Von Untoten und Schweigen


Ort: Fürstentum Almada, Punin, nach dem Allaventurischen Konvent des Jahres 1046 B.F.

Zeit: HES 1046 B.F.

Inhalt: Seine hochgeborene Gnaden Lucrann von Rabenstein und der Baron von Tälerort Wunnemar Thankmar von Galebfurten sprechen in brisanter Angelegenheit miteinander.

Eine Briefspielgeschichte von RekkiThorkarson und Iseweine.

Von Untoten und Schweigen

Es war eines der ältesten Gebäude des Reiches, ein Monument aus Stein, welches ein riesiges, gebrochenes Rad bildete, den Haupttempel des Puniner Ritus. Ehrfurcht ergriff den Besucher, als er gemessenen Schrittes die Stufen zum Eingangsportal hoch schritt, um die Hallen des Schweigens zu betreten. Die Schritte des Fremden waren zögerlich. Er war zum ersten Mal in diesem Gotteshaus. Der Herr Boron, auch wenn seine Unausweichlichkeit ihm schon oft- viel zu oft vor Augen geführt worden war, war ihm Femd. Nein, fremd war das falsche Wort. Vielmehr war er ihm unbekannt. Sich mit dem Herrn des Todes eingehend auseinanderzusetzen hatte der noch junge Rittersmann und Baron bisher stets vermieden. Daran hatte selbst der Tod seiner Jugendliebe- seines Weibes Talina von Bienenturm nichts geändert. Natürlich achtete er den Herrn Boron als Teil der Zwölfe, er war ein götterfürchtiger Mann, aber seine Aspekte waren ihm unvertraut, auch wenn er sie benennen konnte. Es mangelte ihm am Verständnis darum, die Rolle des Unausweichlichen im Pantheon der Götter vollständig zu fassen.
Wunnemar blieb vor der Eingangshalle des Sakralbaus stehen und legte den Kopf in den Nacken, um die Erhabenheit des Bauwerks in seiner Gänze erfassen zu können. Der Galebfurtener musste zugeben, dass ihm die fast schon schlichte Schönheit des Tempels zusagte. Der Prunk so manches Bauwerks zu Ehren des Götterfürsten verstörte ihn, denn er wusste, in welcher Armut und Not die Menschen im Rahja des Reiches noch immer lebten. Er war dort zuhause. Der Baron von Tälerort trug auch deswegen niemals teure Gewänder. Es kam ihm nicht in den Sinn, so verschwenderisch mit seinem Silber umzugehen.
Und so war Wunnemar an diesem Tag in eine einfache Leinenhose aus dunklem Stoff, hohen Reiterstiefeln und einen Gambeson in gelb und blau, den Farben seines Hauses gekleidet. Sein grauer Vollbart war ordentlich gestutzt, die weißen Haare zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden, von dem ihm Strähnen bis auf die Schultern fielen.
