Ein ganz normaler Tag auf Burg Nilsitz

Ein ganz normaler Tag

Ort: Burg Nilsitz in den Vogteien Nilsitz
Zeit: 16. Tsa 1042 BF
Personen: Oberst Dwarosch, Sohn des Dwalin und Ihre Gnaden Marbolieb. Und andere.
Eine Briefspielgeschichte von RekkiThorkarson und IseWeine.

Inhalt: Es ist Winter, und der Eisenwald tief verschneit. Wer kann, verbringt diese Zeit im Warmen und rührt sicht nicht vom Feuer ... sollte man meinen. (Dokument hängt an).

Ein ganz normaler Tag auf Burg Nilsitz

Burg Nilsitz, Vogtei Nilsitz im TSA 1042 BF
Eigentlich war es ein ganz gewöhnlicher Tag im Tsa auf Burg Nilsitz, gelegen im Hochland des Isenhag am Wedengraben über dem Großen Fluss. Einzig ungewöhnlich war die Ruhe, ja die Stille, die in der alten Spornburg vorherrschte, welche in den vergangenen Götternamen, seitdem der neue Oberst der Eisenwalder hier residierte, instandgesetzt und sogar noch ausgebaut worden waren. Für gewöhnlich waren die altehrwürdigen Mauern und Gebäude von hektischer Betriebsamkeit und Waffenlärm, dem Knallen von genagelten Stiefeln erfüllt, doch nicht so an diesem Tag.
Das Leibbanner des Oberst des Eisenwalder Garderegimentes ‘Ingerimms Hammer’ war abwesend. Der Sohn des Dwalin hatte sie auf eine ‘Strafexpedition’ geschicht.
Ghambir vom Isehhag hatte wieder Ärger mit einer größeren Kolonie Asseln, die tief unter Feste und Stadt Calbrozim ihre Heimstatt gefunden hatten und eine ständige Bedrohung für die Einwohner darstellten. Und so waren das Banner Soldaten, angeführt von Dwaroschs Primus Andragrimm, sowie seinem Adjutanten Boringarth ausgezogen, um die Gardisten des Grafen in ihren Bemühungen zu unterstützen, die lästigen Vielbeiner auszurotten.
Trotz dieser außergewöhnlichen Umstände legte der Oberst wert auf einen festen Tagesablauf, er schätzte Routine, zudem war dem Angroscho im besten Alter Müßiggang weitestgehend fremd. Und so war er bereits früh am Morgen aufgestanden und hatte am von ihm eingerichteten Korschrein im Burginnenhof gebetet und dann einige Leibesertüchtigungen durchgeführt.
Als die Sonne dann schließlich aufging, kehrte Dwarosch mit einem Tablett reichhaltigen Frühstücks und einem Krug Ziegenmilch zum Nebengebäude des Palas zurück, in dem er, Marbolieb und Mirla Unterkunft gefunden hatten.
Ihnen standen drei Räume zur Verfügung, was ihnen ermöglichte, Mirlas kleines Bettchen gesondert in eine Kammer zu stellen. Hinzu kamen ein eigener Schlafraum und eine kleine Stube mit Kamin.
Das Gebäude, welches über zwei Stockwerke verfügte und aus robusten Steinquadern errichtet war, stand ansonsten leer. Einzig der Adjutant des Oberst hatte hier eine Schreibstube, nächtigte jedoch bei seinen Kameraden in den geräumigen Gewölben unter der Burg, welche als Kaserne genutzt wurden.
Marbolieb war, wie meist, durch den Aufbruch des Oberst ebenfalls aufgewacht und hatte die Zeit gut genutzt, um ein ausführliches Morgengebet zu genießen - wie sie es meist tat, wenn ihre Tochter einmal etwas länger schlief und nicht beschloss, morgens ins Bett ihrer Eltern beziehungsweise Zieheltern zu krabbeln oder mit lautem Rufen danach zu verlangen, eben dorthin getragen zu werden. Dieses Mal hatte das Mädchen ein Einsehen und verschlief zufrieden und selig einen Teil des Morgens - fast so lange, wie ihre Mutter in ihre Andacht versunken es sich nochmals in dem deutlich breiteren Bett, als es sich beide in Senalosch teilten, gemütlich gemacht hatte. Das Bett sprach eindeutig für Nilsitz - als eines von wenige Dingen. Dass ihrer Gemächer hier Fenster besaßen und die Luft viel weniger muffig und abgestanden roch, war ein Weiteres auf der Liste der Vorzüge.
Die Geweihte räkelte sich zufrieden, als der Geruch frischten Kräutertees, warmer Grütze, frischgebackenen Brotes und fruchtigen Kompotts ihre Nase kitzelte. Sie setzte sich und schlug die Augen auf.
“Guten Morgen.” erklärte sie dem Zimmer und seinen Bewohnern mit einem glücklichen Lächeln.
“Guten Morgen, Räblein. Ich hoffe, Bishdariel hat dir angenehme Träume gesandt. Wie ich sehe schläft unser kleiner Wirbelwind noch. Welch ein Wunder, wir haben bereits Tsastund.” Dwarosch schmunzelte, das hörte die Geweihte.
“Draußen ist es klirrend kalt, aber die Luft ist angenehm trocken und das Praiosrund steht unverdeckt klar am Himmel. Es scheint, als ließe der Frühling noch eine Weile auf sich warten. Mir soll es recht sein.”
Die Geweihte hörte, wie Dwarosch näher trat und etwas auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Bett abstellte. Der Duft des Frühstücks wurde noch intensiver.
Marboliebs glückliches Lächeln vertiefte sich und sie schnupperte erwartungsvoll. “Frühstück am Bett. Ich fühle mich wie eine Prinzessin, mein Liebster.”
Sie rieb sich die Hände, als Dwarosch von der Kälte draußen berichtete, die freilich hier, bei dem heimelig im Kamin glimmenden Feuer, längst nicht so bitter war, wie er es von draußen berichtet hatte. “Wie gut geht es uns doch, dass Mirla und ich nicht vor die Tür müssen.” Und was für ein sorgenloses, faules Luxusleben, wirklich wie eine Adelsfrau, durfte sie zur Zeit doch genießen!
Sie tastete nach dem Oberst und hob schließlich, als diese Geste ergebnislos blieb, ihre Hand in seine Richtung, in der sicheren Erwartung, dass er nicht fernbleiben würde.
Doch entgegen ihrer Erwartung geschah etwas anderes. Ein angenehm warmes und noch dampfendes Stück Brot berührte ihre Lippen. Die Süße des sich darauf befindenden Honigs ließ sie frohlocken.
Dwarosch lachte ob des sich ihm bietenden Mienenspiels und knuffte Marbolieb sanft in die Hüfte, während sie mit beiden Hände bemüht war, dass ihr dargebotene Essen zu greifen, um es ja nicht fallen zu lassen.
“Mpf!” verschlug es der Boroni die letzten Worte. Wenn es einen letzten Beweises bedurft hätte, in einem Adelshaus zu sein, so war es dieses reichhaltige Frühstück. Marbolieb seufzte freudig und leckte sich den Honig von den Lippen. Genüsslich kostete sie die herrliche Süße aus, während sich eine tiefe Glückseligkeit überdeutlich in ihren Zügen abzeichnete. Sie schurrte fast vor Behaglichkeit. “Womit habe ich das verdient?” fragt sie mit seligem Lächeln.
"Als Prinzessin musst du dir dieses Privileg nicht verdienen", lachte Dwarosch, wobei er sich Mühe gab nicht zu laut zu werden. Der 'Friede' war trügerisch.
Kurz darauf hörte Marbolieb den Oberst neben sich schlucken. Sie wusste was es war, woher es rührte. Dwarosch trank nahezu jeden Morgen Ziegenmilch. Käse gehörte ebenso fest zu seinem Speiseplan. Brot brauchte er dazu nicht zwingend. Jedwede Getreideerzeugnisse, welchen nicht unter Beimengung von zwergischen Mineralien zubereitet worden waren jedenfalls lehnte er zumeist ab, weil sie seiner Meinung nach einfach fad schmeckten.

