Geschichte Alte Bekannte und neue Gesichter

Alte Bekannte und neue Gesichter

Dramatis Personae:

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Prolog: Briefwechsel zwischen Seiner Hochgeboren Geribold von Fischwachttal und Ihrer Wohlgeboren Tsaja Eberwulf von Tannwirk


Gratenfels, 12. Tsa 1045 BF

Schreiben Ihrer Wohlgeboren Tsaja Eberwulf von Tannwirk, zu Gast im Hause der Gwynna von Siebenstein, Stadt Gratenfels, an Seine Hochgeboren Geribold von Fischwachttal, Baron zu Tommelsbeuge, Burg Fischwacht, Baronie Tommelsbeuge

Mein liebster Geribold!

Mit Hilfe der Zwölfe bin ich sicher in Gratenfels angekommen und habe im Hause von Gwynna von Siebenstein Quartier bezogen. Obwohl die Dame mich persönlich noch nicht kannte, hat sie mich auf das herzlichste Willkommen geheißen und gut untergebracht. Es ist mir doch angenehmer bei Freunden untergekommen zu sein, als allein in einem Hotel. Meine Freundin Lara hatte ihrer Schwester geschrieben und gebeten, mich aufzunehmen und mir Gesellschaft zu leisten.

Einem jungen Mann aus Tommelsbeuge bin ich hier auch schon begegnet. Leodegar von Eberbach, dem Bruder unserer Witzichenberger Knappin Amadis! Wahrlich! Gratenfels ist klein! Leodegar hat in Witzichenberg auf Bussardstein bei Travin das Falknerhandwerk erlernt und vervollkommnet seine Fertigkeiten nun bei Gwynna am Grafenhof. Ich war wirklich viel zu lange weg von Witzichenberg und habe einiges verpasst.

Und dass nicht nur Gratenfels ein Dorf ist, sondern ganz Dere, beweist eine Begegnung, die ich heute Nachmittag in der Stadt vor dem Hotel Koschblick hatte! Ich habe eine Bekannte aus Almada getroffen. Die Dame ist eine Geweihte der Herrin Hesinde. Ihre Gnaden Alassia Marnion aus dem Hesinde Tempel zu Punin. Wir kennen uns eher oberflächlich, haben uns aber trotzdem gleich erkannt.

Wir beschlossen, uns ein wenig auszutauschen und begaben uns in das Gasthaus “Zum Greifen”, um etwas Tee und Gebäck zu uns nehmen. Ihre Gnaden Marnion hat auf ihren Reisen viel von Dere gesehen, war sogar Ihrer Majestät in die Wildermark gefolgt und hat dort in der “Märkischen Schlacht” gekämpft! Wie tapfer! Sie ist immer viel gereist und es scheint, dass sie ein Leben außerhalb der Tempelmauern bevorzugt, aber auch genug vom Umherziehen hat. Sie ist eine angenehme Gesellschafterin und versteht es, auf das angenehmste zu plaudern, ohne dabei oberflächlich zu sein. Mich würde interessieren, was Du von ihr hältst! Sie hat etwas in ihren Augen, das mich ahnen lässt, dass auch ihr im Krieg Schlimmes begegnet ist. Dabei erweckt sie nicht den Eindruck, ihren Glauben oder ihre Lebensfreude verloren zu haben. Leider wird sie Gratenfels bald verlassen und über den Greifenpass nach Angbar und später weiter nach Punin reisen. Wir haben beschlossen, brieflich in Kontakt zu bleiben.

Mein Herr Papa hat beschlossen, uns zur Vermählung ein Service zu schenken. Ich habe mir heute schon verschiedene angeschaut. Besonders gut gefällt mir ein Dekor, das sich 'Valluser Veilchen' nennt. Wenn Du aber lieber ein schlichtes weißes Service möchtest, vielleicht mit Deinem Wappen und einer Baronskrone geziert, dann lasse es mich rasch wissen, damit ich es bestellen kann. Ich sende die Gardistin Berinka Gumbeltritt mit diesem Brief zu Dir, in der Hoffnung, dass sie Dich auf Burg Fischwacht antreffen möge. Sie könnte Deine Antwort gleich mit zurück nach Gratenfels bringen.

Etwas bin ich in Sorge, dass die Schwermut Dich vielleicht befallen könnte! Wie sehr wünsche ich mir, endlich dauerhaft bei Dir zu sein und alle trüben Gedanken fort lachen zu können!

Deine Tsaja

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Burg Fischwacht, 15. Tsa 1045 BF

Schreiben Seiner Hochgeboren Geribold von Fischwachttal, Baron von Tommelsbeuge, an Ihre Wohlgeboren Tsaja Eberwulf von Tannwirk, Haushofmeisterin der Burg Tannwirk, zu Gast im Hause der Gwynna von Siebenstein, Stadt Gratenfels

Meine liebste Tsaja!

Wie sehr freute ich mich, als mir die von Dir entsandte Gardistin Deinen Brief überreichte!

Ein wenig Trost dafür, Dich derzeit nicht an meiner Seite hier auf Burg Fischwacht zu wissen. So sehr freue ich mich darauf, in Bälde tagtäglich neben Dir zu erwachen. Die Freude darauf erfüllt mich in solchem Maße, dass ich schon geraume Zeit nicht mehr in die von dir befürchtete Schwermut verfiel, ganz im Gegenteil. Derzeit weiß ich bisweilen nicht, wohin mit meiner Tatkraft! Dem guten Boso wird es gefallen, denn ich habe ihn für ein paar Tage zu seiner Familie entlassen, aus der, wie du weißt, der Junge Herr Leodegar als jüngster Spross hervorging. Ich hörte von ihm, als ich das letzte Mal auf Burg Tannwirk zu Besuch war. Wie du weißt, war ich einst bei Seiner Hochgeboren Alrik Eberwulf von Tannwirk in Pagenschaft. Seitdem verbindet mich ein freundschaftliches Band mit dessen Familie - und bald noch ein viel innigeres. Bestelle dem Jungen Herrn doch bitte einen Gruß, meine Liebe.

Das Service betreffend, vertraue ich auf Deinen vortrefflichen Geschmack, meine Teure. Gehe ich Recht in der Annahme, dass es sich bei 'Valluser Veilchen' um ein in Violett-Tönen gefärbtes Service handelt? Dann sollten wir darauf achten, dass auch der Rest der Dekoration einst zu diesem großzügigen Geschenk Deines Herrn Vaters passen mag, oder? Ich bin nicht wirklich bewandert in der Kunst des Dekorierens, doch ist die farbliche Abstimmung der verschiedenen Elemente ein wichtiger Bestandteil dieser Kunst, falls ich mich nicht irre? Ich freue mich schon sehr darauf, das Service gemeinsam mit dir zu bestaunen. Ich werde Deinem Herrn Vater alsbald meinen Dank zukommen lassen!

Die zufällige Begegnung mit Deiner Bekannten aus Almada erinnert auch mich daran, welch spannende Zufälle das Leben doch ein manches Mal für uns bereithält. Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Zeit miteinander! Wie du sie beschrieben hast - weit gereist, schlachterfahren und tiefsinnig - wünschte ich, ich hätte auch ein paar Worte mit Ihrer Gnaden wechseln können. Wie du weißt, schätze ich den geistreichen Austausch und das gemeinsame Philosophieren, und wer wäre hierfür besser geeignet als eine Geweihte der Mutter der Weisheit. Sicher könnte sie meinen Horizont erweitern! Vermutlich ist sie bereits aufgebrochen, nun da Du meinen Brief in Händen hältst? Falls doch nicht, sprich ihr bitte eine Einladung aus, denn als Bekannte oder gar Freundin von Dir, ist sie selbstredend ohnehin jederzeit willkommen.

Auch wenn mein Gemüt derzeit nicht schwer sein mag, so freue ich mich darauf, bald wieder mit Dir gemeinsam zu lachen!

Dein Geribold

P.S.: Weißt Du was? Vielleicht schreibe ich einfach einen Brief, adressiert an den Angbarer Hesinde-Tempel, zu Händen Ihrer Gnaden Marnion? Wer weiß, wann sie wieder zugegen ist.