Lucrann von Rabenstein hatte den Rabenmärker nach den Ereignissen im Omlad und vor allem dem Tempel der Marbo im Vorland der Wüste Khom in den Borontempel eingeladen, um mit ihm über das zo sprechen, was dort geschehen war. Wunnemar hatte Untote wandeln sehen- Mumien und mumifizierte Geier, die sich sogar noch in die Lüfte erhoben hatten. Erstere hatten gesprochen. Eine Wesenheit war aus einer Kanope gekommen und in sie zurückgekehrt. Er hatte gesehen, wie sich Sand in einem Wirbel in das Gefäß zurückgezogen hatte und wie der Deckel durch die Luft geflogen war, um die Kanope wieder zu verschließen. Doch dies war nicht das Verstörendste für den Rabenmärker. Wunnemar hatte am Feldzug gegen den Erzverräter Helme Haffax teilgenommen. Er war Untoten und Dämonen ansichtig geworden. Ein geflügelter Karakil hatte ihm Auge in Auge gegenübergestanden, nur eine Handbreit hatte sein Gesicht von dem Höllenschlund des Rachens des Dämons getrennt- dem war sein frühes Ergrauen geschuldet. Nein, das Schlimmste war, dass der Rabensteiner, ein Diener des Rabengottes selbst, vehement die Meinung vertrat, dass diese Untoten nicht zerstört und vernichtet werden mussten, dass ihre Existenz kein Frevel war. Der Galebfurtener schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Er war hier um diese Fragen beantwortet zu bekommen. Der Rabensteiner, in dessen Gemeinschaft er mitsamt dem Herzog der Nordmarken höchstselbst das Rote Haus von Mendena gestürmt hatte, er selbst war damals noch ein Knappe gewesen, hatte Antworten in Aussicht gestellt, wenn er seiner Einladung Folge leisten würde. Und so war Wunnemar von Omlad aus, wo er im Gefolge Ilgar von Galebfurtens, dem Herold des Markgrafen der Rabenmark und der rechten Hand des Kanzlers der Mark am Allaventurischen Konvent teilgenommen hatte, aufgebrochen. Der Rabenmärker straffte sich und schritt weiter. Zögern würde ihm der Wahrheit nicht näher bringen.
Das hohe Portal zum Tempel des Herrn der Vergänglichkeit stand offen - der Tod hieß jeden willkommen. Der Fries über dem Portal trug in schlichten Lettern die Worte: “Du schuldest der Welt noch einen Tod.”
Die Eingangshalle war hoch und verlor sich im Dunkel, den Boden bedeckte ein dicker Teppich, der die Geräusche der Schritte Wunnemars vollständig schluckte.
Stumm schüttelte der Rabenmärker sachte den Kopf über diese ‘Begrüßung’ und schritt dann weiter, tiefer in den riesigen Sakralbau.
Der Hauptraum lag im Zwielicht, es dauerte einige Augenblicke, bis sich Wunnemars Augen so weit an die Dunkelheit gewöhnt hatte, dass er andere Gläubige zumindest als Schemen warnehmen konnte. Der Altar stand an der Stirnseite des gewaltigen halbrunden Raumes, an dessen Rand eine Säulengalerie entlangzog und dessen Decke mit der Dunkelheit verschmolz.
In der Luft lag der Duft nach Räucherkräutern und Harz, während die dicken Wände sämtliche Geräusche der Welt draußen hielten. Dieser Ort gehörte der Stille.

