Saat des Grauens (Schatten über Rabenstein II)

Saat des Grauens

Ort: Rabenstein, MarktCalmir und die Rabensteiner Wälder

Zeit:: Ende Travia und Anfang Boron 1041 BF.

Beteiligte: Oberst Dwarosch, Hauptmann Antharax, Sohn des Angrox, Ihre Gnaden Marbolieb, die beiden Golgariten Richild von Moorbrück und Amalvin und einige andere.

Autoren: RekkiThorkarson und IseWeine

Inhalt: Die unlängst entdeckte Paktiererin (Still wie ein Stein) wartet nicht darauf, dass die Hatz gegen sie im Frühjahr beginnt, sondern dreht den Spieß um. 'Neun kleine Angroschim' im Winter im Schee erleben unschöne Dinge ... .

Gesamtdokument hängt an.

Ein unerwarteter Bote


Der kurze, heiße Bergsommer war vorbei, und auch der Herbst mit der Ernte, dem bunten, frohen Almabtrieb, war gekommen und wieder gegangen. Voll waren die Scheuern und Speicher der Bauern, und Mensch und Tier richteten sich ein auf die lange Ruhezeit des Winters, während die Herbststürme das Laub von den Bäumen pflückten und an den Läden rüttelten. Mit dem Travienmond, der in den Tälern noch die rotbackigen Äpfel und weitab im Gratenfelser Becken und Elenviner Land die vollen, süßen Trauben und weichen, flaumigen Pfirsiche reifen ließ, tanzten bereits die Gänsedaunen in den Bergwäldern und deckten die Föhren und Tannen mit ihrem weißen Schlummerkleid.

Der Bote, ein junger Mann in der Aufmachung eines Jägers, der sich an jenem Morgen in Senalosch nach Oberst Dwarosch durchfragte, trug denn auch schwere Bergstiefel mit dicken Socken und Kleidung aus wasserdichtem Loden und grobgestricktem Unterzeug. Eine Nachricht aus Calmir habe er für Oberst Dwarosch, wusste er zu berichten. Der Zwerg wunderte sich, hatte er doch mit dem Baron von Rabenstein regen Briefkontakt gehalten nach ihrem letzten Zusammentreffen. Gemeinsam war man überein gekommen, im kommenden Frühling eine großflächige Suchaktion in seinem Lehen durchzuführen, um nach Spuren der Frevlerin zu suchen, der man auf die Schliche gekommen war, aber leider nicht hatte habhaft werden können. Dwarosch streckte unter einem Stirnrunzeln die schwielige Hand aus, so dass ihm der Bursche die Botschaft überreichen konnte. Er löste eiligst die Schnur, die statt eines Siegels das grobe Papier zusammenhielt und las. Die Handschrift war ungelenk und das Papier mit einigen Klecksen besudelt – so, als sei der Schreiber alles andere als geübt und habe einen verbissenen Kampf mit den widerspenstigen Zeichen gefochten.
“Hoher Herr Oberst,

ich hoffe, der Bote findet euch schnell.

Wenn Ihr bitte gnädigst vorbeikommen wollt, das Balg abzuholen?

Ihre Gnaden hat mich letzten Götterlauf gebeten, dass ich Euch Bescheid sage, wenn sie nicht mehr ist. Das ist jetzt wohl so.

Firun zum Gruße, und seine elf Geschwister auch,

Aldaia Deringer, Jägerin Seiner Hochgeboren von Rabenstein“

Mit ungläubigen Blick las der Zwerg die Zeilen ein zweites und auch noch ein drittes Mal, bis schließlich die Erkenntnis in seinen Geist einsickerte und sich schwere Tränen aus seinen Augen lösten. Dwarosch wandte sich eiligst ab und gab seinem Adjutanten mit einer wedelnden Geste seiner linken Hand zu verstehen, dass er sich um den Boten kümmern sollte. Boringarth, welcher stets an der Seite des Oberst weilte, solange er tagsüber seinem Amt nachging, kam diesem Befehl sofort dienstbeflissen nach. Dwarosch hingegen zog sich zurück und gab sich ganz der Trauer hin. Sämtliche Kraft, aller Antrieb und jegliche Entschlossenheit schien ihn verlassen zu haben. Doch als die ersten Tränen getrocknet und der Schock dem Unverständnis wich, las er den mittlerweile zerknitterten Brief abermals, diesmal jedoch langsam und aufmerksamer. Das, was da geschrieben stand, warf Fragen auf, mehr als nur eine, und er musste so schnell wie möglich wissen, was geschehen war, um die Ungereimtheiten auszuräumen. Also rief der Oberst noch an dem Abend desselben Tages, da er die Botschaft vom Tode Marboliebs erhalten hatte, Antharax, seinen ersten Hauptmann und darüber hinaus einen seiner engsten Freude, sowie acht von ihm handverlesene Gebirgsjäger zusammen und brach im Schein mitgeführter Sturmlaternen nach Calmir auf.

Ein einsamer Tempel


Nicht schön und auch keinesfalls ungefährlich war der Fußweg durch den Eisenwald, insbesondere nicht des Nachts im Winter. Gegen Abend hatte wirbelnder Schneefall eingesetzt, der die Sicht zusätzlich erschwerte und die Nacht über anhielt. Bitterkalt wurde es, trotz der beständig weiterwachsenden Schneedecke, und auch die folgenden beiden Tage klarte es nicht auf, bis die Zwerge am Abend des übernächsten Tages, nach einem äußerst üblen Gewaltmarsch, schließlich in dem Rabensteiner Marktflecken eintrafen. „Schaut ob wir in der ‚Grauen Gans‘ oder im ‚Kelch und Rabe‘ unterkommen können. Ich geh derweil zum Tempel.“, wies der Oberst Antharax an und gab ihm auch seinen Spieß und den großen Rundschild zur Aufbewahrung mit.

Der Hauptmann nickte stumm und klopfte Dwarosch noch einmal aufmunternd auf die Schultern, bevor er mit den erschöpften und durchgefrorenen Soldaten abzog. Der Sohn des Dwalin seufzte schwer und schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln. Es würde ein sehr schwerer Gang führ ihn werden. Lange Momente stand er alleine auf dem gefrorenen Weg, unfähig sich zu bewegen durch die Angst vor der endgültigen Gewissheit. Der Schnee bildete langsam kleine Häufchen auf dem Pelzmantel über seinen breiten Schultern. Seine Kehle schnürte sich zu und er begann wieder zu weinen, jetzt wo das Ziel erreicht war und somit die Unwägbarkeiten des Weges, die Anstrengung von ihm abfiel. Als sich Dwarosch schließlich in Bewegung setzte, um dem Tempel des Boron entgegenzustreben, bewegte er sich nicht nur langsam, weil die Kälte jede Schicht seiner Kleidung durchdrungen und tief in seine Glieder eingefahren war, sondern auch, weil er den unausweichlichen Moment unterbewusst so lang wie möglich herauszögern wollte.

Das Tor des Tempels war geschlossen, schwang aber auf den Druck der Hand des Angroschim mit unheilverkündender Langsamkeit auf. Fünf Stufen führten hinunter in den Tempelraum. Stille und Dunkelheit herrschten hier, keine Kerze brannte, und kein lebendes Wesen war zu sehen. Es dauerte einige Atemzüge lang, bis sich die Augen des Angroscho an die fast vollkommende Dunkelheit gewöhnt hatten. Eine Gestalt neben dem Altar betrachtete ihn aus ruhigen, gütigen Augen ... zwei rasche Herzschläge später erkannte er in ihr die Marbostatue, die sein eigenes Geschenk an die Geweihte gewesen war. Auf dem Boden neben dem Altar waren mehrere sauber gefaltete Decken gestapelt, die es einem möglichen Gläubigen erlaubt hätten, sich hinzuknien – oder auch in die Arme des Herrn des Schlafes zu begeben. Einen Schritt vor dem Altar lag eine aus Lumpen gefertigte, kaum handlange und reichlich abgeliebt aussehende Puppe. Ein feiner, kaum wahrnehmbarer Duft nach längst kalt gewordenen Räucherkräutern hing noch in der stehenden Luft. Und unter Dwaroschs Stiefeln auf der Schwelle des Tempels sammelte sich eine Lache aus schmelzendem Schnee und vermengte sich mit anderem getrocknetem Schmutz an dieser Stelle, kaum zu sehen auf dem dunklen Stein der Stufen, die ansonsten, ebenso wie der gesamte Tempel, blitzsauber waren.



Dwarosch hob die Puppe auf und nahm sie an sich. Er steckte sie unter den dicken Pelzmantel, bevor er ungelenk vor der Marbo-Statue auf die Knie ging und still betete. Die milde Tochter war es, an die man die Worte richtete, wenn man den Sterbenden oder sich bereits auf Golgaris Schwingen befindende noch letzte Worte mitgeben wollte. Sie gewährte den Lebenden Trost und den Toten eine sanfte Ruhe. Sein Gebet an die Halbgöttin war geprägt von der innigen, flehenden Bitte um Milde, ja um Gnade für Marbolieb. Doch mit keinem seiner Worte, welche Dwarosch im Geiste formte ohne sie auszusprechen, akzeptierte er ihr Ende. Er wollte es immer noch nicht wahrhaben. Seine Gedanken hingegen kreisten stets um den Tod. Mühsam stemmte er sich wieder hoch, als er geendet hatte und entzündete eine einzelne Kerne mit dafür bereitliegendem Feuerzeug aus Stahl, Feuerstein und Zunderschwamm. Dann wandte er sich ab. Mit schweren Schritten seiner von der Reise und die Kälte strapazierten Beine verließ er den Sakralbau, schloss das Portal hinter sich und schlug den ihm bekannten Weg ein, welcher aus Calmir herausführte und zum etwas abseits liegenden Haus der Jagdmeisterin führte. Von ihr war die Botschaft gekommen.

Auf die Fährte


Wie schon bei seinen letzten Besuchen schlugen die Hunde an, kaum dass er auf ein Dutzend Schritt an das Jägerhaus herangekommen war. Geifernd und blaffend rannten sie bis zum Tor, das den mit einer Hecke und einem groben Holzzaun umfriedeten Garten zur Weg hin abschloss, und gaben Zeugnis von ihrer nimmermüden Wacht.
Ein scharfer Pfiff vom Inneren des Hauses rief sie zur Ruhe, und wenige Lidschläge später trat Aldaia ans Tor, umschwärmt von ihrem vierbeinigen Rudel. Als sie des Zwergen ansichtig wurde, verengten sich ihre Augen, bis sie schließlich, in jähem Erkennen, den Kopf zu einem knappen Gruß senkte. „Firun zum Gruß, Herr Oberst. Wollt Ihr hereinkommen?“ Viele Augenpaare, gebleckte Zähne und hängende Lefzen bedachten den Eindringling mit lauerndem Warten. Lediglich ein schwaches Nicken ließ Dwarosch vernehmen, dann trat er die Hunde gänzlichste ignorierend an ihnen vorbei ins Haus. Aldaia registrierte seine müden Augen, seine Erschöpfung, sie hatte wahrlich noch nicht mit ihm gerechnet. Aber sie spürte auch seine Anspannung aufgrund der Nachricht, welche sie ihm geschickt hatte. Einige Schritte im Inneren blieb er stehen, drehte sich nicht um und ließ mit einem Seufzer den Kopf auf die Brust sinken. „Wo habt ihr sie aufgebahrt? Bitte erzählt mir alles was ihr wisst, vom Anfang an? Und wo ist Mirla?“ Die Stimme des Zwergen war dünn, kratzig, ja fast heiser aber dennoch voller Erregung, purem Kummer und unbeschreiblicher Verzweiflung.

Ein besonders großer Wolfshund war seiner Herrin ins Haus gefolgt, während der Rest der Meute draußen blieb. Das zottige, braunschwarze Tier trottete zu einem Teppich vor dem Kamin, wo es sich niederließ und den Eindringling wachsam musterte. „Setzt Euch. Herr Oberst.“ In der schroffen Miene der Jägerin blitzte Mitgefühl auf, als sie einen großen Becher dampfenden Tees vor den Oberst stellte – und eine irdene Schnapsflasche daneben. „Wir haben die Leiche nicht. Die ist fort.“ Sie trank selbst einen Schluck, voll und ganz damit beschäftigt, ihre Gedanken zu ordnen. „Bemerkt haben wir’s, weil das Balg ohne Unterlass gebrüllt hat – einen Tag und eine Nacht lang. Als es dann immer noch nicht aufgehört hat, haben sie mich nachsehen geschickt. Die sind ja lieber in ihren warmen Häusern geblieben.
Ich hab’ dann den Bastard rausgeholt und zum Traviatempel gebracht. Sonst war da keiner. Nur im Eingang war ein ziemlich großer Blutfleck.“ Sie zuckte die Schultern. „Bei dem Wetter hätt’ ihre Gnaden draußen sowieso keine Nacht überlebt. Vor allem nicht, wenn’s so war wie letztes Mal. Also hab’ ich den Boten losgeschickt.“ Verdruss drückte ihre Gestik aus, darüber, dass ausgerechnet sie mit dieser Aufgabe betraut war – und, mehr schlecht als recht darunter verborgen, wachsende Unsicherheit darüber, ob sie richtig gehandelt habe – was sie mit erneuter Schroffheit zu verbergen trachtete. Der Oberst ruckte zu ihr herum.

Seine Miene war eine wilde Mischung aus Verwirrung, Bestürzung und unterschwelliger, ja mühsam unterdrückter Hoffnung. Zorn hingegen fand sie zu ihrer Erleichterung nicht auf seine Zügen. “Es war richtig mich zu rufen”, sagte Dwarosch bestimmt. “Wann genau ist das gewesen? Ich meine wie viele Tage ist es her?” Fuhr er mit nun deutlich erregterer Stimme fort und drang dann sogleich weiter verbal auf die Jagdmeisterin ein. Setzen wollte sich der Oberst ganz offensichtlich nicht. Alle Müdigkeit schien plötzlich aus seiner Haltung gewichen. “Lag zu diesem Zeitpunkt Schnee draußen? Gab es Spuren die vom Tempel weg führten, wenn ja wie viele und in welche Richtung? Habt ihr drinnen Kampfspuren gefunden, oder einen Gegenstand an dem Blut klebte? Wie viel Blut fandet ihr, könnt ihr das näher beschreiben, dies ist sehr wichtig? Wer hat im Tempel sauber gemacht? Ich war gerade eben selbst dort und mir ist nichts weiter aufgefallen. Es muss also jemand dort gewesen sein. Habt ihr ebenfalls einen Boten zum Baron geschickt? Er muss informiert werden über die Geschehnisse. Geht es Mirla gut?” Ließ Dwarosch einen wahren Schauer von Fragen auf Aldaia niedergehen und stoppte dann abrupt, selbst überfordert alles was in diesem Moment auf seinen Geist einstürmte in Worte zu fassen.

Bevor die so etwas überfahrene Jagdmeisterin jedoch antworten konnte, verengten sich die Augen des Oberst und seine Pupillen huschten hektisch hin und her. “Moment”, kam es etwas gedehnt. “Sagtet ihr ‘wenn es so ist wie beim letzten Mal?’”, zitierte der Oberst ihre vorher gewählten Worte. “Was meint ihr damit?” Dwarosch trat einen Schritt auf den dampfenden Becher zu, griff sich aber die Flasche und tat einen kräftigen Schluck, während er der Jagdmeisterin so erstmals die Gelegenheit gab auf seine Fragen zu antworten. Erst als er den Gebrannten mit zusammengekniffenen Augen wegstellte, nahm er den Tee in die Hand und lauschte sich selbst zur Ruhe zwingend Aldaias Worten. Die Jagdmeisterin hatte die Hände abwehrend erhoben bei dem Hagel an Fragen, der auf sie niederprasselte. Sie trat an den Tisch und goss sich einen großzügigen Becher aus der irdenen Flasche ein, den sie mit einem Schluck leerte. „Na, so wie bei den letzten beiden Geweihten. Die lagen eines morgens tot auf dem Boronsanger – ich denke jedenfalls, dass es nur die beiden waren, wir haben die Teile zusammen in einen Sarg gelegt zum Begräbnis.“ Die Jägerin warf einen Blick auf das Gesicht des Oberst und beeilte sich dann, hinzuzufügen. „Das ist schon fast zwanzig Götterläufe her, und nein, Hoher Herr, ich weiß nicht, was sie damals so zerfetzt haben könnte – ein Tier war’s sicher nicht.“ Der Wolfshund am Kamin hatte sich aufgerichtet, spitzte die Ohren und ließ angesichts der Anspannung im Raum ein grollendes Knurren erklingen. „Den Boten hab’ ich vor sechs Tagen losgeschickt. Es hat ordentlich geschneit, und vielleicht ein Spann lag er schon hoch. Sicher hab’ ich auch einen auf die Burg geschickt.“ Sie holte Luft und versuchte, die Fragen des Zwergen einigermaßen zu sortieren. „Woher soll ich wissen, wie es dem Balg geht? Ist das wichtig? Und im Tempel hat keiner geputzt – den hat das Mäus... Ihre Gnaden saubergehalten wie eine Milchmagd die Küche. Der Blutfleck war am Eingang – vielleicht so zwei, drei Schank – auf Stein sieht das immer mehr aus, als es ist. Ich hab’ ihn nicht weggemacht – und sonst sicher auch keiner.“ Sie hob die Schultern und schnippte ihren Hund, der noch immer grollend den aufgebrachten Zwergen musterte, an ihre Seite. „Zuerst einmal“, die Stimme des Zwergen grollte. Jetzt vernahm Aldaia doch zumindest einen Anflug von Zorn. „Kein Kind ist selbst Schuld an den Umständen seiner Geburt. Könnten wir uns also darauf einigen, keine abfälligen Worte zu verwenden, um Mirla zu benennen?“ Dwaroschs Augenbrauen hatten sich zusammengezogen und der Unmut war ihm nicht schwer vom grimmigen Gesicht abzulesen. Die Brauen der Frau zogen sich zusammen. „Sie ist was sie ist – Herr Oberst.“ Ein Grollen lag nun ihrerseits in der Kehle der Frau und wies darauf hin, dass es ihr Dach war, unter dem diese Unterhaltung stattfand. „Wenn ihre Gnaden nun bei ihrem Herrn ist, dann ist Mirla von nun an mein Ziehkind. Ich werde sie mit nach Senalosch nehmen und für sie sorgen, das versprach ich Marbolieb, falls ihr etwas zustößt.“ Er schnaubte und schüttelte den Kopf. Seine Augen starrten auf den Boden. „Sie muss eine dunkle Vorahnung gehabt haben.“ Nochmals nahm er die Flasche und tat einen Schluck. Diesmal war er aber wohl kleiner, oder er hatte sich an den Geschmack gewöhnt, denn er verzog keine Miene. „Fürs das erste ist sie im Traviatempel gut aufgehoben. Ich werde sie später besuchen und nach ihr sehen gehen. Doch zunächst muss ich alles wissen, was es zu wissen gibt. Ich werde mich nicht auf Vermutungen verlassen, ich muss wissen ob Marbolieb tot ist oder nicht. Ich brauche Gewissheit! Lasst uns bitte versuchen von nun an sachlich zu bleiben, das dient der Sache mehr als Spitzfindigkeiten.“ Der Oberst sah die Jagdmeisterin eindringlich an und wartete auf eine bestätigende Reaktion. Die Frau schnaubte, was wohl einer Bestätigung gleichkam, und nickte. Nur der Hund an ihrer Hand hatte die Ohren angelegt und blickte den Oberst mit gesträubtem Fell wachsam an. „Gut.“ Dwarosch nickte. „Ihr habt mir noch nichts zu meiner Frage betreffend etwaiger Spuren gesagt. Ihr seid die Jagdmeisterin des Barons. Sagt mir nicht ihr hättet nicht nachgesehen, das würde ich euch nur schwerlich abnehmen.“ Die letzten Worte war keine Frage, es war vielmehr eine Feststellung. „Es hat geschneit.“ Die Frau zuckte die Schultern, mit einemmal wenig interessiert. „Bis auf den Blutflecken über der Schwelle war der Tempel nicht unordentlicher, als das Ba... das Kind ihn schaffen konnte. Die Tür stand halb offen – und vor dem Tempel lag Neuschnee, den hat in der letzten Zeit keiner mehr betreten. Ich bin noch die Runde um den Tempel und den Anger gegangen – aber wenn da was gewesen sein sollte, hat der Schnee es zugedeckt.“ Sie bedachte den Oberst mit einem nicht allzu freundlichen Blick. „Ich habe noch das da gefunden – es lag auf dem Weg zum Tempel, schon innerhalb der Umfriedung, darüber ein paar Handbreit Neuschnee. Es dürfte da knapp zwei Tage gelegen haben, bis ich es gefunden habe.“ Sie legte ein in Leder eingeschlagenes Bündel vor dem Oberst auf den Tisch. Es klirrte metallisch, und offenbarte beim Aufschlagen einen Halsschmuck aus massiven, achteckigen Silberplatten, in die Rogolan- Runen eingraviert waren. Die Hälfte davon war mit schwarzem, geronnenem Blut überzogen. „Im Wald war ich nicht.“ Was einen deutlich größeren Perimeter um das Dorf bedeutet hätte. Mit etwas sanfterer Stimme fügte sie hinzu. „Das hätte nichts mehr gebracht, Herr Oberst – wenn da Spuren gewesen wären, dann wären diese mindestens anderthalb Tage erkaltet und vom Schnee bedeckt. Dwarosch schloss die Augen, als er die Kette sah, die sein Geschenk an Marbolieb gewesen war. Es versetzte ihm einen tiefen Schlag, es war wie eine Bestätigung, dass sie nicht mehr lebte. “Die hat sie von mir”, sagte er mit belegter Stimme in dem Augenblick, in dem er seine Augen wieder öffnete. “Danke. Sie wird mir zumindest ein Andenken sein.” Beklommenheit ergriff mehr und mehr von ihm Besitz. Die Erschöpfung drohte über ihn hereinzubrechen. Dwarosch nahm die Kette an sich und barg sie wie einen Schatz in den leicht zittrigen Händen, dann legte er sie sich selbst um den Hals. Seine Bewegungen waren fahrig. Er trat in Richtung Tür und drehte sich dann noch einmal um, die Hand schon am Knauf. “Wenn euch noch etwas einfallen sollte, ich werde im Borontempel schlafen, so lange meine Männer und ich hier verweilen. Sagt mir bitte auch, wenn ich Botschaft vom Baron oder den Golgariten habt.” „Das mache ich.“ Die Miene der Jägerin war verschlossen, und dennoch konnte sie den Anflug von Mitleid, der sie angesichts der Erschütterung des muskelbepackten Kriegers überrascht hatte, nicht ganz unterdrücken. Doch war ein Ende dieser Art der Geschichte mit der jungen Priesterin wohl zu erwarten gewesen. Sie schüttelte in Gedanken den Kopf ob deren Torheiten. „Ich kenne den Weg.“ Die ihn erwartende, frostige Luft machte seinen Kopf wieder ein Stück weit freier. Die erneut heraufsteigenden Tränen erreichten seine Wangen nicht. Dwarosch öffnete seinen Mantel, den er die kurze Zeit im Haus Aldaias nicht abgelegt hatte, um die Kälte willkommen zu heißen und während er wieder in Richtung Calmir stapfte reinigte sie seinen Geist. Es gab noch viel zu tun. Er musste sich zusammenreißen. Zunächst marschierte Dwarosch zum Gasthof und vergewisserte sich, dass Antharax und seine Männer untergekommen waren und sich von den Strapazen des Weges ausruhten. Der Oberst gab seinem Hauptmann Order am kommenden Tag zur zehnten, der Ingerimms- Stunde beim Borontempel zu sein. Von dort aus würden sie bei Tage eine Suche in der näheren Umgebung starten, auch wenn sich Dwarosch nicht viel davon versprach. Andere Ansätze gab es nicht. Des Weiteren gab er Anweisung, dass stets ein Mann Wache halten sollte über die ruhenden im Schlafsaal. Antharax kannte die düsteren Geschichten um die Alpträume des letzten Besuchs in Rabenstein nur zu gut und nickte daher zustimmend. Das Dwarosch noch in den Traviatempel wollte, um nach Mirla zu sehen und das er dann selbst im Borontempel nächtigen würde gefiel Athax nicht, doch behielt er dies für sich.