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Gratenfels, 18. Tsa 1045 BF

Schreiben Ihrer Wohlgeboren Tsaja Eberwulf von Tannwirk, zu Gast im Hause der Gwynna von Siebenstein, Stadt Gratenfels, an Seine Hochgeboren Geribold von Fischwachttal, Baron zu Tommelsbeuge, Burg Fischwacht, Baronie Tommelsbeuge

Mein teurer Geribold!

Es macht mich sehr glücklich, dass Du so guter Stimmung bist! Mir geht es ausgezeichnet und ich genieße das gesellige Treiben in Gratenfels! Das verkürzt mir die Wartezeit bis zu unserem Hochzeitstage sehr. Außerdem habe ich hier die Gelegenheit, noch alle möglichen und unmöglichen Einkäufe zu erledigen!

Ach, dass der gute Boso ja zur Familie der von Eberbach gehört, war mir entfallen. Du sprichst ja immer nur von Boso! Dass Du Knappe meines Vaters warst, habe ich nicht vergessen, obwohl mir der Kopf vor lauter Glück schwirrt! Deine Grüße an Leodegar habe ich ausrichten können. Er war heute Abend an Gwynnas Tafel zu Gast. Er hat sich sehr gefreut, von Dir zu hören und entbietet Dir ebenfalls Grüße. Er freut sich sehr über unser Glück, wenn ich auch das Gefühl habe, dass er manchmal doch sehr still ist.

Ihre Gnaden Marnion musste ihre Abreise verschieben. Ihr Pferd lahmt und sie wird sich bestimmt noch eine weitere Woche in Gratenfels aufhalten. Sie ist im “Gasthaus zum Schwefelstecher” abgestiegen. Die Herberge ist einfach, aber gepflegt und sauber. Aufgrund der Nähe zu den Schwefelquellen ist die Unterkunft sehr günstig, denn der Geruch dort ist kaum auszuhalten, weshalb Ihre Gnaden viel Zeit mit Spaziergängen am anderen Ende der Stadt verbringt. Sie besichtigt die Bastionen und verbringt ihre Zeit auch damit, zu zeichnen. Kürzlich hat sie eine sehr hübsche Kohlestiftzeichnung eines Falken angefertigt. Gerne suche ich sie auf und übermittle Deine Einladung mündlich. Vielleicht solltest Du ihr zusätzlich auch eine kurze schriftliche Einladung senden? Es kommt mir doch etwas dreist vor, jemanden auf Deine Burg einzuladen.

Wegen des Services bin ich im Moment doch fast geneigt, ein neutrales Service in einem Elfenbeinton mit Wappen und Baronskrone zu nehmen. Deine Frage zur passenden Dekoration ist ein Argument gegen die Veilchen. Sie sind zwar nur als kleine Streublüten über das Geschirr verteilt, aber ich habe auch noch die Bedenken, ob man sich nicht bald an ihnen satt sieht. Also bestelle ich das zuerst genannte Dekor. Es wird von einer schlichten, zeitlosen Eleganz sein. Allerdings habe ich Sorge, ob es rechtzeitig zu unserem Traviafest fertig werden wird. Nun, falls nicht, wird es symbolisch durch einen Platzhalter vertreten sein!

Morgen werde ich nochmal Ihre Gnaden aufsuchen, Deine Einladung erwähnen und mich von ihr verabschieden. Übermorgen reise ich dann zurück nach Hause (noch Burg Tannwirk). Dein nächster Brief wird mich dann dort antreffen.

Deine Tsaja

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Burg Fischwacht, 21. Tsa 1045 BF

Schreiben Seiner Hochgeboren Geribold von Fischwachttal, Baron von Tommelsbeuge, an Ihre Wohlgeboren Tsaja Eberwulf von Tannwirk, Haushofmeisterin der Burg Tannwirk, Burg Tannwirk

Meine liebste Tsaja,

dass ich einmal das schlagende Argument in Fragen der Dekoration auf meiner Seite haben würde, hätte ich mir im Traume nicht einfallen lassen! Du förderst offenbar selbst meine verstecktesten Talente zutage.

Sicherlich wird das Service ganz wunderbar aussehen und sich gleichsam wohl tatsächlich leichter ins Gesamtbild fügen. Wenn Dir aber zukünftig doch weiterhin etwas an den "Valluser Veilchen" liegt, so können wir es ja noch immer in Auftrag geben, meinst du nicht? Werden die Service denn in Gratenfels hergestellt?

Boso - Du hast Recht, ich spreche, und schreibe auch ganz offenbar, nur von "Boso" - hat vor seiner Rückreise nach Gut Gräflich Bösalbentrutz, genauer nach Burg Bösalbentrutz, ebenfalls kurz von Leodegar gesprochen. Demzufolge dürfte ihm die Zeichnung Ihrer Gnaden recht gut gefallen, scheint er ja regelrecht besessen zu sein von seinen Schützlingen! Bosos Worte, nicht meine. Wenn ich ihn im Übrigen auch nur "Boso" nenne, so habe ich doch höchsten Respekt vor diesem Manne - er hat eine höchst… dramatische Familiengeschichte und ist dennoch ein lebensfroher Mann mit viel Witz, der es liebt, unter Leuten zu sein.

Über Leodegars Gemüt kann ich hingegen keine Aussagen treffen, denn tatsächlich habe ich bislang noch nicht mit ihm gesprochen. Eventuell ändert sich das an unserem Freudentag.

Bezüglich Ihrer Gnaden Marnion setze ich im Anschluss an diesen Brief einen weiteren auf, in dem ich sie persönlich hierher einlade. Ich hoffe, dass es ihrem Tier bald wieder besser geht, doch bin ich sicher, dass es in Gratenfels sicher fähige Viehärzte gibt!

Ich hoffe, du bist gut bei Deiner Nichte angekommen, auch sie grüße bitte recht herzlich von mir! Ich freue mich sehr auf dein nächstes Schreiben!

Dein Geribold

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Gratenfels, 19. Tsa 1045 BF

Schreiben Ihrer Wohlgeboren Tsaja Eberwulf von Tannwirk, zu Gast im Hause der Gwynna von Siebenstein, Stadt Gratenfels, an Seine Hochgeboren Geribold von Fischwachttal, Baron zu Tommelsbeuge, Burg Fischwacht, Baronie Tommelsbeuge

Mein lieber Geribold!

Bitte verzeih’, dass ich jetzt nur ganz kurz schreibe, aber ich möchte gleich den Boten mit dem Brief losschicken, um Dich über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Ich habe Ihre Gnaden eingeladen, mich nach Burg Tannwirk zu begleiten und sie hat die Einladung angenommen.

Vielleicht ist es geschickter, wenn Du die Möglichkeit hast, sie auf “neutralem” Boden kennen zu lernen. Kannst Du Dich für einige Tage von Deinen Pflichten frei machen und nach Tannwirk kommen? Dann könnte ich Euch einander vorstellen, wie es sich gehört!

Das Pferd Ihrer Gnaden ist im Stall Gwynnas unter gekommen und der Stallknecht kümmert sich gegen ein Trinkgeld bestens um das Tier.

Jetzt muss ich noch eine kurze Notiz für Melinde schreiben, die Gwynna freundlicherweise mit einer Brieftaube nach Witzichenberg senden wird. Auch wenn ich weiß, dass auf Burg Tannwirk Gäste immer im Sinne der Herrin Travia willkommen sind, ist es besser, wenn ich Ihre Gnade und vielleicht auch Dich (?) ankündige.

Solltest Du bereits einen Brief an Ihre Gnaden nach Gratenfels gesendet haben, so wird er ihr nachgesandt. Dafür hat Ihre Gnaden Sorge getragen.

Ach, was würde ich mich freuen, wenn Du Dich frei machen könntest und mich auf Burg Tannwirk erwarten würdest! (Oder bald nach mir kämest!) Wenn die Reise störungsfrei verläuft, sollten wir am 22. Tsa auf Tannwirk eintreffen.