Nach einiger Zeit, in der Wunnemar dem Unergründlichen Respekt zollen konnte, trat eine Boroni zu dem Krieger, berührte ihn sachte am Arm und forderte ihn mit einem Neigen ihres Kopfes auf, ihm zu folgen.
Sie führte ihn durch einige Gänge, ehe sie vor einer Kammer innehielt, kurz klopfte und einige Herzschläge später die Tür öffnete. Der Rabenmärker nickte der Dienerin des Totengottes zum Dank knapp zu, straffte sich und trat mit einer gewissen inneren Anspannung ein. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete und er hatte Respekt vor den Wahrheiten, die er vielleicht erfahren würde. Das war das eine. Die Person, die ihn erwartete, das andere.
Den Rabensteiner umgab eine ganz spezielle Aura, die der Galebfurtener nicht zu fassen vermochte. Viele Männer hatten Angst vor dem Baron von Rabenstein. Wunnemar hatte sich von seiner Götterfürchtigkeit überzeugen können, vor einigen Jahren in Mendena und dann im Tempel der Marbo im vergangenen Götternamen. Nein, Angst hatte Wunnemar nicht vor ihm. Und dennoch, Lucrann von Rabenstein war niemand, den man einfach auf ein Bier einlud, oder den man leichtsinnig in oberflächliche Konversation verwickelte. Nein, wenn man schlau war, so glaubte Wunnemar, dann hielt man Distanz zum Rabensteiner.
Der Rabensteiner empfing seinen Gast in einer einfachen Kammer, die nur mit einem Tisch, zwei Stühlen und einem Wandschrank, auf dem einige liturgische Gerätschaften mit einer Räucherschale und einigen Fläschchen standen, möbliert war. Einige Schriftrollen lagen unter seiner Hand, die er beiseite räumte, als Wunnemar eintrat. Mit einer Geste wies er ihm den freien Stuhl.
Der Boroni im Ornat seiner Kirche betrachtete den Jüngeren einige Atemzüge lang mit ruhigem Blick.
“Wie geht es euch, Galebfurten?”
Der Rabenmärker setzte sich und sah den Rabenmärker einige Momente lang mit undeutbarer Miene an, dann seufzte er und setzte zu sprechen an: “Ich schlafe sehr unruhig und schrecke oft hoch in letzter Zeit. Nachdem mein Gelübde von mir genommen wurde und ich nicht mehr regelmäßig in Gotteshäusern der gütigen Mutter nächtige, kommen Erinnerungen an den Feldzug wieder hoch, an die Schlachten um die Tersalschlaufe, Flussbuckel, Mendena, aber auch Rotenzenn. Ich möchte euch aber auch nicht verhehlen, dass die Untoten des Marboheiligtums mich ebenfalls in meinen Träumen heimsuchen. Es ist wohl mein Unverständnis ihrer … Natur, die mich unterbewusst beschäftigen.”
Der Geweihte lauschte den Worten und betrachtete währenddessen interessiert die Mimik des Rabenmärkers, die mindestens ebensoviel erzählte wie seine Worte.
“Was erwartet Ihr heute von Eurem Besuch?” Setzte er nach.
“Wahrheiten”, entgegnete Wunnemar nüchtern und ernst. “Antworten auf die Fragen, die mich beschäftigen." Der Rabenmärker schien kurz nachzudenken, wie er die nächsten Worte formulierte. Dann ergänzte er: “Wie kann das, was wir im Tempel der Marbo gesehen haben nicht wider der göttlichen Ordnung sein? Dies ist der Kern dessen, den ich nicht verstehe. Ich dachte, die Lehre der Kirchen der Zwölfgötter seien diesbetreffend unmissverständlich.”
Der alte Baron lehnte sich zurück und legte seine Fingerspitzen gegeneinander. Er betrachtete den Rabenmärker mit ausdruckslosen, ruhigen Augen - als könne er durch Haut und Fleisch seines Gegenübers hindurchsehen und wäge sehr genau, was er da sehe. Die Stille flutete in den Raum, versammelte sich in den Ecken und kroch lauschend um den Tisch.
Der Rabenmärker war jung - und würde vielleicht noch lernen, dass eine reine, für alle geltende Wahrheit nicht gab. Nicht mit einer Aussage, die von Bauer und Priester, Ritter und Adel gleich verstanden habe. Und darum ging es - das Verstehen eines Sachverhaltes. Nicht deren Worte. “Ihr tut wohl daran, jeden Untoten, dem Ihr begegnet, zu erschlagen.”
Was für alles, was Wunnemar anbelangte, die Wahrheit war.
Ein Moment verstrich, in dem sich die Augen des Galebfurteners leicht weiteten. Lucrann sah Zorn aufwallen, der jedoch bereits im Ansatz beherrscht wurde. Wunnemar schloss kurz die Augen und seufzte.
