Tempel der immerwährenden Ruhe

Die Lage

Folgt man dem Pfad entlang der Honne durch Freiherrlich Tommelsbeuge in der gleichnamigen Baronie und bleibt man auch dann beharrlich auf diesem, nachdem sich Pfad und Fluss getrennt haben, gelangt man unweigerlich zum Tempel des Herrn des Todes, gelegen zwischen den in Tommelsbeuge ubiquitären Hügeln.

Das Gebäude

Der Tempel ist ein schlichter Steinbau mit Schieferdach. Der ursprünglich geplante, fünfeckige Grundriss ist einer einfacheren rechteckigen Form gewichen. Das einzige Schmuckwerk ist eine Steinplatte über dem Eingangsportal, aus der das Relief des gebrochenen Rads herausgearbeitet wurde. Darunter ist der Sinnspruch:
„Fürchte nicht den Tod. Er ist das Geschenk zum Abschluss Deines erfüllten Lebens.“ zu lesen.
Hinter den Fensterläden erblickt man dunkle, schwere Vorhänge, die den Lichteinfall ins Innere des Tempels reduzieren.
An der Rückseite des Tempels, abgewandt des Weges, ist der Boronanger angelegt. Umgeben von einer etwa ein Schritt hohen Steinmauer sammeln sich die Gräber der zum Ewigen Gegangenen. Ein kleiner Holzschuppen enthält das Werkzeug zur Pflege des Angers. Meistens halten sich hier einige Raben auf, die, mal ruhig auf dem Dach des Schuppens sitzend, mal laut krächzend ihre Kreise über dem Totenfeld ziehend, selbiges zu überwachen scheinen. Wer auch immer zwischen den Gräbern wandelt, wird stets mindestens einen Raben in seiner unmittelbaren Nähe finden, der dem Besucher beinahe geräuschlos folgt. Viele Besucher berichten, sie hätten das Gefühl, die Tiere blickten ihnen direkt in ihre Seelen hinein.
Wer sich dem Gebäude nähert, empfindet die Geräusche der Natur angenehm gedämpft, nur das gelegentliche Krächzen der Raben ist deutlich zu vernehmen.
Von dem Weg aus gelangt man über fünf steinerne Stufen hinab in den Andachtsraum des Tempels, in dem es zu jeder Zeit dunkel, still und kühl ist. Der Duft von Weihrauch liegt in der Luft, nur einzelne Kerzen bieten gerade ausreichend Licht, um sich zurechtzufinden. Die einzige Verzierung in diesem sonst schmucklosen Raum bildet ein Deckenfries. Dies zeigt die verschiedensten Menschen: arm wie reich, Mann wie Frau, Greis wie Kind, dick wie dünn Hand in Hand zum Tanze aufgereiht. Sie alle tragen statt eines Hauptes mit Haut und Haar einen blanken Totenschädel auf ihren Schultern – ein Sinnbild dafür, dass alle im Tode vor dem Herrn Boron gleich sind.
Mehrere Holzbänke sind im Andachtsraum so in einem Halbkreis angeordnet, dass sich drei Gänge zum vorne liegenden Altar ergeben. Dieser ist ein Block aus schwarzem Stein und gänzlich unverziert. Auf ihm steht eine Statuette aus Ebenholz, die einen schlafenden Raben darstellt, flankiert von zwei silbernen Kerzenleuchtern - einer Spende an den Tempel zur Gründung. Der Altar steht vor einer Nische, aus der sowohl linker als auch rechter Hand je eine Tür abführt. Über dem Altar hängt ein großes, weißes Banner, bestickt mit dem schwarzen, herabstürzenden Raben Golgari.
Hinter den Türen verbergen sich verschiedene Räume, wie die Sakristei mit dem anliegenden Gemach der Geweihten, eine kleine Kochnische mit Vorratskammer und die Kammer des Novizen. Aktuell lebt hier neben Ihrer Gnaden Borada nur der Novize Mod.