Deine Tsaja

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Burg Fischwacht, 22. Tsa 1045 BF

Wie immer, wenn ihn ein Brief seiner geliebten Tsaja erreichte, hatte es sich Geribold mit einem Becher Wein in seiner Schreibstube gemütlich gemacht. Wie immer, wollte er die Lektüre des Briefes genießen.
Er nahm einen kleinen Schluck des für seinen Geschmack ein wenig zu sauren Weines, verzog deshalb leicht das Gesicht, machte sich im Geiste eine Notiz, diese Sorte nicht mehr zu erwerben und entfaltete dann den Brief. So wie er es immer tat, damit der Geschmack des Weines und das Lesen der ersten Zeilen der jeweiligen Briefe eine genussvolle Einheit bildeten. Direkt schlugen ihn das, was er dort las, in seinen Bann. Bereits den vierten Satz begann er leise murmelnd vorzulesen.
Nach der Lektüre des kurzen Briefes, saß er einen Moment lang still da. Dann leerte er seinen Becher auf einen Zug, schüttelte sich, wobei ihm wieder die Gesichtszüge entglitten, und rief:
"Disibold!"
Nur wenige Herzschläge vergingen, bis sich die Tür zum Vorzimmer der Schreibstube knarrend öffnete.
"Ihr habt gerufen, Euer Hochgeboren?"
Ein hochgewachsener Mann mit kurzgeschorenen Haaren, dafür aber einem stattlichen, mit Pomade zurecht gezwirbeltem Schnurrbart steckte seinen Kopf herein.
"Disibold! Ich habe einen besonderen Auftrag für dich. Sattle dein Pferd und reite alsbald nach Burg Bösalbentrutz. Dort verbringt der gute Boso gerade ein paar Tage mit seiner Familie. Richte ihm aus, er möge zurückkehren und die Geschäfte für einige Tage übernehmen. Ich reise nach Burg Tannwirk."
Der große Mann zwirbelte an seinem Bart, die Sorgenfalten, die er eben noch trug, wichen einem Lächeln, als er anhob:
"Ihre Wohlgeboren Tsaja Eberwulf von Tannwirk, nehme ich an?"
"So ist es, Disibold. Also spute Dich!"
Disibold wollte sich gerade schon wegdrehen, als er noch einmal innehielt.
"Wie Euer Hochgeboren sicherlich wissen, lebt meine Schwester mit der Familie von Eberbach auf eben jener Burg. Erlaubt mir die Gelegenheit zu nutzen und einen Tag länger zu verweilen. Ich habe sie lange nicht gesehen."
Auf ein kurzes Nicken, einem angedeuteten Lächeln und einer entsprechenden Handbewegung hin wandte sich Disibold dann tatsächlich zum Gehen.

Noch am selben Abend ließ Geribold den Stallmeister kommen und trug ihm auf, sein Pferd für die Reise bereit zu machen. Auch seinem Leibdiener trug er auf, alle benötigten Vorkehrungen zu treffen. Man tat wie geheißen und so ritt Seine Hochgeboren Geribold von Fischwachttal am Morgen des 23. Tsa 1045 BF nach Burg Tannwirk. Begleitet wurde er von seinem Leibdiener sowie zwei Gardisten zur Bedeckung.
Die Reise verlief recht unkompliziert, sodass er die Burg noch am Abend desselben Tages vor sich aufregen sah. Mit vor Vorfreude wild pochendem Herzen hielt er geradewegs auf sein Ziel zu.

Als Geribold auf den Burghof ritt, kam Tsaja schon eilig die Treppen des Palas' herunter gelaufen, um ihren Verlobten zu begrüßen. Mit etwas Abstand, um Geribold und Tsaja einen ruhigen Moment zu gönnen, folgten ihr Melinde und Ingrawin sowie eine Dame in grüner Gewandung, ganz offensichtlich eine Dienerin der Herrin Hesinde.

“Geribold! Du bist wirklich gekommen! Wie wunderbar! Danke, dass Du es einrichten konntest!”
Trotz der Zuschauer legt sie ihre Arme um Geribold und küßt ihn auf beide Wangen und - wegen der Zuschauer - nur ganz kurz auf die Lippen. Geribold erwiderte den Kuss seiner Angetrauten und hielt ihre Hände in den seinen, nachdem sie sich aus der Umarmung gelöst hatte.
"Aber natürlich, meine Teuerste. Wie könnte ich eine Gelegenheit Dich zu sehen ungenutzt verstreichen lassen?"
Er lächelte warm, seine Augen taten dasselbe. Dann umarmte er sie noch einmal kurz, bevor er seine geliebte Tsaja losließ.

Inzwischen näherten sich auch die drei anderen. Das Gesinde kümmerte sich um die Pferde und das Gepäck.

Ich hoffe, Deine Reise verlief gefahrlos und ohne Ereignisse? Wir sind gestern Abend gut hier angekommen.”, strahlte Tsaja Geribold an.
"So ereignis- und gegenstandslos wie einige der pseudophilosophischen Werke, die ich neuerdings las. Doch die Vorfreude darauf, Dich wiederzusehen, war im besten Sinne aufregend."
Den zweiten Satz hatte er recht leise gesprochen, sodass ihn wohl außer Tsaja niemand vernommen haben dürfte.
Selbst wenn das Gesagte für andere Ohren nicht zu hören war, so konnte jeder sehen, dass die junge Braut kurz errötete, eine Sekunde zu Boden blickte, dann aber Geribold direkt keck ins Antlitz lächelte.

Auch die Baronin und ihr Gemahl begrüßten ihren hohen, geschätzten Gast herzlich, den Geribold freudig erwiderte.
"Ich danke Euch, dass Ihr mich so kurzfristig als Gast empfangt und entschuldige mich gleichsam für den - mir fällt kein besseres Wort ein - Überfall."
Er lächelte freundlich und winkte seinen Leibdiener heran. Von ihm ließ er sich einen geflochtenen Korb reichen, den er wiederum seinen Gastgebern zu überreichen gedachte.
"Es sind nur Kleinigkeiten, die ich Euch mitbringe, doch hoffe ich, sie finden gefallen."
Ein Blick in den Korb offenbarte nebst einem Holzspielzeug für Kinder - es handelte sich um einen geschnitzten Fisch -, einem luftdicht verschlossenen Glas, in dem eine goldgelbe Marmelade zu sein schien, einer Flasche Wein und einem gestrickten Deckchen, das kaum mehr als eine große Spielzeugpuppe würde zudecken können, einige in dünnes Papier geschlagene Plätzchen.

Ach Geribold!", lachte Melinde fröhlich.
"Ihr seid hier immer willkommen und auch schon vor Eurem Verlöbnis haben wir Euch als zu unserer Familie zugehörig erachtet. Als Knappe habt Ihr doch so lange hier gelebt, dass auch Burg Tannwirk Euch ein Zuhause sein sollte - zumindest hoffen wir das!"
Dann schaute sie in den Korb:
"Was für wunderbare Gaben! Leonore wird der Fisch bestimmt gefallen! Nur - Ihr müsst uns nicht so verwöhnen! Auch ohne Geschenke seid Ihr hier immer gern gesehen."
Sie lächelte ihn an, nahm das Gläschen in die Hand und fragte:
"Was ist das für eine Marmelade? Nun tretet ersteinmal ein! Macht Euch frisch - Euer übliches Zimmer ist bereitet. Mein Vater erwartet Euch auch schon sehr ungeduldig und kann es kaum erwarten, von Euch gleich beim Abendmahl Neuigkeiten zu erfahren!"