Planungen

"Was machen wir heute schönes, hast du einen Wunsch?", fragte Dwarosch nur kurz darauf, hörbar noch mit halb gefüllte Mund. "Ich könnte einen der kleineren Lastenschlitten vom Geschirr befreien. Das Gefälle in der Vorburg reicht für eine rasante Fahrt. Ich möchte wetten, dass Mirlaxa das gefallen würde."
Marbolieb tastete nach dem Brot und dem Honig. Frisches Brot zum Frühstück war ein Luxus, den sie im Tempel nicht gehabt hatte. Dort bestanden Frühstück und Abendessen zumeist aus mit Wasser oder Milch gekochter Getreidegrütze, die je nach Verfügbarkeit mit Obst, Kompott oder Gemüse angereichert wurde - ein Essen, wie es auch in den meisten Bauernfamilien auf den Tisch kam. Dass sie die Süßigkeiten aus den Küchen Nilsitz’ und Senaloschs sehr genoss, hatte der Oberst früh bemerkt.
“Es ist ziemlich kalt draußen - wir werden ein paar Decken brauchen. Geht das?” Schlitten kannte die Boroni als Transportmittel - seit sie in den Eisenwald gekommen war. In ihrer Heimat waren sie unbekannt - am Yaquir fiel selten Schnee, und wenn, dann blieb er nicht lange liegen. “Ist das nicht gefährlich?” erkundigte sie sich neugierig. Merklich wenig konnte sie sich unter der vorgeschlagenen Art der Schlittenfahrt vorstellen, aber der Gedanke faszinierte sie. “Mirla wird entzückt sein. Sie liebt alles, was schnell und laut ist - oder hoppelt.” Kurz huschte ein Grinsen über ihre Lippen, als sie sich die Begeisterung des Mädchens ausmalte.
“Ich stelle mir das so vor”, erklärte der Zwerg weiterhin kauend, “dass du mir Mirlaxa mit Tuch vor meinen Bauch gurtest - so, wie wir es bei langen Fußmärschen machen. Da ich keine Rüstung trage, wird sie so noch bequem unter den dicken Bärenfellmantel passen. Dich packen wir wieder in den Elfenbausch, denn auch du wirst um eine Rodelfahrt nicht herum kommen.
Dein Glück, dass ich als Kind jeden Winter auf dem Schlitten gesessen habe. Meine Mutter hat es gehasst, wenn ich im Winter die Hallen Isnatoschs verlassen habe, denn sie befürchtete immer, ich würde mir den Hals, oder schlicht nur die Knochen brechen. Und um ehrlich zu sein hatte ich wohl manches Mal mehr Glück als Verstand, so wie ihr Menschen sagt.”
“Und du meinst, es wird jetzt ungefährlicher?” Das Grinsen in Marboliebs Mundwinkeln hielt sich hartnäckig, auch wenn sie sich ausmalte, was bei dieser omninösen Schlittenfahrt geschehen mochte. Doch die Begeisterung in Dwaroschs Worten war spürbar und ansteckend. “Andererseits - was kann Mirla passieren, wenn Du auf sie aufpasst?” Schon allein die Anwesenheit des Mädchens würde dafür sorgen, dass Dwarosch sie wie ein rohes Ei behandeln würde - wie er es immer tat. “Und immerhin scheint Deine Mutter die Erfahrung ebenso gut überstanden zu haben wie du.” Sie tastete nach der Hand des bulligen Oberst und drückte sie, mit Vorfreude auf das bevorstehende Abenteuer.
Zu gerne hätte sie den glitzernden Schnee bestaunt, der sie schon in ihrem ersten Winter in Calmir sehr fasziniert hatte - vor allen an den seltenen Tagen, an denen die Sonne sich aus ihrem dichten Schleier befreite und die weite, weiße Pracht in tausend Diamantenfunken leuchten ließ, ein kostbareres Geschmeide als jeder Schmuck um den Hals einer Adelsfrau. Kurz huschte ein wehmütiger Ausdruck über ihr Antlitz, ehe er wieder von unternehmungslustigen Funkeln ihrer Augen davongewischt wurde. Ein Ausdruck, wie er sich in den Augen einer kontemplativen Boronpriesterin so ganz und gar nicht schickte.
"Mach dir keine Sorgen. Die Knechte und auch einige der Mägde sind die letzten Tage bereits dort gerodelt. Alle haben es unbeschadet überstanden.
Der Stallbursche, der den Schnee in der Vorburg räumen sollte, hat einiges der weißen Massen zur unten Wehrmauer hin aufgehäuft. Wer die Kurve zum Tor hin nicht kriegt, fährt in einen relativ weichen Wall aus Schnee."
Die Boroni schmunzelte. “Steuern darfst du.” Sie schmiegte ihre Wange an den Kopf des Zwergen, der nahezu vollständig fertig gekaut hatte. “Gibt es eigentlich einen Tempel in Nilsitz oder der Umgebung?” sinnierte sie. “Nicht den Boronanger im Keller. Einen richtigen Tempel. Ich würde gerne einmal wieder einem Götterdienst beiwohnen.”
"Der alte Vogt, Kalman war sein Name, ist stark praiosgläubig gewesen. Es gibt folglich eine kleine Kapelle ganz oben im Bergfried, jedoch keinen Geweihten. Die menschlichen Mägde und Knechte versammeln sich jedoch dort zum Sonnenauf- und untergang um zu beten", erklärte Dwarosch.
"Auf Burg Trollpforz gibt es einen sehr schönen Altar, den der Heilige Quanion selbst geweiht haben soll. Seit dem zeitweiligen Verlust des ewigen Lichts durch den Absturz von Teilen den fliegenden Stadt auf Alt-Gareth und die Zerstörung des dortigen Praiostempels, kommen immer mehr Pilger, um ihn zu sehen. Dort gibt es wohl mittlerweile einen Priester im Dorf, welcher auf der Burg regelmäßig Andachten für die Pilger hält. Hier jedoch wirst du dich mit einem schlichten, gemeinschaftlichen Gebet begnügen müssen, es sei denn, du würdest den Gottesdienst selbst leiten."
Zweifelnd führte er an. “Ist so etwas verpönt? Ich meine, wenn ein Kleriker eines Gottes eine Andacht in einem Tempel hält, dem er nicht geweiht ist?”
“Es ist ja kein Tempel, sondern nur eine Kapelle.” meinte Marbolieb nachdenklich. “In einem Tempel gäbe es diesem zugeordnete Geweihte - und wenn ich dann dort als Geweihter eines anderen Gottes einen Götterdienst verrichten wollte, sollte ich sie zuvor fragen. Bei einer Kapelle gibt es niemanden, den ich fragen kann - aber es würde die Gläubigen nicht erfreuen, wenn sie zu Praios zu beten wünschen - und ich einen Götterdienst für den Schweigsamen halte.” Keine gute Idee - eine missmutige Gruppe Gläubige wäre die wahrscheinliche Folge, nur sehr wenige fanden den Weg in den Borontempel für ihre täglichen Andachten. Aus einem guten Grund waren die Hofgeweihten der Adelsleute hierzulande zumeist dem Götterfürsten oder der Leuin geweiht, während in den Dörfern Häuser der Travia und Peraine standen. Und in den Zwergenlanden noch jene des Göttlichen Baumeisters und Schmiedes. “Ich hätte gerne einer Andacht beigewohnt.” Nicht sie selbst gehalten. Wie lange war es her, dass sie selbst einen Götterdienst gefeiert hatte? Anderthalb Götterläufe? Oder mehr? Es war leicht, hier in der steten Dunkelheit und dem Frieden der Zwergenbingen die Zeit zu vergessen.
“Einen Hofgeweihten gibt es auch nicht mehr, oder?” Setzte sie hinzu, gefolgt von ihrem nächsten Gedanken. “Welches Datum schreiben wir heute?”
“Nein, der alte Hofkaplan hat meines Wissens nach Nilsitz sofort verlassen, als er vom Tode Kalmans hörte. Die Tochter des alten Vogts, die als einzige noch von der Familie Nilsitz übrig ist und in deren schöner Burg wir gerade sitzen, hatte wohl schon in ihrer Jugend größere Differenzen mit dem Praioten. Ich halte es für möglich, dass es deswegen ‘das Weite suchte.’ Er wollte wohl mit dieser Hausherrin nichts zu tun haben. Der jüngste soll auch er dabei aber auch nicht mehr gewesen sein.”
Kurz hielt Dwarosch inne und überlegte. “Wenn ich nicht irre haben wir heute den 16. Tsa. Warum fragst du?”
“Oh.” Marbolieb stutze. “Dann haben wir seit heute ein zwei Götterläufe altes Mädchen.” Wie schnell doch die Zeit dahinsauste! “Da werde ich sie ganz besonders lieb umarmen.”
Dwarosch stutzte, "was, heute? Und wir haben gar nichts für sie!", stellte er sogleich fest.
“Hm, meinst du ihr würde ein Schaukelpferdchen gefallen? Dafür müsste sie ja jetzt bald soweit sein. Das kriegen wir ganz sicher in Senalosch. Wenn nicht lasse ich es schreinern. Hier jedoch sind unsere Möglichkeiten begrenzt.
Womit können wir ihr denn ansonsten eine kleine Freude machen, hast du eine Idee? Die Schlittenfahrt kommt dann ja auch gelegen." Dwarosch lachte.
“Wenn Du ein paar Stoffreste auftreiben kannst, könnte ich ihr eine Puppe nähen.” schlug Marbolieb vor. “Ich hatte ihr in Calmir schon einmal eine gemacht.” Aber die war irgendwann in dem ganzen Durcheinander im vergangenen Winter verloren gegangen. “Doch sie wird sich auch über das Schlittenfahren sehr freuen.” Der Gedanke, dass Dwarosch sich ihrethalben in Kosten und Aufwand stürzen müsste, war ihr unbehaglich.
“Ich werde später einmal bei den Mägden drüben in der Küche nachfragen”, versicherte Dwarosch. “Irgendwomit müssen die ihre Kleidung ja schließlich auch ausbessern.
Das Regiment verfügt aber auch über ausreichend Leinen, Leder und dergleichen für Ausbesserungsarbeiten an den Uniformen. Es lagern hierzu mehrere Kisten Material in den Kellern des Palas. Ich kann zur Not also auch den Zeugmeister fragen.
Erst aber wird Schlitten gefahren. Du kannst ja nach dem Mittagessen nähen”, feixte der Zwerg. “Wenn ich mit Mirlaxa ein ausgedehntes Mittagsstündchen halte.”
Ein kleines Grinsen flackerte über die Mundwinkel der Boroni. “Eine glorreiche Idee. Dann kann mir keiner von euch beiden in die Nadel fallen.”
Als habe sie das Gespräch gehört, beschloss die kleine Mirla, dass jetzt des Schlafens endgültig genug sei, und verlangte mit einem lauten “Mama! Dado!” nach Unterhaltung. Jetzt. Sofort.
“Ha”, stieß Dwarosch erfreut aus, klatschte sich auf die Schenkel und eilte sich, seine Ziehtochter zu einer extra großen Kuscheleinheit ins Bett der Großen zu holen.

Schlittenfahrt


Wie gesagt, so getan. Schon bald nachdem der ‘Frieden’ gebrochen worden und Mirla gefrühstückt hatte, verließen die drei die wohlige Wärme.
Das Haus, indem die kleine Familie untergekommen war, lag dem großen Palas, an dem der Bergfried nahezu nahtlos anschloss, schräg gegenüber und war nur eines der vielen Gebäude, die zum Sitz der Familie Nilsitz gehörte.
Um zum Tor zur Vorburg zu gelangen, musste man den gesamten Innenhof queren. Dort, neben dem dem Zwinger der Hauptburg mit seinen beiden Fallgitern, lagen die Stallungen, in denen sich auch die kleineren Schlitten befanden. Die großen, welche von Ponys oder gar Pferden gezogen wurden, musste ebenso wie Kutschen in der Vorburg verbleiben. Für sie gab es dort entsprechende wetterfeste Verschläge, die sich an die Wehrmauer schmiegten.
Die Vorburg selbst hatte einen riesigen Hof, welcher sich nahezu im Halbkreis um die Hauptburg zog, jedoch bedeutend tiefer lag und zum inneren Tor hin anstieg. Das hier befindliche Außentor besaß ebenfalls zwei Fallgitter, verfügte aber zusätzlich über zwei steineicherne Torflügel und eine Zugbrücke.
Während das innere Tor ein eigenständiges Gebäude war und als Wachstation für die Burgbesatzung diente, besaß das äußere Tor lediglich zwei Rundtürme und einen überdachten Wehrgang und fügte sich somit in die Burgmauer.
Alles in allem bot Burg Nilsitz einen beeindruckendes Bild, wenn die verschachtelte Bauweise der Gebäude der Hauptburg darauf hinwies, dass sie im Laufe ihrer Existenz immer wieder umgebaut und erweitert wurde.