“Ich bin auf eure Einladung hin hierher gekommen”, sprach der Rabenmärker und in seiner Stimme spiegelte sich jene Beherrschung wieder, die der Rabensteiner bereits seiner Mimik entnommen hatte.
“Um ehrlich zu sein, hatte ich mir etwas mehr erwartet, als das”, gestand er. “Warum und ich hätte gern eine gute Antwort, eine in sich schlüssige Antwort mit Begründung, sollte ich die Untoten im Marbotempel nicht erschlagen?”
“Es war nicht der rechte Ort - und nicht die rechte Zeit.”
Der alte Boroni holte tief Luft, doch seine Mimik hielt er in sicherer Verwahrung.
“Diese Mumien harren noch einiger genaueren Untersuchung durch die Kirche des Raben.”
“Heißt das”, hakte Wunnemar mit langsamen Worten nach, ganz so, als überlege er noch beim Sprechen, wohin sie führen sollten. “Heißt das, dass ihr gedenkt sie danach zu zerstören? Bedeutet das, ihr haltet sie ebenfalls für wider der Ordnung der Zwölf?” Er wirkte kurz irritiert und fügte dann an: “Im Tempel der Tochter des Raben sagtet ihr etwas anderes”, erinnerte sich der Rabenmärker.
“Das bedeutet, dass wir die Mumien genauestens untersuchen werden. Alles Weitere ergibt sich danach.”
Der Einäugige war nicht gewillt, sich auf endgültige Aussagen nach hypothetischen Situationen in der Zukunft festzulegen.
“Für die Untoten, denen ihr in der Rabenmark begegnen werdet, geht davon aus, dass diese umgehend zu vernichten sind. Zweifelt daran nicht.”
“Gut”, beshied der Galebfurtener. Er war jedoch nicht gewillt sich mit dieser einfachen Aussage zu begnügen. Er hatte zu viel gesehen, zu viele ausweichende Phrasen hören müssen.
“Wenn ihr diese Untoten untersuchen wollt, bedeutet das nicht, dass ihr die Möglichkeit in Betracht zieht, dass die Quelle ihres Unlebens nicht die Dunkle Mutter ist? Und wenn man dies schon in den Bereich des Möglichen wähnt, so bleibt die Frage, wer denn dann die Quelle ist? Wer noch gebietet über untote Existenz?”
Der Blick des alten Boroni wurde einige Grade kälter als bisher.
“Das werde ich zu diesem Zeitpunkt nicht mit Kirchenfremden diskutieren, Hochgeboren.”
Es gab Dinge, die für die Ohren von Laien bestimmt waren - aber unbewiesene Mutmaßungen über die Quelle dieser Untoten gehörten nicht dazu.
“Ihr solltet dem nicht nachforschen, Galebfurten - Euer Umfeld in der Rabenmark wird dies nicht betreffen.”
Ein kurzes Lächeln huschte über die Miene des Galebfurteners, dann nickte er zustimmend.
“Danke, ich habe nicht vor dem nachzugehen, doch werde ich der Welt in Zukunft mit offeneren Augen begegnen, denn eure Reaktion ist mir Antwort genug”, erklärte Wunnemar in ruhigen Ton. Der Rabensteiner erkannte instinktiv, dass der junge Baron nun Ruhe geben würde, denn dieser wusste, dass er nichts weiter erfahren würde und ebenfalls, wie weit er gehen konnte.
Der Rabensteiner betrachtete den Rabenmärker mit ruhiger Miene und kalten Augen. Selbst wenn er nun schwiege - den letzten Seitenhieb hatte er sich nicht verkneifen können. Doch darauf einzugehen, lohnte sich nicht.
“Dann ist ja alles geklärt. Nicht wahr?” Die dunkle Stimme des Eingäugigen trug kaum über die beiden Männer am Tisch - war aber entschieden nicht zu überhören. Eine Frage war dies nicht.
“Habt Ihr sonst noch ein Anliegen?”
Der junge Rabenmärker schüttelte den Kopf. “Nein, eure hochgeborene Gnaden, das wäre alles”, erwiderte Wunnemar. “Ich hoffe, unser nächstes Aufeinandertreffen wird einen angenehmeren Verlauf nehmen.”
“Davon gehe ich aus, Hochgeboren.”
Der Einäugige erhob sich geschmeidig, Zeichen, dass die Besprechung beendet war.
“Möge der Unergründliche seine Schwingen über Euch breiten, Euer Weg geschwind sein und ihr nicht straucheln.”
“Den Segen der Allweisen für eure Erkenntnissuche”, sprach der Galebfurtener und erhob sich seinerseits. "Ich lasse euch nach außen begleiten." Beschloss der Rabensteiner den Besuch seines Gastes. Einmal noch nickte Wunnemar dem Rabensteiner zu, dann wandte er sich ab und verließ die Kammer, wo ihn ein schweigender Geweihter in Empfang nahm.
Wunnemar brauchte frische Luft.