Die Geschichte

Den sprichwörtlichen Grundstein für die Errichtung des Tempels wurde in den Zeiten der Zorganpocken gelegt, die in Tommelsbeuge im Jahre 930 BF gar grässlich wüteten – „wüteten“ sei dem Tommelsbeuger Hofmedicus Herrn Grabschaufler zufolge inkorrekt, da „wüten“ ein Subjekt voraussetze, das wüte und er weigere sich eine Krankheit als solches anzuerkennen. Dass ich hier nun dennoch vom „Wüten“ schreibe mag an meiner Sturheit liegen. Allerdings gefällt mir künstlerische Freiheit besser, weshalb ich den Sachverhalt bei allen weiteren Diskussionen fürderhin darunter verbuchen werde – und, so viel sei mir an dieser Stelle noch hinzuzufügen gestattet – wütete eben jene Krankheit dergestalt intensiv in unserem schönen Land, dass es eine marodierende Horde verfluchter Schwarzpelze auch nicht besser hinbekommen hätte.

Aber weiter im Text…

Täglich war man zu jener Zeit mit dem Tod konfrontiert, täglich wurde gestorben, täglich wurde getrauert. Nach einigen Monden gab es keine Familie, die nicht mindestens ein Mitglied an die schreckliche Krankheit verloren hatte, sodass der Ruf nach Beistand immer lauter wurde. So zog es die ersten Geweihten des Ewigen nach Tommelsbeuge, die sich von dort an den Lebenden, Siechenden und Toten annahmen. Sie holten die Verstorbenen, leisteten bei Hinterbliebenen seelischen Beistand, hielten Messen und spendeten Segen – und das beinahe täglich. Nicht wenige der Boronis steckten sich während ihres Schaffens an und gingen zu ihrem Herrn.
Zu jener Zeit gab es in Tommelsbeuge so viele Geweihte des Herrn des Todes, dass man sie in jeder größeren Siedlung antraf, und dennoch reichte ihre Anwesenheit nicht aus, um jeden Tod angemessen zu begleiten, sodass man noch heute von eilig verscharrten Leichen im Wald erzählt - nicht tief genug vergraben und ohne Grabsegen beigelegt - die wenige Tage später von einer Rotte Wildschweine widerentdeckt worden waren. Angeblich, wobei ich dies in das reich der Mythen verbannen und der Ausschmückung einiger phantasiereicher Tommelsbeuger zuschreiben möchte, soll sogar eine der Leichen erneut erhoben und einige Stunden durch den Treuklinger Wald gewandert sein, auf der Suche nach seiner Familie. Wenig zimperliche Eltern erzählen ihren Kindern von dieser Geschichte und behaupten, der "Eisige Alrik" würde noch immer durch den Wald wandern, um sie davon abzuhalten, selbigen allein zu betreten – für mich ein weiteres Indiz dafür, dass diese Geschichte eher der Phantasie als der Historie entspringt.
So oder so machten die Zorganpocken die Anwesenheit der Geweihtenschaft Borons unabdingbar. Doch hatten sie keinen festen Ort, an dem sie ihre Messen abhalten, sich zurückziehen oder in spirituelle Kontemplation gehen konnten, kurzum, es gab weder Tempel noch Schrein. Aus dieser Not machte man letztlich eine Tugend und legte im Jahr 931 BF den Grundstein für den Tempel. Der Bau zog sich gut drei Jahre hin, da Tommelsbeuge durch die Seuche auf gut ein Drittel seiner ehemaligen Bevölkerung dezimiert worden war, sodass sowohl Arbeiter als auch Ressourcen fehlten. Dennoch arbeitete man beständig an der Fertigstellung des Gotteshauses und konnte es 935 BF schließlich weihen. Gut einhundert Jahre nach den Zorganpocken sind nun auch die letzten derjenigen gegangen, die Zeitzeugen dieser Schreckenszeit waren, dennoch bleibt diese jüngste Geschichte unseres schönen Landstriches den Menschen in Erinnerung – genauso wie diejenige, an die aufopferungsvolle Tätigkeit der Geweihten des Ewigen, denen man deshalb bis heute zutiefst ehrfürchtig und dankbar gegenübertritt. Sicherlich tragen viele der Tommelsbeuger auch heute noch nebst Praios und Rondra vor allen Dingen den Herrn Boron im Herzen.

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Auszug aus "Unser Tommelsbeuge" von Rahjaehr