jedoch wieder und setzte ein freundliches Lächeln auf. Sie verneigte sich kurz gegenüber Iriane von Kranick und antwortete knapp: “Ich habe keine Bedenken, euer Hochgeboren!” Adula von Schnakensee hingegen blickte enttäuscht zu Boden und sprach kleinlaut zu ihrer Freundin: “Ja, du hast wahrscheinlich Recht.” Ihr Truchsess schien das Schauspiel zu genießen. Er richtete seine kratzige Stimme nach einem Moment der Stille direkt an die ältere Baronin: “Habt Dank euer Hochgeboren, für eure klugen Anmerkungen!” Dann kratze er sich an Kinn und erhob eine Hand: “Allerdings…ist ein Vorschlag durchaus Bedenkenswert!” Alle Augen richteten sich auf ihn, aber bevor er weitersprach, schlurfte er einige Schritte in Richtung seiner Herrin. Er hielt sich dabei an den Stuhllehnen, die seinen Weg säumten, fest und blieb schließlich in Armeslänge Abstand zu Adula stehen. Er nickte ihr ihr zufrieden zu und erhob den Zeigefinger: “Den Jungen sollten wir in der Tat nach Schnakensee holen! Wenn wir mit Frieder sprechen, dann gibt die Kirche vielleicht etwas hinzu, so lange er noch kein Amt am Hofe hat. Und auch wenn ich Emina sehr schätze…”, jetzt verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht, “...so weiß ich doch, dass sie als Gemeine keine Aussicht hat, mich zu beerben. Aber irgendjemand wird es tun müssen, in nicht allzu ferner Zukunft.” Er fuhr sich mit der flachen Hand langsam über seinen kahlen Kopf. “Den Jungen halte ich für eine gute Wahl. Und als Kämmerin und Scriptorin könnte Emina diesem…ähm…Storchenflug immerhin bestens zur Hand gehen!” Der Baronin von Schnakensee sah man ihre Enttäuschung noch immer an. Sie antwortete ihrem Verwalter tonlos: “Gut. Dann frag’ Perainfried. Und wir nehmen die Praiotin.” Eine Last schien von ihr abzufallen, denn ihre Schultern erschlafften und sie rieb sich mit ihren Handballen in den Augen und blinzelte anschließend kurz. “Gut, dann sind wir hier endlich fertig. Jasper, Calla, danke! Ihr könnt heute noch abreisen. Bis Kefberg werdet ihr es noch schaffen. Ich bleibe noch einige Tage hier und reise dann nach.”

Die beiden Angesprochenen sahen sich kurz an und nickten, dann verließen sie stumm das Zimmer. In ihren Gesichtern konnte man allerdings erkennen, dass die beiden vom Ausgang des heutigen Tages eine ganz unterschiedliche Meinung hatten. Als er bereits einen Schritt durch die Türe gewesen ist, drehte sich Jasper von Niedersprötzingen nochmals langsam um: “Eh…euer Hochgeboren, benachrichtigt ihr die Kandidaten?” “Nein, kümmere du dich darum, Jasper.”, erwiderte Adula bereits leicht genervt. “Wie ihr wünscht.” Der Truchsess verneigte sich kurz, schritt nach draußen und schloss die Tür hinter sich.

Iriane schaute den beiden mit gerunzelter Stirn nach und schüttelte leicht den Kopf und sprach mehr zwar zu sich selbst, aber hörbar: “Ob das mit den Beiden noch lange gut geht?” Dann wandte sie sich an Adula: “Du wirkst erschöpft und unzufrieden.Kann ich irgendetwas dafür machen, dass es dir besser geht?“ Sie machte drei schnelle Schritte und stand hinter Adula, der sie behutsam die Hand an die Schulter legte.

Als Adula die Berührung spürte, spannte sich ihr Körper merklich an und die junge Frau fuhr herum. Sie griff mit ihrem linken Arm um die Hüfte ihrer Freundin und zog sie mit einem Ruck eng an sich heran. Mit ihrer rechten Hand griff sie in Irianes Haar und zog sie am Schopfe, sodass sie ihren Kopf in den Nacken legen musste. Die Baronin von Schnakensee blickte mit funkelnden Augen von oben herab in das Gesicht ihrer überraschten Freundin und leckte sich kurz über die Lippen, ehe sie mit bestimmtem Ton sprach: “Oh ja, das kannst du. Heute bist du meine Beute!”, Dann beugte sie sich hinab und begann damit, Irianes Hals mit stürmischen Küssen zu bedecken.