Der Tempel der gütigen Göttin

Beim Tempel der gütigen Göttin angekommen klopfte Dwarosch zunächst vorsichtig an der Tür des zweistöckigen Fachwerkbaues mit einem weit vorgezogenen schindel- (und schnee-) bedeckten Dach. Ein von einem Holzzaun umfriedeter Garten zog sich hinter dem Haus noch ein Stück weit, bis er an das Nachbargrundstück stieß. Die hölzernen Fensterläden waren für die Nacht geschlossen, doch aus dem Erdgeschoss drang noch Lichtschein hervor. Auf den breiten Balken um die Tür war ein Gänsepaar mit einer Schar flauschiger Küken mit mehr enthusiastischer als kunstvoller Hand als umlaufender Fries eingeschnitzt, und die Ausfachungen rechts und links der Tür waren mit gelben Kürbissen, leuchtend gelbem Fingerhut und einem umlaufenden Zierband bemalt. Auf das Klopfen des Zwergen öffnete sich vorsichtig ein Fenster im Obergeschoss und der behaubte Kopf einer Frau lugte daraus hervor. Sie leuchtete mit einer brennenden Stallaterne hinunter, so dass der Lichtkreis den gesamten Weg vor dem Tempel umfasste. „Wer seid Ihr und was wollt Ihr? Es ist schon dunkel!“ “Travia zum Gruß gute Frau. Verzeiht die späte Störung. Ich bin Dwarosch, der Sohn des Dwalin und ich möchte nach Mirla, der Tochter Marboliebs sehen.” Er hoffte, dass man ihm einlassen würde, doch wenn man ihn auf den kommenden Tag verwies wäre es auch nicht schlimm. Dwarosch war sich sicher, dass die Kleine im Tempel gut aufgehoben war, bis alles geregelt war. Ohne ein weiteres Wort wurde der Fensterladen zugeschlagen. Einige Augenblicke später öffnete sich die Haustür und eine großgewachsene, dürre Frau in der arangegelben Tracht einer Traviageweihten baute sich mit verschränkten Armen im Türrahmen auf. Mit zusammengekniffenen Lippen blickte sie auf den Zwergen herab. „Und was habt ihr mit dem Kind zu schaffen?“ Zwei senkrechte Falten standen auf ihrer Stirn. „Dann kommt um der guten Götter Willen eben herein. Travia zum Gruße.“ Dwarosch zwang sich zu einem Lächeln. „Habt Dank eure Gnaden.“ Er wählte einen ruhigen, leisen Ton und sprach weiter, als er hinter der Geweihten in das Haus trat, nachdem diese die Tür wieder verschlossen hatte. „Ich bin sogleich aus Senalosch, meiner Heimat aufgebrochen, als ich vom Tod Marboliebs erfuhr. Meine Männer und ich sind mehrere Tage fast ununterbrochen durch die Kälte marschiert und erst heute Abend angekommen. Ich musste erst mit der Jagdmeisterin seiner Hochgeboren sprechen, sie schickte mir einen Boten.“ Der Oberst blieb stehen. „Wartet bitte!“ Die Frau im orangefarbenem Ornat hielt ihrerseits inne und drehte sich mit fragender Miene zu ihm um. „Ich habe Marbolieb das Versprechen gegeben auf Mirla acht zu geben, wenn sie nicht mehr ist“, erklärte Dwarosch mit Wehmut in der Stimme, die darauf deutete, dass er einen ihm lieben Menschen verloren hatte. „Wenn ich die Umstände ihres Todes geklärt habe, werde ich ihre Tochter mit mir nehmen. Sie wird es gut haben in Isnatosch.“ Der Zwerg seufzte schwer. „Ich danke euch für die Obhut, die er Mirla gewährt. Solange ich weiß, dass sie hier im Tempel ist, weiß ich, dass sie in Sicherheit ist und dass es ihr gut geht.“ Die Geweihte betrachtete den Oberst über das Ende ihrer – spitzen – Nase hinweg. „Selbstverständlich ist sie hier in guten Händen. Ihr Name hier ist Travine – das südländische Zeug kann niemand aussprechen.“ Sie kreuzte die Hände vor der Brust. „Doch dass wir uns hier recht verstehen, Herr Zwerg: ich werde kein Kind an Kriegsvolk herausgeben. Und auch nicht an das Kleine Volk. Wenn, dann wird eine Familie sie als Kind annehmen können – wenn, und dies werden wir prüfen, diese ein anständiges, züchtiges und frommes Leben führen, ein unanfechtbares Gebaren haben – und für ihr Auskommen wohl Sorge tragen können. Ganz sicher aber nicht an einen einzelnen Mann – und auch an kein einzelnes Weib.“ Ihre Augen durchbohrten den Oberst schier und machten klar, dass er absolut keines dieser Kriterien erfüllte. Resignierend die Backen aufblähend musste Dwarosch erkennen, dass er diese Schlacht nicht gewinnen konnte und es so auch gar nicht erst versuchen brauchte, die resolute Geweihte würde ihn nicht als Ziehvater akzeptieren. Im Geiste schalt er Aldaia für den Bärendienst, dem sie ihm erwiesen hatte. Er würde schwergewichtige Fürsprecher brauchen, damit er Mirla aufziehen durfte. Doch das konnte waren, solange sie nur wohlauf war. “Gut. Ich werde heute Nacht nicht mit euch streiten, Eure Gnaden, auch wenn das heißt, dass ich das Wort, das ich gab, nicht halten kann. Doch wisset das mir die Mutter dieses Kindes viel bedeutet hat im Leben und das ich nichts leichtfertig gesprochen habe gegenüber ihr was das Kind betrifft.” Der Oberst nickte entschlossen, sich und seine Worte bekräftigend. “Doch nun lasst mich sehen dass Mirla friedlich schläft.” Der Name stand für ihn nicht zur Debatte, was seine Wortwahl bekräftigen sollte. “Dann werde ich euer Haus sofort wieder verlassen und eure Nachtruhe nicht länger stören.” „Kommt mit.“ Die Frau bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick, zuckte dann aber die Achseln und führte ihn in eine kleine Kammer im ersten Stock, in dem ein Kinderbett aus stabilen Brettern stand. Darin schlief das Mädchen, mit neben den Kopf gelegten, zu Fäustchen geballten Händen, die Kleinkinderaugen mit den langen, schwarzen Wimpern fest geschlossen, und das kleine Köpfchen zur Seite gedreht. Seine noch kurzen dunklen Haare ringelten sich in langen Wellen um die winzigen Ohren und ruhig und gleichmäßig ging der Atem des kleinen Geschöpfs. Das sonst so harte, grimmige Gesicht des Angroschim zeigte eine Wärme, die für ihn untypisch war und die die Geweihte vermutlich nicht erwartet hätte. Auf leisen Sohlen schritt Dwarosch näher und betrachtete Mirla. Ihr friedlicher Schlaf beruhigte ihn, gab ihm neue Kraft, versetze ihn durch die Erinnerung an ihre Mutter aber auch gleichzeitig einen tiefen Stich ins Herz. Dwarosch holte die zerschlissene Puppe unter seinem Mantel hervor, die er im Tempel gefunden hatte, beugte sich vor und legte sie vorsichtig, um das Kind nicht zu wecken, neben sie. Danach riss er sich wieder von Mirlas Anblick los und wandte sich ab, um leise wieder aus dem Zimmer zu gehen. Seine Augen waren feucht. „Wir werden sie zu einem züchtigen Mädchen erziehen – und nicht zulassen, dass sie Flausen in den Kopf bekommt oder einen liederlichen Lebenswandel führt.“ Versprach die Geweihte, als sie sie den Oberst zum Ausgang Tempels brachte. Das ‚anders als ihre Mutter’ klang ungesagt, aber mehr als deutlich in ihren missbilligenden Worten mit. Der Oberst blieb noch einmal in der Tür stehen. Wandte jedoch lediglich den Kopf zu der Geweihten. Sie sah, dass sich Tränen in dem Bartansatz auf seinen Wangen verfangen hatten. „Ich traf Marbolieb das erste Mal auf dem Weg Richtung Mendena. Ich würde nicht mehr leben, hätte sie mich nicht vor den dunklen Schatten der Erzdämonen geheilt, die auf meiner Seele lagen seit der Schlacht an der Trollpforte. Ich war fest entschlossen, nicht mehr heimzukehren. Urteilt nicht über sie, nur weil sie ein in euren Augen nicht traviagefälliges Leben geführt hat. Sie hat viel Gutes vollbracht in ihrem viel zu kurzen Leben.“ Die Miene der Traviageweihten verfinsterte sich bei seinen Worten und Dwarosch bemerkte, wie sie sich auf die Zunge biss, um nichts hierauf zu erwidern. „Travia und Ihre Geschwister mit Euch, Herr Zwerg.“ entließ sie ihn vergleichsweise versöhnlich nicht lange darauf in die kalte Winternacht. Es hatte endlich aufgeklart und der gefrorene Schnee knirschte unter den Sohlen des Zwergen. Kalt und klar und fern glitzerten Phexens Diamanten auf ihrem Mantel aus schwarzem Samt und Dwaroschs Atem stand in einer dicken Wolke vor seiner Nase. Auf seinem Bart sammelten sich die ersten Eiskristalle.

Blut im Haus des Todes

Dunkel und still empfing ihn der Tempel, wie ein leeres, abwartendes Grab. Zeit, so berichteten die alten Mauern, besaß er in solchem Überfluss, dass sie aufhörte, hier eine Rolle zu spielen. Ruhe verhießen sie und Frieden, die vergebliche Hast des Lebens vergessen, lange schon. Dwarosch nahm eine kleine, gusseiserne Sturmlaterne, welche im vorderen Bereich des Tempels hing, von ihrem Haken an der Wand, entzündete sie und knie sich im Durchgang von drinnen nach draußen nieder. Er wischte den gestampften Schnee vor der Türschwelle beiseite und suchte nach dem Blutfleck, welcher ihm beschrieben ward. Halb im, halb vordem Tempel erstreckte sich ein vielleicht zwei Spann durchmessender Fleck aus längst getrocknetem, dunklen Blut – gefroren und rot im Schnee vor der Tür (und vormals begraben unter einigen Handbreit Neuschnee), schwarz und krümelig (und mittlerweile durchsetzt mit dem Tauwasser von Dwarosch Stiefeln) auf den Steinplatten im Inneren. Einige Spritzer besudelten die Türlaibung, deutlich schwerer auszumachen vor dem dunklen Hintergrund. „Heda! Was treibt ihr da?“ Eine resolute Frauenstimme riss ihn aus seiner Suche. Seinem angespannten Gemütszustand war es geschuldet, dass sich der Zwerg seinen Instinkten folgend augenblicklich zur Seite warf und im Inneren des Tempels wieder auf die Füße kam. Dort presste er sich sogleich mit dem Rücken an Wand. Sein kurzstieliger Lindwurmschläger glitt wie von selbst in seine Hand. Dwarosch atmete einmal tief ein und aus bevor er antwortete. Seine Stimme war fest und bar jeder Erregung. Die jahrzehntelange Routine in derlei Gefahrensituationen kam zum Vorschein und übernahm die Kontrolle. „Ich bin ein Soldat des Herzogs und untersuche einen vermeintlichen Mord.“ Mit einer flinken Bewegung zog er die Sturmlaterne weg vom Durchgang während er sprach. Ohne die störende Lichtquelle würden sich seine Augen besser und vor allem schneller an die Dunkelheit gewöhnten. Vorsichtig bewegte er seinen Kopf Richtung der Öffnung und spähte hinaus. Der Schein einer Laterne floss über die Schwelle und er hörte schwere Schritte von zwei Paar Füßen. „Dann zeigt Euch mal, Herr Soldat.“ Die Stimme der Frau war bekannt, dennoch dauerte es einige Herzschläge lang, bis Dwaroschs aufgewühltes Gemüt sie der Landmeisterin Eisenbrücks zuordnen konnte. Der Lichtschein verharrte – die beiden schienen keinerlei Anstalten zu machen, sich ins Dunkel zu stürzen. „Wie kommt ihr auf Mord?“ “Euch schicken die Götter!” Erleichtert trat der Oberst in die Türöffnung und steckte die kurzstielige Axt dabei demonstrativ wieder in den metallischen Ring an seinem breiten Waffengürtel. Spieß und Schild hatte er Antharax übergeben, als er zum Haus der Jagdmeisterin aufgebrochen war. “Was sollte es denn sonst sein, wenn nicht Mord? Sie hätte ihr Kind niemals freiwillig zurückgelassen” rief er ihnen entgegen. Dann winkte Dwarosch die unerwarteten, aber ihm dennoch willkommenen Besucher herbei. Als Richild und Amalvin an ihm vorbei in den Tempel traten und er das Portal schloss, fuhr der Oberst fort. “Nein, ich glaube nicht daran, dass sie einfach verschwunden ist, dagegen sprechen auch zwei Blutspuren die ich gefunden habe, sowie jene Begegnung mit den untoten Kreaturen, sowie die uns gesandten Alpträume durch die sie offenbar beherrschende Paktiererin. Ihr werdet euch sicher ebenso mit Schrecken daran erinnern wie ich. Diese Vorkommnisse und Marboliebs Verschwinden, das ist kein Zufall.“ Seine Stimme ließ keinen Zweifel an seiner Überzeugung. “Darüber hinaus wurde mir eine in meinen Augen äußerst beunruhigende Tat zugetragen, die möglicherweise auch im Zusammenhang mit betreffender Frevlerin steht. Es sind hier schon einmal zwei Geweihte zu Tode gekommen und wurden so zugerichtet, dass sie nicht mehr eindeutig zu identifizieren waren. Sie wurden in Teilen vorgefunden. Dieses Verbrechen liegt über zehn Jahre zurück und liegt somit in der Spanne die der Baron uns genannt hat. Wusstet ihr davon?” Richild sah sich neugierig im Tempel um und nickte auf die Frage des Oberst. „Bruder Marbert und Bruder Hildegrimm – da war vor meiner Zeit, fast zwanzig Jahre her, aber ich habe davon gehört. Sie waren beide hier Priester – und wurden eines Morgens regelrecht zerfetzt auf dem Boronsanger gefunden. Es würde mich wundern, wenn ein anderer, nicht unsere Hexe, dafür verantwortlich gewesen wäre.“ Sie hatte ihre Inspektion des Tempelraumes beendet und diesen für enttäuschend unauffällig befunden. „Sie hat erzählt, dass die Unselige eine Verbindung zu ihr gefunden hätte – ich würde mich Eurer Vermutung anschließen.“ Sie ließ ihre Schultern kreisen, bis sie knackten, streckte sich und warf dem Oberst einen grübelnden Blick zu. „Wo habt ihr die Blutspuren gefunden?“ “Im Bereich der Türschwelle auf dem Boden.” Der Oberst wies auf das Eingangsportal. “Wenn ihr die Tür öffnet könnt ihr es sehen. Ich habe den Boden von Schnee befreit. Die Jagdmeisterin des Barons berichtete mir davon. Sie gab mir auch dies hier.” Er holte die Kette unter seinem Mantel hervor, so dass die beiden Golgariten sie sehen konnten. “Es war ein Geschenk von mir an Marbolieb. An ihr klebt ebenfalls Blut. Sie fand es außerhalb des Gebäudes, aber noch innerhalb der Umfriedung.” „Hm.“ Die Landmeisterin betrachtete erst die Kette, dann den Angroscho. „Auf ihre Besitztümer hatte es also wohl niemand abgesehen. Was auch immer es war, muss sie an der Schwelle – oder knapp vor dem Tempel – erwischt haben.“ Richild strich sich überlegend über ihre Haare, die, vermutlich dem Winter geschuldet, mittlerweile die Länge der Borsten einer Bürste erreicht hatten – und ähnlich widerspenstig schienen. „Vermutlich konnte es den Tempel, den geweihten Boden nicht betreten“, fügte Dwarosch hinzu. „Anzunehmen.“ Sie musterte den Boden mit interessierten Augen, kniete sich hin und versuchte die Ausmaße des Flecken einzuschätzen. „Sie war ein paar Fingerbreit kleiner als ich. Wenn sie nun hier stand ...“ Sie trat hinter die Schwelle „... und von vorn angegriffen wurde ... Amalvin, komm einmal her.“ Der Angesprochene trat mit mißtrauisch gerunzelter Stirn auf sie zu. „wie würdest Du mich dann attackieren?“ Der Oberst hob eine Augenbraue. Die Falten auf der Stirn des Graumantels verstärkten sich. Er warf seiner Vorgesetzten einen unzufriedenen Blick zu, schätzte die Breite des doppelflügligen Haupttores ab und sah dann auf Richild herab – er war fast einen Kopf größer. „Dolch oder Rabenschnabel.“ war seine kurze Antwort. Nun war es an der Landmeisterin, die Stirn in Falten zu legen. „Bei einem Dolchstich sinke ich kaum an Ort und Stelle in mich zusammen.“ Sie wandte sich an Dwarosch. „Waren das die einzigen Flecken?“ Im Tempel indes hatte sich nichts gefunden. Ein tiefes, zustimmendes Brummen war die Antwort des Zwergen. Richild fuhr fort. „Bei einem Hieb mit dem Rabenschnabel – wenn Du mich am Kopf gut triffst – laufe ich nicht mehr weiter. Kopfwunden bluten wie nix Gutes.“ Sie schüttelte den Kopf, zunehmend ärgerlich. „Das bringt uns so nichts. Amalvin, Du hast mich also niedergeschlagen ... und willst mich wegbringen. Mach das.“ „Ehrwürden!“ Ein Blick in Richilds Augen, die eine eigenartige Mischung aus Wissbegier und Unternehmungslust zeigten, ließ ihn verstummen. Pflichtschuldigst lud er sich die gerüstete Kriegerin auf eine Schulter und schwankte unter dem Gewicht. Dwaroschs Augen verengten sich, nun verstand er. Anerkennend nickte er. Der Oberst war ein eher praktisch veranlagter Charakter. Dieser Ansatz gefiel ihm. Amalvin wandte sich derweil um und stapfte langsam zum Tor der Einfriedung, die Tempel und Boronsanger umschloss. „Und währenddessen blute ich vor mich hin.“ kommentierte die Landmeisterin im Unterhaltungston und musterte den Schnee, der ihrem Begleiter dort, wo ihn noch nicht die Schritte des Zwergen und der beiden Golgariten niedergetrampelt hatten, bis zum Knie reichte. „Du kannst mich runterlassen.“ Mit einem erleichterten Schnaufen tat Amalvin, wie ihm geheißen, und rieb sich die malträtierte Seite seines Halses. Der Zwerg, welcher ihnen hinaus gefolgt war, wirkte nachdenklich. „Meint ihr, wir sollten unter oder besser im Schnee nach weiteren Spuren suchen? Die Jagdmeisterin meinte zu mir es hätte bereits Schnee gelegen, als sie hier war, um nach Marbolieb zu sehen. Bei meiner Ankunft hat es ebenfalls geschneit.“ Er rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. „Wir können es versuchen, aber ob es in der Dunkelheit viel Sinn macht wage ich nicht zu sagen. Antharax und acht meiner Gebirgsjäger werden morgen früh hierherkommen. Gemeinsam mit ihnen wollte ich bei Tageslicht die Umgebung des Tempels nach Hinweisen absuchen.“ Die Landmeisterin warf einen Blick in die Dunkelheit, einen weiteren zum Himmel und einen dritten auf den Oberst. Mitgenommen sah er aus. „Tauen wird es nicht – und heute Nacht wird sicher keiner hier Schnee schippen.“ Sie rieb die Hände aneinander und betrachtete die dicken Wolken, zu denen ihr Atem gefror. Wortlos wandte sie sich um und betrat den Tempel. „Amalvin, stellst Du die Pferde unter und holst das Gepäck?“ Sie betrachtete ihren Waffenbruder, der sich wortlos umdrehte und durch den Schnee davonstapfte – bemüht, wie Dwarosch mit Zustimmung bemerkte, auf den bisherigen Fußspuren zu bleiben. Scheinbar beiläufig wandte sie sich wieder an Dwarosch. „Es erstaunt mich, dass ihr hier seid. Ich dachte, Eure Wege hätten sich vergangenen Sommer getrennt.“ Sie klopfte sich die Stiefel ab. „Eine der Gästekammern für uns, eine für Euch.“ Ein unausgesprochener Widerstand ließ sie davor zurückschrecken, die Kammer der verschwundenen Priesterin zu okkupieren. Denn wie eine solche hätte es sich angefühlt. Unbehaglich ließ sie ihre Schultern kreisen – was auch immer hier nicht stimmte, sie würde dem nachspüren. Der Gestank, den diese Angelegenheit verbreitete, gefiel ihr nicht im Ansatz. „Das Wort eines Zwergen gilt sein Leben lang“, stellte er nüchtern fest. „Ich musste Marbolieb versprechen Mirla zu mir zu nehmen, falls ihr etwas zustößt.“ Oh ja, er war müde, das hörte man, auch wenn er sich tapfer Mühe gab, seine gewohnt vor Kraft strotzende Haltung zu bewahren. „Sie hatte vermutlich eine Vorahnung oder so etwas, ich kann es mir nicht anders erklären. Marbolieb wollte mir damals nichts Konkretes auf meine Nachfragen sagen, sie blieb vage und wich aus. Trotz unserer unbestreitbaren Differenzen, sie war der Meinung, dass unsere Freundschaft unserer Widersacherin, oder möglicherweise gar ihrer Herrin einen Weg in meine Träume, in meinen Geist ermöglichten, habe ich nie an dem Band gezweifelt, das wir seit dem Feldzug teilten.“ Ohne eine weitere Erwiderung abzuwarten stampfte der Oberst zu einer der vom Tempelraum abgehenden Türen. Als er die Tür schon offen hatte hielt er noch einmal inne, drehte sich jedoch nicht zu Richild um. „Eines noch. Auch wenn ich kein Mensch bin, so verfüge ich dennoch über ein zumindest ausreichendes Maß an Empathie, um bemerkt zu haben, dass ihr dem Band zwischen mir und Marbolieb immer skeptisch gegenüberstandet. Das ist euer gutes Recht, doch möchte ich euch bitten, dies außen vor zu lassen, bis wir sie entweder tot oder lebendig gefunden haben. Möge Bishdariel euch eine ruhige Nacht bescheren.“ So entging ihm auch der verdatterte Ausdruck, der kurz über das Gesicht der Landmeisterin huschte – und so schnell wieder verschwand, wie er gekommen war. „Meine Glaubensschwester werde ich nicht da draußen lassen, Herr Oberst. Und was Eure Freundschaft anbelangt, so ist dies Eure Angelegenheit. Nicht die meine.“ Den Göttern sei Dank dafür. „Möge Euch Boron ruhigen Schlaf schenken.“ Sie nahm einen großzügigen Schwung Decken über die Schulter und trug sie in die zweite Gästekammer. Wenig später traf auch Amalvin wieder ein, und nicht lange, und der Tempel kam zur Ruhe.