Die Boroni sog die klirrend kalte Luft ein, die wie mit tausend Nadeln in ihre Nase und Wangen stach, und grub ihre Hände in die warme Bauschdecke, während die Sonne ihre Nasenspitze kitzelte. Sie drückte ihre begeistert quietschende Tochter an sich und lauschte auf das Poltern, dass das Zusammenspiel von Schlitten und Angroscho hervorrief. “Runter!” verlangte Mirla energisch, während ihre Mutter sie ebenso energisch festhielt. Was passieren würde, wenn das Mädchen den Schnee erreichte, konnte sie sich zu gut vorstellen - an Begeisterung mangelte es der Kleinen jedenfalls nicht.
“Dado!” verlangte Mirla energisch. “Runter!”
Wohl wissend, dass ihr Ziehvater in solchen Belangen deutlich zugänglicher war als ihre besorgte Mutter - und längst gewieft genug, um dies bestens zu nutzen.
Besagter Zwerg hatte die erste Rutschpartie, die er sicherheitshalber allein absolviert hatte gerade mehr oder minder erfolgreich beendet und stapfte nun wieder mit dem Schlitten über der Schulter den schneebedeckten Hof der Vorburg hinauf. Sein Grinsen war dem kleinen ‘Unfall’ zum Trotz breit, als er Mirlas Rufe schon von Weitem hörte, die versuchte ihre Mutter zu erweichen, sie endlich herabzulassen.
Zwar hatte Dwarosch erfolgreich eine Kurve gefahren und damit dem an der Wehrmauer aufgehäuften Schnee ausgewichen, jedoch hatte er am Fuß des Hofes so viel Geschwindigkeit erreicht, dass er noch weit über den freigeräumten Weg vor dem Torhaus hinaus geprescht war, direkt in einen weiteren Schneehaufen zwischen ein paar Bäumen. Demzufolge sah der Oberst in seinem Bärenfellmantel fast so aus wie ein Schneemann. Nicht nur der Mantel war voller Schnee, auch sein Bart, dennoch schien er sich pudelwohl zu fühlen. Die rasante Fahrt hatte sein Blut in Wallung gebracht.
“Vollkommen harmlos”, urteilte Dwarosch lachend in Richtung Marboliebs, doch die Geweihte konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Probefahrt zumindest nicht ganz so reibungslos wie gedacht abgelaufen war.
“Dado weiss!” freute sich Mirla und streckte nun erst recht begeistert die Arme aus. “Auch!” verlangte sie.
Marbolieb hob die Brauen. “Vollkommen harmlos oder fast vollkommen harmlos?” fragte sie, leichten Argwohn in der Stimme.
Nun lachte Dwarosch unverhohlen. "Sagen wir mal so, ich weiß nun, dass ich früher bremsen muss und daß das Kopfsteinpflaster vor dem Tor nicht ausreichend mit Spähnen abgedeckt ist.
Ich habe nähere Bekanntschaft mit einem mit bisher unbekannten Schneehaufen gemacht und nun sicher ein Stein von dem kalten Nass in Mantel und Bart sitzen. Das ändert aber nichts am Urteil - ungefährlich."
Mit diesen Worten trat Dwarosch Mirla breit angrinend an Mutter und Kind heran. "Ich bring sie dir heil zurück", versicherte er. Eine Einschränkung musste er aber gleich anfügen, während den Mantel auszog und auf das Holzgestell des zuvor abgestellten Schlittens legte. "Aber ich garantiere nicht, dass sie keinen Schnee abkriegt. Sie soll ja schließlich etwas vom Rodeln haben. Wer im Isenhag aufwächst muss früh Schnee kennenlernen."
“Zeig her.” Bei Dwaroschs Worten war ein vergnügtes Funkeln in den Augen der Boroni erwacht, das sich um ein Grinsen erweiterte, als sie dem Oberst die begeistert quietschende Mirla in die Arme gab und vorsichtig eine Hand ausstreckte, um eine dicke Handvoll Schnee aus Bart und Mantel des Angroscho zu kämmen. “Brr - das ist ja eisig! Du wirst nachher selbst ein Schneeberg sein!” Fasziniert rieb Marbolieb die kalte, weiße Masse zwischen ihren Händen, die sich durch die beißende Kälte röteten. Sie lachte, formte einen Schnellball und warf diesen auf’s Geratewohl auf die Schlittenbahn, wo er noch im Flug in tausende, in der Wintersonne hell funkelnde Kristalle zerbarst.
“Snee!” jubelte Mirla und warf sich mit ausgebreiteten Armen an die Brust Dwaroschs, wo sie vor Vergnügen jauchzend begann, die restlichen weißen Reste aus dessen Bart zu schütteln.
"Jaaa", stieß der Zwerg hervor und rieb seine breite Nase an der im Gegensatz winzig erscheinenden Mirlas. Nur zu bereitwillig ließ er sich Dwarosch seinen Bart vom Schnee befreien, bevor er seine Ziehtochter auf dem Arm vor sich drehte und Marbolieb ein breites Tuch gab, welches er zuvor unter seinem Gürtel gesteckt bei sich getragen hatte.
"Hilf mir", bat er die Geweihte und die machte sich sogleich daran Mirla vor die Brust des Angroschos zu binden. Es war kein leichtes Unterfangen ohne zu sehen was man tat, aber die Übung, die sie inzwischen in dieser Tätigkeit hatte, half ungemein.
Als das Werk schließlich vollbracht war und Mirla schon beginnen wollte zu protestieren, da sie nun weder Dwaroschs Bart, noch den Schnee erreichen konnte, der nur wenige Spann unter ihren in der Luft strampelnden Füßchen begann, griff Dwarosch wieder nach dem Mantel. Rasch hatte er ihn sich angezogen und ihn soweit geschlossen, dass nur noch Mirlas Kopf hervorlugte. Da schien die Kleine zu begreifen und begann vergnügt zu glucksen.
Mit enormer Vorfreude setzte sich das Gespann auf den Schlitten. Ohne jedwede weitere Verzögerung brachte Dwarosch das Gefährt in Bewegung. "Festhalten", rief er aus und schon begann der wilde Ritt, der erneut viel zu schnell beendet war.
Diesmal indes schaffte es der Zwerg, den Schlitten rechtzeitig zu bremsen, war er doch tatsächlich bedeutend langsamer unterwegs gewesen, als bei seinem ersten Durchgang. Unterbewusst war er einfach vorsichtiger gewesen. Dennoch war das erste, was Mirla von sich hören ließ ein begeistertes und forderndes "Mal."
Herzhaft lachte der Zwerg daraufhin und schickte sich sogleich an, der Aufforderung Mirlas nachzukommen indem er aufstand, der Schlitten aufnahm und wieder losstapfte.
Schon von weitem hörte Marbolieb die Ausrufe ihrer Tochter, "Mal, Mal, Mal", als sich die beiden wieder den Hang des Burghofs hoch kamen.
Die Boroni kuschelte sich tiefer in Topaxandrinas warme Bauschdecke, die sie ihr für diese Reise wieder ausgeliehen hatte, genoss die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht und das Kribbeln der eisigen Luft in der Nase. Auf die begeisterten Rufe ihrer Tochter hin zog sich ein liebevolles Lächeln über ihre Gesicht, als sie sich ihren beiden Liebsten, dem ungleichen Paar von Ziehvater und Töchterchen, zuwandte, die ihre unüberhörbare Freude auf der schneebedeckten Bahn hatten.
In den Augenblicken, die nicht vom Jubelgeschrei der rasenden Abfahrt oder prustenden Atem des Oberst beim Rückweg bergan erfüllt waren, konnte sie den Schnee in der Kälte knistern hören, ein ganz eigenes, von seltsamer Schönheit erfülltes Geräusch.