Während Melinde sprach, zeigte Geribolds Gesicht den verträumt bis leicht verklärt wirkenden Ausdruck eines Reisenden, der nach langer Mühsal endlich nach Hause gefunden hatte. Lächelnd blickte er, nachdem Melinde geendet hatte, kurz über ihre Schulter zur Burg hinauf, wobei sein Lächeln noch breiter wurde.
"Ich danke Euch vielmals für Eure Worte, Melinde. Auch für mich ist es jedes Mal wie eine Heimkehr in den Schoß der Familie. Spätestens seitdem… Ach, lassen wir das."
Er wedelte mit der rechten Hand kurz in der Luft herum, als könne er damit seine letzten Worte, Gedanken gar, verscheuchen, dann sprach er weiter:
"Es freut mich, dass die Präsente Anklage finden, es handelt sich im Übrigen um eine Apfelmarmelade. Ich mag sie recht gern. Auf frischem Brot oder in einem Kuchen verarbeitet."
Nach einer kurzen Pause, schob er lächelnd nach:
"Auch ich brenne darauf, mit Eurem Herrn Vater Neuigkeiten auszutauschen. Ich hoffe, es geht ihm gut?"
"Er hat sich nach dem Schlag leidlich erholt, auch durch die rasche Hilfe des Herrn Dr. Eraldo, aber seine Kräfte haben nachgelassen. Nach Elenvina wird er nicht mehr zurückkehren. Wir sind froh, dass wir ihn bei uns haben. Er bereichert unsere Gesellschaft. Er benötigt schon etwas Unterstützung. Leonore freut sich, dass der Ur-Opa da ist, die beiden haben viel Spaß zusammen. Wir gehen davon aus, dass er an Eurer Feier teilnehmen kann. Wir reisen ja etwas früher an, dann kann er sich von der Reise erholen."
Wieder blickte sie in den Korb:
"Apfelmarmelade? Kein Gelee? Das klingt lecker! Die werden wir gleich morgen früh probieren. Und vielleicht kann unsere Waliburia das Rezept bekommen, falls es kein Geheimnis Eures Küchenmeisters ist.”
Melinde schmunzelte, dachte sie doch dabei an die Eigenheiten ihrer Küchenmeisterin Waliburia Eichenblatt.
"Ach, das können wir heute Abend noch besprechen! Ich wollte Euch Gesinde und auch Waliburia schon einige Tage vor dem Fest schicken, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Allerdings möchte ich Euren Küchenmeister nicht düpieren und den Eindruck erwecken, er wäre der Situation nicht gewachsen. Waliburia ist zwar recht temperamentvoll, aber auch in der Lage, untergeordnet zuzuarbeiten. Das besprechen wir aber später! Kommt ersteinmal an!"
"Ja, Marmelade.", nickte er.
"Aber Ihr habt Recht, lasst uns weiteres zu späterer Stunde besprechen."

Die Hesinde-Geweihte Alassia Marnion hatte sich etwas im Hintergrund gehalten und gewartet, bis Tsaja sie ihrem Bräutigam vorstellen würde. Nun war es soweit.
"Und hier habe ich nun Ihre Gnaden Alassia Marnion. Euer Gnaden, darf ich Euch Seiner Hochgeboren, Geribold von Fischwachttal, Baron zu Tommelsbeuge, vorstellen?"
Tsaja hatte die Geweihte behutsam am Arm genommen und führte sie zu Geribold.
Alassia Marnion war eine etwa 1,74 Schritt große, drahtige Frau nicht im typischen Ornat der Hesinde-Geweihten, sondern in grüner Hose und grünem Hemd. Darüber trug sie eine Überwurf, der eher an die Ornate der Draconiter erinnerte. An der Seite trug sie einen Langdolch und ihre Beine steckten in knielangen Reitstiefeln. Ihre langen dunklen Haare waren zu einem Zopf geflochten, der bis zum Steiß reichte. Ihr sonnengebräuntes Gesicht. In den Mund- und Augenwinkeln bildeten sich bereits feine Linien. Und obwohl die grünen Augen lebhaft blitzten, strahlte ihre aufrechte Gestalt die Würde ihres Amtes aus. Um den Hals trug sie den typischen Schlangenhalsreif aus grünem Zinn. Geribold schätzte sie auf etwa 40 Götterläufe. Sie verbeugte sich vor dem neuen Gast.
“Euer Hochgeboren! Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen zugleich!”
"Ehre und Vergnügen sind ganz meinerseits, Euer Gnaden.", antwortete Geribold mit einem leichten Kopfnicken.
"Tsaja hat mir einiges von Euch und Eurem Treffen berichtet. Welch glücklichen Zufall die Götter doch manches Mal für uns bereithalten. Ich freue mich darauf, Euch in weiteren Gesprächen kennenzulernen, so Ihr gestattet."
"Ich danke Euch, dass Ihr mir die Gelegenheit gebt, mich Euch vorzustellen, Euer Hochgeboren, zumal Ihr im Moment genug zu tun habt, da außer dem Tagesgeschäft ja auch noch die Vorbereitungen zu Eurer Vermählung anstehen!"
Sie lächelte erst Tsaja und dann auch deren Bräutigam herzlich an.
"Wahrlich gibt es derzeit alle Hände voll zu tun. Doch sind die Vorbereitungen auf die Hochzeit gleichsam der Auftakt zu einem gemeinsamen Leben mit Tsaja. Da geht vieles leichter von der Hand - selbst das Tagesgeschäft."
Seine Worte klangen entwaffnend ehrlich und als er von Tsaja sprach, wanderte sein Blick unbewusst wieder zu ihr, sodass Alassia recht einfach offenbar wurde: Der Mann ist tatsächlich schwer verliebt.

Melinde und Ingrawin machten nun Anstalten, sich zum Palas zu begeben und auch Tsaja hakte sich bei Geribold ein und führte ihn ins Haus, um ihn in sein Gemach zu bringen. Alassia folgte in respektvollem Abstand.
Tsaja führte ihren Bräutigam in den Gästetrakt des Palas und in sein Gemach. Sie hatte es selbst für ihn vorbereitet und auch einen Krug frisches Wasser bereitgestellt. Eine Magd brachte einen weiteren Krug, der heißes Wasser enthielt. Mit einem Knicks stellte sie ihn ab und verließ wieder das Zimmer. Als die Magd den Krug abstellte, nickte Geribold ihr kurz zu.
"Endlich allein! Jetzt kann ich Dich richtig begrüßen.", sagte Tsaja als sie Geribold strahlend in die Arme schloss und ihn innig küsste. Dann schlüpfte sie aus dem Zimmer.
"Wir sehen uns gleich an der Tafel!" Sie lächelte ihm nochmal zu und verschwand.
Auch Geribold war offenkundig glücklich über die kurze Zeit allein und erwiderte den innigen Kuss. Als die beiden sich wieder lösten, hielt er wieder kurz ihre beiden Händen in den seinen und blickte seiner Zukünftigen fest in die Augen.
"Ich bin äußerst froh, hier zu sein. Genau hier, meine ich."
Dann gab er ihr einen erneuten Kuss auf den Mund und blickte ihr anschließend lächelnd hinterher, nachdem sie sich anschickte aus dem Zimmer zu schlüpfen. Anschließend legte er die Reisekleidung ab und gewandete sich in saubere Kleidung, die dem gemeinsamen Abend angemessener war. Zuvor hatte er sich kurz gewaschen.
Zu gegebener Zeit verließ er das Zimmer, das seit jeher das Seine war, wenn er zugegen war und in dem er sich tatsächlich ein Stückweit heimisch fühlte und begab sich zur Tafel.

Melinde hatte ihre Küchenmeisterin ein üppiges Menü auftischen lassen: Braten von Schwein und Rind sowie gebratene Hühner und unterschiedliche Wintergemüse. Als Vorspeise eine Apfelweinsuppe und zum Dessert gab es Birnenkompott mit einer hellen, süßen Soße und zum Abschluss eine Käseplatte mit einer guten Auswahl besonderer Käse.
Geribold ließ sich das hervorragende Essen in ausgezeichneter Gesellschaft sichtlich schmecken. Immer wieder lobte er die einzelnen Speisen und Kompositionen, vor allem die helle Soße hatte es ihm angetan. Die vorzüglichen Speisen nahm er zum Anlass, auf das von Melinde bei seiner Ankunft unterbreitete Angebot zurückzukommen. Er bedankte sich und war gewillt, das überaus zuvorkommende Angebot anzunehmen, nicht ohne ein Schmunzeln, war doch auch Ariana Simis, seine Küchenmeisterin eine überaus temperamentvolle Frau.