Nichts störte die Winternacht, während die Kälte draußen den Schnee mit einer Eisschicht überzog und die Äste der Bäume im Wald knacken und knistern ließ. Es schien fast, als reiche der eisige Hauch bis zu den Sternen, die fern und kalt und unbeteiligt am Firmament funkelten und blitzten – wie vielgestaltige, winzige Augen, die, in einem Fall nicht ohne Blinzeln, den Geschehnissen der kleinen, schnelllebigen Wimmelwesen weit unter ihnen folgten. Und doch wollte Dwaroschs müder Geist nicht so vollkommen zur Ruhe finden nach den Ereignissen dieses Tages. Immer wieder schreckte er hoch, das undeutliche Gefühl von dumpfer, lähmender Angst, dass wie eine vergessen geglaubte Erinnerung an ein verstaubtes Bild doch immer wiederkehrte, wie ein fauler Geschmack auf der Zunge. Es dauerte drei volle Kerzen, bis Müdigkeit und Erschöpfung den Zwergen dennoch einholten und er langsam wegdämmerte. Als der Morgen dann anbrach lag der Oberst endlich im tiefen, traumlosen Schlaf. Richild und Amalvin waren schon längst auf den Beinen und hatten bereits ihr Morgengebet vollendet und ein karges Frühstück aus ihrem Proviant eingenommen, als Dwarosch mit finsterer Miene aus seiner Gästekammer trat. Er war barfuß und trug lediglich eine wattierte Hose, über der sonst wohl die Kette lag. Sein massiger, muskelbepackter Oberkörper war nackt. Ohne ein Wort zu verlieren stapfte er zum Portal des Tempels und trat nach draußen. Was folgte waren derbe Flüche in unterschiedlichen Sprachen. Das, was die beiden Golgariten davon verstanden, ließ auf seine Vergangenheit als Söldner schließen. Niemand sonst würde solche, teilweise sehr derben Ausdrücke benutzen. Grund für diese verbalen Ausschweifungen war die Tatsache, dass er sich mit Schnee wusch, um sich von dem Schweiß des gestrigen Tages zu befreien, aber auch, um endlich munter zu werden. Als er die Tür des Tempels wieder hinter sich schloss sah er nicht minder grimmig aus als zuvor, doch zumindest schien er bei klarem Geiste. „Ich hoffe sehr, ihr habt besser geruht als ich.“ Die Landmeisterin blickte ihn an, runzelte die Stirn und nickte schließlich. „Ihr habt geträumt?“ ließ die Gegenfrage nicht lange auf sich warten, zeitgleich mit Amalvins „Guten Morgen“ – der noch immer dabei war, diesen unerwarteten Schwall an wüstesten Schimpfwörtern zu verdauen. Er war so manches gewohnt – doch zwei Drittel der Ausdrücke des erbosten Oberst waren ihm neu. „Nein“, kam es energisch und ein wenig mürrisch zur Antwort. „So schlimm war es dann doch nicht. Ich konnte nur keine Ruhe finden gestern Abend und es hat ewig gedauert bis ich geschlafen habe.“ „Wann werden Eure Begleiter eintreffen? Ich will mir den Schnee im Eingang ansehen – wollt ihr mich begleiten?“ Die Landmeisterin schien ausgeruht und erpicht darauf, dass Rätsel ihrer verschwundenen Schwester im Glauben anzugehen – oder auch nur darauf, die Sache hinter sich zu bringen und in ihr vergleichsweise gute geheiztes Ordenshaus zurückzukehren. Die einzige Wärmequelle im Calmirer Tempel war der Herd in der Küche – ähnlich wie bei fast allen Bauernhäusern hier im Dorf. Der Zwerg nickte leicht auf ihre Frage hin. „Gebt mir eine viertel Kerze mich anzukleiden und zu rüsten, dann begleite ich euch. Meine Männer werden zur Ingerimmstunde hier sein, also sehr bald.“ Mit diesen Worten schritt er festen und forschen Schrittes in seine Kammer. Er machte sich nicht die Mühe die Tür hinter sich zu schließen, betrachtete er die beiden Golgariten doch als Soldaten. Seiner Meinung nach brauchte man unter seinesgleichen keine Scham für irgendetwas empfinden und gerade er als Oberst hielt immer engen Kontakt zu den Männern und Frauen die unter ihm dienten. Dünkel in jedweder Form fand er albern. Es war seine Art Führungsstil, autoritär und streng, aber ohne Distanz. Die Soldaten mussten jederzeit spüren, dass er einer von ihnen war, das verband und stärkte das Wir- Gefühl und Moral der ganzen Einheit. Kurz darauf trat Dwarosch zurück in den Tempelraum. Die Kette klimperte leise unter dem dicken Pelzmantel, welche wohl aus dem Fell einer Horde weißgrauer Wölfe zu seien schien. „Wir können.“ Die beiden Golgariten hatten sich ebenfalls ein einen dicken, fellgefütterten Mantel über ihrer Rüstung gehüllt – obgleich der Winter in diesem Jahr davor zurückgescheut hatte, seine Zähne zu zeigen, und sich nur im ersten Vorgeplänkel amüsierte. Die Landmeisterin nickte auf die Worte des Obersten und trat zur Tür, kniete erneut neben dem halb freigelegten Flecken davor nieder und wischte den Schnee beiseite, bis sich die Umrisse einigermaßen klar abzeichneten. Spann um Spann räumte sie in penibelster Kleinarbeit den Schnee von dannen und wurde von einigen leuchtend roten Tropfen belohnt, die sich, an manchen Stellen bereits von den Schritten der gestrigen Ankömmlinge zertrampelt, den Weg entlang zogen. Einen halben Schritt Strecke räumte sie frei, dann blickte sie sich, mit zufriedenem Funkeln in den Augen, zu den beiden Männern um. Der Oberst trat daraufhin an ihre Seite und bückte sich, um die Blutspur nun noch einmal im Ganzen und unter Praios Lichtschein zu betrachten. „Könnt ihr aus dem getrockneten Blut und den Konturen des Flecken Erkenntnisse ziehen die uns in irgendeiner Weise weiterhelfen? Wir benötigen irgendeinen Anhaltspunkt.“ Fragte er Richild mit skeptischer Miene. Ihn brachte das gesehene anscheinend nicht wirklich weiter. Doch diese zuckte nur die Schultern. „Ich weiß, dass sie da lang getragen wurde. Für alles weitere bräuchten wir eine gute Fährtenleserin. Wir können vorn am Tor nochmal nachsehen.“ Das würde es ersparen, den gesamten Weg freizulegen. Richild musterte den Oberst mit leicht gerunzelter Stirn. „Ist unter Euren Leuten jemand, der gut darin ist?

Mit einem zustimmendem Brummen quittierte der Zwerg die Aussage der Landmeisterin und ging dann auf ihre Frage ein, nachdem sie geendet hatte. “Die Gebirgsjäger finden sich in der Wildnis recht gut zurecht und verstehen es Fährten zu lesen, um Gegner auch im unwegsamen Gelände zu verfolgen und zu stellen. Unter denen die mich begleiten befindet sich auch Xagur, der Sohn des Xyrosch. Er stammt aus dem Kosch, ist in Dumron Okosch geboren und aufgewachsen. Xagur hat in seinem Leben mehr Wälder als Tunnel gesehen und ist wohl das was ihr einen Waldläufer nennt. Wenn jemand einer solchen Fährte folgen kann, dann er.” „Gut“ Die Geweihte nickte, eines Problems ledig. Sie selbst wäre vielleicht einer Wildschweinfährte hinterhergekommen, wenn diese brav und plakativ vor ihr durch den Schnee zog – aber alles Weitere war eine Sache, die sie den Jägern und Fährtensuchern überließ.

Spuren im Schnee

Sie schlossen das Portal hinter sich und schritten weiter, den auch unter dem Schnee immer noch auszumachenden Pfad entlang. Am kleinen, hölzernen Tor der Umfriedung ging Richhild erneut in die Knie. Diesmal tat es ihr der Oberst gleich. Gemeinsam trugen sie Stück für Stück den durch Stiefel komprimierten Schnee ab, bis sie erneut auf einen Blutfleck stießen. Dieser war noch etwas größer, was wiederum deutliche Zeichen der Besorgnis in Dwaroschs Miene hervorrief. Der Oberst stand auf und rieb sich die Hände, um sie vom kalten Nass zu befreien, das an seinen Fingern klebte, als er Geräusche vernahm. Er blickte über die Schultern, den Weg, welcher vom Mittelpunkt des Marktfleckens zum Borontempel führte entlang und erkannte seine Soldaten mit Antharax an ihrer Spitze zu ihnen marschierend. Sein Freund hatte die Golgariten nebst ihm selbst längst entdeckt und hob die behandschuhte linke Hand zum Gruße. Die Rechte lag am Griff seines wuchtigen, runenverzierten Breitschwertes, welches er über die Schulter trug. Die Zwerge waren bis auf den Hauptmann, der wie Dwarosch einen langen Mantel über einer Kettenrüstung trugen, in komplette, engliegende Fellkleidung gehüllt. Darunter trugen sie gehärtetes Leder, leichte Rüstung für hohe Beweglichkeit und schweres Terrain in dem sie wie gewöhnlich zu operieren pflegten. Alle acht Gebirgsjäger hatten einen Rucksack auf dem Rücken, in dem sie ihre Ausrüstung bei sich trugen. An ihm war eine Reihe von Gegenständen befestigt, darunter aufgewickelte, gewachste Planen, ein kurzer Spaten, ein verschlossener Bolzenköcher, sowie eine, gegen die Witterung in einem dicken Tuch geschützte Armbrust. Eine langstielige Axt, mit einem schmalen, leichten Blatt, die ebenso für den Kampf, wie auch als Werkzeug gedacht war, steckte im Metallring am Gürtel und komplettierte gemeinsam mit dem obligatorischen Drachenzahn das Gesamtbild der Gebirgsjäger. Antharax und Dwarosch packten sich zum Kriegergruß bei den Unterarmen. “Landmeisterin, meinen ersten Hauptmann kennt ihr ja bereits”, begann der Oberst. Dann drehte er sich zu den anderen acht Zwergen. “Dies hier sind Brinarim, Rogatom, Hogodosch, Ferrizyna und Baschtox, die ebenso streitlustige wie diskutierfreudige Zogoltrina, sowie Andorgam, einer meiner besten Schützen und nicht zu vergessen Xagur, den ich bereits erwähnte”, stellte er seine Soldaten der Reihe nach vor und richtete sich dann sogleich an den letztgenannten. Dwarosch instruierte Xagur eine verfolgbare Fährte zu suchen, die mit den gefundenen Blutstropfen begann. Dieser nickte nur und machte sich sogleich ans Werk, indem er sich wie Richild und Dwarosch zuvor das freigelegte, getrocknete Blut ansah. Danach sprach der Angroschim mit seinen Kameraden. Da er dies auf Rogolan tat verstanden die Golgariten nicht, was er sagte, doch wies seine Gestik darauf hin, das er wollte, dass sie aufgefächert die Umgebung absuchten. „Dann woll’n wir mal.“ Richild warf sich ihren Rucksack auf den Rücken, nickte Amalvin zu, der ein gleiches tat, und machte sich bereit, den Angroschim zu folgen, die, als sich die Fährte auf der vielbegangenen Hautstraße des Dorfes verlor, begannen, einen Kreis um das Dorf zu ziehen – mit einer nur dem kleinen Volk eigenen Gründlichkeit. So dauerte es auch – beäugt von den teils neugierigen, teils misstrauischen, teils vollkommen gleichgültigen Dorfbewohnern nebst einer Schar naseweiser Kinder – bis zum frühen Nachmittag, bis es Xagur gelang, einige weitere Blutstropfen rahjawärts des Dorfes, noch nördlich der Via Ferra zu finden, die nach wenigen Schritt ins Dickicht des Waldes führten. Während Dwarosch und Antharax sich an die Außenseite der aufgefächerten Linie der Zwergen setzten, welche sich durch das Gebüsch schlugen, liefen Richhild und Amalvin kurz hinter dem Zentrum und hielten wie der Oberst und sein Hauptmann nach etwaigen Gefahren Ausschau. Die Spurensuche war kräfteraubend und sehr zeitaufwendig bei der vorherrschenden Witterung, doch wurden die Angroschim immer wieder durch kleinere Funde von Blut oder abgebrochenem Geäst im Unterholz belohnt, so dass man sich stetig immer weiter von Calmir entfernte. Dennoch kam die Gruppe nur langsam vorwärts, und die Mittagsstunde war schon vergangen, als die Fährte die Via Ferra querte und erst nach geraumer Zeit rahjawärts der Straße wieder aufgefunden wurde. Den Angreifer mochte der Weg vielleicht ein oder zwei Wassermaß gekostet haben, nicht einen ganzen Tag. Hinter der Straße wurde die Fährte rasch wieder vom dichten Mischwald verschluckt, der langsam anstieg und mehr und mehr von Nadelgehölzen durchsetzt wurde. Selbst am Tag war es dämmrig unter den dichten Wedeln, doch hatten unter den Bäumen Wind und Schnee weitaus weniger Macht, so dass die Suche nach Spuren weitaus einfacher war als draußen im freien Feld. Rot wie Almadine funkelten die gefrorenen Blutstropfen im Schnee und gaben alle paar Schritt Zeugnis vom Weg ihrer Beute, welche doch die Dunkelheit ein weiteres Mal aus der Reichweite der Jäger zu ziehen trachtete. Jeder rote Flecken vergossenen Lebenssaftes machte Dwarosch unruhiger, ließ seine Miene verhärten. Er behielt den Spieß stets fest umklammert. Seine Augen streiften beständig argwöhnisch hin und her, als erwarte er eine Falle oder Hinterhalt. Nur wenig Pausen gönnte der Oberst der Gruppe. Er trieb sie beharrlich an, ermutigte sie und ließ niemals einen Zweifel daran, dass er die Suche zu einem Ende führen würde, egal was kommen mochte. Er würde aus purer Sturheit schlicht nicht akzeptieren, dass sie die Fährte verloren. Und doch, Dwarosch wurde zusehends misstrauisch. Er hatte ein seltsames Gefühl. Etwas stimmte nicht. War es pures Glück, dass sie der Spur zu folgen vermochten bei all der Zeit, die seit Marboliebs Verschwinden vergangen war, und noch dazu im Schnee? Als sie am späten Nachmittag auf einer kleinen Lichtung Rast eingelegt hatten, wandte sich der Oberst an Richild. „Was denkt ihr, ist uns der Listenreiche gewogen, oder will derjenige. der Marbolieb niederschlug und mit sich nahm, dass wir seiner Fährte folgen?“ Die Landmeisterin rieb sich ihre Hände und grübelte einige Augenblicke, ehe sie antwortete. „Vermutlich hat der Entführer nicht gedacht, dass ihm jemand folgen würde. Von den Dörflern würde das keiner tun, und der Baron ist unterwegs nach Punin.“ Sie folgte mit den Augen der dicken Dampfwolke, die ihr Atem in die kalte Luft zeichnete. „Ich kenne mich nicht gut mit Fährtensuchen aus – da müsst ihr euch auf Xagurs Aussage verlassen. Aber zumindest sorgt der Schnee dafür, dass die Blutspuren sichtbar bleiben. Wir dürften jetzt zwei Wegstunden von Calmir entfernt sein – unser Entführer muss schon ganz schön kräftig gewesen sein.“ Sie verbarg ihre Handschuhe unter ihren Mantel – auch wenn der Winter längst noch nicht seine ganze Macht zeigte, war es empfindlich kalt. Sie bedauerte bereits jetzt, die Pferde in Calmir zurückgelassen zu haben – doch würden ihnen die Tiere herzlich wenig nützen, wenn es in unwegsameres Gelände ging, und davon gab es in Rabenstein überreichlich. „Einen Hinterhalt auf den vagen Verdacht hin, dass irgendwann jemand die Spur aufnimmt, halte ich für unwahrscheinlich. Eher eine Falle, wenn jemand wirklich fleißig war.“ Der Oberst nickte. „Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Marbolieb ist nicht schwer, aber sie über eine so langen Zeitraum durch den Schnee zu tragen dürfte dennoch ein kaum leistbarer Kraftakt sein. Das bringt vielleicht neue Variablen ins Spiel.“ Dwarosch wiegte abwägend den Kopf hin und her. „Die durch den Schnee schlurfenden, langen Spuren eines Packtieres hätten wir vermutlich auch jetzt noch erkennen können und würde ihn oder sie zwangsläufig an die Straße binden. Die Passagen durch das Unterholz wären nicht gangbar gewesen für ein großes Tier. Anstatt dessen frage ich mich ob es mehrere Personen waren oder besser gesagt sind denen wir folgen.“ „Zwei“ kam brummend die Antwort von Xagur. „Vielleicht drei, hier im Wald scheint einer auf die Gruppe gewartet zu haben. Jedenfalls haben er oder sie sich nicht die Mühe gemacht ihre Spuren zu verwischen.“ Dwarosch stand auf und hielt die Soldaten dazu an aufzubrechen, wobei er alle darauf hinwies auf Fallen zu achten. Nachdem sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatten, nahmen Antharax und er selbst wieder die Positionen an den Außenflanken der Formation ein.