Die Schlacht im Schnee

Ihr Sinnieren fand ein jähes Ende, als scheinbar aus dem Nichts ein Schneeball in ihrem Nacken einschlug.
Nahezu gleichzeitig war das Gelächter von mehreren Kindern zu hören, jedoch konnte Marbolieb mit der Richtung, aus der die Geräusche kamen, nicht so recht etwas anfangen. Der Schneeball schien nicht direkt von hinten gekommen zu sein, auf jeden Fall von weiter oben, zumindest wenn man davon ausging, dass die Kinder ihn geworfen hatten.
Sie wischte sich den Schnee aus dem Stoff, schüttelte den Kopf, blickte in die Richtung, aus der die weiße Pracht geflogen kam, und erhielt folgerichtig den nächsten Schneeball direkt auf die Nase. Die Geweihte zuckte zusammen, nieste und zog sich das Tuch fester um den Kopf, wischte sich verwirrt den Schnee aus dem Gesicht wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Schlittenfahrern zu, während ihre Hände wie aus eigenem Antrieb den weißen Segen zu einer sehr perfekten Kugel formten.
Dwaroschs tiefe Stimme: “Na wartet, euch krieg ich noch”, hallte ohne jeden Groll über den Burghof. Man erkannte an seinem Tonfall, dass er den Kindern ihren Schabernack nicht übel nahm.
Kurz darauf kam der Oberst neben Marbolieb zum stehen. “Das waren die Kinder der Gemeinen. Da sind ein paar ziemliche Gören bei. Leider konnte ich nicht sehen wer geworfen hat, da sie oben auf dem geschlossenen, hölzernen Wehrgang standen.”
“Sind sie weg?” Abschätzend wog Marbolieb den inzwischen schmelzenden Schneeball in ihren Händen.
“Ja, leider”, antwortete Dwarosch amüsiert. “Du wirst deine Rache leider verschieben müssen. Ich fürchte ich habe sie verjagt. Sie von hier unten durch die Schießscharte zu treffen wäre aber auch recht schwierig geworden. Da müssen wir uns schon etwas anderes einfallen lassen, um uns zu revanchieren.”
“Schade.” Marbolieb wog den Schneeball in der Hand, und beförderte ihn schließlich mit einigem Schwung auf’s Geratewohl in die Richtung, aus der die Attacke zuvor erfolgt war. Ein erboster Aufschrei - kein Kind - zeigte, dass sie sehr wohl irgendetwas getroffen hatte.
“Na wartet, ihr Gören!” ertönte ein lauter Schrei aus dem Burghof.
“Oh.” Um Marboliebs Mundwinkel zuckte ein Lächeln. “Treffer.”
“Au weia”, kommentierte Dwarosch leise in die Richtung der Geweihten. Aus der Richtung des Tores zum Innenhof ertönten nun schnelle Schritte. Marbolieb hatte mitnichten zum Wehrgang hinauf geworfen, sondern sich ein Stück zu weit gedreht, während sie ausgeholt hatte.
“Was zum Henker geht hier vor!”, forderte eine erboste Männerstimme zu wissen. Marbolieb meinte sie schon einmal gehört zu haben, wusste aber nicht mehr wann und in welchem Zusammenhang.
“Wer ist das?” flüsterte sie leise in Richtung des Oberst und schlang betreten die Decke über ihre verräterisch geröteten Hände, während sie einen Schritt näher an Dwarosch rückte. Der Wurf schien wirklich gesessen zu haben.
Dwarosch räusperte sich, als Marbolieb vernahm, dass jemand vor ihnen stehen blieb.
“Ich darf bekannt machen”, setzte er Marbolieb eine Spur zu nüchtern an. “Dies ist der Burgvogt ihrer Wohlgeboren Talina von Nilsitz, Herbrecht Gundling.” Eine kurze Pause folgte, dann sprach Dwarosch weiter. “Dies ist Marbolieb, Dienerin des göttlichen Raben.”
Die Geweihte nickte höflich in die Richtung, in der der Vogt - vermutlich - stand.
Erneut entstand eine kleine Pause. Diesmal jedoch lastete die Stille mit jedem Moment schwerer.
“Ihre Gnaden wurde das ‘Opfer’ einiger Kinder, die von Wehrgang zur Hauptburg mit Schneebällen auf sie warfen. Der Versuch es ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen misslang leider. Habt ihr sehen können, um wen es sich bei den Missetätern handelte?”
Das zur Antwort kommende, “äh nein”, hatte vieles seiner Schärfe verloren. Dennoch war der Burgvogt noch nicht vollends zufrieden und mitnichten besänftigt.
“Wollt ihr mir sagen, dass einer der Gören nach mir geworfen hat”, fragte er daher, um diesen Tatbestand nicht aus den Augen zu verlieren.
“Nein, Herr Vogt.” Marbolieb senkte betreten den Kopf. “Das war ich.”
Sie wartete bedrückt auf das Donnerwetter, das nun garantiert folgen würde, wissend, dass es nicht unverdient kam.
“Es steht mir nicht zu, einen Geweihten der Zwölf zu maßregeln”, setzte der Vogt betont ruhig an, ließ aber durch die Wahl seiner Worte keinen Zweifel an seiner Meinung über diesen Vorfall.
“Ich möchte jedoch anmerken, dass ich es als äußerst befremdlich empfinde, wenn eine Priesterin des Herrn der ewigen Ruhe sich eine Schneeballschlacht mit missratenen Gören liefert. Von dem ‘versehentlichen’ Treffen meiner Person einmal ganz zu schweigen.
Guten Tag.”
Ohne ein weiteres Wort und ohne eine Antwort abzuwarten stapfte Herbrecht Gundling unter heftigem Kopfschütteln wieder in Richtung Hauptburg davon.
Dwarosch räusperte, als sich der Vogt im Tordurchgang befand, dort, wo er den Schneeball abbekommen hatte. “Am liebsten hätte ich ihm jetzt auch noch einen verpasst”. meinte der Oberst nicht ohne Humor. “Aber es ist besser, wir reizen ihn nicht noch weiter. Er konnte mich aufgrund der Privilegien, die mir als Oberst auf ‘seiner’ Burg eingeräumt werden, noch nie leiden.”
“Es tut mir leid, dass es ihn getroffen hat.” bekannte Marbolieb mit leiser Stimme. “Ich hoffe, er macht Dir deshalb keinen Ärger.”
Das Vergnügen, dass ihr der Schneeball bereitet hatte, verpuffte angesichts des wütenden Vogtes ins Nichts. Sie bedeckte ihre klammen Hände mit der warmen Decke und sah betreten drein.
“Mal!” Mirla hingegen war der Vogt gleichgültig. Sie wand und drehte sich, um einen Blick in Dwaroschs Gesicht zu erhaschen. “Dado - mal!” Begeistert strampelnd versuchte sie, ihrem Wunsch Nachdruck zu verleihen.
Der erste Teil der Antwort war ein schwer deutbares Grunzen, das gleichzeitige Schulterzucken sah Marbolieb nicht.
"Es ist nur ein weiterer Grund, warum er stinkig ist. Mach dir darüber keine Sorgen. Meine Soldaten kennen eine ganz eigene Kategorie Witze, die sich ausschließlich mit Herbrecht Gundling beschäftigen. Vielleicht passt ihm diese Tatsache am wenigsten."
“Das kann ich verstehen. Niemand mag es, wenn über ihn gelacht wird.” Die Boroni neigte den Kopf. “Wie kam es denn, dass er und deine Soldaten sich so wenig verstehen? Wirklich nur durch eure Anwesenheit?”
“Dado! Mal!!” erklärte Mirla entschieden ihre Wünsche, unbeeindruckt von den Grübeleien der Großen. Sie hatte festgestellt, dass es üblicherweise half, nur laut und entschieden kundzutun, woran ihr Herz hing - es hatte sich bislang immer ein gutmütiges Wesen gefunden, das ihr dazu verhelfen konnte. Zumeist eines mit einem wundervollen Bart, das auf den Namen ‘Dado’ hörte.
Das kleine Kind lachte über sein ganzes Gesichtchen. “Mal!” verlangte es.
Der so betitelte streichelte Mirla jedoch zunächst nur den Haarschopf und unterhielt sich weiter mit ihrer Mutter.
“Er hat den Tod seines alten Herrn nie überwunden. Die beiden kannten sich wohl ihr gesamtes Leben. Mit seiner Tochter kommt er wohl nur leidlich zurecht. Seine Treue gilt auch nach seinem Tod weiterhin Kalman, seinem Leitmotiv und dessen altmodischen Prinzipien.
Ich hingegen stehe für ihn wohl nur für den Wandel, der mit dem Ende des Feldzuges hier einkehrte. Zudem missbilligt der Burgvogt den Korschrein und die Art und Weise, wie ich meine Leute ausbilde.
Mein Vorgänger und er schienen sich nicht häufig gesehen zu haben, da er von Senalosch aus operierte. Die Soldaten hatten sich ihm unterzuordnen. Mit mir vor seiner Nase sieht das ganz anders aus. Wir sind gleichgestellt dank der Verträge, die der Rogmarog im Namen des Regiments mit Kalman geschlossen hat.”
“Ist er wenigstens verheiratet, oder hat er überhaupt niemanden?” Marbolieb tat es leid, dass ausgerechnet der Vogt das Ziel ihres Schneeballes geworden war - Dwarosch kannte sie gut genug, um das jähe Mitleid in ihrer Stimme zu erkennen.
“Meinst Du, er würde einmal mit mir reden? Vielleicht nicht gerade hier im Schnee.” Setzte sie nach einem Augenblick Bedenkzeit hinzu. Ihre Zehen begannen bereits, kalt zu werden, und damit setzte ein unangenehmes, gerade noch tolerierbares Stechen ein, eine Erinnerung an den vergangenen Winter, als sie ihre Zehen einmal angefroren hatte. Keine besonders angenehme Erinnerung.