Alrik, Geribolds Schwertvater, freute sich über die neuen Gäste und fragte die Hesindegeweihte über ihre Reisen aus und wollte auch von seinem künftigen Schwiegersohn wissen, wie die Hochzeitsvorbereitungen und die Geschäfte der Baronie liefen.

Ihrer Gnaden hörte Geribold aufmerksam zu, stellte hier und da eine Zwischenfrage, insbesondere dann, wenn es um andere Kulturen ging - er selbst war bislang kaum 'herumgekommen'.
Alrik berichtete er von den Hochzeitsvorbereitungen, den Gästen, die eine Einladung erhalten haben oder noch sollten und erwähnte in diesem Zusammenhang gleichsam Seine Hochwürden Gundoin Baduar von Kranick, den Hofkaplan Ihrer Hochgeboren Iriane Madalin von Kranick zu Kranickteich.

Alassia Marnion plauderte unterhaltsam, verstand es aber auch zuzuhören und hatte für alles und jeden ein offenes Ohr. Im Gespräch ging es auch um die Forellenzucht, die Melinde im Frühjahr beginnen wollte. Die Becken waren bereits im letzten Jahr angelegt und gefüllt worden. Eine Kandidatin, die die Fischzucht führen würde, gab es bereits. Die Verhandlungen über das Dienstverhältnis standen kurz vor dem Abschluss. Es war typisch für Melinde, dass sie stets überlegte, wie sie die Verhältnisse in ihrem Lehen verbessern und den Wohlstand, auch für die ihr anvertrauten Seelen, mehren konnte.
Geribold beglückwünschte Melinde zur Idee einer Fischzucht und stellte dabei die Vorzüge dieser Tiere mit einem Augenzwinkern herau, während er ansonsten den Erzählungen der äußerst eloquenten Alassia mit Wohlgefallen folgte.
Als er ihr so zuhörte merkte er schnell, dass er zwar einen belesen-gebildeten Geist hatte, ihm die Weltschau allerdings abging, sodass ihn sein durch die Lektüre seiner Bücher gewonnene Wissen plötzlich ein wenig blutarm, hohl und oberflächlich vorkam. Deshalb fragte er Ihre Gnaden zu passender Gelegenheit rundheraus:
"Euer Gnaden. Erlaubt mir eine Frage. Ich komme nicht umhin zu erkennen, dass das Reisen den Geist in einem Maße zu entfalten befähigt ist, wie es die Lektüre von einem halben Dutzend Büchern kaum vermag. Ich möchte Euch ein Beispiel geben, um präziser zu sein. Wenn ich ein Werk studiere, in dem die Sitten und Bräuche der Zwerge detailliert und von einem Zwergen selbst beschrieben werden, glaubt Ihr, dass sich jenes Wissen dann darin erschöpft? Oder lerne ich nicht tausendfach mehr, wenn ich in Angbar einen Abend lang mit Zwergen trinke - rein hypothetisch, versteht sich. Ich meine schon. Sicher wisst Ihr, worauf ich hinaus will. Glaubt Ihr, dass Weisheit, allein aus Büchern gewonnen, tatsächlich Weisheit sein kann?"
Alassia wandte den Blick auf Gerion und ein Lächeln, als ob die Praiosscheibe hinter den Wolken hervorbräche, überzog ihr Gesicht.
"Euer Hochgeboren, das ist eine wirklich gute Frage! Wie Ihr wahrscheinlich wisst, bin ich viel gereist, mehr als die meisten meiner Ordensschwestern und -brüder. Das hat mir von Tempelseite auch sehr viel Kritik eingebracht, auch wenn das Reisen als Quelle von Wissensfindung gesehen wird. Ich gebe zu, ich hätte mich vielleicht auch mehr dem Tempeldienst widmen sollen, aber nun ja, es kam halt anders."
Einen Moment blickte sie auf die Tischplatte, als ihre Erinnerungen an den Kriegszug, an dem sie teilgenommen hatte, in ihr aufstiegen. Als sie ihren Blick wieder erhob, waren die Schatten, die ihr Gesicht kurz überzogen hatten, verschwunden und sie lächelte bei dem Gedanken an eine glücklichere Erinnerung.
"Das Wissen aus Büchern ist wichtig und kann größere Entfernungen zurücklegen, als Wissen, welches nur in einer bestimmten Regionen mündlich tradiert wird und unter Umständen mit den Trägern ausstirbt. Natürlich ist dieses Wissen kostbar und ich versuche, wann immer möglich, solches Wissen aufzuzeichnen. Euer Beispiel mit den Angroschim finde ich vorzüglich! Natürlich könnt Ihr theoretisch alles über diese Gruppe aus einem Buch lernen, sofern ein solches Werk existiert. Mit einer Gruppe Zwerge die Nacht zu durchzechen, wird Euch unter Umständen kein Hintergrundwissen vermitteln, aber eine direkte greifbare Erfahrung, die Kopfschmerzen am nächsten Tage eingeschlossen!"
Sie lächelte kurz und fuhr dann fort:
Das Wort 'begreifen', welches wir im Sinne von geistigem Verständnis verwenden, kommt aber tatsächlich von greifen, anfassen. Eine Berührung gibt uns ein taktiles Verständnis des Gegenstandes, den wir greifen. Die Form, das Material, seine Struktur, sein Gewicht und all diese Dinge. Natürlich kann man die Beschreibung eines Gegenstands einem Text entnehmen, aber es ist plastischer, ihn selbst in die Hand zu nehmen. Darüber hinaus kann man Begriffen auch erst eine Bedeutung zuordnen, wenn man die Bedeutung auch kennt. Nehmen wir als Beispiel den Begriff 'rau'. Alle Erklärungen Deres können uns 'rau' nicht begreiflich machen, wenn wir damit nicht eine sinnliche Erfahrung verbinden! Und genau so sehe ich es mit Wissen allgemein. Wissen, das sich nur aus Büchern und Schriftrollen gründet, kommt mir unvollständig vor."
An Geribolds Miene konnte man ablesen, wie konzentriert er den Ausführungen Ihrer Gnaden, die sich offenbar warmgeredet hatte, folgte. Ab und zu nickte er.
"Was wäre mit den Erfindungen des Leonardo von Havena", sprach sie weiter, "wenn er seine Forschungen nur auf dem Papier betrieben hätte und nicht in der Praxis erprobt hätte? Theoretisch auf dem Papier kann alles funktionieren, aber warum dann eine gebaute Erfindung nicht funktioniert, obwohl die Planung korrekt erscheint, dazu benötigt es mehr als Buchwissen! Und ein Beispiel aus meinem persönlichen Erfahrungsschatz, bevor ich mit meinem langen Monolog zum Ende komme: Ich hatte die große Ehre als junge Novizin, seine Spektabilität Orchit von Hirschfurten auf der großen Altaia-Expedition begleiten zu dürfen. Diesen wunderbaren, einmaligen Ort selbst sehen, selbst erfahren zu dürfen war ein Geschenk! Diese exotische Farbenpracht, die Gerüche, die Hitze und die Luftfeuchtigkeit. Seltene Vögel, unbekannte Blüten, die Luft - vor Hitze flirrend - wie soll man das in einem Text beschreiben?"
Schwärmerisch reist ihr Blick zurück in die Vergangenheit und Alassia fühlt einen Hauch Wehmut, bei dem Gedanken, dort nie wieder hinreisen zu können, denn Altaia ist untergegangen.
Nach einem Moment der Besinnung und einem Blick auf die Anwesenden, deren Gesichter unterschiedliche Gefühle widerspiegeln, ergänzt Alassia:
"Bitte denkt nun aber nicht, dass ich mich mit meinen Reisen brüsten möchte und ein Gelehrter ist nicht weniger Wert als eine gelehrte Reisende. Für jeden haben die Götter die rechte Aufgabe und das geeignete Amt gefügt!"
Geribold, der zwar ein belesener Mann war und durchaus von sich behaupten konnte, die ein oder andere philosophische Abhandlung studiert zu haben, brauchte dennoch ein paar Herzschläge, um das Gehörte verstehen zu können. Dann erinnerte er sich einer Abhandlung, die er einst las.
"Ich danke Euch für Eure ausführlichen Worte und glaube sie verstanden zu haben. Das führt mich allerdings, so Ihr erlaubt, zu einer weiteren Frage. Ihr habt ganz Recht damit, dass sinnliche Erfahrung Voraussetzung für das Begreifen unabdingbar ist. Vordringlichst offenbart sich dies meiner bescheidenen Meinung nach in den Farben. Ein blindgeborener Mann wird niemals begreifen, was Blau oder Rot ist."
Er machte eine kurze Pause, in der man ihm ansehen konnte, wie er nachdachte - und dass es ihm nicht sonderlich leicht zu fallen schien, hier noch 'mitzuhalten'.
"Aber… wie kommt es dann zum Verstehen. Ist das Verstehen nicht dem Wortsinn nach Verstandestätigkeit? Ist also das Wissen darum, was 'Blau' - oder in Eurer Analogie 'rau' - ist plötzlich geistiges Eigentum, das reproduzierbar wird? In dem Sinne, dass mir das einmalige Befühlen oder Sehen ausreichend ist für ein ganzes Leben? Ein im Verlauf seines Lebens Erblindeter wird immer wissen, was Blau ist, ohne erneute Schau. Das Wissen wird demnach abstrakt und abrufbar. Wenn ich einmal gelernt habe, wie man einen Baum pflanzt, kann ich dies sehr wohl mit Worten meinem Sohn dergestalt beschreiben, dass er es ebenfalls tun könnte, meint Ihr nicht? Offenbar gibt es hier aber Ausnahmen, mitunter die von Euch genannte Oberflächenstruktur oder die Farben - hier scheinen Worte begrenzt. Warum dies so ist, wäre sicher auch eine spannende Frage?"
Wieder machte er eine Pause, scheinbar musste er immer wieder nachdenken, wie seine Argumentation nun weitergehen solle. Vom geistreichen Redefluss Alassias war er weit entfernt.
"Ich überhole mich gleich selbst mit meinen Gedanken!", lachte er kurz auf, bevor er fortfuhr.
Wer sich mit dem menschlichen Innenleben ein wenig auskannte, erkannte die Nervosität Geribolds sofort.
"Wenn also 'Begreifen' und 'Verstehen' beides Begrifflichkeiten der menschlichen Wissenserweiterung sind, das eine die taktile Erforschung der stofflichen Welt, das andere das geistige Durchdringen der Gesetzmäßigkeiten dahinter beschreibt, müssen nicht beide - der reisende wie der bücherverschlingende Gelehrte - letztlich unvollständig bleiben?"
Alassias Augen blitzten begeistert auf:
"Wahrlich! Ihr versteht es, einen gewandten Disput zu führen! Ihr seid tiefgründig! Beeindruckend! Ihr habt Recht, wenn Ihr sagt, dass ein Blindgeborener Farben niemals verstehen kann, es sei denn, dass man sie ihm vielleicht mit Gefühlen nahezubringen versucht: rot für Wut, blau für kalt und so weiter. Dies mag aber nur ein schwacher Ersatz für das wirkliche Sehen sein. Ich habe aber mal gehört, dass jemand, der bereits sehr lange erblindet ist, die Intensität der Farben vergisst."
Nur kur hielt sie inne.
"Vom Begreifen zum Verstehen: Nun, wie es dazu kommt, vermag ich Euch nicht gänzlich zu erklären. Es mag ein Prozess sein, wie Sinneseindrücke, ihren Weg in den Verstand finden, den die Wissenschaft heute nocht nicht erklären kann. Auch mag die Erkenntnis auf göttliches Wirken zurückzuführen sein. Wer weiß das schon... und ob Verstehen Verstandestätigkeit sei? Nun, ich sehe es mehr als ein Ineinandergreifen verschiedener Aspekte. Auch hier können körperliche Wahrnehmungen eine Rolle spielen, aber auch Erfahrungen, Emotionen, Gedanken und vieles mehr. Meint Ihr nicht auch? Ja, 'geistiges Eigentum' ist bestimmt reproduzierbar! Sonst könnten wir aus Schriften und Büchern ja gar nichts lernen!"
Sie leitete zum nächsten Thema über.
"Euer Beispiel mit dem Pflanzen eines Baumes gefällt mir sehr! Ja, sicher könntet Ihr mit Worten allein beschreiben, wie man einen Baum pflanzt und das bestimmt auch korrekt. Was Euer Sohn aber dann nicht erfahren würde, wäre das Gefühl dabei: Die Anstrengung beim Ausheben des Lochs, die Ungewissheit, ob es die richtige Tiefe hat, ob der Boden taugt, ob sein Wurzelwerk in gutem Zustande ist, ob man ihn richtig fest gestampft hat, die gefühlsmäßige Bindung an den jungen Baum und die damit verbundene Sorge, ob es dem Schützling gut geht, er genug Wasser bekommt und sich prächtig entwickeln wird. Und nicht zuletzt der Stolz, wenn er gedeiht und vielleicht die ersten Früchte trägt."
Sie machte eine kurze Pause, um das Gesagte bei ihrem Gegenüber ankommen zu lassen.
"So sehe ich den Unterschied zwischen theoretischen Kenntnissen und praktischem Wissen, welches sich auf das wunderbarste miteinander ergänzt. Denn wenn ich nicht weiß, welche Bedürfnisse der Baum hat, wird es schwerfallen, ihn so zu setzen, dass er Wurzeln schlagen kann und wahrscheinlich verkümmern."
Sie schloss ab mit den Worten:
"Ich bin mir nicht sicher, ob ich alle Eure Fragen und Anmerkungen jetzt bedacht und auch richtig verstanden habe. Bitte sagt es mir, wenn ich gefehlt habe oder noch etwas unklar ist.”