Ein Plausch am Lagerfeuer

Es geschah wenig genug, abgesehen von einem aufgescheuchten Häher und einmal einem Fuchs, der den Weg der Angroschim kreuzte und die Gruppe mit kritischem Blick beäugte, ehe er ins Unterholz davonschnürte. Schließlich brach die kurze Dämmerung des Winters herein, ließ die Schatten der Bäume wachsen und den Himmel sich erst ins Hellblau, dann ins Dunkelgrau färben. Die Landmeisterin blickte den Oberst fragend an. „Wollt ihr versuchen, die Spur im Dunkeln zu finden, oder sollen wir ein Nachtlager einrichten?“ Der Zwerg gab ein unwilliges Grunzen von sich. Seine finstere Miene verriet, dass er sich diese Frage schon eine ganze Weile stellte und noch zu keinem eindeutigen Entschluss gekommen war. „Was würdet ihr vorschlagen?“ Fragte er Richild. „Ich selbst bin zwischen kaum kalkulierbarer Gefahr für meine Männer und natürlich euch und dem Drang hin und her gerissen Marbolieb zu finden, ob nun tot oder lebendig.“ Er seufzte. „Wobei ich eingestehen muss, dass eine Nacht mehr oder minder nach all der Zeit kaum ins Gewicht fallen dürfte. Entweder Golgari hat sie bereits längst zu ihrem Herrn geholt, oder sie lebt und wird in Gefangenschaft gehalten.“ Richild blähte die Backen und gab einen wenig damenhaften Ton von sich. „Es sind Eure Fährtensucher. Wenn sie der Meinung sind, im Dunkeln nichts zu übersehen, lasst sie weitermachen. Ich weiß ebensowenig wie Ihr, was mit Marbolieb geschehen ist, und ich würde mir ungern vorwerfen, dass ihr Ableben an meiner Saumseligkeit lag.“ Sie rieb abermals ihre Handschuhe aneinander. „Ansonsten suchen wir uns einen guten Lagerplatz.“ Seufzend ergab sich Dwarosch der Situation. Er durfte kein unnötiges Risiko eingehen, auch wenn alles in ihm danach verlangte einfach stur weiter zu marschieren. Doch es war falsch sich in seinen Entscheidungen von Gefühlen und persönlichen Befindlichkeiten leiten zu lassen. Das hatte er bereits vor sehr langer Zeit lernen müssen. Hier ging es schließlich um mehr als ihn. Er trug Verantwortung. Am Ende konnte es sich genauso fatal auszahlen, wenn sie im Dunkeln in eine Falle liefen und dadurch aufgehalten werden würden, als wenn sie nun einfach rasteten und die Nacht über neue Kraft schöpften. “Ich will vier Doppelwachen über die Nacht”, sagte der Oberst kurz darauf, als sie einen passenden Lagerplatz im Windschatten einer steil aufragenden Felsnadel erreicht hatten und die gesamte Gruppe dabei war, den Platz passend herzurichten. Das Feuer brannte bereits. Der Platz um die zerklüftet aussehende Gesteinsformation war frei, bildete eine kleine Lichtung im sonst so dichten Rabensteiner Wald auf den Rücken des Eisenwaldes. Noch einmal prägte Dwarosch seinen Männern ein, dass sie die Schlafenden im Auge behalten sollten. Dann sah er zu den beiden Golgariten hinüber. “Könnt ihr etwas zu unserem Schutz tun, so wie ihre Gnaden es tat?” Amalvin gab den Blick umgehend an seine Landmeisterin weiter, die knapp nickte und einen Schutzkreis um das Lager zog. Wenig später bemerkte sie, zu dem Oberst gewandt „Ich nehme die Hundswache – mit einem von euch.“ Wenn etwas geschehen würde, dann vermutlich zu diesem Zeitpunkt. Zufrieden wärmte sie sich die Hände an dem prasselnden Feuer und musterte die Gruppe mit wachen Augen. „Warum, Oberst, glaubt Ihr, dass sie Euch und Euren Leuten Träume senden kann?“ Angroschim träumten niemals, so hieß es. Und doch hatte sie selbst erlebt, wie ein Alptraum den Obersten heimsuchte – eine Sache, die ihre Schwester im Glauben so sehr erschüttert hatte, dass sie, die erfahrene Traumdeuterin, sich schließlich verwirrt an die Golgaritin gewandt hatte. Wenn die Paktiererin nun auch noch die anderen Zwerge heimsuchen würde, dann stünde ihnen eine wahrlich ungemütliche Nacht ins Haus. Sie schüttelte sich, und konnte das unangenehme Gefühl zwischen ihren Schulterblättern doch nicht loswerden. „Weckt mich zur Hundswache“, sagte der Oberst bestimmt, als er sich seine Pfeife ansteckte. Kurz darauf breitete sich der würzige Geruch seines Tabaks aus Brabak aus. Mit einem Naserümpfen kam Dwarosch dann auf die Frage Richilds zurück. „Ich weiß zumindest, dass sie bereits einmal in meinen Träumen war.“ Er lehnte sich gegen den Fels in seinem Rücken zurück und schien sich zu entspannen. „Meine Männer haben dieses verfluchte Artefakt in der Höhle nicht angefasst, sie waren nicht dort. Ich denke dieser Schädel ist oder besser war sie eine Art Fetisch für diese Hexe, mit dem sie Verbindung zu unserem Bewusstsein herstellen konnte. Deswegen hoffe ich, dass sie wenn, nur Zugang zu meinen Träumen wird finden können.“ Dwarosch lehnte sich kurz vor, um sich seine Feldflasche zu nehmen und einen Schluck zu trinken. Als er es sich wieder bequem gemacht hatte und zur Landmeisterin auf sah lag eine Frage auf seinen Lippen. „Was denkt ihr, wie sie es vermochte einen Angehörigen meines Volkes träumen zu lassen?“ Richild zog eine flache Flasche auf ihrem Rucksack, setzte sie an die Lippen und trank einen großzügigen Schluck. „Das hättet Ihr Marbolieb fragen müssen – sie hätte vermutlich eine Antwort gehabt.“ Als sie dies noch möglich war. Die Landmeisterin verzog das Gesicht, als der scharfe Brannt ihre Kehle wärmte. Schweigend bot sie das Metallgefäß dem Oberst an. „Ihr habt den Schädel ebenfalls nicht berührt.“ Nur die Priesterin – doch diesen Gedankengang verschwieg sie wohlweislich. „Ich habe Marbolieb im Herbst besucht.“ fuhr sie schließlich fort. „Es ging ihr nicht besonders gut. Sie grübelte, wie die Verfluchte einen so direkten Zugang zu Eurem Geist finden konnte.“ Die Landmeisterin legte die Arme auf ihre Knie und blickte den Oberst an, prüfend, als habe sie ein wahrlich seltsames Exemplar einer exotischen Spezies vor sich. „Sie berichtete, dass die Berührung zwischen ihr und der Paktiererin durch den Schädel entstand, und die Malefice es darüber schaffte, die Verbindung zwischen Euch auszunutzen und auf Euch überzugreifen. Ohne dämonische Präsenz, so meinte sie, wäre es nicht möglich, einem Zwergen Träume aufzuzwingen, insbesondere, da Euer Geist durch die Siebtspährigen bereits einmal berührt war.“ Die Augen der Landmeisterin waren hellwach, als sie die Züge des Obersten durchforschte. „Sie zumindest war davon überzeugt. Ich würde keinem Dämonen mehr Macht zuschreiben als den Zwölfen – aber was Euch da berührt hat, war keinesfalls heilig.“ Der Zwerg schlug die Augen nieder, als Richild von ihrem Besuch bei Marbolieb berichtete. Er machte sich anscheinend Vorwürfe wegen ihres schlechten Zustandes, es beschämte ihn vielleicht sogar. Er seufzte schwer. „Der jenseitige Mordbrenner fuhr tief in meine Seels an jenem Tag da ich mit meinen Männern den Todeswall stürmte und hielt. Gleichzeitig war IHRE Präsenz so allgegenwärtig, dass es im Rückblick fast unmöglich gewesen wäre, nicht von IHR berührt worden zu sein. Die Schlacht an der Trollpforte war eine Zäsur in meinem Leben und sie hätte mich, wie so vielen anderen fast den Verstand, etliche Jahre später noch beinahe das Leben gekostet, hätte ich Marbolieb nicht getroffen. Sie leitete mich an all das zu verarbeiten, ebenso wie sich mich den Glauben an euren Herren lehrte. Ich bin ein Spielstein des Herren der Schlachten, der wie die Sturmherrin ein Widersacher des Mordbrenners ist. Jedenfalls ist dies meine Überzeugung. Kor sendet mir Tagträume, Visionen und manchmal erscheint er mir auch im Schlaf. Ich hatte lange Zeit Schwierigkeiten, das zu begreifen und zu akzeptieren. Die Geweihten des Allvaters behaupten, ich sei durch mein langes Leben auf der Oberfläche und dem vielen Kontakt zu Menschen sensibel geworden für derlei Dinge.“ Dwarosch blickte auf. Seine Mundwinkel waren zu einem spöttischen Ausdruck verzogen. „Amalvin wurde auch heimgesucht von der Hexe.“ Dwarosch warf einen Seitenblick zu dem Golgariten und nickte ihm zu. Es war eine Geste die Verbundenheit, aber auch Respekt ausdrückte. „In mir steckt kein dämonischer Funke, falls ihr das mutmaßen solltet. Ich bin wahrscheinlich lediglich empfänglich. Etwas was sehr selten vorkommen mag bei meiner Rasse.“ „Möglich.“ Wissbegierde brannte hell in den Augen der Golgaritin und rang in ihnen mit Skepsis, als sie dem Oberst zustimmte. „Amalvin ist ein Mensch und nicht geweiht.“ fügte sie mit einem knappen Blick auf ihren Kampfgefährten zu. „Er ist ein vergleichsweise leichtes Opfer. Doch was Euch anbelangt ... .“ Sie zuckte die Schultern. „Marbolieb meinte, dass Ihr diesbezüglich besonders ... verletzbar wärt. Eine offene Stelle in Eurer Rüstung, wenn ihr so wollt. Das beunruhigte sie wohl mehr, als sie zugeben wollte.“ Die Landmeisterin stand auf und klopfte sich den Schnee von den Stiefeln. „Macht Euch keine Sorgen. Ihre Probleme lagen längst nicht nur an Euch, und für Arbeit mit Träumen war sie ausgebildet. Sie war eine der besten Traumgängerinnen, die ich kannte. Auch wenn sie es nicht mochte – ihre Finger konnte sie noch nie von spannenden Problemen lassen.“ Sie streckte sich und gähnte. „Ich bin müde. Wollt Ihr mir noch beim Gebet Gesellschaft leisten?“ Nachdenklich über die Worte Richilds dauerte es eine Weile bis der Oberst stumm nickte und sich träge erhob. Er kniete sich mit einem schepperndem Geräusch seiner Rüstung unter den dicken Pelzen neben die Landmeisterin und legte die Hände auf seine Schenkel. Die Soldaten hatten unterdessen den Platz von Schnee befreit und ihre Schlafplätze im Halbkreis um das Feuer und ihrem Befehlshaber samt der Golgariten eingerichtet. Auch sie schienen im Begriff zu sein sich zur Ruhe zu legen. Zwei von ihnen, Hogodosch und Ferrizyna würden die erste Wache übernehmen und die Zwergin schickten sich an, sich die Beine zu vertreten, um in Sichtweite des Feuers nach dem Rechten zu sehen. Richild folgte mit ihren Blicken der Zwergin und nickte, einverstanden mit dem, was sie sah. Sie kniete sich neben den Zwergen und versenkte sich schweigend ins Gebet. Länger als sonst dauerte es, bis die Ruhe und Gleichmütigkeit, die ihn bei der Zwiesprache mit dem Unergründlichen begleiteten, Einzug in den Geist des Zwergen hielten. Viel zu rasch erhob sich die Landmeisterin wieder und hob die Hände, ihren Segen dem Zwergen und Amalvin, der schweigend zu ihnen getreten war, zu spenden.

Rasch wich die kurze Winterdämmerung der Dunkelheit, und Stille legte sich über das Lager, unterbrochen nur von den Schlafgeräuschen einiger Angroschim, die im Träume den sie umgebenden Wald zu Scheiterholz sägten. Die Sterne zogen ihre Kreise und funkelten in der klaren, kalten Luft, und der Beginn der Hundswache nährte sich, verharrte und schritt vorüber, ohne dass jemand den Schlaf des Obersten störte.

Neun kleine Angroschim ...

Dwarosch öffnete blinzelt die Augen und erschrak augenblicklich über fortgeschrittenen den Stand des Madamals. Warum hatte man ihn nicht geweckt? Seine Instinkte schrien. Sofort war er hellwach und wuchtete seinen massigen Oberkörper hoch in eine sitzende Position an der Felsnadel. Angespannt blickte er hastig sich um. Um ihn herum schliefen seine Reisegefährten den Schlaf der Gerechten. Nur die beiden Wachen, die ihn am Ende ihrer Schicht hätten wecken sollen, fehlten. Der Schnee ums Lager wies Fußstapfen auf, doch nichts, was auf einen Kampf hätte hindeuten können. Die Augen des Oberst zogen sich soweit zusammen, dass seine Augenbrauen fast eine geschlossene Linie bildeten. Was ging hier vor? Mit steifen Bewegungen aufgrund der Kälte, welche in der Nacht in seine Glieder gefahren war, richtete sich Dwarosch auf, nur um dann bei den Lagern von Richild und Amalvin wieder in die Knie zu gehen. Er fasste beide an die Schultern und ruckelte kurz an ihnen. „Wacht auf. Es ist möglicherweise etwas passiert“, sagte er leise, als die beiden Golgariten sich regten und ihrerseits die Augen aufschlugen. Diese Worte bewirkten wiederum schneller, als die Kälte dies vermochte, dass beide hellwach waren. „Was ist passiert?“ Die Landmeisterin schob ihren Rabenschnabel an die Halterung an ihrem Gürtel, beäugte ihre Rüstung und entschloss sich, dass die angemessene Bekleidung eine gute Sache wäre. Sie legte die Plattenteile, die sie über ihrem Kettenhemd trug, an – und half dann im Gegenzug ihrem Waffenbruder bei dessen Rüstung. Und bemerkte das offensichtliche. „Wo ist die Wache?“ „Wohl im Wald verschwunden“, antwortete der Oberst knapp. Ärger über das nachlässige Verhalten seiner Soldaten schwang in seiner Stimme mit. Sie hätten nicht beide das Lager verlassen dürfen, ohne jemanden zu wecken. Der Zwerg rüttelte auch die anderen nacheinander wach und gab sogleich Order sich zu bewaffnen, die Armbrüste mit Sehnen zu bestücken und zu spannen. Dwarosch wollte so schnell wie möglich den deutlich zu erkennenden Spuren im Schnee folgen. Es war immer noch dunkel – die Morgendämmerung würde sicher noch vier Stundenkerzen auf sich warten lassen. Doch im Gegenzug zu der Spur, die Marboliebs Entführer hinterlassen hatte, waren die Schritte der Zwerge gut zu erkennen. Beide Spuren wiesen geradlinig vom Lager fort, auf eine Ansammlung großer Tannen, unter deren Zweigen es stockfinster war. Xagur runzelte angesichts der Spuren die Stirn. „Sie sind nicht gleichzeitig da lang gelaufen“ erklärte er schließlich. „Erst einer. Vielleicht ein achtel Wassermaß später der zweite.“ Langsam und aufmerksam folgte er der Spur, gedeckt von den Armbrüsten seiner Kampfgefährten, die aber wohlweislich einige Schritt hinter und seitlich von ihm blieben. Das Licht der Sturmlaternen der Gruppe zeigte, wie die Fährten sich bis unter die Stämme der Tannen begaben. Vielleicht dreißig Schritt weiter fand sich eine größere Fläche zertrampelten Schnees, an einer Stelle von einem großen, almadinrot leuchtenden Flecken durchtränkt. Xagur runzelte die Stirn und beschäftigte sich eine ganze Weile mit den Fährten, die hier alles andere als eindeutig waren. „Hier hat jemand gewartet. Zwei Personen. Menschen wohl. Das Blut stammt von einer Person, die zu Boden fiel – einem von uns. Die anderen drei scheinen nur hier gestanden zu haben – eine Weile lang. Und hier führen die Spuren von drei Leuten weiter. Zwei Menschen. Ein Angroscho.“ Er wies auf die Fußstapfen. „Und letzterer hat ein schweres Gewicht getragen. Seht her – hier sind auch noch einige Blutstropfen.“ Wenige – kaum ein halbes Dutzend. Zehn Schritt weiter verschwanden auch diese, und nur noch die tiefen Fußspuren blieben übrig, gerade und zielstrebig – so, als hätten die drei sich für einen Nachtmarsch gewappnet. „Mist.“ kommentierte die Landmeisterin die Situation und betrachtete den Oberst, mit der stillen Frage, wie dessen Meinung nun laute. Dwaroschs Augen zuckten hin und her. Seine ganze Haltung zeugte von der Anspannung, die er verspürte. „Brinarim und Rogatom fehlen.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Beides zuverlässige Männer, die mich bereits oft begleitet haben. Ich glaube nicht, dass sie das Lager freiwillig ungeschützt zurückgelassen haben. Nein“, er schnaubte, „ich bin mir sicher, denn ich vertraue ihnen! Wir brechen das Lager ab und folgen ihnen. Lasst uns hoffen, dass beide am Leben sind. Los, beeilen wir uns“, schloss er mit fester und entschlossener Stimme. „Wollt Ihr die Suche nach Marbolieb abbrechen?“ Sehr ruhig war die Stimme der Landmeisterin. „Es sind Eure Leute – Euer gutes Recht. Ich werde das nicht tun.“ Sie überlegte einen Augenblick lang und kalkulierte die Möglichkeiten, ehe sie hinzusetzte. „Habt Ihr noch einen zweiten Fährtensucher dabei? Würdet Ihr uns diesen ausleihen?“ „Ich glaube nicht daran, dass es zwei Ziele gibt die wir verfolgen, maximal getrennte Fährten, ja. Das hier jemand gewartet und die beiden weg vom Lager gelockt hat ist kaum ein Zufall gewesen. Nein, an so etwas glaube ich schlicht nicht. Marboliebs Verschwinden und das von Brinarim und Rogaton hängen zusammen.“ Er wandte sich an Xagur. „Finde heraus wie die Spuren zueinander verlaufen. Bring das in Erfahrung. Wir packen zusammen. Dann entscheiden wir.“ Eine Weile – vielleicht ein halbes Wassermaß später – brachte Xagur die gewünschte Botschaft. „Die Spuren von unseren Leuten und den zwei Großlingen laufen in Richtung des Amboß.“ Was Südosten war. „Die der Frau nach Mittag.“ Und ungleich deutlicher und rascher zu verfolgen waren Brinarim und Rogatons Spuren. Richild blickte den Oberst unverwandt an. „Vermutlich habt Ihr recht. Ich werde dennoch Marbolieb folgen. Wenn sie noch immer blutete, war sie ziemlich sicher noch am Leben, als sie verschleppt wurde.“ Ihre Züge waren hart und erzählten mehr als alle Worte, dass sie sich zu deutlich auszumalen vermochte, was die Paktiererin in der Zwischenzeit mit ihrer Schwester im Glauben tun würde.