Sie lächelte den Oberst liebevoll an. “Vielleicht wird der arme Vogt ja etwas weniger grimmig, wenn er jemanden zum Reden hat.”
“Meines Wissens nach ist seine Frau früh gestorben, wohl bei der Geburt eines der Kinder. Sie liegt wahrscheinlich auf dem kleinen Friedhof neben der Ortschaft unterhalb der Burg. Ihm ist jedoch mindestens eine Tochter geblieben. Ich meine ihr Name ist Swanahild. Ich habe sie mal bei einem Besuch im Dorf kennengelernt. Per Zufall erfuhr ich dann, dass sie das Kind des alten Gundling ist.
Die Gemeinen schwatzen, Herbrecht habe etwas mit der alten Wulfrun. Sie ist die Leiterin des Gesindes. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen, auch nicht ob das stimmt.
Ich komme leidlich mit ihm aus.”
Dwarosch schnaubte nach seinen Ausführungen und schien unschlüssig. “Möchtest du ihm helfen seine Trauer zu bewältigen, oder was veranlasst dich zu der Frage?”
“Er tut mir leid. Ich würde gerne einmal mit ihm reden.” Die Geschichte des Vogtes rührte sie - engen Kontakt mit seiner Tochter schien er nicht zu haben, obgleich diese doch im gleichen Dorf wohnte. Sie kannte weder die Namen noch die Geschichten auch nur der Burgbewohner - nennenswerter Kontakt zu ihnen hatte sich bislang einfach nicht ergeben und die meisten betrachteten wohl lediglich als die Buhlschaft des Oberst. Aber vielleicht war der Burgvogt dennoch willens, mit ihr zu sprechen. Dass dies eine willkommene Abwechslung in den arg gleichförmigen Tagen auf der Nilsitz, die sich, wenn Dwarosch zu tun hatte, auf Mirlas Betreuung beschränkten, wäre, war ein willkommener Nebeneffekt.
Sie verlagerte ihr Gewicht, um die Kälte, die ihre Zehen äußerst gefräßig umschlang, in die Schranken zu verweisen, und grub ihre Hände tiefer in die warme Decke aus kostbarstem Bausch, die den Rest von ihr so wundervoll wärmte.
“Magst noch etwas mit Mirla Schlitten fahren?” beantwortete sie das halblaute Quengeln und Rascheln ihrer Tochter, die sich hörbar zu langweilen begann.
“Das tue ich gern Räblein.” Dwarosch setzte die Kufen ihres Gefährtes in die Rillen ihrer ersten Fahrt und schickte sich an, sich mit Mirla wieder auf den Schlitten zu setzen.
“Heißt das, du willst jetzt mit ihm sprechen?” In Dwarosch Stimme schwang ein Hauch Überraschung mit. “Er verbringt viel Zeit im Rittersaal hoch oben im Palas. Ich könnte dich auch später dorthin bringen.”
“Nicht jetzt, mein Liebster. Ihr hattet doch noch etwas vor.” Ein leises Lächeln huschte über die hübschen Züge der Priesterin, die sich eng in die Decke gekuschelt hatte. “Später, wenn du die Zeit hast. Und er überhaupt mit mir reden mag.” Zu einem Gespräch gehörten immer mindestens zwei.
“Wie du möchtest, Räblein”, schloss Dwaroschs das Thema zumindest fürs erste.
Marbolieb wusste, dass gerade er, den sie mit ihrem Gespür für die verborgenen Gefühle und der Kunst der Seelenheilkunde ‘errettet’ hatte, ihren inneren Wunsch respektierte, den Menschen zu helfen. Geweihte des Boron, speziell die Deuter Bishdariels, waren immer auch Seelsorger.
Ungeachtet dieser Gedankengänge griff der Zwerg nach Marboliebs Hand, als er mit Mirla bereits platz genommen hatte und zog die Geweihte hinter sich auf den Schlitten.
“Gut festhalten” kam lediglich das knappe Kommando aus seiner Richtung.
Marbolieb holte tief Luft, raffte die Decke zusammen und klammerte sich mit beiden Händen von hinten an der breiten Brust des Zwergen fest, während sie Gesicht und Oberkörper in seinen dicken Bärenfellumhang drückte. Kuschelig warm, mit nassen Flocken überstäubt, kitzelte er ihre Wange.
Die geschwinde, holpernde, rauschende Abfahrt nahm ihr den Atem und ließ sie nach Luft schnappen. Als der Schlitten zum Stehen kam, wandte sie sich Dwarosch zu. Marboliebs Wangen waren gerötet und ihre Augen strahlten mit ihrem Gesicht um die Wette.
So begeistert, voller Leben hatte der Oberst sie nur selten gesehen.
Dwarosch lachte und Marbolieb erkannte eine gewisse Erleichterung darin. "Und ich hatte ernsthaft Sorgen, du würdest keinen Gefallen daran finden", gestand er. "Ich dachte die Furcht aufgrund der Tatsache, dass du nicht sehen kannst, wohin es geht, würde vielleicht überwiegen.
Gut, dann können wir ja alle gemeinsam ein paar solcher Fahrten machen." Dwarosch stand sogleich wieder auf, motiviert, den Spaß sogleich zu wiederholen.
"Bleib einfach sitzen, Räblein. Ich zieh dich auf dem Schlitten hoch, ist das Einfachste", sprach der Oberst und stapfte schon wieder los, das Gespann mit kleinen, kräftig gesetzten Schritten wieder zum Ausgangspunkt zu bringen.
Die nächsten Fahrten genoss Marblieb in vollen Zügen. Wie hätte sie Angst verspüren sollen, an Dwaroschs breiten Rücken gelehnt? Er würde darauf achten, dass ihnen nichts geschah, und dem Oberst vertraute sie inständig.
Und so ließ sie sich von der schnellen, geschwinden Fahrt berauschen, lachte auf, als der Schlitten über einen Buckel schoss und lachte nicht mehr, als die rasche Fahrt in einem großen Schneehaufen endete, sie zusammen mit Dwarosch in das kalte Hindernis kugelte und halb über, halb unter dem Oberst, den Mund voller Schnee, zu liegen kam und dessen raschen Herzschlag an ihrer Wange spürte. Und die rudernden Füßchen ihrer Tochter, die aus vollem Halse jauchzte und “Mal!” verlangte.
“Hoppla”, stieß Dwarosch hervor, als er sich anschickte sich wieder aufzurichten und dabei zunächst darauf bedacht war Marbolieb zu helfen selbiges zu tun.
“Da war ich wohl etwas zu schnell unterwegs was”, fragte er rhetorisch und die Geweihte erkannte den Schalk in seiner Stimme. Der kleine ‘Unfall’ war sicher kein bloßer Zufall, oder reines Produkt der Geschwindigkeit gewesen.
Wieder in der Senkrechten klopfte der Zwerg rasch Marboliebs Sachen ab und tat es dann auch bei sich selbst. Mirla hingegen, die Wärme unterhalb des Bärenfellmantels genießend, schmatzte. Sie hatte offensichtlich ein wenig Schnee in den Mund bekommen und genoss nun die neue Erfahrung.
“Alles in Ordnung Räblein, wollen wir weitermachen, oder uns langsam aufwärmen gehen? Es ist ja nicht so, dass der Schnee morgen weg wäre. In kleinen Dosen ist er und die mit ihm verbundene Kälte ja auch besser der eigenen Gesundheit zuträglich.” Dwarosch schmunzelte, das hörte Marbolieb heraus.
Marbolieb nieste, als der Schnee sie in der Nase kitzelte, hielt sich an dem Oberst fest und lehnte ihren Kopf an den seinen. “Wenn ihr noch fahren wollt, tut das gerne. Aber ich bin froh, demnächst ins Warme zu kommen.” Kurz blitzte ein vergnügter Funke in ihren Augen auf. “Oder war das Deine Art, eine Pause anzukündigen?” Den Schalk in der Stimme Dwaroschs hatte sie wohl erkannt - immerhin war der Oberst sei anderthalb Götterläufen ihr liebstes und bestes Studienobjekt. Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. “Dann bin ich einverstanden.”
Er nickte und senkte seinen Kopf in Richtung des kleinen Mädchens vor seinem Bauch. “So leid es mir tut, Mirlaxa, für heute ist Schluss. Aber du hast mein Ehrenwort, dass wir uns morgen wieder gefahrenverachtend den Burghof hinunterstürzen werden.”
Dwarosch nahm den Schlitten auf und hakte sich mit dem anderen Arm bei Marbolieb ein. “Komm, wir gehen in unsere Stube und ziehen uns trockene Sachen an. Dann gehen wir rüber in den Palas und genehmigen uns einen heißen Tee im Speisesaal.”
Offenbar waren ihre Schlüsse korrekt gewesen - zumindest hörte sie keinen Widerspruch. Auf den Lippen der Boroni tanzte ein kleines Lächeln, das befeuert wurde von der Aussicht darauf, ihre inzwischen nassen und klammen Sachen gegen ihre zweite Robe austauschen zu können.
Und so ging man gemeinsam, nicht ohne Protest durch Mirla, die gerne noch im Schnee geblieben wäre, zurück zu jenem Nebengebäude, indem sie ihr Quartier hatten.
Dort angekommen half Dwarosch Marbolieb zuerst aus den Sachen und reichte ihr eine frische Robe, bevor er sich selbst auszog und Mirla aus der Gürtung vor sich befreite.
Rasch warf der Zwerg noch drei Scheite Holz in den Kamin in ihrer kleinen, aber heimeligen Stube, auf dass sie angenehm warm wäre, wenn sie bald dorthin zurückkehrten.
Rasch eilten sie daraufhin schnellen Schrittes über den Burghof, diesmal jedoch in die andere Richtung, nicht zum Tor, sondern zum größten Gebäude der Burg, dem wuchtigen Palas, welcher allein etwa ein Fünftel der Grundfläche der Hauptburg einnahm.