Epilog

Der stetige Regen prasselte auf das getränkte Tuch des zweirädrigen Planwagens. Im Inneren des kleinen Gefährts saßen sich die beiden Reisenden gegenüber und schwiegen sich an. Das Gefährt wurde durch den Zustand der Straße immer wieder durchgeschüttelt, was der Kutscher, der mit tief herabgezogenem Hut vorne auf dem kleinen Bock saß und den Einspänner lenkte, mit stillen Flüchen kommentierte. Gestern war die kleine Reisegesellschaft von Gratenfels aufgebrochen und hatte eine Nacht in Kefberg verbracht, bevor man die Tommel überquerte und vor einer guten Stunde den Weiler Wiehern passierte. Die Straße wandte sich ab dort durch ein dicht bewaldetes Tal und der Zustand des Karrenweges war miserabel. Bis zum Abend wollte man einen kleinen Gutshof erreichen, der einsam und verlassen inmitten der Wälder lag, um dort zu nächtigen.
Jasper von Niedersprötzingen blickte ausdruckslos durch die geöffnete Plane am Heck der Kutsche nach draußen und sah dem Regen zu, wie er die zahlreichen Pfützen, die der Wagen soeben passierte, erneut füllte. Er hatte seine Hände auf seinen Oberschenkeln abgelegt und sein Unterkiefer schob sich langsam hin und her.
Call von Muggenloch, die ihm gegenüber saß, beugte sich nach vorne und legte behutsam eine Hand auf die des alten Truchsesses, welche daraufhin kurz zuckte. Erschrocken blickte Jasper zu der Zofe und musste sich kurz sammeln, ehe er seinen Kopf wieder in Richtung der Öffnung drehte.
“Jasper, was ist los?”,
frug Calla in einem vertraulichen Ton, erhielt aber nur ein Knurren als Antwort.
“Jasper, bitte!”,
sie klang nun beinahe flehend.
“Es liegt dir etwas auf dem Herzen, das merke ich doch! Und…du gehst mir aus dem Weg. Seit langem schon! Warum? Habe ich etwas getan, das dich verärgert hat? Bitte sprich mit mir!”
Der Angesprochene seufzte und wandte sich der Zofe zu. Er zuckte schicksalsergeben mit den Schultern und antwortete:
“Ach, nein, nichts. Es ist nur…ich bin alt, Calla.”
Er schaute seiner Reisebegleitung nicht in die Augen, sondern sein müder Blick wanderte an der Plane, die den kleinen Wagen überspannte, umher.
Die Zofe schüttelte ihren Kopf und presste ihre Lippen zusammen, ehe auch sie seufzte:
“Wir alle werden älter, Jasper. Warum gehst du mir aus dem Weg? Bedeute ich dir nichts mehr?”.
Der alte Truchsess zog seine Hand unter der seiner Begleiterin heraus und verschränkte die Arme, woraufhin ihn die Zofe verärgert ansah und sich wieder zurücklehnte. Sie schwiegen sich eine Weile an, ehe Jasper von Niedersprötzingen doch noch antwortete:
“Haben wir unsere Zeit vergeudet, Calla?”
Er erntete einen kalten, abweisenden Blick.
“Nein, wirklich, Calla. Ich meine das ernst! Ich bin alt, ich merke es immer mehr. Ich sehe schlecht, meine Hände zittern. Alles fällt mir schwer. Ich weiß nicht, wie viele Sommer mir die Götter noch schenken. Einen? Vielleicht zwei?”
Jasper blickte wieder auf die Pfützen, über die der Wagen gerade hinweg gefahren ist.
“Hrm…und was habe ich erreicht? Mein ganzes Leben gedient habe ich. Ohne an mich zu denken. Ohne ein eigenes Leben zu führen. Ohne etwas von Dauer zu hinterlassen. Ist das der Plan der Götter für mich, Calla?”
Er schnaubte verächtlich.
Calla von Muggenloch verschränkte ihre Arme nun ebenfalls:
“Immerhin hatten wir uns. Zählt das gar nicht?”
Man sah Jasper an, dass ihm diese Frage unangenehm war. Er rieb seine Hände aneinander und dachte nach, während sein Oberkörper kaum merklich nach vorne und hinten wippte. Nach einem Augenblick winkte er dann ab und seine Stimme klang niedergeschlagen:
“Wir hatten uns versteckt, Calla. Diese Heimlichtuerei immer. Das ist nichts für mich. War es überhaupt echt? Ist es wirklich passiert?”
Er schüttelte schicksalsergeben den Kopf und man sah seine Augen feucht schimmern. Ein Klos bildete sich in seinem Hals und er benötigte einige Momente, ehe er weitersprechen konnte:
“Vielleicht hätte ich jemanden gefunden, der mich hätte heiraten wollen. Vielleicht hätte ich Kinder bekommen. Vielleicht gäbe es dann jemanden, der mich nicht bereits nach einer Woche vergessen hat, wenn ich unter der Erde liege.”
Die Zofe durchfuhr eine Welle des Zorns. Sie holte tief Luft und sprach mit Eiseskälte in der Stimme:
“Gut, Jasper von Niedersprötzingen, Truchsess von Schnakensee. Dann werde ich dich auch nach einer Woche vergessen haben, wenn du bei Boron bist.”
Der Angesprochene schwieg. Und die restlichen Tage, die sie gemeinsam in der Kutsche verbrachten, wechselten sie kein Wort mehr.