... Da waren’s nur noch sieben

Die Miene des Oberst wurde unversehens hart, als er nachdachte. Eine steile, tiefe Falte zeigte sich auf seiner Stirn. Er musste eine Entscheidung treffen und abwägen, was wichtiger, nein, was sinnvoller war, nüchtern und objektiv. Dies war seine Aufgabe. Seine Gefühle für Marbolieb durften ihn nicht beeinflussen. Schließlich nickte er und schien doch nicht zufrieden mit dem Entschluss zu dem er gekommen war. „Xagur, du gehst mit der Landmeisterin und Amalvin, damit sie die Spur weiterverfolgen können.“ Er sah den Angroscho ernst an. „Wenn ihr auf Schwierigkeiten stoßt, zögere nicht das Horn einzusetzen. Wir werden es ebenso halten. Bitte macht keine Alleingänge“, dies sagte er in Richtung Richilds. „Wenn ihr die Hexe findet, dann verschanzt euch und wartet auf uns, so dies möglich ist. Unsere Spuren sind frisch und wir werden ein hartes Tempo anschlagen, um sie einzuholen.“ Die Landmeisterin nickte. Zuerst die eigenen Leute – dann der Rest. Sie hielt es ebenso. Keine Alleingänge war ein relativer Begriff – über den ersten Feindkontakt hinaus hielt selten ein Plan. So folgten die Angroschim der jüngeren Spur – und Xagur führte, noch bevor der Tag begann, die beiden Golgariten auf der längst erkalteten Fährte der jungen Frau gen Süden. Kaum zu verfehlen waren die Spuren der dreie im unberührten Tiefschnee unter den Bäumen. Die Fährte erzählte, wie sehr sich der Zwerg mit seiner Last in für ihn oft bis zum Bauch reichenden weißen Masse abgemüht haben musste. Nichtsdestotrotz ging die Spur schräg zur Straße immer weiter hinein in die Berge, mitunter mitten durch eine Dickung hindurch, anstatt den leichteren Weg drumherum zu wählen. Fetzen von Kleidung und einmal ein langes Stück der Pracht, die zuvor Brinarims Kinn geziert hatte, sprachen ohne Wort von der Plage. Zwei Meilen weiter, unter einem steil ansteigenden Hang, war der Schnee zertrampelt, als sei hier Lager gehalten worden. Im fahlen Licht der Winterdämmerung erglühte wie eine jung erblühende Rose ein zwei Spann durchmessender, blutroter Fleck auf dem weißen Untergrund. Und kurz darauf waren es wieder vier Spuren, die tiefer in die Wälder führten. Besorgt besah sich der Oberst die Blutspur, während er seinen Männern Zeit gab zu verschnaufen. Doch noch mehr Sorgen bereitete ihm die Erkenntnis, dass sie ab der Rast an wieder zu viert unterwegs waren. Er betete, dass er nicht vom Schlimmsten ausgehen musste, doch sie mussten darauf vorbereitet sein. Neue Befehle waren zwingend notwendig. Dwarosch hielt an und stoppte den Gewaltmarsch. „Hört mir genau zu.“ Richtete er das Wort eindringlich an seine Männer. „Egal was passieren mag, ihr werden keinem, hört ihr, ihr wertet keinem den Rücken zukehren, wenn wir sie eingeholt haben, nicht einmal euren eigenen beiden Kameraden.“ Ermahnte er sie. „Es ist möglich das sie nicht mehr sie selbst sind, durch dunkle Magie beherrscht, oder noch schlimmer, tot und wieder zu frevlerischen, untotem Leben erhoben. Dies sind keine Schauergeschichten, ich weiß wovon ich spreche.“ Dwaroschs Miene glich einer Fratze, als er zu Antharax sah. „Bolzen werden in letzterem Fall nichts ausrichten. Athax, Angrosch behüte, wenn ich einen unserer Kameraden Calman rufen sollte, dann schlag ihnen die Köpfe ab, du hast dazu die beste Reichweite mit dem Runenschwert. Zögere nicht. Drax rardosch- bedeutet, dass du die ausschalten, aber nicht töten sollst, ich werde dir helfen. Ihr“, er sah wieder in die Runde der anderen Soldaten, deren Gesichter von Verunsicherung bis keimendem Entsetzen verschiedene Regungen zeigten. „Packt die Ersatzsehnen unter eure Rüstungen an die Haut. Möglicherweise sind die aufgespannten brüchig, bis es soweit ist. Euer Ziel werden die beiden Menschen sein. Tut wofür ihr ausgebildet wurdet, bildet Zweiergespanne, einer schießt, einer lädt und gibt dem anderen Deckung. Xadresch hält große Stücke auf euch und das tue ich auch“, schloss der Oberst mit einem Lob. Grimmig nickte er, als er sah, dass seine Leute so reagierten, wie er es erwartet hatte. Sie strafften die Schultern und zeigten entschlossene Mienen. „Ka Angrosch garaschmox- dies ist UNSERE Heimat“, sprach er trotzig und aufmunternd aus und tat dann selbst den ersten Schritt die Fährte weiter zu verfolgen und somit das erneute Zeichen zum Aufbruch.“ Die Sonne, die wie ein blindes Auge aus dem blassgrauen Winterhimmel blinzelte, schickte sich an, ihren flachen Zenit zu erklimmen. Kurz vor der Mittagsstunde setzte erneut Schneefall ein und Myriaden kleiner, weißer Flocken tanzten wirbelnd aus den schneeschwangeren Wolken. Langsam aber stetig verkürzte sich die Entfernung zu den Verfolgten – und als der Abend dämmerte, trennte beide Truppen nach Ansicht der Wildniskundigen vielleicht noch ein halbes Wassermaß. Grau und Wolkenverhangen war der Himmel, und mit dem Schwinden des Lichts gelang es keinem einzigen Stern, sich durch die dichte Masse zu kämpfen. Hierfür, ja genau hierfür hatte er über Götternamen hinweg geschliffen. In schier endlosen Märschen, bei jeder noch so schlechten Witterung hatte er sie angetrieben, auch durch die Finsternis der Nacht. Sie konnten jetzt nicht anhalten und sie würden es nicht. So kurz hinter den verfolgten gab es keine Option darauf ein Lager aufzuschlagen, oder zu rasten. Noch dazu würde der Schneefall womöglich die Spur verwischen. Die Soldaten hatten eine Sturmlaterne in der Mitte ihrer lockeren Formation entzündet, ansonsten reichte den Angroschim das blasse Restlicht, des immer wieder durch die zerklüfteten Wolken durchbrechende Madamals. Zwergische Augen sahen bedeutend besser in der Dunkelheit, als menschliche es vermochten und Antharaxs Sehvermögen ging sogar noch darüber hinaus. Der Hauptmann vermochte zwar nur in schier unendlich vielen Schattierungen von grau zu sehen- war Farbenblind, doch erlaubten seine Augen ihm scheinbar dadurch auch besonders gut zu sehen in der Nacht. Er ging vorweg, wie das Leittier eines Rudels, das die Fährte einer lohnenden Beute folgte. Außerhalb des Lichtkreises der Sturmlaterne herrschte pechschwarze Finsternis. Die dicken Wolken verdeckten das Licht der Sterne, auch wenn der Schneefall zuerst zu winzigen, beißenden Eisflocken gefroren und schließlich ganz verebbt war. Der überfrierende Schnee knirschte unter den kraftvollen Tritten der Angroschim und ihr Atem gefror in weißen Wolken in der eisigen Luft. Klar und deutlich, nur leicht überzogen von dem neuen Schneefall, zeichneten sich die Spuren der vier Verfolgten vor den Zwergen ab. Das Land stieg an und unter den Bäumen ragten Felsnasen aus dem schneebedeckten Grund. Der Boden war tückisch, immer wieder durchzogen von Spalten und Steinen, und die einzigen Geräusche außer jenen der Gruppe war das kalte Knistern und Knacken der froststarren Zweige. Ein nur scheinbarer Friede, der Dwarosch ein Kribbeln über den Rücken jagte und die Härchen in seinem Nacken und auf seinen Armen aufstellte. Da draußen lauerte etwas. Oder jemand. Sich wie immer auf seine geschulten Instinkte und vor allem seinen Sinn für lauernde Gefahr verlassend gab der Oberst unverzögert Order. Ein einfacher, kurzer Befehl in der Muttersprache der Zwerge reichte aus und seine Mannen bildeten einen Kreis um ihn. Die Soldaten knieten nieder, spannten die Armbrüste und legten Bolzen ein, eine Abfolge von Handgriffen, die durch Xadreschs Drill, Dwaroschs Freund und Ausbildet der Schützen, in Fleisch und Blut übergegangen war. Der Sohn des Dwalin blickte sich mit zu Schlitzen verengten Augen um, den Spieß fest mit beiden Händen gepackt. “Was siehst du”, raunte er Antharax zu, welcher an seinem Rücken inmitten des Kreises stand. Der blickte mit gerunzelter Stirn in die Dunkelheit, lauschte – und schüttelte schließlich den Kopf. „Nichts.“ Knurrte er in seinen Bart. „Kein Tier, kein Mensch. Kein Angroscho.“ Die Stille war zum Zerreißen gespannt und schien zu vibrieren. „Licht aus“, raunte Dwarosch leise in Richtung des Soldaten, der die Sturmlaterne nun nicht mehr trug, sondern neben sich stehen hatte. Dessen Hand wanderte langsam daraufhin zum kleinen Drehrädchen unterhalb der dicken, milchigen Gläser. Die bisher leicht zappelnde Flamme im Inneren wurde zunächst kleiner und erstarb nur wenige Augenblicke später ganz. Wäre der Schnee nicht gewesen, so wäre die Dunkelheit selbst für die Augen der Angroschim zumindest eine Herausforderung gewesen, da der Mond immer wieder von vorbeiziehenden Wolken verdeckt wurde, doch das allgegenwärtige Weiß des Winters ringsum reflektierte das verbleibende Licht vollkommen ausreichend. Nervös strichen die Finger der Zwerge über die Abzüge ihrer todbringenden Schusswaffen. Durch die Lederhandschuhe war das kleine Stück Metall nicht leicht zu ertasten, doch selbst daran hatten die Gebirgsjäger gedacht. Zum Winter hin wurde der Auslösemechanismus dahingehend angepasst, das mehr Druck notwendig war die Sehne frei zu geben. Nichts geschah. Einen Atemzug lang. Und noch einen. Die Stille umschloss die Gruppe wie ein lauerndes, sie umkreisendes Tier. Ein Dutzend Herzschläge Abwarten forderte sie heraus, lachte und höhnte und donnerte tonlos in ihren Ohren. Die Blicke der Krieger durchforschten die Dunkelheit und glitten über die vertrauten, kampfgestählten Gestalten ihrer Begleiter. Jäh durchschnitt ein Schrei aus zwei Kehlen die Spannung, und Hogodosch und Ferrizyna gingen in einem Durcheinander aus Gliedern und Waffen zu Boden, hieben und schlugen um sich und den Blicken ihrer Kameraden wollte scheinen, als wälzten sie sich, mit viel zu vielen Gliedmaßen, im eisigen Schnee, der sich um sie herum blutrot verfärbte, während sie die scheinbar aus dem Boden gewachsenen Krallenhände versuchten zu lösen, die ihre Arme und Beine umschlungen hielten und versuchten, sie unter den weißen Grund zu zerren. „Auseinander“, brüllte Dwarosch, während er und Antharax vorsprangen und mit Spieß und Schwert in das Gemisch aus Schnee und Erde stießen, aus dem ihre Gefährten so heimtückisch angegriffen wurden. Athax vermochte wohl noch besser als Dwarosch sehen was es war, doch der Oberst glaubte zumindest eine ähnliche Angriffstaktik aus der Zeit der Invasion der Verdammten zu kennen. Er war froh, dass ihre Waffen geweiht waren und eine ausreichende Reichweite besaßen. „Athax, wir hauen sie frei. Trina, Baschtox, zieht sie raus. Andorgam, deck uns nach außen, dies könnte nur eine Ablenkung sein“, wies er seine Männer an. „Wenn sie frei sind, dann weg von hier.“ Der Oberst ahnte, dass man sie zermürben wollte. Die Truppe sprang wie befohlen auseinander und zu Staub zerblasen war die einstige Formation. Mit kraftvollen Hieben stießen die Träger der Langwaffen in den Schnee, ohne einen Gegner mehr als zu erahnen, und nach einer gefühlten Ewigkeit ließen die widernatürlichen Klauenhände ab von ihrer Beute. Ferrizyna blutete aus mehreren tiefen Kratz- und Stichwunden, nicht mehr in der Lage, sich selbst auf den Beinen zu halten, während das Leben Hogodoschs im Schnee zerrann, als seine Kameraden sich anschickten, ihn zu bergen. Die Augen des Zwergen brachen und seine Seele trat die Reise zum feurigen Allvater aller Angroschim an. Die Monstrositäten aus dem Hinterhalt hatten Stichwaffen gegen ihre fast wehrlosen Opfer eingesetzt. Nichts mehr blieb von dem Hinterhalt als zertrampelter, blutbefleckter Schnee und zwei ihrer Gefährten am Boden. Dwarosch setzte sich an Athax Seite nun selbst an die Spitze ihrer deutlich geschrumpften Gruppe. Trina und Baschtox halfen der verwundete Zwergin weiter. Andorgam, sicherte mit der Armbrust am Ende. Hogodosch hatten sie zurücklassen müssen. Für ihn gab es keine Hoffnung und für sie nur den Weg nach vorne. Nach einige hundert Schritt kamen sie an einigen, liegenden Felsen vorbei. Der Oberst wies seine Männer an darauf zu rasten. Der Hauptmann stand aufrecht auf dem höchsten der Erhebungen neben Andorgam und hielt Wache, während Dwarosch Ferrizyna verarztete. Er salbte ihre Wunden und gab ihr auch etwas heilenden Saft, so dass sie aus eigener Kraft würde weitergehen können. Jeder der Gebirgsjäger verfügte in seiner Ausrüstung über einen bescheidenen Vorrat an Notfallmedizin. Dwaroschs persönlicher ging darüber weit hinaus. Nach nur einem viertel Stundenglas ging es weiter. Der Oberst marschierte an der linken Athax’, den Schild in der Linken, den Spieß in der Rechten. Sein Freund verfolgte die Spur und gab somit die Richtung und das Tempo vor. Die anderen folgten in enger Folge mit den Armbrüsten in der Hand. Etwas mehr als zwei volle Kerzenlängen marschierten die Zwerge durch den schneebedeckten Wald, bis Athax bei einer genaueren Inspizierung der Spuren, zu denen er sich regelmäßig hinkniete, zu Dwarosch aufsah. „Sie sind nicht mehr weit.“, raunte der Hauptmann und der Oberst nickte grimmig entschlossen. Bald hätten sie was auch immer ihre Gefährten mit sich genommen hatten eingeholt. Noch einmal erhöhten sie ihr Tempo. Fast schon misstrauisch ließ so viel Glück werden – fast zu einfach war der Weg, der unter die dicken Stämme einer Ansammlung mächtiger, uralter Tannen führte, unter denen der Schnee locker und jungfräulich dalag. Das altbekannte Kribbeln in Dwaroschs Nacken meldete sich wieder und sorgte dafür, dass sich seine Muskeln anspannten. Auch Athax schien etwas bemerkt zu haben – er verhielt seinen Schritt, die Hand an der Waffe, und blickte sich angestrengt um, ehe er mit einem frustrierten Kopfschütteln zu verstehen gab, dass kein Feind in Sicht sei. Die Schatten unter den Ästen indes hätten ein halbes Heer verbergen können, selbst vor den scharfen, die Dunkelheit gewohnten Augen der andere Angroschim. „Da ist keiner“ grollte der Bass Antharax’. “Wir bleiben in Bewegung”, presste Dwarosch vor Anspannung zwischen den Zähnen hervor. Er wusste, dass wegen der Fähigkeiten und Taktik ihres Feindes keine andere Möglichkeit bestand. Die Augen des Oberst wanderten immer wieder misstrauisch auch nach oben, während Antharax nach vorne und zu den Seiten alles im Blick behielt. Eine Falle war unwahrscheinlich, hätte auffällige Spuren hinterlassen und die Verfolgten darüber hinaus viel Zeit gekostet. Dennoch mussten sie mit allem rechnen, immerhin war es möglich, dass sie inzwischen in das Refugium ihres Feindes, also auf das von ihnen beanspruchte Terrain eingedrungen waren, das hieß, wenn es ein solches gab. Ein Huschen vor Dwarosch entpuppte sich als Eichhörnchen, das mit schnellen Sprüngen den Stamm aufwärts lief, einen Ast entlang rannte und in der dichten Krone des Nachbarbaumes verschwand. Keinen Atemzug später brachen zwei große Köper durch die Äste und drangen mit Klauen und Dolchen auf den Oberst ein, krallten sich an seinem Kopf und seinen Armen fest und versuchten, ihn mit übermenschlicher Kraft zu umschlingen. Geschrei, Flüche und das Klirren von Waffen hinter ihm berichteten von erbostem Kampfgetümmel in seinen Reihen. Etwas hartes, metallisches fuhr über den Kettenkragen an seiner Schulter, durchtrennte Leder und fing sich in einer Kerbe zwischen zwei Rüstungsteilen. Ein hohes, underisches Zischen klang neben dem Ohr des Obersten auf und blies Verwesungsgestank über sein Gesicht, der durch die Bittere Kälte nur einigermaßen gemildert wurde, während zu Krallen vertrocknete Hände nach seinen Augen hieben. Dwarosch schrie seine Anspannung, seinen Zorn hinaus. Er rammte seinen Spieß in den Boden und griff mit der Rechten in seinen Nacken, ließ sich schon in dieser Bewegung nach vorne auf die Knie fallen und riss den stinkenden, untoten Leib von seinem Rücken nach vorne. Seine Kampfreflexe arbeiteten. Zum Glück für den Oberst waren die unkoordinierten Gliedmaßen der Kreatur nicht in der Lage gezielt die Schließen seiner Rüstung zu durchtrennen, schon gar nicht da man dafür erst eine Lage Kettenglieder hätten anheben müssen. Der schmale Sichtschlitz zwischen seinem Helm und dem anschließenden Kettenschutz, welcher ihm bis auf die Brust viel, war hingegen ein lohnenderer Schwachpunkt, doch der Zwerg ließ dem Untoten zu wenig Zeit, sich darauf zu fokussieren. Quasi schon in dem Moment, da die Kreatur vor ihm im auseinanderstobenden Schnee auf den Boden schlug, traf der angeschliffene Rand von Dwaroschs metallischem Rundschild den grässlich entstellten Schädel. Er zerbarst, daran konnte das faulig stinkende, vermoderte Fleisch über dem Knochen nichts ändern. Währenddessen war Antharax bereits dabei reiche Ernte unter den Untoten zu halten. Ihn hatte kein herabfallender Körper getroffen. Sein Runenschwert fuhr durch ihre leblosen Körper, wie das vielbesagte Messer durch die warme Butter. Die anderen Soldaten waren zu überrascht gewesen, um geistesgegenwärtig zu reagieren. Sie stoben auseinander, entledigten sich ihrer Armbrüste und zogen die Äxte. Doch diese Entzerrung des Kampfplatzes gab Athax den benötigten Raum für seinen ausladenden Kampfstil und die guten Rüstungen der Gebirgsjäger hielten bis auf wenige Schnitte, die die Angroschim durch Klauen und Messer hinnehmen mussten stand. Als die verbliebenen Soldaten sich dann neuformiert hatten und ebenfalls koordiniert auf die Kreaturen eindrangen, war ihr Ende rasch besiegelt. Dwarosch hatte zwei weitere wandelnde Leichname bewegungsunfähig gemacht, in dem er ihre Kniegelenke durchstoßen hatte. Auf allen vieren zogen sie sich zwar immer noch mit den krallenbewährten Händen vorwärts, doch das stellte bei der Übersicht erfahrener Kämpfer kaum eine ernste Gefahr da. Ansonsten hatte er sich während des Kampfes darauf beschränkt seinem Hauptmann und Freund den Rücken frei zu halten. Dwarosch hielt zwei Skelette auf Abstand, verhakte die sichelförmigen Haken hinter der Stoßspitze seines Spießes in den Rippen des einen Untoten, und wehrte die Hiebe des anderen mit dem Schild ab, bis Antharax den reich gedeckten Präsentierteller abräumte. Als die acht untoten Kreaturen vernichtet waren, brannten die Lungen der Angroschim aufgrund der Anstrengung in der nächtlichen Kälte. Schwer atmend fragte der Oberst seine Männer nach ernsten Verletzungen und nahm befriedigt zur Kenntnis, dass man nach kurzer Wundreinigung weiterkonnte. Diesmal waren sie glimpflicher davongekommen. Doch es hätte auch anders ausgehen können, dessen war dich Dwarosch durchaus bewusst. An seiner Taktik änderte sich nichts, sie mussten weiter, sie mussten ihre Gegner einholen. Indes verringerte er das Tempo. Der Hinterhalt und die Spuren die sie fanden sprachen von langer Vorplanung. Sie hatten in der Tat Terrain erreicht, was geschützt war. Ein weiterer, solcher Angriff war im Bereich des Möglichen, denn niemand wusste, über welche Ressourcen ihr Feind verfügte. Eine weitere unbekannte Variable die keinem Feldherren gefiel, am wenigsten Dwarosch. Abgesehen davon waren diese widernatürlichen Gestalten dafür berüchtigt, so einige üble Krankheiten zu übertragen – und Kontakt mit ihnen hatte die Truppe inzwischen reichlich genossen, kaum einer, der nicht eine Schramme davongetragen hatte. Der Kampf hatte ihrer Beute wieder ein viertel Wassermaß Vorsprung verschafft. Das Gelände wurde zusehends zerklüfteter, und der Weg, der bislang einem leidlich offenen Pfad gefolgt war, wand sich an einer Felswand entlang über mehrere halb vereiste Steinstufen nach unten, erreichte eine Quelle, aus der ein ergiebiger Wasserfall über einen vereisten Steinblock rann und sich, durch gefallene Bäume und übermannshohe Felsen hindurch, seinen Weg in eine steile Klamm grub. Die Schritte folgten dem Bachbett, teils im eiskalten, knietiefen, noch nicht vollkommen gefroren Wasser, teils auf den glitschigen Steinen daneben. Schlitterspuren zeigten, wo einer der Wanderer, einer der Zwerge, ausgeglitten und zwei Schritte im Bachlauf talabwärts gerutscht war, ehe er sich wieder fing und weiter ausschritt. Die Wände rechts und links ragten schroff in die Höhe und wuchsen auf über zehn Schritt an, während auf der Talsohle querliegende Baumstämme und große Steinbrocken, die das Frühjahrswasser mit sich gerissen haben mochten, den Weg zu einem Kletterspiel werden ließen. Zweifel kamen dem Oberst, nicht zum ersten Mal. Würde ein lebendes, rational denkendes Wesen einen solchen Weg beschreiben? Er zweifelte stark daran. Die Gebirgsjäger jedenfalls mieden das eiskalte Wasser, welches unweigerlich zu Auskühlung, möglicherweise auch zu Erfrierungen geführt hätte, wenn man nicht sogleich Rast eingelegt und ein wärmendes Feuer entzündet hätte. Die Zwerge nutzten ihre Bergsteigerausrüstung, Seile, Kletterhaken und Hämmer, um sich abzuseilen. Sie gingen geordnet vor, mit Schützen die Deckung boten und zwei Mann, die das Seil sicherten. Sie waren eingespielt, die Handgriffe saßen, selbst in dieser Ausnahmesituation. Natürlich verloren sie dabei Zeit, doch diese mussten sie einkalkulieren, eine ansonsten unausweichliche Rast hätte sie weitaus mehr gekostet. Dass die Verfolgten stumpf weitergegangen waren registrierte Dwarosch mit versteinerter Miene. Es war nicht schwer gewesen, die Spuren wiederzufinden, war die Schneedecke doch ansonsten vollkommen unangetastet. Er schüttelte den Kopf und Antharax, welcher dies bemerkt hatte nickte bestätigend. Sie mussten es nicht aussprechen, ihre Gefährten waren tot. Die Erkenntnis schnitt sich in Dwaroschs Seele.