Tee im Palas

Im Speisesaal des Palas gleich im Erdgeschoss waren noch einige Dienstleute der Burg zugange, die sich während ihres Tagewerks aufwärmten.
Die seltsame Dreiergruppe wurde so manches Mal gemustert, denn Marbolieb war noch nicht allen bekannt auf der Burg und noch weniger wussten, dass sie die Frau an der Seite des Oberst war.
Dennoch grüßte man freundlich. Die Angroschim des Garderegimentes waren gut gelitten auf der Veste, denn ohne sie hätten die Meisten der Bediensteten keine Anstellung. Es war das Geld des Rogmarog und des Herzogs, die die Einheit unterhielten und somit für bare Münze im Säckel des Burgvogtes sorgten. Außerdem hatten die Zwerge die Burg nach der Benennung Dwaroschs zum neuen Oberst aufwendig instandgesetzt und an einigen Stellen sogar ausgebaut, die Mauern verstärkt und den überdachten Wehrgang zwischen Vor- und Hauptburg angelegt. Allesamt Bemühungen, die gut ankamen bei den Bewohnern.
"Kräutertee, oder darf es etwas stärkeres sein zum Aufwärmen?", fragte Dwarosch schließlich, als sich die drei an den Tisch gesetzt hatten. "Für Mirla eine warme, verdünnte Ziegenmilch?"
“Mit einem Löffel Honig mag sie das ganz sicher. Für mich bitte einen Kräutertee.”
Marbolieb rieb ihre Hände aneinander, um die letzten Spuren der Kälte daraus zu vertreiben. Sie widerstand dem Drang, die Füße, die noch immer in ihren derben Winterstiefeln, ihrem zur Zeit einzigen Paar Schuhe, steckten, unter ihre Beine zu ziehen und tastete mit einer Hand nach ihrer Tochter, mit der anderen nach der Hand des Oberst, um sie verschämt zu drücken.
Sie fühlte die Blicke vieler Leute fast schon körperlich auf sich und es war keine angenehme Erfahrung.
Dwarosch erwiderte die Geste und drückte sanft Marboliebs Hand. Dann setzte er Mirla auf ihren Schoss, auch in dem Bestreben der Geweihten einen Halt zu geben. Für gewöhnlich konnte der Zwerg seine Ziehtochter stundenlang herumtragen.
Mit den Worten, “ich bin gleich wieder da”, marschierte Dwarosch von dannen zur Küche, die Dielen knarrten und verrieten die Richtung in der er sich entfernte.
Das leise Gemurmel, die verhaltenen Unterhaltungen der anderen Anwesenden endeten abrupt, als der Zwerg den Saal verlassen hatte. Es wurde mucksmäuschenstill. Einzig Mirla brabbelte dann und wann ein paar Worte und raschelte auf dem Schoss ihrer Mutter mit deren Robe.
Ganz leise vernahm Marbolieb nach einer Weile, wie sich jemand auf leisen Sohlen näherte und dann in so schätzte sie, drei Schritt Entfernung stehen blieb.
“Euer Gnaden?” Die Stimme war unsicher, zweifelnd und gehörte einem jungen Burschen, da war sich Marbolieb recht sicher.
Aufmerksam geworden drehte sich junge Frau sich in die Richtung, aus der die Ansprache kam. “Wer seid ihr denn? Kommt her und setzt euch, so ihr mögt.”
Vielleicht war es ja auch nur Neugier, die den jungen Burschen - ein Mensch vermutlich, seiner Stimme fehlte das tiefe Brummen, das die Angroschim auszeichnete - antrieb. Aber zumindest war es kein gezischtes ‘Zwergenhure’ hinter ihrem Rücken, wie sie es auch schon einigemale gehört - und ignoriert - hatte.
Nach einem erneut von zögerlicher Unsicherheit geprägtem "Danke", kratzten Tischbeine über den Boden. Das folgende Knarren verriet der Geweihten, dass der Sprecher in sittsamen Abstand zu ihr Platz genommen hatte.
"Verzeiht eure Gnaden", setzte der Bursche nun etwas fester an. "Seitdem der alte Praiowan die Burg verlassen hat, haben wir keinen richtigen Götterdienst mehr beigewohnt. Kalmans Tochter, ich meine Roana von Nilsitz, die Erbin seiner verstorbenen Hochgeboren, ist mehr in Elenvina als hier. Es kümmert sie scheinbar nicht, dass wir ohne Beistand sind."
Die Sätze kamen Marbolieb wie sorgsam einstudiert vor. "Ich meine, ihr seid doch eine Dienerin des Raben, so wie die Soldaten der Angroschim es erzählen, richtig?"
Marbolieb lauschte dem Burschen und fing Mirlas Händchen ein, die begonnen hatten, sich zielgerichtet in ihren Ärmel einzufädeln.
Sie nickte. “Und wer bist du?” fragte sie - was ihr angesichts der hörbaren Unsicherheit ihres Gegenübers als die beste Ansprache erschien.
“Wem soll ich helfen? Was gibt es für Schwierigkeiten?” wollte die kleine Geweihte wissen.
“Oh verzeiht!” Die Banalität, sich selbst vorzustellen war dem Sprecher offenbar nicht in den Sinn gekommen und das war ihm unangenehm. “Ich bin Answin und Diene bereits im siebten Götterlauf auf der Burg. Ich kam als Tischlerlehrling hierher. Inzwischen bin ich Gestelle.”
Der Bursche hustete verlegen, als habe er ein Kratzen im Hals. “Eure Gnaden, würdet ihr heute Abend zu uns sprechen?
Im Winter, da das Licht des Götterfürsten uns an den kurzen Tagen nur wenig Trost und Hoffnung zu spenden vermag, ist Beistand alles, wonach wir uns sehnen.”
Aufrichtig waren die Worte des Burschen gewesen und die kurzen Beipflichtungen von weiteren Anwesenden unterstrichen sein Anliegen nur noch.
“Selbstverständlich.” nickte die Priesterin.
“Ihr habt eine Kapelle hier? Kommt zu Sonnenuntergang dorthin.”
Die Menschen mussten wahrhaft verzweifelt sein, wenn sie sogar einen Borondienst besuchen wollten - und das ‘zu ihnen sprechen’ würde nicht so ausfallen, wie sie es von einem Diener des Götterfürsten gewohnt waren.
Vielleicht würde sich hier in Nilsitz sogar noch etwas Weihrauch oder etwas aromatisches Holz finden - zumindest aber einige Kräuter, die es nötigenfalls sogar in der Küche geben würde. Sie unterdrückte ein Seufzen. Natürlich würde sie diesen Leuten ihren Wunsch nicht abschlagen - aber ihr Wunsch, endlich wieder einmal selbst nur Teilnehmer eines Götterdienstes zu sein, flammte erneut und um so heftiger dabei auf.
“Wir versammeln uns oben im Bergfried, jeweils zum Sonnenauf- und untergang eure Gnaden”, sprach Answin nun gelöst, froh über die Zusage der Geweihten. “Dort gibt es einen kleinen, bescheidenen Altar. Praiowan hatte eine Etage darunter einen Raum für die Dinge, die er für seine Messen benötigte. Er schlief aber auch im Bergfried. Die Aussicht sagte er stets sei erhebend. Praiowan fühlte sich dem Götterfürsten dort oben wohl nahe, oder zumindest näher verglichen mit dem Rest der Burg.”
Marbolieb nickte. “Ich werde dorthin gehen.” Sie überlegte. “Hast Du zur Mittagsstunde Zeit, es mir zu zeigen?” Dwarosch hatte angekündigt, ein längeres Mittagsschläfchen mit Mirla zu unternehmen. So lange sollte sie dafür Zeit haben. Ewig würde die Inspektion des Turmes nicht dauern, und gesetzt den Fall, er konnte einige Lumpen auftreiben, würde sie sich sicher auch noch an die Puppe machen können.
“Sicher euer Gnaden, die werde ich mir nehmen”, antwortete der Tischlergeselle. “Ich bringe euch nach oben.”
Plötzlich stockte der Mann. “Oh - verzeiht, Oberst”, brachte er leicht nervös hervor. Doch Dwarosch, der inzwischen scheinbar zurück im Speisesaal war, wollte das Gespräch mitnichten unterbrechen. “Bitte sprecht, guter Mann.” Eine Aufforderung, der Answin gleich nachkommen wollte. “Soll ich euch vom vom Gebäude in dem Oberst Dwarosch untergekommen ist abholen zur Praiosstunde?”, fragte der Tischler, während der Oberst ein Tablett auf den Tisch stellte und sich neben Marbolieb setzte.
“Gerne. Bis später - und vielen Dank.” stimmte die Boroni zu. Sie wandte sich zu dem Oberst. “Hast Du etwas dagegen, wenn ich den Turm besuche?”
Sie legte ihre Hände locker auf den Tisch und schnupperte, als der verheißungsvolle Duft eines heißen Tees in ihre Nase drang.
“Ganz und gar nicht, Räblein”, entgegnete Dwarosch gut gelaunt, als Answin sich abwandte. “So kommst du mal raus und vielleicht ja auch auf andere Gedanken.” Vorsichtig reichte er Marbolieb den Tonbecher mit dem Tee.
“Außerdem haben Mirlaxa und ich ja ohnehin etwas anderes vor.” Kurz lachte Dwarosch ob der eigenen Umschreibung der geplanten, gemeinsamen Mittagsstunde, dann hob er seine Ziehtochter hoch und setzte sie sich auf den breiten Oberschenkel.
“Sag dem Burschen aber, er soll langsam machen auf den Treppen. Es sind viele Stufen hinauf. Aber du bist sie ja aus dem Haus des Vogts inzwischen gewöhnt.” Vorsichtig gab Dwarosch Mirla von der mit Honig gesüßten, warmen Ziegenmilch. Das kleine Mädchen schmatzte und hatte sogleich einen Milchbart. Ein Umstand, den Dwarosch besonders liebte.
“Ich war selbst erst ein paar Mal zu Inspektionen des Bergfrieds oben. Zwei Soldaten haben auf der überdachten Wachplattform Dienst. Sie überwachen den Schiffsverkehr im Wedengraben mit einem Fernglas und geben gegebenenfalls Hornsignal an das Schwalbennest, sollte sich ein Schiff näher, welches ihnen ‘seltsam’ oder gar ‘gefährlich’ vorkommt. Die Rotzenbesatzung spannt dann sofort das Geschütz und wartet auf weitere Befehle. Wenn gute Lichtverhältnisse vorherrschen, wird Kontakt mit Calbrozim auf der anderen Seite aufgenommen. Es gibt feste Signale, die mit verschiedenfarbigen Wimpeln ausgetauscht werden. Ferngläser machen es möglich.
Unter der Plattform ist das Turmzimmer mit besagtem Schrein. Er ist aus schlichtem Marmor, aber er trägt eine sehr schöne Heiligenstatue. Wenn man die Holzfenster öffnet und die letzten Strahlen des Praiosmales über die Berge dringen, dann soll die Luchsstatue aus Zitrin in dessen Licht besonders erstrahlen.
Der alte Kalman war wohl ein Anhänger von Arras de Mott und des Ordens des heiligen Hüters. Urischar wird immer wieder mit dem Praiosheiligen in Verbindung gebracht. Sonst wüsste ich nicht, warum es gerade dieser Heilige ist, der dort oben steht.”
Marbolieb nickte auf die Ausführungen Dwaroschs. “Ich werde vorsichtig sein. Danke, dass du mir alles beschrieben hast.”
Ihre Neugier, das selbst auszukundschaften, war nicht zu überhören. Auch wenn ein Mittagsschläfchen an der Seite ihres Liebsten und ihrer Tochter auch schön gewesen wäre - aber das war ein eher selteneres Luxus, zu rar waren die Gelegenheiten, an denen sie sich einmal nicht auf Mirla achtgeben musste und Zeit für andere Dinge fand.
“Es ist bestimmt ein schöner Raum. Und wenn sie es wünschen, halte ich eine Andacht. Dann muss ich nur noch in der Küche fragen, ob ich dort ein paar Kräuter zum Räuchern finde.”
Sie schloss ihre Hände um den warmen Tonbecher und atmete tief und genüsslich den Duft der Teekräuter ein, ehe sie einen kleinen, vorsichtigen Schluck der sengend heißen Flüssigkeit kostete. Was für eine Wohltat an diesem eisigen Tag!
Ein glückliches Lächeln fing sich in ihren Mundwinkeln. So ließ es sich leben!