[Ende]

Anhänge

Kurz vor Ende des Ingerimm-Mondes erreicht jeden der fünf Götterdiener ein mit dem Wappen Schnakensees versiegelter Umschlag, in dem sich ein Schreiben befindet. Dem aufmerksamen Leser mag auffallen, dass sich die Handschrift durch einen anderen Schwung als die Unterschrift auszeichnet.

Schreiben an Alassia Marnion

“Burg Schnakensee, 21. Ingerimm 1045 BF

Euer Gnaden Marnion,

wir möchten Euch unseren aufrichtigen Dank dafür aussprechen, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt, bei unserer Herrschaft in Gratenfels vorstellig zu werden.

Seid Euch versichert, dass Ihr einen hervorragenden Eindruck bei allen Anwesenden hinterlassen habt und uns die Entscheidung für einen Hofkaplan äußerst schwer gefallen ist.

Letztlich hat die Verbundenheit eines Kandidaten für die hiesige Region den Ausschlag gegeben und ich muss Euch zu unser aller Leidwesen berichten, dass wir Euch nicht berücksichtigen können.

Auf besonderen Wunsch der Baronin von Schnakensee möchte ich Euch ausrichten, dass sie sich sehr auf Eure kurzweiligen und sicher auch spannenden Erlebnisberichte gefreut hätte und es Ihr Wunsch ist, dass Ihr dies bei einem nächsten Treffen, so die Götter wollen, nachholen möchtet.

Ergebenst,

Jasper von Niedersprötzingen, Truchsess von Schnakensee”

Schreiben an Ringard von Falkenhaupt

“Burg Schnakensee, 21. Ingerimm 1045 BF

Euer Gnaden von Falkenhaupt,

wir möchten Euch unseren aufrichtigen Dank dafür aussprechen, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt, bei unserer Herrschaft in Gratenfels vorstellig zu werden.

Zu unserer großen Freude möchte ich Euch verkünden, dass Ihr einen hervorragenden Eindruck bei allen Beteiligten hinterlassen habt. Ihr konntet nicht nur mit Eurem Glauben, sondern insbesondere mit Eurer Weitsicht und Eurem ausgleichenden Wesen überzeugen und es wäre zu unser aller Gefallen, wenn Ihr die Stelle als Hofkaplan der Baronie antreten würdet!

Wir bieten Euch kostenfreie Unterkunft am Hofe, vier tägliche Mahlzeiten sowie zusätzlich zu Eurer eigenen Stube ein geräumiges Zimmer, welches Ihr nach Eurem Willen gestalten mögt. Die zusätzliche monatliche Apanage an Euch betrüge zunächst sechs Golddukaten, wobei zusätzliche Kosten, die mit Eurem Amt verbunden sind, selbstverständlich durch die Kasse übernommen würden.