Die Klamm

Finster war es in der tief eingeschnittenen Schlucht, und das Murmeln und Blubbern des Wassers war eine stete Begleitung der Mühen der wettergestählten Angroschim im Dunkeln, und behaglich war es keinem von ihnen, insbesondere, da das Gefühl des Belauertwerdens ständig zunahm. Das Gefühl dutzender, kalter Augen, die auf ihm ruhten, ließ die Nackenhaare des Obersten sich aufstellen. In dieser engen, finsteren Schlucht, ohne ebenen Grund, stand die kleine Schar Angroschim wie auf dem Präsentierteller. Dwarosch warf sich an die nahe Felswand. „Schilde hoch“, ließ er kurz und knapp vernehmen. Seine Männer taten es ihm gleich und pressten sich an das kalte Gestein. Sie lösten sich gegenseitig ihre Wehr von den Rucksäcken, hängten ihre Armbrüste in die dafür vorgesehene Halterung und nahmen die langstieligen Äxte aus den Eisenringen am Gürtel. Die achteckigen Schilde der Gebirgsjäger waren deutlich kleiner als Dwaroschs großes Rundschild, doch hoffte der Oberst trotzdem, dass sie ihre Aufgabe ausreichend erfüllen würden. Vorsichtig und die oberen Ränder der Klamm im Auge behaltend ging es vorwärts. Antharax, der ebenfalls auf Schild und sein am oberen Ende leicht abgewinkeltes Schwert gewechselt hatte, schritt voran. Einige faustgroße Steine lösten sich vom oberen Rand der Klamm und polterten auf die Zwerge nieder, ein großes Brett mit Schnee und gefrorenem Schlamm mit sich reißend. In diesem Augenblick lösten sich aus der Dunkelheit ein Dutzend zwergengroße, muskelbepackte Schemen, und der Boden begann zu vibrieren unter den Hufen der Rotte Schwarzkittel, die sich wie eine finstere, unaufhaltsame Woge durch die schmale Klamm ergoss und in unnatürlichem, vollkommenem Schweigen sich anschickte, die Zwergenkrieger von den Beinen zu holen und ins Reich des Vergessens zu befördern. Der am Fels der Klamm herabstürzende Schnee nötigte die Angroschim sich von der Gesteinswand zu lösen. Die Wucht des weißen Todes traf sie dennoch hart, wenn auch nicht mit vollständiger Masse. Trotzdem riss es die ohnehin immer noch leicht geschwächte Ferrizyna von den Beinen, verlangsamte, ja bremste das Vorpreschen der Bestien aber auch ein Stück weit auf dem nun noch weicheren Boden. Mit Dwarosch und Antharax an der Spitze bildeten Baschtox, Andorgam und letztlich auch Trina eine spitze Keilformation mit ihren Schilden, versuchten ihre gestrauchelte Kameradin zu decken. Ein frontales aufeinandertreffen konnten sie nicht überstehen, ohne alle über den Haufen gerannt zu werden und Knochenbrüche, vielleicht gar schlimmeres zu erleiden. Sie pressten ihre Wehr gegen ihre Schultern und gingen dabei gleichzeitig leicht in die Hocke, um nicht Opfer des tiefen Schwerpunktes der Wildschweine zu werden. Dwarosch senkte den Spieß, als er den muskelbepackten Eber an ihrer Spitze in Augenschein nahm, welcher geradewegs auf die Spitze ihrer Formation zuhielt. Das Vieh mochte knapp dreihundert Stein wiegen. Ein so großes Tier hatte er noch nie gesehen, da war er sich ziemlich sicher. Er rammte das Ende des Schaftes seiner Stangenwaffe in den steinigen Boden unter den Schnee und stieg mit einem Fuß drauf, um ihn zusätzlich zu sichern. Keinen Moment zu früh, denn in diesem Moment war die wilde Horde heran und sie wurden wie von einem riesigen Hammer getroffen mit den Schultern und Köpfen aneinandergeworfen, unartikulierte Schmerzensschreie ertönten. Die Verzögerung, als der Keiler mit dem gesenkten Kopf auf Dwaroschs Spieß traf war nicht in Worte zu fassen. Der Oberst wurde nach hinten katapultiert, sah für einen Moment schwarz, als ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Viel schlimmer konnte es nicht sein von der Eisenkugel einer schweren Rotze getroffen zu werden dachte er bei sich, als er langsam wieder zu sich kam. Er kniete auf allen vieren, inmitten seiner Männer und versuchte kopfschüttelnd das brutale Dröhnen in seinem Schädel loszuwerden, das alle Geräusche ringsum überlagerte. Dabei registrierte am Rande seines Bewusstseins zufrieden, dass die Soldaten, welche den Befehlen Athaxs folgten- ein Unstand den er zwar wahrnahm, auch wenn er nichts hören konnte, nun auseinanderstoben, um den untoten Kreaturen zuzusetzen. Noch eine solche, lawinenartige Angriffswelle konnten sie nicht zulassen. Die Taktik war eindeutig richtig gewählt. Er konnte sich wie immer blind auf seinen Freund verlassen. Mühsam stemmte sich Dwarosch auf die Beine, alles schmerzte, doch die Hitze des Kampfes und sein kochendes Blut verhinderten, dass ihn dies behinderte. Aber noch immer dröhnte sein Kopf, so dass er keine Geräusche wahrnehmen konnte, nichts vermochte zu ihm durchzudringen, nicht einmal die schrillen Warnrufe seiner Kameraden. Der Oberst griff nach seiner Axt und zog sie auf dem Eisenring am Wehrgehänge. Der untote Keiler stand keine zwei Schritt von ihm entfernt und versuchte den Spieß durch hin- und herwerfen seines gewaltigen Schädels loszuwerden, doch die Spitze war bis hinter die Sicheln in den Schädel des Tieres gefahren. Eine eitrige Mischung aus roter und gelblicher Flüssigkeit ergoss sich über seine Augen und troff von seiner Schnauze herab, besudelte den niedergestampften Schnee durch ihre widernatürliche Widerwärtigkeit. Dwarosch stapfte auf ihn zu, fest entschlossen ihm dem Rest zu geben. Dann rammte ihn etwas von der Seite, traf seinen Oberschenkel und warf ihn um, zurück auf den kalten Boden. Einer der wuchtigen Hauer des für ihn so unvermittelt angreifenden Wildschweines hatten über die Metallschiene auf der Vorderseite des Schenkels geschrammt und beträchtliche Wucht abgefangen, der andere jedoch war an der Hinterseite, dort wo nur die Kettenhose Schutz bot, durch eben jene Rüstung gedrungen, hatte Glieder gesprengt und sich ins Fleisch gebohrt, bevor Dwarosch gestürzt war. Doch die Arterie hatte er verfehlt, da sie geschützt lag. Instinktiv warf sich der Zwerg auf dem Rücken, spreizte die Beine und riss den Schild nach vorn. Der zweite Ansturm des Keilers galt Dwaroschs Unterleib. Rohe Kraft und primitive Wut des Viehs schob den Oberst vor sich her, ließ ihn mit dem Rücken über den schneebedeckten Boden rutschen. Dann erstarb das Vordringen der Bestie plötzlich, als wolle das sie erneut Schwung holen. Doch als der Druck auf seiner Wehr nachließ stemmte Dwarosch seinen Oberkörper reflexartig hoch und schlug ihr die Axt zwischen die Augen, einmal- das Vieh grunzte, zweimal- es quiekte grell. Beim dritten Mal spaltete er den Schädel und die Beine brachen zur Seite weg, wenngleich es nicht aufhörte zu zucken. Was immer auch die untote Kreatur wandeln und damit die praiosgefällige Ordnung spotten ließ, es schien den endgültigen Tod nicht akzeptieren zu wollen. Doch dafür hatte der Oberst keine Augen. Langsam drangen wieder Geräusche auf ihn ein, Rufe, Schreie. Seine Männer, Athax voran kämpften tapfer, doch alle hatten einstecken müssen. Baschtox sah übel zugerichtet aus, humpelte, hielt sich aber noch. Trina und Andorgam hieben wie besessen auf ihre Gegner ein, als versuchten sie, die dicken Hälse der Wildschweine ganz zu durchtrennen. Antharax kam im Laufschritt zu ihm herüber. Er war über und über mit dunkler, rot schimmernder Flüssigkeit befleckt und das, wo die Bestien kaum noch Blut haben konnten. Er hielt wieder das Runenschwert in Händen. Es glänzte dunkel und es schien, als sogen die Angramrunen in der tiefen Blutrinne die abstoßend riechende Nass in sich auf. Sein Freund beschleunigte noch einmal und passierte den großen Keiler. Er senkte die Spitze seiner Waffe so, dass sie wie eine Lanze von hinten in den Nacken des kapitalen Untieres drang, welches noch immer mit Dwaroschs Spieß rang. Der Zweihänder nagelte die Kreatur in den Boden und jegliche Bewegung erstarb augenblicklich. Das rötliche Leuchten der Augen erstarb. Gehetzt sah der Hauptmann in Richtung Dwarosch, nickte ihm zu, nur um dann die Waffe wieder zu befreien und sich sogleich anzuschicken, seinen Kameraden beizustehen. Der Oberst tat es ihm gleich, selbst ermuntert von dem Mut, vom Kampfeswillen seines Freundes. Gemeinsam zerhackten sie die zu diesem Zeitpunkt noch verbleibenden drei Keiler. Eine andere Wortwahl würde Dwarosch im Nachhinein niemals akzeptieren. Normale Untote, ganz gleich ob Menschen, Elfen oder Angroschim hatten einen Hals, welcher immer eine Schwachstelle darstellte. Schlug man den Kopf vom Torso, war Ruhe, so einfach war das. Doch ein Wildschwein zu enthaupten war eine ganz andere Sache. Dieser Kampf hatte diesbezüglich neue Maßstäbe gesetzt, schmerzhafte, blutige, tödliche Maßstäbe und Dwarosch hatte gegen skelettierte Oger gekämpft, ja sogar gegen einen untoten Troll. Ferrizyna war tot. Hatten sie sie beim ersten Ansturm durch ihre überlegte Formation noch decken können, war sie im darauffolgenden, offenen Kampf der Übermacht erlegen. Sie hatte heldenhaft gekämpft und zwei der Kreaturen erledigt, doch hatte sie dann eine Verletzung ihrer Oberschenkelarterie hinnehmen müssen, welche sie schnell dahingerafft hatte. Alle, auch Dwarosch rangen mit der Fassung, als sie nach dem Kampf die fürchterlich zugerichtete und in ihrem eigenen Blut liegende Zwergin sahen, gebettet auf einem weißen Tuch. Sie hatten sie sogar angefressen. Ihre Kehle fehlte, ebenso wie ein Teil ihrer Wange. An mehr waren die untoten Bestien wegen der Rüstung auf die Schnelle nicht herangekommen. Angrosch sei Dank. Dwarosch nahm sich die Zeit, ein Gebet zu sprechen, während sich die anderen gegenseitig verarzteten, Wunden mit Brand auswuschen, Salbe auftrugen und auch jeder etwas von dem heilenden Tonikum trank, welches Dwarosch regelmäßig von dem Geoden Gargamil erstand, der in den Ingrakuppen lebte. Auch der Oberst selbst musste einen Schluck des Heiltrankes zu sich nehmen. Die Rippen seines Brustkorbs hatten zwar das Schlimmste abgehalten, aber dabei waren sie arg in Mitleidenschaft gezogen wurden und er konnte sich glücklich schätzen, dass keine von ihnen gebrochen war. Die Wunde am Bein schloss sich, ebenso wie die gröbsten Schmerzen in seinem Torso nachließen. Und so war es auch diesmal, wie bereits bei den zwei Fallen, Hinterhalten, zuvor, es musste weitergehen, ohne Bestattung, auch wenn Dwarosch diesen Gedanken hasste. Langsamer als zuvor arbeitete sich die Gruppe weiter durch den Schnee. Die Klammwände rückten auseinander und das Bett des Baches weitete sich, während das Wasser nun wie eine pechschwarze, strudelnde Masse dahinzog. Der Boden war tückisch durch zugeschneites Schwemmholz und vom Tauwasser talwärts gestoßene Steinbrocken. Als wäre nichts gewesen, führte die vierfache Spur weiter, dem Lauf des Wassers folgend, Hindernisse ignorierend. Über den östlichen Himmel zog sich der erste fahle Streifen, Vorbote einer Dämmerung, die noch Stunden entfernt schien. Und mit der ersten Ahnung künftigen Lichts erkannten die Zwerge, dass die Spuren vor ihnen vielleicht noch ein viertel Wassermaß alt sein mochte – oder weniger. Die Grabesstimmung, welche die dezimierte Gruppe Gerüsteter nach dem letzten, verlustreichen Kampf ereilt hatte wich Anspannung. Dwarosch hatte selbst seinen dunklen Gedanken nachgehangen und sich wie immer gefragt, ob er Fehler gemacht hatte, ob die Gefallenen noch leben könnte, wenn er anders entschieden, gehandelt hätte. Doch er war zu keiner eindeutigen Antwort gekommen. Das war meistens so. Nun jedoch war es Zeit sich zu wappnen. Sie würden die Verfolgten bald einholen und dann würde sich herausstellen wer Jäger und wer Beute war. Er hatte das mulmige Gefühl, dass dies noch nicht Entschieden war. „Ich will keine unüberlegten, rachegesteuerten Anstürme“, richtete er unvermittelt das Wort an die anderen. „Wir sind nur gemeinsam in der Lage dem zu begegnen, was vor uns liegt.“ ‚Wenn wir es überhaupt sind‘, brachte der Obers den Gedanken mit einem Anflug von Fatalismus zu Ende. „Wir bleiben bei unserer üblichen, besprochenen Taktik.“ Dwarosch sah zu Athax herüber. „Schaffst du das?“ Sein Freund nickte, er wusste was er meinte. „Es sind nicht mehr unsere Freunde. Ihre Körper zur Ruhe zu betten und zu verbrennen ist alles, was wir noch für sie tun können und werden“, sagte der Hauptmann mit trauriger, aber auch entschlossener Stimme. Dennoch hatten sie alle wieder einen Kloß im Hals.

Ein neuer Morgen

Die Angroschim marschierten stumm weiter. Der Oberst und Antharax weiterhin vorne weg. Sie konzentrierten sich jetzt nicht mehr nur auf die Spuren und etwaige Fallen und Hinterhalte. Nun achteten sie auch genauer auf die Geräusche der Umgebung und suchten immer wieder nach einer Möglichkeit in die Ferne zu schauen, um vielleicht einen Blick auf die Verfolgten zu erhaschen. Dazu kletterten sie auf Felsen und Bäume mit leicht besteigbaren Ästen. Dwarosch wollte noch plötzlich vor ihnen stehen, er wollte sich gezielt, vorbereitet annähern, um die größte Schlagkraft aufbringen zu können, zu der sie imstande waren. Im Rahja begann der Himmel, sich zu lichten – ein hellerer Streifen am Himmel kündete davon, dass der Tag nahte, auch wenn die dicken, grauen Wolken ihr Bestes taten, diesen Umstand zu verschleiern. Aus dem schweren, schneeschwangeren Himmel schälten sich die ersten, winzigen Flocken, wie kleine, beißende Kristalle überzuckerten sie die Rüstungen der Krieger, blieben als Schmuck auf den borstigen Grannen der Pelzmäntel und verschleierten die Sicht, wo die Späher einen klaren Blick verlangten. Die scharfen Augen von Antharax waren es, die zuerst die vier Gestalten ausmachten, die sich, in einer Reihe hintereinander wie Ameisen – oder wie Perlen auf einer Schnur – durch den Schnee mühten. Zwei kleine Gestalten, zwei Menschen – ein hochgewachsener, kräftiger, ein kleinerer – beide verborgen unter dicken Wintermänteln. Ihre Verfolger schienen sie nicht bemerkt zu haben. Der Hauptmann hob sogleich die Hand auf Schulterhöhe, so dass die hinter im laufenden ihm seine Aufmerksamkeit schenkten. Er deutete nach vorn, in die Richtung in der sie liefen. „Vier“, bestätigte er kurz was er gesehen hatte. „Sie sind es.“ Es war noch nicht nötig leise zu sein. Die Entfernung war noch zu groß und der Wind stand nicht ungünstig, kam von der Seite, würde weder Geräusche, noch Gerüche zu den Verfolgten tragen. Dwarosch gab dennoch lediglich Handzeichen. Er wollte seine Soldaten schon jetzt dazu bringen leise zu sein. Er wusste das damit die Wahrscheinlichkeit sank, das später ein Fehler begangen wurde. Zogoltrina, Baschtox und Andorgam nahmen ihr Armbrüste wieder zur Hand. Sie holten die Sehnen, welche sie unter Pelzen und Rüstung am Leib getragen hatten hervor und montierten sie in die Spannvorrichtung. Die alten waren aufgrund der Witterung wahrscheinlich unbrauchbar, oder würden im Ernstfall reißen. Die drei Zwerge verrichteten die Arbeit nacheinander, so dass sie es unterwegs tun konnten, indem sie sich zur Hand gingen. Nur zum eigentlichen Spannen mit dem Hebelfuß mussten sie jeweils wenige Herzschläge anhalten. Währenddessen registrierte der Oberst zufrieden, dass sie weiter aufholten. Ein halbes Stundenglas später waren sie auf etwa sechzig Schritt heran und befanden sich in einem lichten, leicht abfälligen Waldstück, aus dessen Boden immer wieder kleinere Felsen herausragten, auch wenn diese unter der weißen Decke nur als Umrisse zu erkennen waren. Andorgam bestätigte mit knappen einem nicken auf Dwaroschs wiederholten fragenden Blick, dass sie in Schussreichweite waren. Bolzen wurden aufgelegt. Sehr langsam schritten die vier talabwärts, die Größte der Gestalten voraus, dann die beiden Zwerge, dann der zweite Mensch. Der Himmel gen Rahja zeigte alle Schattierungen von Dunkel- zu Hellgrau, die sich schon über den halben Himmel zogen. Mit der zunehmenden Helligkeit waren die vier Verfolgten deutlicher zu sehen. Der erste, dick eingepackt, schien ein Holzfäller oder Fallensteller zu sein – mit breiten Schultern und grobem Fellmantel, dessen Schultern vom Schnee weiß gefärbt waren. Die kleine, schmale Gestalt, die die Nachhut bildete, trug eine langärmelige Kutte, die inzwischen das grauweiß von Matsch und Schnee angenommen hatte, vorher aber vermutlich einmal dunkel gewesen war. Sie hatte ihre Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Als die Zwerge auf Schussweite aufschlossen, hob sie mit einemmal den Kopf und blieb stehen. Sie wandte sich zu den Verfolgern um und hob eine Hand, die Handfläche nach außen. Die anderen dreie marschierten stoisch weiter geradeaus. „Ogerkacke“, fluchte Dwarosch und schüttelte den Kopf. Er wusste das die Hexe sie mit magischen Mitteln ausspähte, vielleicht einen Gefährten oder Gotongi in ihrem Dienst wusste. Dennoch, die Erkenntnis das Überraschungsmoment verloren zu haben passte ihm ganz und gar nicht. Wut kochte in ihm auf und auch Antharax machte eine betretene Miene. „Auffächern und Ziel anvisieren“, befahl der Oberst den drei Bergjägern, die sofort mit kurzen, schnellen Schritten nach vorne eilten, Aufstellung nahmen und im breiten Stand die Armbrust anlegten. Dwarosch selbst rammte kurz seinen Spieß in den Boden und prüfte den Sitz seiner Wurfbeile im Holster über seinem Gesäß. Er zog den Pelzmantel aus und legte ihn sich über die Schultern, schloss nur den obersten Verschluss, so dass er wie ein Umhang lag. Er würde ihn schnell loswerden müssen. Der Hauptmann tat es ihm gleich. Die Gestalt mit der dunklen Robe blieb stehen und blickte die Gruppe unverwandt an. Klein und schlank war sie, entweder eine zierliche Frau oder ein großes Kind, und leicht bekleidet für die winterliche Kälte. Währenddessen wanderten die anderen drei Wesen weiter, schwankend, als würden sie mit dem unebenen Untergrund kämpfen. „Schießt“, presste der Oberst kurz darauf zwischen den Zähnen hervor, als er sicher war, dass seine Soldaten ausreichend Zeit für das Zielen gehabt hatten. Die Sehnen knallen unmittelbar nach dem Befehl und zwei der Geschosse trafen. Sie durchschlugen sichtbar die Robe und ließen die Gestalt rückwärts taumeln. Sie brach ohne jede weitere Regung im Schnee zusammen, während die anderen drei unbeeindruckt ihren Weg fortsetzten, ohne dem Verlust ihrer Kumpanin irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. „Nachladen und Armbrüste in den Anschlag bringen. Wir marschieren in dieser Formation vor. Athax, behalte die Umgebung im Auge, ich will keine Überraschungen überleben“, waren die weiteren Anweisungen des Oberst. Er war sich nicht sicher, dass die Bolzen ausreichend gewesen waren. So ging es vorwärts. Als sie kurz darauf die im Schnee liegende Gestalt erreicht hatten, war noch immer kein Blut geflossen, zumindest nicht nachdem was sie sehen konnten. Die drei Schützen machten einen Bogen, während sich Dwarosch und sein Hauptmann langsam näherten. Athax hielt sein Schwert erhoben, jederzeit bereit einen gezielten Streich auszuführen. Der Oberst hingegen hielt den Schild vor seinen Oberkörper und hob mit der Spitze seinen Spießes die Robe vom Gesicht des was auch immer es seien mochte. Er blickte in die erstarrten Züge eines Mädchens, vielleicht vierzehn Sommer alt. Schmutzige schwarze Haarsträhnen und dunklere Haut wiesen auf eine Herkunft im Süden hin. Haut und Gliedmaßen waren noch unversehrt, lange konnte sie noch nicht verstorben sein. Finger und Hände indes waren blau verfärbt, und unter ihrem Hals, wo die Bolzen sie getroffen hatten, breitet sich langsam ein dunkler Blutfleck aus. Um ihren Hals hin, an einer langen Kette, hing ein silberner Anhänger, in den verschlungene Schriftzeigen eingraviert waren, wie ihn Magier benutzten – oder vielleicht herzustellen vermochten. Dwarosch spie aus, als er die Symbolik auf dem Anhänger zugeordnet hatte. „Drachenwerk“, kommentierte Antharax knapp und sah den Oberst fragen an. Dieser nickte nur grimmig und wandte sich ab. Hinter sich hörte er seinem Hauptmann sein blutiges Handwerk verrichten. Auf Höhe der Schützen, welche schon einige Schritt weitergegangen waren und auf die restlichen drei Verfolgten angelegt hatten, die sich weiter von ihnen entfernten, wartete Dwarosch auf seinen Freund. Der nickte, knapp und verschlossen. „Sie wird nicht mehr aufstehen.“ Die anderen drei Gejagten hatten anscheinend nichts vom Fehlen ihrer Begleiterin gemerkt – stur stapften sie geradeaus. Doch das Aufschließen zu ihnen war jetzt nur noch reine Formsache. Es dauerte nur noch kurze Zeit, dann hatten die Zwerge auch sie gestellt und schritten in geringem Abstand seitlich zu ihnen. Zweifellos waren es ihre verschwundenen Kameraden. Nein, sie waren es einmal gewesen. Die Körper, die bei ihrem Tod zurückgeblieben waren, stampften nun vor ihnen durch den Schnee, blau von Kälte, leichenblass- bar von Blut und mit leeren, stumpfsinnigen Augen. Alle Anrufungen von Brinarim und Rogatom von Seiten des Oberst führte zu keinerlei Reaktion, so wie er es erwartete. Die letzte Hoffnung erstarb. Schweren Herzens und mit einem riesigen Kloß im Hals gab der Oberst Befehl und schritt selbst vorneweg zur Tat. Er schloss gemeinsam mit dem Hauptmann auf die Höhe des großen, schweren Untoten am Kopf der kleinen Prozession auf. Die Schützen kamen kurz hinter ihnen, würden aber nur als Rückhalt dienen, falls etwas schiefgehen und Antharax und er selbst in Bedrängnis geraten würden. Dwarosch gab seinem Freund ein vereinbartes Zeichen und stürmte los. Unmittelbar bevor er den lebenden Leichnam erreicht hatte, zog er den Schild vor seine linke Schulter hoch, federte in die Knie und rammte die Kreatur aus einem niedrigen Schwertpunkt heraus. Es war eine nicht ungewöhnliche Taktik für seinen Kampfstil. Normalerweise würde jetzt der Spieß zum Einsatz kommen und den Gegner genau dann in den Boden nageln, wenn er aufkam. Doch heute war es anders. Dwarosch sorgte lediglich dafür das der Untote der Länge nach und mehr oder minder hart im Schnee landete. Nun reagierten auch die beiden untoten Zwerge. Offenbar war die Aggression ausreichend, um sie aus ihrer Lethargie zu reißen. Sie drehten sich mit unnatürlich gleichförmigen Bewegungen um und stapften los. Mit erhobenen, krallenartigen Händen strebten sie auf Dwarosch zu. Doch damit hatte der Oberst gerechnet. Athax war kurz hinter ihm vorgestürmt und hatte seinen Rücken gedeckt. Er erlösten die beiden ehemaligen Kameraden in nur wenigen Herzschlägen. Dwarosch hatte dies seinen Soldaten nicht zumuten wollen. Nein, dies war seine Aufgabe und er war froh seinen Freund bei sich zu wissen der ihm half. Der große Leichnam versuchte unterdessen zweimal mit langsamen, ungelenken Bewegungen aufzustehen, doch Dwarosch stieß ihm jedes Mal die Beine mit seiner Stangenwaffe weg. Erst als Athax sichergestellt hatte, dass die beiden anderen nicht wieder aufstehen würden, er sein blutiges Werk vollbracht hatte, zog sich Dwarosch zurück. Der lebende Leichnam erhob sich, diesmal erfolgreich und setzte seinen Weg fort, seine vernichteten Gefährten kratzten ihn ganz offensichtlich nicht. Seine rechte Hüfte schien gebrochen, denn sein Gang sah unnatürlich aus, doch Schmerzen konnte diese Kreatur ohnehin nicht mehr verspüren. Grimmig nickte der Oberst. Er hatte gehofft, das der Untote einfach weiterlaufen würde. Nun könnten sie ihn verfolgen. Wenn Dwarosch richtig lag musste er ein konkretes Ziel haben, der bisherige Weg schien das nur zu bestätigen. Dort würde er Marbolieb finden, dies war die nächste Hoffnung. Bevor sie dem kalten Alrik folgten, nahm Dwarosch die persönlichen Dinge der Zwerge an sich. Er würde sie ihren Familien übermitteln lassen. Mehr konnte er nicht für sie tun.