Schreininspektion

Der Tischlergeselle kam, wie er es angekündigt hatte pünktlich zur Praiossstunde. Es klopfte, woraufhin Dwarosch Marbolieb zur Tür führte und ihr Mirla abnahm, als er schon im Begriff war sie zu öffnen.
Mit einem ehrfürchtigen “Euer Gnaden” und einem Nicken in Richtung des Oberst grüßte Answin die beiden.
“Wenn ihr mich begleiten mögt. Ich führe euch in den Bergfried zum Altar und zeige euch alles.”
“Sehr gerne. Danke dir, Answin.” Marbolieb streckte dem Gesellen ihre Hand entgegen und lächelte ihn freundlich an. “Das ist sehr freundlich von dir.”
Sie strich über Mirlas Köpfchen und mit ihren Fingerspitzen über den Arm des Oberst, ehe sie sich von dem Gesellen von dannen führen ließ.
Gemeinsam traten sie im Folgenden heraus auf den Burginnenhof. Der Geselle hatte Marboliebs Arm sachte ergriffen und war übervorsichtig dabei sie in die Richtung zu bugsieren, in die sie zu laufen hatte. Marbolieb kam sich dabei fast wie ein rohes Ei vor, denn bei der kleinsten Unebenheit auf dem gepflasterten Hof warnte Answin sie und gab ihr gleichzeitig durch leichten Druck auf ihren Arm Zeichen wachsam zu sein, was zwangsweise dazu führte, dass sie anfangs nur sehr langsam voran kamen.
Als sie dann aber das Hauptgebäude, den großen Palas erreicht hatten, wurde der Boden ebener und damit die gestellte Aufgabe einfacher. Beide erklommen einige Treppenaufgänge, durchquerte zwei schwere Türen, was Marbolieb an der Betätigung der Klinken, wie aber auch am Quietschen der Scharniere erkannte. Dann wehte der Geweihten ganz plötzlich wieder Wind um die Nase und der Tischler mahnte zur Vorsicht. Marbolieb hatte unweigerlich das Gefühl, einen schmalen Grad in schwindelerregender Höhe zu queren. Der steinerne Fußboden war schwingendem Holz gewichen, das vernahm und spürte sie deutlich. Vier, fünf, sechs Schritte, dann folgte eine weitere Tür und der Boden wurde wieder fester, der Luftzug endete so abrupt, wie er begonnen hatte.
Von da an ging es immer nur aufwärts über eine hölzerne Stiege, die sich eng und steil in die Höhe schraubte. Bald schon mussten beide, sowohl Answin wie auch Marbolieb, langsamer machen, denn die vielen Stufen forderten ihren Tribut.
Schließlich, die Geweihte hatte keine Ahnung, wie viele Dutzend Treppenstufen sie erklommen hatte, verkündete Answin schnaufend: “Wir sind oben und befinden uns nun Stockwerk, welches Praiowan bewohnt hat.”
Die Geweihte rang nach Luft und benötigte einige Augenblicke, um wieder zu Atem zu kommen. “Zeig es mir.” bat sie Answin und streckte die Hände aus, um ihre Fingerspitzen über die Wände und das Mobiliar streifen zu lassen.
Vorsichtig führte sie der Geselle an der Hand durch den Raum, an den Wänden entlang und zeigte ihr dadurch die verschiedenen Möbelstücke. Ein hölzerner Bettkasten mit einem schon etwas muffig riechenden Strohstack stand mit der Längsseite an einer Wand, davor eine hölzerne, geschlossene Truhe, über der ein Fell lag, das beim darüberstreichen Haare auf Marboliebs Hand hinterließ. Ein kleiner Schreibtisch unter einer schmalen Schießscharte, die durch einen auf einen Holzrahmen gespanntes Pergament verschlossen wurde, mit einer vom Alter und langem Gebrauch eingekerbten, leergefegten und staubigen Tischplatte, davor ein einzelner Holzstuhl. Daneben eine kleine Kommode mit einer verschlossenen Tür und einem leeren Regalaufsatz. Auf dem Boden in der Mitte ein Teppich, wellig und wohl aus verwobenen Stoffstreifen.
Der ehemalige Bewohner dieser Räumlichkeiten hatte all seine Besitztümer mitgenommen und einen Raum zurückgelassen, der nichts mehr über ihn erzählte. Doch ein besonders prunksüchtiger oder anspruchsvoller Mensch schien es nicht gewesen zu sein.
“Und wo ist der Andachtsraum?” wandte sich die Priesterin schließlich an den Gesellen.
“Oder trefft ihr euch im Schlafzimmer des Geweihten?”
“Nein nein”, warf Answin sogleich ein. “Der Altarraum ist noch eine Windung der Treppe weiter oben. Ich wollte euch nur Gelegenheit geben, zu Atem zu kommen.
Außerdem”, fügte er nach einer kleinen Pause an, in der Marbolieb am leichten Knarren des Bodens erkannte, dass der Tischlergeselle sich von ihr entfernte, “wollte ich euch etwas zeigen.”
Knarzend öffnete sich die schwere Truhe im Raum, nur sie konnte Ursprung des Geräusches sein, war sich die Geweihte sicher. Dann kramte Answin darin.
Als er kurze Zeit später wieder zu Marbolieb trat, nahm der Tischler ihre Hand und legte ihr eine große, bauchige Flasche hinein. Sie wog sicher einen Stein und war unzweifelhaft aus geblasenem Glas.
“Öffnet den Korken”, bat der Geselle. “Es ist ein Öl darin, mit der uns Praiowan stets das Sonnenrund auf die Stirn malte, nachdem er mit uns gebetet hatte und uns den Segen spendete.
Praiowan ließ sie für uns zurück. Keiner von uns aber befand sich für würdig, dies Zeremoniell durchzuführen, Euer Gnaden.”
Marbolieb roch an dem Öl - Weihrauch, Myrrhe und verschiedene Kräuter sowie einige Bestandteile, die sie nicht genau zuordnen konnte, kitzelten in ihrer Nase.
“Wünscht Du, dass ich das tue?” Leichter Zweifel stand in ihrer Stimme. Nicht, dass sie nicht oft und gerne mit Salböl arbeitete - aber wie dies in der Praioskirche verwendet wurde, das unterschied sich doch ein gute Stück von den Anwendungen, die sie kannte.
“Bitte”, bestätigte der Geselle umgehend. “Jeder hier wünscht sich den Segen eines Geweihten und das Öl, mit all den Erinnerungen, die der Geruch auslösen wird, wird uns helfen wieder hoffnungsvoller in die Zukunft zu sehen.
“Habt ihr Sorgen vor der Zukunft? Was befürchtet ihr?” Wandte sie sich fragend an den Gesellen. Der Arme klang durchaus etwas bedrückt.
“Und warum gibt es eigentlich keinen neuen Geweihten auf Burg Nilsitz? Die Burgherrin könnte doch auch in Abwesenheit um einen bitten, und es müsste kein Diener des Götterfürsten sein.”
Dass die ganze Burg ohne geistlichen Beistand war, erschütterte die Geweihte. Es wäre doch eine Kleinigkeit für die Herrin hier gewesen, für ihre Leute bei einer der Kulte der Zwölfgöttlichen Kirche um Beistand zu ersuchen.
“Wir sind mehrfach an ihre Wohlgeboren herangetreten in dieser Sache”, erklärte der Tischler. “Sie versicherte uns jedoch lediglich immer wieder, dass sie um Beistand ersucht hat in Elenvina. Mehr kann ich euch dazu nicht sagen.
Aber bitte, sagt dem Burgvogt nicht, dass ich euch das gesagt habe oder so über unsere Herrin gesprochen habe.”
Answin seufzte. “Himmelskörper fallen, Sternbilder verschieben sich. Es geschieht etwas in Alveran, Schreckliches hier unten, denkt man nur an Arivor. Wir mögen hier in Nilsitz weit Abseits der großen Städte leben, doch auch zu uns dringen Nachrichten durch.”
“Da sprecht ihr wahr. Doch ist es gerade in dieser Zeit wichtig, dass ihr den Glauben nicht verliert und stark in der Verehrung der Götter bleibt. Wir werden zusammen beten und ich werde für euch tun, was ich kann.”
“Habt Dank”, sprach Answin erleichtert. “Das ist was wir uns erhofft haben.”
“Magst Du mir den Altarraum zeigen?” bat sie und hielt dem Gesellen die Glasflasche entgegen. Wenn sie durch einen Unfall am Boden zerschellen würde, wäre nichts gewonnen.
Neugierig auf die Kapelle ließ sie sich von Answin zu der engen und wenig Vertrauen erweckenden Treppe mit ihren sehr verzogenen Stufen führen. Es war ein rechtes Abenteuer, bis nach oben zu gelangen.
Schließlich aber überstanden Geweihte und Tischlergeselle auch die letzte Windung der Treppe mit gebotener Vorsicht und gelangten in den Raum unmittelbar unterhalb der Aussichtsplattform des Bergfrieds.
“Geschafft”, verkündete Answin mit freudigen Unterton in der Stimme.
Oben war es windig, pfeifend drang Luft durch die hier in großer Anzahl vorhandenen Schießscharten. Warme Sonnenstrahlen suchten sich ebenfalls ihren Weg hindurch und kitzelten Marboliebs Antlitz.
Der Tischler führte die Geweihte direkt zum Altar und legte ihr Hände darauf.
Was Marbolieb daraufhin ertastete war eine glatt geschliffene, kalte Steinplatte. Sie mochte vier Finger dick sein und ruhte auf einem Holzkorpus, in dessen Oberfläche offensichtlich kunstvoll Ornamentik eingearbeitet worden war. Auf ihm stand besagte Heiligenfigur, von der ihr Dwarosch schon berichtet hatte.
Neugierig ließ sie ihre Fingerspitzen über die Figur gleiten. Kalt und glatt war der geschnittene und polierte Stein unter ihren Fingern und stellte Urischar als einen aufrecht schreitenden Luchs dar. Etwa anderthalb Spann groß war die Figur und sehr detailliert gearbeitet, selbst die Schnurrhaare ließen sich ertasten. Eine wunderschöne Altarfigur, die von großer Handwerkskunst und einem tiefen Glauben zeugte. Sie betastete den Altar, dessen geschnitzter Schmuck die Heiligen der Praioskirche darstellte, soweit sie der Boroni bekannt waren - und deren Rahmenornamente den Sonnenlauf des Tages abbildeten.
Andächtig kniete sie sich nieder und versank einige Augenblicke in der gänzlich unerwarteten Ruhe und dem windigen, sonnenstrahlendurchspielten Frieden, den dieser seltsame Raum gewährte. Anders. Und dennoch berührt von der Gegenwart der Götter.
Kurze Zeit später erhob sie sich wieder und nickte zustimmend. “Es ist gut. Ich werde heute Abend mit euch beten. Liegt euch dabei etwas besonders am Herzen?”
“Hoffnung.” Ein einzelnes, schlichtes Wort und doch hatte es so viel Gewicht, eine solche Bedeutung. “Gebt uns neue Hoffnung”, bat Answin. “Wir fürchten, dass alles ins Wanken gerät was wir kennen, vor allem die göttliche Ordnung, die uns Praiowan stets predigte.
Marbolieb nickte. “Ich werde euch heute Abend so viel Zuversicht wie möglich spenden. Vertraut auf die Götter, Answin. Es wird alles gut.

Andacht am Abend

Es dämmerte bereits, früh, wie im Winter üblich, das Tagwerk der Menschen auf der Burg war verrichtet, die Boronstunde würde bald anbrechen.
Marbolieb, Dwarosch und die kleine Mirla hatten einen gemütlichen Nachmittag vor dem Kamin verbracht. Die Geweihte hatte mit einem kleinen Stück Stoff, welches der Oberst aus den Beständen des Zeugmeisters besorgt hatte, die Puppe ihrer Tochter genäht und Dwarosch hatte mit Mirla gespielt und ihr Geschichten erzählt, während sie auf seinem Schoss saß.
Nun aber, da der Tag vorangeschritten war machten sie sich allesamt auf ihr Heim zu verlassen. Dick und warm eingepackt überquerten sich den Innenhof der Burg, wo dichtes Schneetreiben, das nun schon seit einem vollen Stundenglas herrschte, sie empfing und den kurzen Weg beschwerlich werden ließ.
Im Palas wurde Mirla mit warmer Milch und einer Schüssel voll Schmalzgebäck bei einer der Mägde in der Küche gelassen, während Marbolieb und Dwarosch den anstrengenden Weg an die Spitze des Bergfrieds antraten, ganz so, wie die Geweihte es früher am Tag mit dem Tischlergesellen Answin abgesprochen hatte.
Der Zwerg sah in viele erwartungsvolle Gesichter, als sie in der Kammer mit dem Altar des Götterfürsten ankamen. Zehn Leute hatten sich versammelt, Köchin, Mägde, Stallbursche, Handwerker. Alle lebten und arbeiteten sie auf Burg Nilsitz und jeder einzelne von ihnen suchte nach dem Trost eines Segens, nach hoffnungsvollen Worten und klerikaler Anleitung in düsteren Tagen.
Dwarosch räusperte sich, auch wenn dies nicht notwendig gewesen wäre, alle Anwesenden hatten sie kommen hören. Die hölzernen Stufen hatten die beiden vermutlich schon ein ganzes Stockwerke tiefer bereits verraten.
“Wir sind da”, stellte Dwarosch nüchtern fest, als er mit Marbolieb am Arm vor dem Altar stehen blieb. “Die Burgbewohner haben sind versammelt.”
Die Boroni nickte stumm und schloss ihre Finger um den Arm ihres Begleiters.
“Ich grüße euch.” Sprach sie mit leiser Stimme an den Raum gewandt.
Das Rascheln und Scharren in dem kleinen, winddurchzogenen Andachtsraum verstummte.
“Wir haben uns versammelt, um dem Herrn Boron und seinen Zwölfgöttlichen Geschwistern zu huldigen und ihren Segen zu erbitten.” Leise waren die Worte der Geweihten und durchdrangen dennoch den gesamten Raum.
Sie hob die Arme, und die weiten Ärmel ihrer Robe breiteten sich wie Rabenflügel aus.
Gemurmel unter den Besuchern verriet deren Verwirrung, bis schließlich das Geräusch von vielen niederknienden Menschen verriet, dass sie sich auf eine Handlung geeinigt hatten.
“Jeder von Euch hat Sorgen und Wünsche vor den Göttern. Mag dies der Unergründliche sein - oder eines seiner Geschwister. Gehet in Euch, erforschet Eure Gedanken und Wünsche und bringt sie schweigend vor den Göttern dar, auf das diese sie und euch prüfen.”
Auf ihre Geste hin nahm der Oberst die Feuerschale, in der auf glühenden Kohlen verschiedene Kräuter vor sich hin glommen und einen dichte Fahne aus Rauch in Spiralen in die Luft entsandten und trug sie einmal durch den Raum und zwischen den Betenden hindurch. Auch wenn es nicht die Räucherkräuter waren, die Marbolieb sich für einen Götterdienst gewünscht hatte, so hatte eine Suche in der Küche doch einige taugliche Alternativen zutage gefördert, so dass sie zumindest ein angemessenes Rauchopfer zu geben vermochte.
Der Rauch umfasste die Menschen, drang in ihre Nasen und ließ ihre Augen brennen, doch er nahm auch die Hast und Anspannung von denen, die hier zum Gebet versammelt waren.
Lange dauerte es, bis die Stimme der Geweihten sich mit dem Gebet verband. “Herr, nimm unsere Bitten an.”
Der aufsteigende Rauch traf auf die eisig klare Luft, die durch die Fenster drang, zerfaserte und wurde von ihr weit davongetragen, hinaus in den abendlichen Himmel.
“Gibst Du mir das Öl?” wandte Marbolieb sich im Flüsterton an den Oberst an ihrer Seite.
“Tretet einzeln vor.” bat sie ihre zusammengewürftelte Gemeinde und begann, einem jeden von ihnen mit dem geweihten Öl, über das sie - um sicherzugehen - vor dem Götterdienst nochmals ihren Segen gesprochen hatte, ein Boronsrad auf die Stirn zu zeichnen.
Mit der Unterstützung Dwaroschs fand sie diesbezüglich ihr Ziel.
Erst, als dies alles erledigt war, hieß sie die Gläubigen, niederzuknien.
“Mögen die Zwölfe ihre Hände über Euch halten, Bishdariel Euch heute sanfte Träume schenken und der Herr Boron euch sanft aufnehmen am Ende Eurer Tage. Es sei!”
Mit Marboliebs Segen verlosch endgültig das letzte Licht der winterlichen Dämmerung und die Nacht brach herein.

