Familie

Erzählungen aus Tommelsbeuge

Ort: Burg Fischwacht in Freiherrlich Tommelsbeuge

Zeit: 29. Ingerimm 1046 BF

Dramatis Personae:


Geribold von Fischwachttal hatte es sich auf einem gut gepolsterten Sessel gemütlich gemacht. Drego, der Hofmedicus, kümmerte sich gerade um Tsaja und ihr noch ungeborenes Kind und benötigte dabei, wie er angedeutet, Tsaja dann explizit geäußert hatte, keinen nervös aus und ab wandernden, werdenden Vater, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit fragte, ob denn alles in Ordnung sei.
Also hatte er aus der Not eine Tugend gemacht und sich die nicht erledigten Korrespondenzen bringen lassen. Schließlich fiel ihm dabei ein Schreiben seines Freundes Ingrawin Eberwulf von Tannwirk auf, was ihm ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Er freute sich immer , Briefe aus Witzichenberg zu erhalten. Er ließ sich noch tiefer in den Sessel sinken, brach das Siegel und las den Brief. Zuerst wurden seine Wangen rot, dann die Ohren – dass ihm nun nicht die Tränen kamen, war ein reiner Willensakt. Noch einmal überflog er das Schreiben, das aus nicht einmal zwei Seiten bestand und das ihn dennoch so sehr berührte, wie es zuvor kaum etwas anderes vermocht hatte.
Der Tag, an dem Tsaja seinen Heiratsantrag angenommen hatte, war so ein Moment. Oder der, als Drego breit grinsend neben Tsaja in seiner Schreibstube gestanden und die beiden offenbart hatten, dass er Vater werden würde. Sicher würde auch die Geburt seines Kindes im Praios des kommenden Jahres ein solcher Moment sein. Ihnen allen war bis eben gemein, dass es seine Familie betraf. Dass er sich nun so ergriffen fühlte war für ihn der Beweis dafür, dass es stimmte, was er schon seit Monden dachte:
"In Witzichenberg ist Familie", murmelte er.
Er seufzte wohlig, schloss die Augen und lächelte selig. Wie weit er gekommen war, seit… ja seit diesen Schreckenstagen nach dem Haffax-Feldzug. Als niemand mehr heimkehrte, der ihm wirklich wichtig war… den er… liebte.
Schnell schüttelte er den Kopf, um sich nicht wieder in diesen düsteren Gedanken zu verlieren, die Augen noch immer geschlossen. Auch wenn die Erinnerungen verblassten, der Schmerz noch immer spürbar war, wurde es besser. Seit er Tsaja kennengelernt hatte, wurde es besser. Viel besser sogar.
Unglaublich eigentlich, dass er hier jetzt saß und diesen Brief in Händen hielt. Als er vor bald fünf Jahren die Geschäfte seines Vaters übernahm, trank er zu viel, aß kaum und pflegte keinerlei Kontakte – sehr schlechte Voraussetzungen dafür, ein guter Baron zu sein, geschweige denn alt zu werden. Und heute? Heute ging es seinen Untertanen gut, er hatte gute Kontakte nach Kranick, Witzichenberg, zu seinen Vasallen und den Eberbachs. Erste Bande entstanden mit Ambelmund und Rickenhausen. Doch war das nicht einmal das, womit sich Geribold letztlich selbst beeindruckte.
Hatte er sich nach dem Tod seines Bruders und seines Vaters völlig allein gefühlt, pflegte er nun wieder etliche enge Freundschaften… Iriane, Boso, selbst Drego, seinen Hofmedicus, wollte er nicht mehr missen. Und es gab wieder die Liebe in seinem Leben. Tsaja und sein ungeborenes Kind weckten in ihm Gefühle, die er lange nicht mehr gespürte hatte. Er könnte förmlich platzen vor Freude.
Und dann waren da die Tannwirker, allen voran Melinde und Ingrawin, die für ihn mittlerweile wie Familie waren. Nein, nicht wie Familie. Sie waren längst Familie. Und Witzichenberg für ihn genauso Heimat wie Tommelsbeuge.
Er öffnete die Augen, laß erneut die wenigen Zeilen und nun schossen ihm die Tränen doch noch in die Augen, diesmal ließ er es geschehen. Wieder und wieder laß er den Satz, der ihn zu Tränen gerührt hatte:
"Erweist du uns die Ehre, die Patenschaft für unseren neugeborenen Sohn zu übernehmen?"

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Eine Geschichte von Bösalbentrutz