Das Ziel vor Augen

Der Untote schwankte weiter voran, die aufgehende Sonne immer mehr zur Linken. Grau und kalt war der Tag, der Himmel verborgen unter einer dicken Wolkendecke, und das Praiosschild blieb nicht mehr als ein heller, verschwommener Fleck im diesiggrauen Alveranszelt. Dennoch schien ihm dies zuviel des Guten – unter den Ästen einer mächtigen Schwarztanne blieb er stehen, als habe man ein Rad mit einem Keil blockiert, und wartete. Die Mittagsstunde kam und ging vorüber, und der kurze Wintertag näherte sich seinem Ende, als wieder Bewegung in das Wesen, das einmal ein Mensch gewesen war, kam. Stoisch stapfte die Gestalt voran, querte einmal einen halb zugefrorenen Bach und wanderte einen Waldrand entlang, nun fast direkt gen Praios, ehe die dichten Äste des Nadelwaldes ihn wieder umfingen. Im zunehmenden Dämmerlicht schien er zielstrebiger und schneller voranzukommen, Müdigkeit, Hunger und Durst kannte er nicht mehr. Die Angroschim hingegen schon und auch wenn sie die Pause, die der Untote anscheinend aufgrund des Sonnenstandes gemacht hatte genutzt hatten, um sich auszuruhen, abwechselnd zumindest ein wenig zu schlafen und sich zu stärken, waren sie allesamt nervlich und körperlich am Ende ihrer Belastungsgrenze. Der Abend des eintönigen Tages brach herein, als ihr Weg die ungleiche Gruppe höher hinauf in die Berge führte. Unter Bäumen, die ihre Wurzeln in die dünne Humusschicht auf gewachsenem Fels krallten, ungeachtet Dornichts und schroffer Wurzeln, führte der unfreiwillige Wegefinder. Seitlich des kaum sichtbaren Pfades wuchs eine mannshohe Mauer, gefügt aus sauber behauenen Steinen und längst wieder erobert von der Macht der Gehölze, empor, und hin und wieder, wo der Wind die Schneedecke beiseite gefegt hatte, ragten einzelne Trittplatten aus dem Nadelbett der Jahrhunderte. Der kalte Alrik bog um eine Felsnase – und war verschwunden. Dwarosch deutete seinen Gebirgsjägern einen Moment zu warten und lief dann mit Antharax einen Halbkreis, bis sie freie Sicht auf die Stelle hatten, wo sie den Untoten aus den Augen verloren hatten. Er blieb wie vom Erdboden verschluckt, ein Umstand, der auch gleichzeitig des Rätsels Lösung darstellte, denn die beiden Zwerge erkannten bei vorsichtiger Annäherung an eben jene Stelle, dass die Spuren der Kreatur unter den Wurzeln einer uralten Kiefer abrupt endeten. Doch nicht nur das, denn unter einer kleinen Abdeckung aus Ästen fanden sie ein Loch, welches schräg in die Tiefe führte. Kurz beratschlagten der Oberst und sein Hauptmann wie vorzugehen sei, dann wurden Sturmlaternen entzündet und Dwarosch ging dicht gefolgt von Athax die Stiege herab. Die Soldaten folgten in kurzem Abstand mit geladenen Armbrüsten. Der Oberst hielt den Schild schützend vor sich, den Spieß im Anschlag und auf den Schild abgelegt, stoßbereit. Antharax hatte sein kurzes Schwert in der Hand und hielt eine der Sturmlaternen. Der Gang roch modrig, feucht und war offenkundig aus dem Stein geschlagen, der hier oben im Gebirge immer noch nahe unter der Erdoberfläche lag. Am Ende des herabführenden Tunnels, sie waren vielleicht zehn Schritt weit gelaufen, öffnete sich der Gang in einen Kellerraum. Auf dem Boden lagen einige Steinbrocken, die vor Urzeiten aus der Decke gebrochen waren. Boden und Wände waren mit einer dicken Schicht Moder und Staub überzogen und unter der Decke zog sich ein Geflecht aus schwarzen Pilzfäden entlang. Es war hier um weniges wärmer als draußen, die Temperatur war die eines kühlen Bierkellers oder einer Höhle. Aus dem Gewölbe führte eine Tür auf einen schmalen Gang, auf den auch die Spuren am Boden hinwiesen. Der Gang war gerade einmal schulterbreit für einen Angroscho und so hoch, dass ein Mensch darin stehen konnte. Die Wände waren größtenteils gewachsener Stein, nur der obere Rand unter der Decke und diese selbst waren gemauert. Der Gang endete nach etwa einem Dutzend Schritt vor einer massiv aussehenden, neuen Bohlentür, die von innen verriegelt war. Am unteren Rand der Tür befand sich eine anderthalb Spann auf anderthalb Spann messende Aussparung. Während sich der Oberst und der Hauptmann in die zweite Reihe zurückzogen, nah beieinander, eng stehend wegen der räumliche Gegebenheiten die keinen Raum für vielerlei Manöver bot, kniete Baschtox mit Armbrust im Anschlag auf ein Knie nieder. Trina sicherte nach hinten. Andorgam hingegen rückte derweil der Tür zur Leibe und untersuchte sie zunächst auf Fallen. Nachdem dies ohne Ergebnis geblieben war, kramte der Zwerg in eine seiner Gürteltaschen und brachte Metalldraht daraus hervor, den er sogleich in die Öffnung für den Schlüssel einführte und begann das Schloss zu bearbeiten. Andorgam war kein Experte im Knacken von Schlössern, aber eine primitive Mechanik würde er schon aufbekommen, ohne viel Lärm zu veranstalten. Xadresch hätte diese Tür nur ein Lächeln gekostet, davon war Dwarosch überzeugt. Sein Freund hatte eine dunkle Vergangenheit über die er sich ausschwieg und der Oberst drang nicht weiter in ihn, da er seine Hilfe schätzte. Leider war er nicht hier, sondern bildete in Senalosch die Schützen des Regimentes aus. Eine gefühlte Ewigkeit dauerte es, bis unter Andorgams Händen das Schloss aufsprang und er es schaffte, den Riegel zurückzudrücken. Mit leisem Knarzen öffnete sich die Tür auf massiven, gut geschmierten Angeln. Dahinter war ein finsterer Raum, bei dessen vorsichtigster Untersuchung das Licht der Sturmlaternen über massive, vergleichsweise neu aussehende Holzregale lief, auf denen Truhen und Krüge lagerten. In einer Ecke stand gut ein Dutzend Fässer aufrecht, ein weiteres war liegend auf Holzböcke aufgesetzt. Eine weitere, breitere Tür schloss den Raum ab, weitere Ausgänge waren nicht zu finden. Nacheinander und auf das Vermeiden von Geräuschen bedacht rückten die Angroschim in den Raum, um ihn zu sichern und zu untersuchen, wobei Athax bei der weiterführenden Tür stand, um darauf zu achten, ob er etwas von der gegenüberliegenden Seite vernehmen konnte. Misstrauisch sah sich der Oberst um, ging den Inhalt der Regale durch und roch an den Fässern. Die Fässer enthielten jeweils einmal Bier, Wein, Wasser, Honig und Sauerkraut, der Rest roch nach scharfem Schnaps, der aber einen beißenden Untergeruch wie in einem Alchemistenlabor nicht überdecken konnte. Die kleineren Fässer bargen erstaunliche Mengen an Salz, eingelegte Äpfel und eingemachtes Gemüse und gepökeltes Fleisch, die Kisten fein gemahlene Kohle, sorgsam abgepackte Kräuter und eine Anzahl von kleinen Säckchen und verschlossenen Phiolen – was wiederum eher an die Ausrüstung eines Lazaretts, eines Seifensieders und eines Alchemisten denken ließ. Ein leises Schleifen, Tappen und Kratzen von jenseits der zweiten, breiteren Türe kündigte an, dass die Angroschim nicht allein in dem Kellersystem waren. Dwarosch ließ auch diesmal die Tür, welche weiter in den unterirdischen Komplex führte untersuchen, bevor er Order gab zu versuchen sie zu öffnen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie alle wieder ihre Positionen eingenommen, wussten sie doch, dass sie nun auf Widerstand stoßen würden. Die Tür war verschlossen, zur Ausnahme aber nicht verriegelt. Ein Blick durch den Spalt ließ einen vollkommen finsteren, offenbar, dem Hall nach zu schließen, großen Raum erahnen. Und mit dem Öffnen der Tür drang der Gestank nach Tod, Verwesung und Alchymika auf die Angroschim ein. Dwarosch war sich bewusst, dass sie sich mit größter Wahrscheinlichkeit durch den nächsten Raum würden durchkämpfen müssen. Zumindest nach den Geräuschen, die sie vernommen hatten. Vorbereitung war gefragt. Die Zwerge leerten eines der Regale, stellten den Inhalt vorsichtig auf dem Boden ab und zerlegten es so leise dies möglich war. Vier längliche Hölzer waren das, was sie benötigten. Eines der Seile aus ihrer Ausrüstung wurde in Teile geschnitten und eng um jeweils ein Ende der Hölzer gewickelt und anschließend sorgfältig festgeknotet. Dann mischten sie Gebrannten aus einem der Fässer mit Lampenöl, welches sie wegen den Sturmlaternen bei sich führten und tauchten die improvisierten Fackeln in die so gewonnene Mischung, so dass sich die Seile vollsaugen konnten. Nachdem sie danach eine Weile nach dem Herausholen aus der Flüssigkeit abgetropft hatten, wurden die Fackeln entzündet. Zunächst nur zwei, zwei waren Reserve. Nun galt es. Dwarosch und Antharax stellten sich Seite an Seite in etwas mehr als Armreichweite vor die Tür. Anthax trug sein Einhand- Schwert, der Oberst den Lindwurmschläger, beide ihre Wehr. Trina kniete seitlich zur Tür, dort wo sie den aufschwingen würde und hatte die beiden, brennenden Fackeln in den Händen. Ihre Axt lag griffbereit vor ihr. Als Dwarosch Zeichen gab öffnete Baschtox vorsichtig die Tür und ließ sie dann in einer fließenden Bewegung aufschwingen. Sogleich fiel ein Lichtkegel von ihrer Position aus in die Finsternis jenseits der Türöffnung und die Zwergin warf eine der Fackel in dem Moment hinein, da die Tür ganz geöffnet war, sie somit ihren Anschlagpunkt an der Wand fand und Trina registrierte das der Boden in ihrem Sichtfeld noch frei von Hindernissen war, die sogleich Feuer fangen konnten. Baschtox verschwand derweil in die zweite Reihe, wo auch Andorgam stand. Die Fackel viel mit einem Klackern von Holz auf Steinboden und Athax und Dwarosch taten einen Schritt vorwärts, so dass sie unmittelbar vor der Türöffnung standen. Die Fackel als solche hatte das halbe Dutzend Grauwölfe, das durch den Raum streunte, nicht über Gebühr interessiert. Doch als die Zwerge durch die Tür traten, wandten sie sich wie eine Person um und sprangen in vollkommenen Schweigen wie eine graue, zottige Woge auf die Athax und Dwarosch zu. Einige Tische, Regale an den Wänden und ein großer Herd in der Ecke engten den Bewegungsfreiraum deutlich ein. Auf den Tischen lagen drei blutige Gestalten, auf einem ein rotbrauner Haufen undefinierbarer Masse – für eine genauere Untersuchung blieb keine Zeit, als die Wölfe mit erschreckend geschmeidigen Bewegungen – und doch mit durch die löchrige Decke blank hervorstehenden Knochen – heran waren auf die Eindringlinge eindrangen, noch immer ohne jeden Laut. Dwarosch und Athax stellten sich Rücken an Rücken, um zumindest nicht von Hinten angegriffen zu werden, aber auch, um den Platz im Raum möglichst günstig ausnutzen zu können. Ihnen zum Vorteil gereichte, dass sie wohlweißlich kurze Waffen gewählt hatten und ihre Schilde in Händen hielten. Die Zwerge hackten auf die untoten Wölfe ein, wann immer sie ihnen zu nahekamen. Doch die Bestien rannten nicht ungezielt gegen sie an, sondern griffen meist gemeinsam an, so dass die Wehr ihren Wert mehrfach beweisen musste. Dennoch gelang es einem der Wölfe Antharaxs achteckiges Schild zu unterlaufen und in seinen Oberschenkel zu beißen. Die Kettenrüstung und das wattierte Unterzeug hielten das gröbste ab, eine kleine Verletzung musste er trotzdem hinnehmen, bevor sein abgewinkeltes Schwert die Wirbelsäule im Nacken der Kreatur zertrennte und sie von ihm abließ. Dwarosch fällte gleich mit dem ersten, wuchtigen Schlag einen der Wölfe. Dies war nur einen Wimpernschlag nachdem er den anderen ihn attackierenden Wolf im Angriffssprung von einem der Tische auf ihn mit dem Schild abgeblockt und das Tier in eine Ecke des Raumes befördert hatte. Als das Tier wieder bei ihm ankam hatte es einen gebrochenen Hinterlauf und kostete Dwarosch nur noch wenig Mühe. Zwei der Tiere stürmten an Oberst und Hauptmann vorbei und wurde von den drei verbliebenen Angroschim erwartet, welche sich im Halbkreis hinter dem Türdurchgang aufgestellt hatten. Eigentlich hätte es ein kurzes Aufeinandertreffen werden sollen aufgrund der Zahlenmäßigen Überlegenheit, doch einer der Wölfe erwies sich als sehr zäh. Trotz zweier Äxte, die in seinem Leib hieben, schaffte er es das Schild Andorgams zu umgehen und ihm in den Unterschenkel zu beißen. Das gehärtete Leder seiner Hose konnte zwar etwas der Wucht auffangen, doch die Fänge drangen dennoch tief ins Fleisch und die übernatürliche Kraft der untoten Kreatur brachte den Soldaten zu Fall, bevor Baschtox und Trina ihn mit mehreren Schlägen das Genick durchtrennten. Als der Kampf vorbei war sicherte Dwarosch den Raum, stellte mit einigen, gezielten Axthieben sicher, dass garantiert nichts mehr existierte, was ihnen gefährlich werden konnte und platzierte sich dann an der weiterführenden Tür. Die anderen Zwerge rückten auf und versorgten Andorgams Verwundung. Sie wuschen sie mit Gebranntem aus und verbanden sie gründlich. Er würde das Bein nicht mehr zum Sprinten nutzen können, doch laufen und kämpfen würde gehen, versicherte er grimmig. Athax, der seine Verletzung nur kurz missbilligend in Augenschein genommen und entsprechend behandelt hatte sah sich derweil genauestens um. Die Wände waren von einer umlaufenden Arbeitsplatte in Hüfthöhe eines Menschen und darüber aufgehängten Regalen belegt. Auf der Arbeitsplatte lagen zwei aufgeschlagene Bücher und mehrere Pergamente, darunter die ‚Astralen Geheimnisse’ sowie der Almagest Niobaras, ein Exzerpt aus den Schriften Tahpîrel ar’Ralahans und zwei in Nanduria gehaltene Schriftrollen, von denen Athax lediglich die in Kusliker Zeichen hinzugekritzelte Bemerkung ‚TSFL, Fuchs!’ entziffern konnte.. eine aufgebaute Destillationsanlage mit einer Retorte wartete auf ihre Reinigung, und mehrere Mörser, Schneidebretter standen benutzt, einige bereits auch schon wieder gereinigt und bereit zu trocknen darauf. Säckchen und Flaschen mit verschiedensten Inhalten lauerten noch darauf, wieder an ihren Platz im Regal zurückgestellt zu werden. An der Stirnseite befand sich eine sicher anderthalb Schritt große Feuerstelle mit einem aus Feldsteinen gemauerten Abzug. Ein Stapel Holz und ein Sack Zwergenkohle stand in sicherer Umgebung daneben, im Herd glühten noch Kohlen. Auf einem Dreibein, an den Rand gerückt, stand ein großer Kessel, ein weiterer hing an einer Kette über der Glut und dampfte. Dieser enthielt nur heißes Wasser, in dem auf dem Dreibein stehenden Kessel hatte sich ein ölig schillernder, zäher Bodensatz gesammelt, dessen Gestank Athax fast den Atem nahm. Vier große, stabile Tische waren über den Raum verteilt Auf einem der Tische stapelte sich auf einem Brett ein großer, dunkelroter Haufen, der aus Innereien bestehen mochte und einfach widerwärtig stank. Auf den restlichen Tischen waren mit ausgebreiteten Armen und Beinen menschliche Gestalten fixiert, über das Holz hatte sich schwarz und verkrustet ein Film aus Blut gelegt. Bei der ersten handelte es sich um einen uralten, zahnlosen und maustetoten Mann, dessen Bauch vom Brust- bis zum Schambein feinsäuberlich aufgetrennt war. Einige Einzelteile fehlten bereit – Athax beschloss, dass die Vertiefung seiner anatomischen Kenntnisse etwas Aufschub erlaubte, als er sich schaudernd abwandte. Auf dem zweiten Tisch lag ein Junge, vielleicht zwölf Götterläufe alt, gleichfalls nicht mehr unter den Lebenden und in keinem schönen Zustand. Die dritte Gestalt war ein junger Mann, dessen Unterleib von einem blutdurchtränkten Tuch abgedeckt war. Athax suchte den Blick seines Vorgesetzten und Freundes und schüttelte bestätigend den Kopf, als die dritte Gestalt auf einmal den Kopf bewegte und schmerzerfüllt stöhnte. Ohne sichtbare Veränderung seiner versteinerten Miene sah der Oberst zu Trina und nickte kaum merklich in Richtung des Jungen. Die Zwergin kam dem stummen Befehl sofort nach und eilte zu Athax herüber. Dieser wartete angespannt, bis seine Kameradin die Axt über dem Hals des Menschen erhoben hatte, bevor er den Puls zu ertasten versuchte. Unter den Fingern des Angroscho flatterte der Plus des jungen Menschen – viel zu schnell und viel zu flach, als er die bis an die Zähne bewaffneten Zwerge mit glasigen, weit aufgerissenen Augen zu fixieren versuchte. Ohne Worte gab der Hauptmann zu verstehen, dass Trina die Axt senken konnte und Dwarosch verstand ebenfalls. Er wies Baschtox und Andorgam an, sich an der Tür zu postieren während er zu dem Jungen schritt. Das Mahlen seiner Wangenknochen verriet Athax, dass ihm das noch lebende Opfer nicht ins Konzept passte. Er wollte weiter zum Kern des unterirdischen Systems vordringen. Schnelles, präzises Vorgehen, das war sein bisheriger Plan gewesen. Der Oberst legte dem Jungen eine Hand auf die Brust und sprach mit leiser, beruhigend- tiefer Stimme. „Die Zwölf zum Gruße. Wir sind hier um dieses Frevlernest auszumerzen. Hab keine Angst, von uns droht dir keine Gefahr. Wer bist du?“ Der Bursche, dessen Blässe unter einer ansonsten leicht getönten Haut übel mit seinem pechschwarzen, strähnigen Haar kontrastierte, versuchte den Oberst anzusehen. Seine Lippen bewegten sich, und ein tiefes, klägliches Stöhnen drang über sie, ehe sein Kopf zur Seite kippte und seine Glieder erschlafften. Sein Atem pfiff in seiner Lunge und ging flach und schnell. Ein tiefes, grollendes Knurren entrann Dwaroschs Kehle. „Verfluchter Orkendreck!“ Er schloss die Augen und ging ihre Alternativen und deren Wahrscheinlichkeiten mit dieser sich abzeichnenden, neuen Variable durch. Seufzend und aufs Schlimmste gefasst nahm er das Tuch weg, um zu sehen, ob es überhaupt noch Hoffnung gab, dem Jungen zu helfen war. Ein schräger Schnitt zog sich über die Schambeinkante des Jungen hoch bis zum Nabel und hatte seinen Bauch offengelegt. Um die Mühen nicht zweimal auf sich nehmen zu müssen, war der Schnitt durch zwei Klemmen fixiert und offengehalten, was einen interessanten und wenig angenehm riechenden Einblick in seine Innereien gab. „Ogerkacke. Dafür wird jemand bezahlen müssen“, zischte Dwarosch zwischen den Zähnen hindurch. Seine Stimme klang drohend, ja sogar ein wenig aufgebracht. Er schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus, um sich zu beruhigen. „Wir versorgen ihn und gehen weiter. Mitnehmen können wir ihn nicht. Wir holen ihm auf dem Rückweg“, gab der Oberst dann sogleich bestimmt vor, als er sich gefasst hatte. Die Zwerge säuberten seine Wunde, lösten die Klammern und strichen Wundbalsam auf die Ränder des Schnittes. Danach legten sie saubere Verbände darüber und flößten ihn etwas Sud ein, welcher seinen schlechten Zustand verbessern sollte. Als sie den Jungen so gut sie es vermochten stabilisiert wussten, schritten Dwarosch und Antharax zur weiterführenden Tür, unter der wiederum kein Licht zu ihnen drang. Andorgam hatte derweil schon dessen Schloss untersucht, die Tür war nicht verschlossen. Der Oberst gebot mit einer Handbewegung für Ruhe, während Athax das Ohr auf die Tür legte um zu lauschen. Dahinter war es still. Totenstill. Und ohne Unleben in jeglicher Form – die Tür öffnete sich nach vorsichtigem Erkunden auf einen leeren Gang, an dem rechterhand eine und linkerhand fünf Türen abgingen, ehe er mit einer Türe abschloss. Möglichst leise und weiterhin nach Fallen Ausschau haltend, schritten die Zwerge weiter, tiefer in die unterirdische Anlage. Dwarosch ging voran und deckte mit seinem Schild fast die ganze Breite des Ganges ab. Hinter ihm lief Antharax. Die anderen drei sicherten nach hinten und ließen dabei jeweils ausreichenden Abstand zwischen einander, damit sie sich im Ernstfall nicht alle gegenseitig behinderten. Dies war etwas was sie nicht absprechen mussten, die Angroschim waren alle erfahren im Kampf auf beengtem Raum, denn dies war quasi ihr natürlicher Lebensraum. Auf Höhe der ersten Tür, welche sich zur rechten Hand befand stoppte Dwarosch und nickte in ihre Richtung. Sein Hauptmann hinter ihm verstand und lauschte auch am Holz dieser Tür. Dahinter war es still – ein leises Rascheln, wie von Mausefüßen, doch keine Atemzüge eines größeren Wesens. Athax schüttelte nur stumm mit dem Kopf. Seine Kameraden verstanden und rückten auf. Dwarosch tat einen Schritt rückwärts an seinen Freund heran. Gemeinsam stießen sie der Reihe nach in den hinter der Tür liegenden Kellerraum, schnell und routiniert. Drinnen fächerten sie auf und sahen sich mit erhobenen Waffen um. Der Raum war eine aus festem Stein gefügte, zwei auf zwei Schritt messende Zelle – leer bis auf einen Haufen fauligen, übel stinkenden Strohs am Boden, in dem sich eine fette Ratte häuslich eingenistet hatte. Eiserne Ringe an Wänden und Decke erzählten von der Möglichkeit, aufsässige Insassen zu fixieren. Nach einer kurzen Untersuchung ging es weiter. Es war offenkundig wofür dieser Kellerraum verwendet worden war oder noch wurde. Es gab keine Zeit zu verschwenden. Doch auch die anderen vier Räume, welche an dem länglichen Gang grenzten, stellten sich als ebensolche Zellen, alle leer, alle kürzlich noch besetzt, heraus. Es blieben nur noch zwei Türen, eine rechterhand, eine am Ende des Ganges. Die Zwerge widmeten sich erst der nächstgelegenen, weil sie in ihr auch eine Zelle vermuteten und, weil der Oberst keine Unbekannte in seinem Rücken wissen wollte. Dies war eine Frage der Sicherheit. Die Tür, hinter der ebenfalls keine Geräusche zu hören gewesen waren, öffnete sich in einen überraschend behaglich eingerichteten kleinen Wohnraum. Eine Feuerstelle – vermutlich gegenüber des Kamins im Labor – war kalt und ausgefegt, einige Truhen, ein großer Lesetisch und ein kleinerer Beistelltisch unter einem polierten Silberspiegel an der Wand sowie ein großes Himmelbett mit schwarzen Vorhängen wiesen darauf hin, dass es sich hier eine Dame wohnlich gemacht hatte. Einen zweiten Ausgang hatte der Raum nicht. Der Oberst ließ Trina und Baschtox die Tür in den Gang sichern, während er und Athax sich an die gründliche Durchsuchung des Raumes machten. Andorgam untersuchte derweil die Truhen auf Fallen. Diese waren teilweise abgeschlossen, aber nicht durch Fallen gesichert. Sie enthielten eine große Garderobe, die mehrere Geweihtenroben, Alltagskleidung, schwarze Kutten, Unterzeug und verschiedene Sorten edler Gewandung umfasste, Masken, Haarteile, Schmuck von sehr guter Qualität – alles, was eine Dame von Rang und Stand benötigen mochte. In zweien, den am besten gesicherten, lagen Dokumente, Bücher und Schreibunterlagen, der Rest umfasste seltsamerweise einen kompletten Hausrat, wie er die Aussteuer einer reicheren Dame, wenn auch nicht des Hochadels, bilden mochte. Mit leichter Verwunderung sahen sich die Angroschim an, damit hatte keiner gerechnet. Von größerem Interesse waren die Dinge dennoch nicht. Das Wertvolle würden sie später plündern und den Gegenwert den Familien der Gefallenen zukommen lassen. Das wäre nur gerecht. Nun blieb ihnen zunächst die letzte ungeöffnete Tür, am Ende des Ganges zu nehmen, um zu sehen wohin sie führte. Dort würden sie finden wonach sie suchten, so Dwaroschs innige Hoffnung. Oberst und Hauptmann blieben bei ihrer bekannten Formation und auch Trina, Baschtox und Andorgam folgten in bekannter Haltung, ihren Rücken absichernd. Die Tür führte zu einer Wendeltreppe, die sowohl nach oben als auch nach unten weiterlief. Von oben drangen, gedämpft durch die Entfernung und vermutlich eine weitere Tür, die Geräusche einer größeren Auseinandersetzung nach unten. Es war wohl kein Waffengeklirr, doch eine handfeste Rangelei mit dazugehörigen Schreien vernahmen sie deutlich. Dwarosch und Athax wandten sich sofort nach oben, um den Weg zu sichern, fall jemand herabstürmen würde. An seine Soldaten gerichtet gab der Oberst leise aber bestimmt Befehl. „Trina, Andorgam, Armbrüste laden. Baschtox du gehst am Ende, halte unserem Rücken im Auge. Wir gehen nach oben.“ Er war sich nicht ganz Wohl bei dem Gedanken, dass es eine Falle seien konnte und ihnen wohlmöglich von unten Gefahr drohen konnte, doch das Risiko musste er eingehen. Außerdem war es schier selbstmörderisch aus einer tieferen Position gegen höherstehende Gegner anzugreifen. Dwarosch wollte nicht daran glauben, dass jemand so etwas außer Acht lassen konnte, bei dem Legen eines Hinterhalts. Mit eiligen Schritten rückten sie die Treppe hinauf vor.