Wie das letzte Mal, hatte Geribold den Ausführungen Ihrer Gnaden wie gebannt gelauscht.
"Ich danke Euch, dass Ihr mich an Eurer Weisheit teilhaben lasst, Euer Gnaden - und für Eure schmeichelnden Worte ebenso."
Er lächelte breit bevor und setzte dann fort:
"Das Bild, das Ihr mir soeben von 'Wissen' übermitteltet - und das wohl gemerkt vermittels weniger Worte und äußerst präzise - ist brillant. Bislang betrachtete ich das Wissen als factum. Als etwas, das man anwendet, um ein Ziel zu erreichen, als Mittel zum Zweck. Doch, so scheint es, ist doch so viel mehr. Es ist sinnliche Erfahrung, körperliche Ertüchtigung und Ermüdung. Es ist Schmerz und Hingabe zur Sache - kurzum: es ist kein Mittel zum Zweck. Es ist der Zweck höchstselbst."
"Ich genieße diese Unterhaltung tatsächlich sehr. Fühlt Euch hiermit offiziell immer herzlich auf Burg Fischwacht willkommen."
Er hob seinen Becher wie zum Zeichen, dass er geendet hatte und lächelte Ihre Gnaden offenherzig und freundlich an. Selbst in seinen Augen spiegelte sich dies Lächeln wider. Unwillkürlich griff er nach der Hand Tsajas, drückte diese einmal und schenkte auch ihr ein warmes Lächeln. Es war unverkennbar, dass Geribold diesen ganzen Moment hier sehr genoss.
"Euer Hochgeboren! Ich danke Euch für Euer Lob, welches mich ehrt und mir schmeichelt! Und herzlichen Dank für Eure Einladung! Ich werde ihr sehr gerne einmal folgen!"
"Das freut mich sehr zu hören, Euer Gnaden."
Lächelnd nickte er ihr zu.
"Natürlich seid Ihr auch herzlich eingeladen, weiter auf Burg Tannwirk zu verweilen. Wir freuen uns alle sehr, Euch hier zu haben. Ein Besuch des Peraine Tempels in Kreuzweiher lohnt sich auf jeden Fall. Dort gibt es nicht nur die heilenden Quellen, der Tempel ist auch eine Pilgerstation des St.-Theria-Pilgerweges, der im letzten Götterlauf neu eröffnet wurde," merkte Melinde an.
Auch der Rest der Familie bekundete seine Freude über die Anwesenheit des Gastes. Gäste bedeuteten immer Neuigkeiten und Ablenkung vom Alltag.