Passend zu der Bedeutung dieser Entscheidung möchten wir euch zum 01. Praios in Dienst stellen. Ihr seid selbstverständlich eingeladen, Euch bereits vor den finsteren Tagen in Burg Schnakensee einzufinden.

Wir sind in freudiger Erwartung einer Zusage!

Ergebenst,

Jasper von Niedersprötzingen, Truchsess von Schnakensee”

Schreiben an Kunida von Storchenflug

“Burg Schnakensee, 21. Ingerimm 1045 BF

Euer Gnaden von Storchenflug,

wir möchten Euch unseren aufrichtigen Dank dafür aussprechen, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt, bei unserer Herrschaft in Gratenfels vorstellig zu werden.

Seid Euch versichert, dass Ihr einen hervorragenden Eindruck bei allen Anwesenden hinterlassen habt und uns die Entscheidung für einen Hofkaplan äußerst schwer gefallen ist.

Letztlich hat die Verbundenheit eines Kandidaten für die hiesige Region den Ausschlag gegeben und ich muss Euch zu unser aller Leidwesen berichten, dass wir Euch nicht berücksichtigen können.

Es ist mein besonderer Wunsch Euch mitzuteilen, dass ich Euch und Eure Familie bereits in ein Gebet an die gütige Herrin mit eingeschlossen habe.

Ergebenst,

Jasper von Niedersprötzingen, Truchsess von Schnakensee”

Schreiben an Liutwin von Storchenflug

“Burg Schnakensee, 21. Ingerimm 1045 BF

Euer Gnaden von Storchenflug,

wir möchten Euch unseren aufrichtigen Dank dafür aussprechen, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt, bei unserer Herrschaft in Gratenfels vorstellig zu werden.

Seid Euch versichert, dass Ihr einen hervorragenden Eindruck bei allen Anwesenden hinterlassen habt und uns die Entscheidung für einen Hofkaplan äußerst schwer gefallen ist.

Dass die Entscheidung nicht auf Euch fiel, muss Euch jedoch nicht weiter grämen, denn Euer vorzüglicher Auftritt hat uns dazu bewogen, Euch für ein anderes Amt in Betracht zu ziehen, für welches Ihr ebenfalls äußerst geeignet scheint.

In wenigen Götterläufen mag ich selbst für das Amt des Truchsesses zu alt geworden sein. Strotze ich zwar noch vor Tatkraft und Entschlossenheit, so merke ich doch, wie meine Kräfte stetig schwinden. In den Augen der Baronin und meiner Wenigkeit wärt Ihr der denkbar beste Kandidat für meine Nachfolge: Ein heller Kopf, der zudem im nordmärker Adel gut vernetzt ist und ein Gespür für die Eigenheiten des gemeinen Volks, aber auch für die Herausforderungen der Herrschaft besitzt.

Ihr sollt von mir behutsam in die Geschicke der Stellung eines Truchsesses eingeführt werden und werdet, auch über mein Wirken hinaus, von meiner treuen Gehilfin nach bestem Wissen unterstützt.

Ihre Hochwürden Perainfried Selsenthaler sowie dessen Frau Adula werden Euch im hiesigen Tempel der gütigen Göttin willkommen heißen und Euch Obdach bieten, bis Ihr meine Nachfolge offiziell antreten werdet.

Wir hoffen, dass Ihr unser Angebot überdenken und positiv bescheiden werdet.

Ergebenst,

Jasper von Niedersprötzingen, Truchsess von Schnakensee”

Schreiben an Herrat von Bauernfeind

“Burg Schnakensee, 21. Ingerimm 1045 BF

Euer Gnaden von Bauernfeind,

wir möchten Euch unseren aufrichtigen Dank dafür aussprechen, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt, bei unserer Herrschaft in Gratenfels vorstellig zu werden.

Seid Euch versichert, dass Ihr einen hervorragenden Eindruck bei allen Anwesenden hinterlassen habt und uns die Entscheidung für einen Hofkaplan äußerst schwer gefallen ist.

Letztlich hat die Verbundenheit eines Kandidaten für die hiesige Region den Ausschlag gegeben und ich muss Euch zu unser aller Leidwesen berichten, dass wir Euch nicht berücksichtigen können.