Einzeln, jeder für sich, traten die Burgbewohner vor nachdem die kleine Andacht beendet war und bedankten sich herzlich bei Marbolieb. Ein wenig ging ihr das Herz darüber auf, sie hatte diese Art ihren Dienst an den Menschen zu verrichten vermisst, den Kontakt zu den Gläubigen.
Als letztes war es Answin, der an der zierlichen Boroni herantrat und sanft ihre Hände ergriff. “Ich danke euch für das Gebet mit uns. Es bedeutet jedem hier sehr viel. Glaubt mir, ich habe lange nicht mehr so zufriedene Gesichter gesehen.”
An den knarrenden Geräuschen der Treppe im Hintergrund erkannte sie, dass sich die Gäste der Andacht mittlerweile daran gemacht hatten, den Bergfried wieder zu verlassen.
Dwarosch stand derweil stumm neben Marbolieb. Auch er hatte während des Gebetes Bitten an den Unergründlichen vorgetragen, mehr Zeit der inneren Einkehr jedoch waren für Worte des Dankes verstrichen. Für den Sohn des Dwalin hatte Boron großen Anteil daran, dass er noch unter den Lebenden weilte und dies würde er niemals vergessen.
Lange Zeit,während die Schritte über die Treppe davonklangen, stand die Boroni reglos, die Hände vor dem Körper verschränkt, und genoss merklich die Stille, die den zugigen Raum umfing.
“Sind alle weg?” fragte sie, später, in eben diese hinein.
“Das sind sie”, bestätigte Dwarosch mit leiser Stimme.
Der Oberst hatte geschwiegen, um Marbolieb die Ruhe genießen zu lassen, die nach dem Ende der kleinen Andacht eingekehrt war. Diese Stille war es, die beide genossen, jedesmal, auch wenn nur sie gemeinsam zum ewig Schweigsamen gebetet hatten.
Dwarosch trat neben sie und legte ihr den Arm um die schmale Hüfte.
“Soll ich kurz aufräumen, damit wir hinunter können, oder möchtest du noch einen Moment alleine sein?”
Marbolieb tastete nach der Hand des Oberst und flocht ihre Finger zwischen seine, genoss die Nähe und kostete das gemeinsame Schweigen aus, noch einen wohligen Atemzug lang - oder zwei. Wie ein warmer, weicher Mantel umfing sie die tiefe Zufriedenheit, das Wohlbehagen im Hier und Jetzt und zugleich die innige, gewisse Verbindung mit den Zwölfen, welche der Götterdienst hinterlassen hatten.
Ein Lächeln wärmte ihre hübschen Züge, als sie sich Dwarosch zuwandte und die Nase kräuselte, als sein prachtvolles Haar sie im Gesicht kitzelte. “Lass uns gehen.” Sie hielt kurz inne. “Danke Dir.”
Einen Akoluthen oder gar Novizen, der ihr bei der Bereitung einer Andacht half, hatte sie noch niemals an ihrer Seite gehabt - aber viel besser als jetzt konnte dies keinesfalls sein.
Langsam kroch die Eiseskälte in diesem zugigen, offenen Raum in ihre Glieder und forderte nachdrücklich ein Ende des Intermezzos, während draußen die ersten Sterne auf dem pechschwarzen, wolkenlosen Nachthimmel aufflammten, eisige Gemmen aus dem Schatz des Listigen.
“Ich würde gerne einmal wieder einem Götterdienst als Gast beiwohnen. Meinst Du, das lässt sich irgendwann einrichten?” Ergriff sie wieder das Wort, als sie gemeinsam die steile Stiege nach unten meisterten.
“Hmmm”, brummte der Zwerg nachdenklich. Die Antwort schien ihm offenbar nicht einfach.
“Nun”, setzte der Oberst nach kurzer Überlegung an. “Wenn dein Wunsch eine Andacht im Tempel der Schätze des Allvaters in Senalosch nicht ausschließt, dürfte das keine weiteren Umstände machen. Ich muss dich aber vorwarnen.”
Leichter Spott schlich sich nun in Form eines gewissen Untertons in Dwaroschs Stimme. “Die Geweihten dort sind das, was ich als ‘konservativ’ bezeichnen würde. Senalosch oder vielmehr Isnatosch sind neben Xorlosch das Zentrum der Angroschkirche. Daß unser Tempel auch Ingerimm dient, also der vermenschlichten Form unseres des Allvaters, ist schon ein großes Zugeständnis.”
Der Oberst lachte kurz auf und zuckte amüsiert mit den Schultern. “Naja und Metenax gäbe es da ja auch noch. Wobei ich eher schätzen würde, dass du einem Gottesdienst beiwohnen möchtest, der einem der Zwölf gewidmet ist.”
“Ja, bitte.” stimmte die Boroni zu. Eine Andacht bei Metenax besaß unbenommene Reize - doch war das nicht das spirituelle Erlebnis, das sie schon so lange suchte. Seit sie hier angekommen war, konnte sie die Götterdienste, denen sie beigewohnt hatte, an einer Hand abzählen. Sie sehnte sich danach, selbst einmal wieder den Segen eines Bruders oder einer Schwester im Glauben an die Zwölfe zu erhalten.
Zwar wäre ihr ein Borontempel dafür sehr viel lieber gewesen - doch in näherer Umgebung Senaloschs gab es keinen solchen.
“Ingerimm ist gut.” erklärte Marbolieb zufrieden.
Sie schwieg einen Lidschlag lang, und ein kleines Grinsen huschte über ihre Züge. “In den Kortempel gehe ich lieber mit dir.”
“Gut”, kommentierte Dwarosch knapp diesen Beschluss. Marbolieb hörte, dass er schmunzelte, vermutlich aufgrund des Kommentars zum Tempel des blutigen Schnitters.
“Wir werden einer Andacht beiwohnen, sobald wir wieder in Senalosch sind. Es ist für mich ohnehin an der Zeit mich einmal wieder dort blicken zu lassen. Das wird meinen Vater sicher ‘freuen’.”
Der Unterton indes entging der Geweihten nicht. Sie wusste um das schwierige Vater- Sohn Verhältnis, dass sich selbst mit Dwaroschs Ernennung zum Oberst nur wenig entspannt hatte. Dwalin hatte es nicht überwunden, dass sein Sohn das Kriegshandwerk erlernt und nichts für das angroschgefällige Handwerk übrig hatte.
“Deine Eltern leben noch, nicht wahr?” Dwarosch hatte bislang so gut wie nichts über sie erzählt, nur dass er keinen Kontakt mehr zu ihnen pflegte. Die unsichtbaren Eltern kitzelten die Neugier Marboliebs, die ihre eigenen Eltern nie kennengelernt hatte. Dennoch war es ganz gut, dass sie Dwaroschs Eltern niemals begegnet war - sie mochte sich die Reaktion der Erzzwerge nicht ausmalen, wenn ihr aufsässiger Sohn eine Menschenfrau vorgestellt hätte. Sie wären, wenn dies überhaupt noch möglich wäre, daraufhin sicher noch weniger begeistert von ihrem abtrünnigen Sohn gewesen.
“Hm”, brummte der Oberst und nickte leicht, um Marboliebs Frage zu bestätigen. Mehr wollte er anscheinend nicht freiwillig zu diesem Thema beitragen. Derweil sammelte Dwarosch die wenigen Gegenstände ein, die ein Stockwerk tiefer wieder verstaut werden sollten, um der Ordnung Genüge zu tun.
Als er alles beisammen hatte, nahm er die Geweihte beim Unterarm und führte sie langsam die Treppe hinab.
Das Nicken entging der Geweihten, und so wartete sie noch einige Atemzüge lang ab, ob Dwarosch zu seinem Brummeln noch eine Erklärung folgen lassen würde. Doch schien es nicht so, als plane er etwas in dieser Richtung, und so kletterte sie vorsichtig am Arm Dwaroschs nach nach unten.

Nacht

Nur wenig Zeit später waren Menschenfrau und Zwerg wieder in dem Nebengebäude der Burg, dass dem Oberst als Heimstatt diente, wenn er auf Burg Nilsitz weilte. Mirla hatten sie auf dem Rückweg in der Küche aufgelesen.
Nachdem Dwarosch seine Ziehtochter schlafen gelegt hatte, kehrte der Oberst in die gute Stube ihrer Unterkunft zurück und setzte sich mit einem wohligen Seufzer auf den Sessel neben Marbolieb, die ihre Beine auf einem Schemel dem prasselndem Kamin entgegengestreckt hatte.
Das Ritual Mirla ins Bett zu bringen, genoss und zelebrierte Dwarosch stets, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Und der Oberst war ein guter Geschichtenerzähler. Seine tiefe, brummige Stimme schien das kleine Menschenkind jedes Mal zu beruhigen, so dass sie mit den Fingern in seinem Bart einschlief.
Über die Lippen der Menschenfrau spielte ein glückliches Lächeln, als ihr die Ankunft des Zwergen berichtete, dass ihre Tochter dem Schlaf der Gerechten - und ganz kleinen Kinder - in die Arme gesunken war. Sie zog die Decke - den kostbaren Bausch, den ihr Topaxandrina für die Reise ausgeliehen hatte - um ihre Schultern und genoss die Wärme aus dem Kamin. Welch ein Luxus, ein Feuer ganz für sich zu haben! Mit mehreren Scheitern, so dass es eine Menge Hitze ausstrahlte.
Marbolieb lauschte mit geröteten Wangen dem Knacken der Scheiter im Feuer und dem zufriedenen Brummen des müden Kriegers im Sessel neben sich, wandte sich ihm zu und streckte eine Hand in seine Richtung aus.
Sanft war der Griff, mit dem Dwarosch ihre Hand ergriff und dennoch fest. Seine kräftige Hand, besonders der muskulöse Ballen waren Ausdruck des inneren Haltes, den der Zwerg ihr in jenen Momenten schenkte.
Inmitten des schier endlosen Meeres der Dunkelheit, welches Marbolieb umgab, war diese schwielige Hand mit der zum Teil ledrigen Haut voller kleiner Narben ein Hafen der Geborgenheit.
Marbolieb strich mit ihren Fingerspitzen über Dwaroschs Handfläche, eine wohlvertraute Topographie, von der sie jedes Tal, jede Schlucht und jede Erhebung auswendig kannte. Und doch war es nur ein flüchtiger Spaziergang, eine Ewigkeit jetzt, aber letztlich nur ein Wimpernschlag in der Zeit, der spätestens dann, wenn sie nach Calmir zurückkehren musste, sein Ende finden würde. Und dieser Tage würde kommen - wenn auch nicht heute, nicht morgen - und, wenn die Götter gnädig mit ihr waren, auch noch nicht in den nächsten Monden.
Die Geweihte seufzte zufrieden und legte die Hand des Oberst auf ihre Wange, genoss einen Augenblick länger die Wärme und Geborgenheit seiner Hand und ließ es sich wohl sein bei diesem behaglichen Abend am Feuer.

~ Ende ~