"Euer Hochgeboren, mögt Ihr mir nicht etwas über Eure Burg und Euren Hof berichten? Verfügt Burg Fischwachttal über eine kleine Bibliothek?", erkundigte sich Alassia dann interessiert.
Geribold sortierte kurz die Fragen im Kopf, die Ihre Gnaden gestellt hatte.
"Wir haben eine kleine Bibliothek, nun ja, eigentlich kaum mehr als ein Wandregal. Hauptsächlich Werke der Philosophie, meinem Steckenpferd. Mein Heim wirkt auf Außenstehende häufig 'zu militärisch', wie man mir zutrug."
Er hielt kurz inne, schmunzelte und sprach dann weiter.
"Ich hoffe, Ihr mögt Katzen? Überall auf Burg Fischwacht findet man sie, die kleinen Streuner. Dafür aber kaum Mäuse und Ratten!"
Er trank einen Schluck aus seinem Becher und räusperte sich.
"Katzen? Kleine Rondralöwen. Keine Sorge, mit ihnen und mir wird es gut gehen, wenn ich die Ehre habe, Euch in Euren Heim zu besuchen!", warf Alassia kurz ein.
Geribold ging nur mit einem kurzen Nicken auf den Einwurf Ihrer Gnaden ein, er schien recht konzentriert zu sein.
"Am Hofe lebt der gute Boso, ähm, ich meine Boso von Eberbach, mein Truchsess. Außerdem unterschiedliche Angestellte vom Schreiber Disibold, über meinen Leibarzt Drego Grabschaufler, die Köchin Ariana… Mundschenk und Kämmererin entstammen der Familie derer von Lerchentrutz aus Tommelsfurt. Hmm… was gäbe es noch zu erwähnen…"
"Habt Ihr auch einen Garten auf der Burg und welche Geweihten, Tempel oder Schreine gibt es in Eurer Baronie oder vielleicht sogar auf Eurer Burg?"
"Wisst Ihr, es gab ein kleines Gärtchen, ja. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich es sträflich vernachlässigt habe. Da müsste einiges getan werden."
Er lächelte etwas verlegen.
"Was die zweite Frage betrifft so weiß ich von einem Efferd-Schrein in Auroth und einem entsprechenden Tempel in Hjalderfurt, mitsamt Geweihtem. In Treuklingen gibt es einen Travia-Schrein, die dortige Wirtin ist Akoluthin der Gütigen Mutter. Auf Burg Fischwacht haben wir einen Rondra-Schrein. Meine Familie steht seit je her der Leuin sehr nah - daher ein passender Vergleich die 'kleinen Rondralöwen'."
Er lachte kurz auf, wurde dann aber wieder ernst. Der nachfolgende Satz erklärte wieso:
"In Brinnen existiert ein Boron-Tempel. Gebaut nach den Schrecken, den die Zorgan-Pocken nach Tommelsbeuge brachten."
Er dachte weiter nach.
"Ich glaube, das waren alle..."
Wie um sich selbst zu bestätigen, nickte er, schlug sich dann aber mit flacher Hand gegen die Stirn.
"Ach, beinahe hätte ich Firutin vergessen. Im Hochmooser Wald um Burg Bösalbentrutz in Gut Gräflich Bösalbentrutz, gibt es einen Firun-Geweihten. Die Burgvögtin Ihre Wohlgeboren Irminella von Eberbach hat den Waldbauern das Jagdregal auf Kleinwild übertragen. Das hat wohl zu unschönen Situationen geführt, sodass besagter Firutin nun über die Firungefälligkeit jener Bauern wacht. Wer einmal mit ihm ins Gehege geraten ist, ist für die Folgetage lammfromm und zuckt zusammen, wenn ein Ast knackt, erzählt man sich."
Wieder musste er lachen, diesmal richtig herzhaft.
Alassia stimmt in das Lachen ein.
"Vielleicht mag ja Eure künftige Gemahlin sich des Gärtleins annehmen!"
Er blickte Tsaja gespielt herausfordernd an.
"Und, wird sie? Ich werde selbstredend unterstützend beraten - nicht, dass das groß hilfreich wäre."
Er lachte erneut, schien durchaus gelöst zu sein.
"Öh, vielleicht… Da werde ich mir im Perainetempel zu Kreuzweiher wohl noch etwas Rat holen."
Tsaja blickte zu Boden und blickte dann von unten durch ihre langen Wimpern nach oben zu Geribold und grinste schelmisch.

Nach dem Essen verteilte man sich behaglich um den Kamin, wohin einige Mägde und Knechte die bequemen Lehnstühle stellten und das Feuer noch etwas schürten.
"Es ist ein so schöner, lauer Abend. Wollen wir nicht etwas im Burggarten spazieren gehen?", fragte Tsaja in die Runde.
"Sehr gern".
Geribold war sofort Feuer und Flamme für die Idee 'seiner' Tsaja.
"Ich habe heute sehr lang gesessen, wenn auch in den letzten Stunden sehr bequem, sodass ich mir sehr gern ein wenig die Beine vertreten würde."
Melinde lehnte ab, sie wollte die Füße hochlegen. Ingrawin blieb bei seiner Gemahlin. Liliane brachte Alrik in sein Gemach und wollte noch schauen, ob bei der kleinen Leonore alles in Ordnung war. Leon und Basilissa zogen sich in ihre Gemächer zurück und die Knappinnen trollten sich von dannen. Alassia leistete ihren Gastgebern Gesellschaft. So konnten Geribold und Tsaja traute Zweisamkeit genießen.