Eine solch rechtschaffene und tatkräftige Dienerin der himmlischen Leuin in den Nordmarken zu wissen, lässt uns jedoch mit der Gewissheit, dass Land und Leute allzeit unter dem Schutz Eures Schwertes stehen, zuversichtlich und trotzig in die Zukunft blicken.

Ergebenst,

Jasper von Niedersprötzingen, Truchsess von Schnakensee”

Antwort von Alassia Marnion

"Brief Ihrer Gnaden Alassia Marnion, Hesinde Tempel zu Angbar an Ihre Hochgeboren Adula von Schnakensee, Gratenfels, zu Händen Seiner Wohlgeboren Jasper von Niedersprötzingen

02. Rahja 1045 BF

Hesinde zum Gruße, Euer Hochgeboren!

Und auch Euch Hesinde zum Gruße, Euer Wohlgeboren!

Seid bedankt für Euer Schreiben und die Möglichkeit, Euch in einem persönlichen Gespräch kennen zu lernen! Wenn Ihr diese Zeilen erhaltet, bin ich bereits auf dem Weg nach Punin zu meinem Heimattempel.

Ich freue mich für Euch, dass Ihr einen Hofkaplan gefunden habt! Die Herrin Hesinde hat Euch mit Sicherheit den besten Bewerber für Euren Hof auswählen lassen. Auch wenn es mich mit Bedauern erfüllt, nun nicht meine Kräfte in den Dienst Eurer Hochgeboren und der Bewohner Schnakensees zu stellen, weiß ich doch, dass alles, was auf Dere geschieht einen Grund hat und meine Herrin mit mir wahrscheinlich andere Pläne hegt.

Richtet meine besten Grüße und Wünsche an Ihre Hochgeboren von Kranick und an Ihre Wohlgeboren von Muggenloch aus! Es war mir eine Ehre, nicht nur Euch, sondern auch die beiden edlen Damen kennen zu lernen!

Mögen die Zwölfe Euch und den Euch anvertrauten Seelen immer gewogen sein! Mögen sie Euch gesund, glücklich, in Frieden und Wohlstand erhalten!

Alassia Marnion"

Antwort von Ringard von Falkenhaupt

"Haus der Sonne, Gratenfels, 1. Rahja 1045

An seine Wohlgeboren Jasper von Niedersprötzigen, Truchsess zu Schnakensee,

habt Dank für eure freundlichen Worte und das großzügige Angebot. Nach inniger Rücksprache mit meinen Schwestern und Brüdern im Glauben und vielen Stunden im Gebet und Meditation kann ich Euch mitteilen, dass ich mit großer Freude und Demut dieses bedeutsame Amt, zu den genannten Bedingungen, annehme.

Mir wurde erlaubt recht zügig meine Belange hier in Gratenfels zu erledigen und so ist es mein Plan wenige Tage, nachdem ich dieses Schreiben auf die Reise geschickt habe, gen Schnakensee aufzubrechen.

Praios mit Euch

Ringard von Falkenhaupt, Geweihte des Götterfürsten zu Gratenfels"

Antwort von Liutwin von Storchenflug

"An seine Wohlgeboren Jasper von Niedersprötzigen, Truchsess zu Schnakensee

welch Freude erfüllt mein Herz Zeilen von Eurer Hand zu lesen und welch Gram, das Ihr Euch am Beginn des Winters wähnt. Doch mag es vielleicht Euer Herz erwärmen, dass ich mich entschlossen habe, Eurem Ruf zu folgen und mich auf den Weg nach Schnakensee zu machen.

Da ich nicht erlauben werde, dass ein Bote sich für mich in Gefahr begibt, werde ich den Brief erst am Neujahrtag abschicken. Er mag also vielleicht mit mir eintreffen oder kurz vor mir.

Ich habe mir erlaubt, Euch ein Geschenk zu kaufen und kann es kaum erwarten, es Euch zu überreichen.

Gegeben zu Honingen von eigener Hand am 29ten Tage des Herren INGerimm im 1045ten Jahr nach dem Fall des hunderttürmigen Bosparan

Liutwin Tsabert von Storchenflug"