Als sich die Festgesellschaft aufgelöst hatte und die beiden angehenden Eheleute gemeinsam im Burggarten angekommen waren, griff Geribold sofort nach der Hand seiner Geliebten. Mit dem Daumen streichelte er sanft den Handrücken Tsajas, atmete tief durch und seufzte.
"Es freut mich, dass wir noch ein bisschen Zeit für uns haben. Versteh' mich nicht falsch, ich habe den Abend genossen. Aber… mit dir Zeit zu verbringen ist…"
Er rang nach Worten, fand anscheinend keine richtigen und wurde ein wenig rot. Er zog Tsaja wortlos an seine Seite, hielt sie fest im Arm.
"Es ist einfach schön. So schön."
Er wirkte für einen kurzen Moment unzufrieden, fing sich aber sofort wieder und lächelte.
"Was bedrückt Dich, mein Liebster?"
Tsaja, die die Menschen, die ihr wichtig waren, sehr genau beobachtete, hatte bemerkt, dass für einen kurzen Moment eine Wolke auf Geribolds Stirn erschienen war. Sie schmiegte sich zärtlich an ihn.
"Oder missfällt Dir irgendetwas? Oder jemand?"
Erschrocken wandte er sich Tsaja zu.
"Nichts, meine Teure. Alles ist ganz wunderbar. Ich habe mich nur darüber geärgert, dass mir die passenden Worte nicht einfallen wollten, um diesen wunderbaren Moment und die Gefühle, die ich dabei habe, zu beschreiben."
Er lächelte sie an. In seinem Blick konnte man nun all das lesen, was er zuvor mit Worten allein nicht zu beschreiben imstande gewesen war.
"Nun, ich habe nicht den Eindruck, dass es Dir an Wortgewandtheit mangelt! Und vorhin im Dialog mit Ihrer Gnaden hast Du gezeigt, wie klug Du bist und wie Du die Themen überdenkst! Ich war sehr beeindruckt von Eurer Diskussion und alle anderen an der Tafel haben geschwiegen und Euch gelauscht!"
Tsaja lächelte, legte ihren Kopf auf Geribolds Schulter.
"Und es gibt Momente, da braucht es keine Worte", fügte sie hinzu.
Er schaut sie sanft lächelnd an.
"Du findest stets die rechten Worte und danke Dir. Aber ich meinte auch eher… die Emotionen. Das Wissen aus den Büchern - ich weiß nun, wie limitiert das ist. Und so fühle ich bei meiner Fähigkeit, meine Gefühle zu… beschreiben oder auszudrücken ebenso."
Er blickte zu Seite.
"Du weißt, wie dunkel meine Stimmungen bisweilen sein können auch wenn sie, seit ich dich kenne, immer weniger wurden. Da komme ich alleine nicht mehr raus. Auch, weil die Gefühle für mich nicht greifbar sind. Sie überwältigen mich und lassen mich ohnmächtig werden."
Dann schaute er Tsaja wieder direkt in die Augen und wedelte mit der Hand, als könne er das Gesagte so im sanften Wind verwehen lassen.
"Aber hinfort mit allem Finsteren. Ich genieße den Moment und mache ihn mit meinem Gerede kaputt. Nichts läge mir ferner."
Er beugte sich zu Tsaja herüber und gab ihr einen Kuss. Als er seinen Oberkörper wieder zurücklehnte, grinste er beinahe schelmisch.
"Wenn wir zusammen sind, fühle ich mich manchmal wieder wie ein Praiostagsschüler, der Hals über Kopf in seine Sitznachbarin verliebt ist und ständig kichert, wenn er sie berührt."
Tsaja kicherte wie eine von den oben genannten Praiostagsschülern, dann wurde sie jedoch ernst.
"Mein Liebling, ich bin glücklich, wenn ich Deine dunkle Stimmung weglachen kann! Allerdings mag eine Zeit kommen, wo mein Lachen vielleicht nicht mehr reicht, um Dich aus dieser Stimmung herauszuholen! Du bist ein empfindsamer Mensch und was für Schrecken Du im Krieg erlebt haben magst, kann ich mir nicht im geringsten vorstellen! Ich bin dankbar, dass ich nicht dort sein musste! Dann wäre meine Fröhlichkeit wahrscheinlich für immer dahin! Du hast Vater und Bruder in diesem Krieg verloren! Was für ein furchtbarer Schicksalschlag! Die Götter prüfen uns wirklich hart! Aber Du bist nicht allein! Du musst Dir deswegen auch keine Vorwürfe machen! Ihre Gnaden hat in einem anderen Krieg gedient und dort seelische Wunden erlitten. Melinde leidet immer wieder unter Albträumen und wenn wir nicht gut auf sie achtgeben, dann wandelt sie bei vollem Madamal auf den Burgmauern. Sie hat sich Hilfe bei ihrem Leibmedicus geholt und nach den Gesprächen mit ihm geht es ihr deutlich besser. Wenn Du eines Tages das Bedürfnis hast, Dich vielleicht mit jemandem auszusprechen, dann können wir uns an die Boron - Kirche wenden."
Das Wort 'Noioniten' vermied sie absichtlich, sie wollte keine unschönen Vorstellungen wecken.
"Du kannst Dir gewiss sein, dass ich, solange ich lebe, immer zu Dir stehen und immer für Dich da sein werde! Und meine Familie wird uns zur Seite stehen, wann immer wir um Hilfe bitten!"
Sie umfasst zärtlich Geribolds Gesicht und blickt ihm tief in die Augen.
"DAS schwöre ich Dir bei allen zwölf Göttern!"
Ihren Schwur besiegelt sie mit einem innigen Kuss und umarmt ihren Verlobten, als wolle sie ihn niemals wieder loslassen.
Geribold erwiderte sowohl Kuss, als auch Umarmung. Als sie sich nach einiger Zeit voneinander lösten, sprach er mit leicht zittriger Stimme:
"Du bist mit Abstand das Beste, was mir jemals passiert ist. Zumindest so lange, bis wir unser erstes, gemeinsames Kind haben."
Er zwinkerte Tsaja zu und lächelte wieder breit. Hand in Hand gingen die beiden weiter spazieren.
"Weißt du, ich habe bereits mit Drego erste Gespräche geführt. Er stellt die richtigen Fragen, wenn sie auch bohrend und bisweilen wirklich schmerzhaft sind, so ich mich bemühe, sie aufrichtig zu beantworten. Ich will diese dunklen Stunden nicht mehr, weißt du? Es ehrt dich und lässt meine Liebe für dich ins Unermessliche steigen, dass du bereit bist, auch durch jene Zeiten mit mir zu gehen und meine Last mitzutragen. Aber diese Bürde will und werde ich dir nicht mehr lange auferlegen, das verspreche ich dir."
Er klang aufrichtig hoffnungsvoll.
"Drego meint, wir machen bereits erste Fortschritte. Er versteht was von seinem Handwerk und hat ein gutes Herz. Ihr werdet euch mögen, glaube ich. Nur ein wenig… tollpatschig ist er."
"Wer weiß, was die Götter mit uns noch im Sinn haben! Hoffentlich ein gnädiges Schicksal! Und da man nie weiß, was so kommen wird, sollten wir jeden guten Moment ganz bewusst genießen!"
Lächelnd wandte sie sich Geribold zu:
"A propos Kinder: Wieviele Kinder möchtest Du denn? Und möchtest Du lieber einen Jungen oder ein Mädchen als Erben für Tommelsbeuge? Wir können das zwar nicht beeinflussen, aber Deine Meinung dazu interessiert mich doch!"

Liliane war zwischenzeitlich ans Fenster getreten und blickte in den Burggarten. Im Licht des Madamals konnte sie Tsaja und Geribold sehen, die im trauten Gespräch Arm in Arm durch den Garten spazierten. Beruhigt, dass alles in einem schicklichen Rahmen blieb, zog sie sich wieder zurück. Natürlich wusste sie, dass Geribold ein Ehrenmann war, aber die Sorge um “ihr” Mädchen, das sie einige Götterläufe behütet und aufgezogen hatte, weckte den scharfen Wachhund in ihr.

"Da hast du Recht. Wir sollten die uns gegebene Zeit nutzen und genießen."
Er blickte geradewegs nach oben zu den Sternen.
"Ich glaube, es ist Zeit nach vorne zu blicken."
Dann schaut er wieder in Tsajas Augen.
"Was mich zur Beantwortung Deiner Frage führt. Ich hätte gern mindestens zwei Kinder, so Tsa uns dieses Geschenk machen mag. Aber bei dem Namen meiner bezaubernden Frau mache ich mir da ja eigentlich keine Sorgen."
Er schmunzelte und zwinkerte Tsaja zu.
"Aber Spaß beiseite. Zwei gesunde Kinder wünsche ich mir - ganz egal ob es sich dabei um Mädchen oder Jungen handelt. Und du?"
"Oh, ich dachte an vier bis fünf"
Lachend warf Tsaja den Kopf in den Nacken.
"Mal sehen, ob ich nach einer Schwangerschaft meine Meinung vielleicht ändere. Und ich möchte Mädchen und Jungen! Wie viele Kinder können wir eigentlich ernähren und ausbilden? Das sollte man ja auch berücksichtigen", merkte Tsaja augenzwinkernd an.
"Nicht, dass wir am Ende noch am Hungertuch nagen, um dem Nachwuchs die Ausbildung zu ermöglichen."
Geribold schürzte die Lippen und dachte offenbar angestrengt nach - zumindest legte seine in Falten gelegte Stirn diesen Schluss nahe.
"Dieses Jahr war recht einträglich, das davor… darüber breitet man lieber das Tuch des Schweigens aus. Hmm… wenn du es genau wissen magst, musst du mit Korada sprechen. Aber ich denke für den ein oder anderen Spross sollte es reichen."
Er zwinkerte nun ebenfalls.
"Wird Hagunelda sicher gefallen, wenn sie Tante wird!"
Tsaja lachte, legte ihren Arm um Geribold und gemeinsam kehrten sie ins Haus zurück.

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Autoren: Boesalbentrutz und Windwanderer SGS