Die Grenze zwischen den Welten

Ungefähr sieben Schritt weiter oben floss als kalter Luftzug der Nachtwind über ihre Gesichter. Über Ihnen standen die Ruinen eines Turmes, der auf einen offenen, von einer noch immer mannshohen Mauer umzogenen Hof hinauslief. Den Hof erhellte der Schein von fünf Feuerpfannen, die in gleichmäßigen Abständen an den Mauern aufgereiht waren. Auf dem Hof bewegten sich die Gestalten mehrerer Menschen und einiger Hunde – oder Wölfe. Der Lärm drang vom entgegengesetzten Ende des Hofes, wo ein verfallener Torbogen ins Freie führte. Die scharfen Augen Athax’ vermochten die mächtigen Leiber einiger Wildschweine auszumachen, die dort mit irgendetwas– oder jemandem– zugange waren. Das Licht reichte nicht aus, um die Sterne am inzwischen aufgeklarten Himmel zu bedecken, die sich wie verteilte Diamanten auf dem tiefschwarzen Alveranszelt ausbreiteten. Die Menschen, etwas mehr als ein Dutzend, standen im Kreis um eine im Inneren des Hofes aufgebaute, etwa einen Schritt hohe Plattform, um die herum fünf Pfähle standen. Dazwischen drängten sich neun weitere Personen, die hoch erhoben jeder einen Fuchs an ausgestreckten Armen hielten. Auf der Plattform, ein größerer Tisch, lag eine menschliche Gestalt, und auch an jedem der Pfähle hing eine solche kopfunter. Davor stand, kaum auszumachen zwischen den Umstehenden, eine schlanke Frau in einer hellen, schimmernden Robe, die mit lauten Worten einen Text rezitierte. Die Zwerge ließen ihre Lichtquellen zurück und rückten fast lautlos auf etwas mehr als fünfzehn Schritt an die grausige Szenerie heran. Alle daran Beteiligten waren viel zu sehr mit sich selbst und ihrem Tun beschäftigt, um sie zu bemerken. Darüber hinaus bewegten sich die Angroschim abseits des Lichtscheins im Halbdunkel. Mit dem Rücken zu einer eingestürzten Wand, die aber noch ausreichend Deckung nach hinten bieten konnte, nahmen die fünf Aufstellung. Dwarosch stand in der Mitte, nun wieder mit Spieß und Schild angetan, Athax zu seiner Rechten, Baschtox zur Linken. In den bewusst gesetzten Zwischenräumen gingen die Schützen auf ein Knie nieder. Weit von der Wendeltreppe hatten sich nicht entfernen müssen, was strategisch günstig war, falls sie einen Ausfall zur Flucht würden unternehmen müssen. “Ihr beiden schießt wann immer euch einer zu nahekommt, oder jemand an den Altar tritt”, gab der Oberst Trina und Andorgam klaren Befehl. Er vermutete, dass es Marbolieb war, die dort lag. Als Geweihte war sie ein wertvolles Opfer an einen Dämon und nichts anderes als eine finstre Beschwörung konnte hier vor sich gehen, so vermutete der Oberst. Der Aufruhr den sie gehört hatten, kam anscheinend von anderen unliebsamen Gästen, die nun mit den Wildschweinen beschäftigt waren. Kurz dachte Dwarosch an einen Vorstoß zu ihnen, doch konnte er die Risiken nicht zu seiner Zufriedenheit genug eingrenzen, gab es doch auf diesem Wege zu viele Unbekannte. Außerdem war nicht sicher, dass die andere Partei ihnen freundlich gegenüberstehen würde. “Als erstes aber bringt ihr mir die Rednerin zu Boden.” Sie war die wohl größte Gefahr mutmaßte Dwarosch. Es konnte nur die Paktiererin sein. Die vermeintlichen Kultisten waren wohl nur kampfunerfahrene Menschen. “Wir drei decken euch, so dass ihr zielen und nachladen könnt. Eure Reichweite ist unser einziger Vorteil in dieser Situation. Schießt sie nieder”, kam am Ende der Befehl und die Sehnen knallten. Zwei der Gestalten um die Hellgekleidete Frau wankten. Einer von ihnen hielt einen der Füchse in der Hand, aus dessen nach unten hängendem Kopf eine dunkle Flüssigkeit nach unten rang. Die Figur fasste sich mit der Hand an den Nacken, zog an dem Bolzen, bekam ihn nicht frei und nahm stoisch ihre frühere Haltung wieder auf. Die zweite Gestalt brach zu Boden, griff nach den Fingern nach dem Holzschaft und zog. Laut krachend löste sich das Geschoss und nahm Blut und Knochen mit sich. In vollkommender Stille rollte das Wesen sich auf Knie und Ellbogen und kam ungelenk wieder zum Stehen. Den Tumult nahmen auch fünf Umstehende zum Anlass, sich umzuwenden und mit leeren Augen die Zwerge anzustarren. Schwankend kamen sie auf die Angroschim zu, während einige der Wölfe wie ein schwarzgraue Woge gleichfalls in ihre Richtung flossen. Dwarosch bot das die Gelegenheit für einen genaueren, wenn auch nur herzschlagkurzen Blick auf die Szene. Die Füchse in den Händen der neun Gestalten zuckten noch schwach, während ihr Blut zu Boden rann. Die kopfüber an den Pfosten aufgehängten Menschen bewegten sich gleichfalls noch schwach, während eine dunkle Flüssigkeit die Pfähle entlang gen Boden rann. Die Gestalt auf dem Podest wurde von vier Dolchen fixiert, die in ihren Armen und Beinen staken. Über das Land hatte sich eine eiskalte Stille gelegt, ein Abwarten, das wie die Luft vor einem Gewitter auf der Haut knisterte. Es schien, als sei alle Aufmerksamkeit der Nacht hier, an diesem umschlossenen Ort, vorhanden – und als wären die Augen, die diesen Ort betrachteten, kälter als jedes Eis des Winters. Die Hellgekleidete hob eine Schüssel über die liegende Gestalt und goss sie mit einem lauten Ruf aus. „Uttara’Vha, ich rufe Dich! Folge dem Weg der Herrin von Asche und Staub, den ich Dir weise. Beuge Dich meinem Befehl!“ Das Knistern nahm an Stärke zu, sein reißen, als kämpfte etwas darum, den Vorhang von Sein und Zeit zu zerreißen. Drängelnd, geifernd und hastend waren die Wölfe heran. “Die Hexe”, bellte Dwarosch ungehalten, “zielt auf die Hexe!” Währenddessen spießte er das erste der zerzausten Tiere, die nichts mehr mit den edlen Jägern des Waldes gemein hatten, im Sprung auf und brach ihm mit einem gezielten Schlag der Schildkante das Rückgrat. Antharax, dessen großes Runenschwert erneut reiche Ernte hielt und Baschtox tat das ihre dazu, dass die Wölfe nicht zu den Schützen durchbrechen konnten. Doch denen bot sich nie ein freies Schussfeld, da die untoten Ritualhelfer ihre Meisterin deckten, oder wahrscheinlicher sie sich bewusst hinter ihnen verbarg. Die Dolche in dem Opfer auf dem improvisierten Altar stachen Dwarosch ins Herz, Sorge, Verzweiflung und Zorn loderte gleichzeitig tief in ihm auf und waren nur schwer in Zaum zu halten. Doch seine Erfahrung sagte ihm, dass kopfloses Handeln selten zum Erfolg führte und häufig verheerende Folgen hatte. Das konnte, das durfte er nicht zulassen. Als nach drei abgefeuerten Salven immer noch keinen nachhaltiger Erfolg zu verzeichnen war und die sechs untoten Wölfe entweder vernichtet oder zumindest nahezu bewegungsunfähig waren, galt es die Taktik an die Situation anzupassen. Das Ritual stand womöglich kurz vor der Vollendung. “Hoch”, befahl der Oberst seinen Schützen, “bleibt zwei Schritt hinter uns und gebt uns Bewegungsfreiraum. Wir brechen die Linie der Leichname auf.” Die langsam schwankenden Gestalten hatten sie unterdessen fast erreicht. “Wartet bis ihr auf das dreckige Miststück zielen könnt und tötet sie”, forderte Dwarosch. Doch das war, Phex sei’s geklagt, einfacher gesagt als getan. Die Untoten waren sich der Gefahr in ihrem Rücken wohl bewusst, und bis auf die wenigen Ritualhelfer hatten sie sich wie eine Wand umgewandt und drangen nun ihrerseits auf die Zwerge ein, ihre gewaltige Kraft und Zähigkeit auf diesem engen Raum perfekt ausspielend. Ein besonders großgewachsener Kerl, in eine vollständige Ritterrüstung gekleidet, ragte hinter den Schergen auf, hob, den Angroschim zum Hohn, seinen besudelten Schild und dirigierte mit weiten Bewegungen die Angriffe der verwesenden Leichen, bestrebt, die Formation der Zwerge aufzubrechen und einen der Flankenkämpfer zu isolieren, ein Ansinnen, das durch die schiere Masse seiner Knechte einige Aussicht auf Erfolg versprach. Die Temperatur auf dem Hof sackte um einige Grade ab und der Stein unter den Füßen Darwoschs überzog sich mit einer Eisschicht und ein gewaltiger Schatten legte sich über einen Teil des Himmels und verdunkelte das Licht der Sterne. “Waffenwechsel! Atax, wir verschaffen den anderen Luft”, rief Dwarosch, machte einen Satz vorwärts und ließ seinen Spieß in weit ausladenden Schwingern kurz über den Boden hin und her fahren. Dort wo die nun zweckentfremdete Infanteriewaffe auf Widerstand stießen, riss er sie zurück und ließ sich die daran befestigten Sicheln verhaken, um die Gegner von den Füßen zu holen. Eine Kampfweise die Untote zwar nicht vernichtete, ihren Vormarsch aber kurzzeitig ins Stocken brachte. Antharax folgte dem Beispiel seines Obersts, machte zwei schnelle Schritte in Richtung der Gegner und mähte mit dem Runenschwert als halte er eine Sense, weniger um effektiv zu treffen, sondern um ihnen Raum zu schaffen und das gelang. Die Leichname waren zu träge in ihrem Handeln, um sogleich passend zu reagieren. “Trina, Andorgam, Äxte zur Hand, wir dürfen sie unsere Formation nicht aufbrechen lassen”, gab Dwarosch den unausweichlichen Befehl. Er hatte begriffen, dass es keinen Zweck machte weiter mit den Armbrüsten schießen zu lassen. Leider war es nicht möglich gewesen einen gezielten Treffer auf die Beschwörerin zu landen und das Ritual so gewaltsam zu beenden. Nun brauchten sie jeden Waffenarm, denn die Bolzen richteten nur marginalen Schaden bei den Untoten an. Der kurzfristig gewonnene Raum und die dadurch erstrittene Zeit, reichte den Schützen, um ihre Fernkampfwaffen fahren zu lassen, die Äxte zu ziehen und die Schilde zur Hand zu nehmen. Sogleich schlossen sie die Flanken, als Dwarosch und Athax einen Schritt zurück machten und wiederum eine geschlossene Kampfformation entstand. Oberst und Hauptmann kämpfen sich an der Spitze durch die widernatürlich erhobenen Kreaturen. Die drei Soldaten deckten die Flanken und gegebenenfalls den Rücken. Gerade schlug Athax einem weiteren der Leichname die dünnen Beine ab und warf ihm mit einem Schulterstoß zur Seite, als er einen freiem Blick auf die andere Seite des Platzes erhaschen konnte. In diesem Moment erfasste der Hauptmann mit seinen außergewöhnlich gut an die Dunkelheit gewöhnten Augen, dass es die Golgariten waren, die an der anderen Front kämpften. “Es sind Richhild und Amalvin”, rief er Dwarosch so laut zu, dass die beiden Rabenritter seine Stimme ebenfalls vernehmen mussten. Neuer Mut keimte in den Angroschim. Grimmig grunzte der Oberst und stieß die Spitze des Spießes durch das Haupt eines Leichnams. Noch war nichts verloren. Allein, die Paktiererin schien darauf zu vertrauen, dass die schiere Masse der kalten Alriks ausreichte, ihr die lästige Störung vom Leibe zu halten. Unbeeindruckt fuhr sie mit ihrer Anrufung fort. Die Präsenz über dem Hof hatte mittlerweile eine Intensität erreicht, die dem Oberst eine Gänsehaut über den Nacken jagte und mit gewaltiger Persistenz an seiner Aufmerksamkeit zog, gerade so, als baue sich ein mehrschritthoher Wellenkamm auf, der im nächsten Augenblick über ihm zusammenbrechen würde. Diese Kämpferei, so besagte das Gefühl, war doch nur bloße Zeitverschwendung – wenn er doch im gleichen Moment auch anbetend auf die Knie fallen könne. Doch ein bloßes Gefühl – und schon gar nicht ein solches - hatte Dwarosch noch nie einen Kampf abbrechen lassen – und heute würde er damit nicht beginnen! Auch wenn diese Präsenz in seinem Kopf brummte wie ein Hornissenschwarm. Mit einem weiteren Stich spießte er einen neuen Gegner auf, der auf der Spitze seiner Lanze zappelte wie ein Käfer, ehe nach einigen endlosen Augenblicken seine Bewegungen erstarrten. Etwa die Hälfte der Gegner lag am Boden, teilweise kampfunfähig, teilweise noch immer eine üble Gefahr. Die beiden Golgariten hatten sich gemeinsam mit Xagur der Schweine entledigt und arbeiteten sich, soweit er das in diesem Bruchteil eines Augenblickes erfassen konnte, weiter durch ihre Gegner. Die frisch geschlagene Lücke offenbarte ihm einen neuen Blick auf die Hexe. Diese stand mit ausgebreiteten Armen über ihrem Opfer, blickte gen Himmel und rief: „Uttara’vah, hole mir Rîjsha! Es sei!“ Der Oberst kannte diese Szenerie. Wie als greife ihm jemand tief in die Eingeweide traf ihn die erschütternde Erkenntnis, dass sie seinem eigenen Albtraum entstammte und nun doch zur unabwendbaren Realität wurde. Mit diesen Worten hob die Hexe ihre Rechte, die einen Dolch umfasste, und ließ diesen auf ihr Opfer niedersausen. „Neeeeein!“ gellte Dwaroschs markerschütternde Schrei über den Hof und noch bedeutend weiter in die Nacht hinaus. All seine hilflose Verzweiflung lag darin. In Missachtung seines eigenen Lebens nahm er den Kopf zwischen die Schultern, hob den Schild und preschte mit der Schulter voraus voran. Zwei Leichname, die sich ihm in den Weg stellten rammte er mit solcher Gewalt, dass er sie aus dem Weg warf. Im Sprint wechselte er die Position seiner Hand am Schaft des Spießes, katapultierte dabei seinen Oberkörper in Laufrichtung und warf ihn mit all der Kraft die er aufbringen konnte. Die geweihte Waffe flog die verbleibenden, zu überbrückenden fünf Schritt und durchbohrte den Torso der Paktiererin so weit, dass er auf dem Rücken eine Handbreit herausragte. Die verbleibenden Zwerge mit Antharax an ihrer Spitze waren ebenfalls zum Angriff übergegangen und setzten sich in Keilformation in die Spur ihres Obersts. Der Hauptmann verteilte mächtige Hiebe und sorgte dafür, dass der Weg den Dwarosch frei gekämpft hatte nicht wieder verstellt wurde. Der Oberst stand inzwischen an dem Altar und sah mit Grauem auf das Opfer darauf hinab, als Zwerge und Golgariten zu ihm stießen und einen Ring bildeten. Die Paktiererin ging zu Boden und ihre Schergen umschlossen als Wand aus fahlen Leibern ihren Körper. Ein Reißen, als würden seine Trommelfelle bersten, brach als gewaltige Woge über den Oberst hinweg und trieb den Geschmack nach Galle und Blut auf seine Zunge. Um ihn herum brachen seine Gefährten auf die Knie. Der Schatten über den Sternen zog sich zusammen und verschwand von einem Lidschlag auf den anderen. Beißend kalt drang die Nachtluft in seine Lungen, als er einen großen Atemzug tat, einer Last ledig, die wie Quadersteine auf seinem Geist gelegen hatte. Klar und scharf und in einer Deutlichkeit bis ins letzte Detail sah er die bloße Gestalt Marboliebs, die auf dem Altar ausgebreitet lag. Ihre Glieder waren mit jeweils einem Dolch knapp hinter dem Gelenk auf dem massiven Holz des Altars fixiert, und ein stetes rotes Rinnsal rann aus ihnen an den dicken Füßen des Tisches zu Boden. Auf ihrem Körper, wo er nicht von dunklem Blut übergossen war, hatte jemand verschlungene Runen in ihre Haut geschnitten. An ihrem Halsansatz, just an derselben Stelle wie in Dwaroschs Alptraum, klaffte eine tiefe Stichwunde, aus der ein dicker Blutstrom ungehindert floss. Die weit aufgerissenen Augen der Priesterin blickten glasig in die Richtung des Angroscho. Mit zitternden Händen drückte Dwarosch die Blutung so gut es ging ab. Dann ruckte sein Kopf hoch, die Augen waren vor Angst geweitet. Antharax wusste sogleich, wonach sein Befehlshaber verlangte und holte eine kleine, metallische Flasche aus einer seiner Gürteltaschen. Die Rucksäcke und somit auch Dwaroschs Medizinkästchen, hatten die Zwerge am Ende der Wendeltreppe zurückgelassen, als klar wurde, dass es zum Kampf kommen würde. Dennoch hatten er und Athax vorrausschauend für den Notfall vorgesorgt. Dwarosch gab Anweisung und sein Freund handelte anstatt seiner, da der Oberst selbst keine Hand frei hatte und mit wachsender Unruhe mit ansehen musste, wie trotz seiner Bemühungen weiter das Leben aus Marbolieb hinaus floss. Unterdessen beschäftigte Antharax noch eine andere Frage, die er, ohne von seiner zu verrichtenden Arbeit aufzusehen, stellte. „Landmeisterin. Sagt, was hat die Hexe versucht aus den Niederhöllen heraufzubeschwören? Droht uns von dieser Seite noch Gefahr?“ Der Hauptmann nahm vom Heiltrank und flößte es der geschändeten Dienerin des Raben ein, großzügig, so wie es Dwarosch verlangte, aber in kleinen, gleichmäßigen Portionen. Später würde er die Dolche, welche die Geweihte auf so schändliche Weise an den Tisch fixiert hatten entfernen, Heilsalbe auftragen und Druckverbände anlegen. Richild, die sich gerade mit Schild und Hammer zwei Untote, darunter ein veritables Exemplar in Vollrüstung, vom Leibe hielt, grunzte zur Antwort etwas Ungehaltenes, das mit viel gutem Willen ‚bin keine Magierin’ lauten konnte. Sie holte aus, hieb an ihrem Schild vorbei und zertrümmerte den Schädel ihres ungerüsteten Gegners, was dazu führte, dass sie gerade so noch den Hieb des Gerüsteten mit dem Schild parieren konnte. Der Morgenstern ihres Gegners krachte mit brachialer Gewalt auf ihren Schild und ließ sie ächzend einen Schritt nach hinten taumeln. Die fehlenden beiden Angroschim machten sich bei der Abwehr der Kalten Alriks übel bemerkbar. Auch die restlichen Zwerge hatten Mühe, die Angreifer auf Distanz zu halten – es war noch fast ein Dutzend der stärkeren Gesellen übrig, die auf die Gruppe eindrangen und versuchten, in ihren Rücken zu gelangen. Drei der Untoten hatten sich Andorgam vorgenommen, einer versuchte, ihm mit den Händen die Füße wegzureißen, während die anderen mit einer Axt und einer groben Keule auf ihn einschlugen und seine Waffen banden. Der Zwerg rutschte zu Boden und die beiden Waffen krachten in den Schild Amalvins, der sich über seinen Kampfgefährten stellte und dafür einen Hieb gegen die ungeschützte Schulter kassierte. Mit einem wütenden Knurren holte er aus und hieb dem am Boden kriechenden Untoten in den Nacken. Der zuckte einmal und lag dann still, während der Graumantel dem Angroscho genug Deckung bot, um wieder auf die Beine zu gelangen. Dwaroschs Finger waren nass und glitschig vom Blut der Geweihten und dem Heiltrank, der nur zum Teil im Rachen Marbobliebs landete. Doch schließlich versiegte der Blutstrom unter den vereinten Mühen der beiden Zwerge und der Oberst fühlte, wie die Priesterin mühevoll und mit einem erbärmlich blubbernden Geräusch nach Atem rang. Sogleich reagierte Dwarosch, die Situation um sie herum niemals verkennend. „Es ist genug. Hilf den anderen, rasch“, sagte er zu Athax und der Hauptmann kam der Aufforderung nur zu gerne nach. Er griff wieder zu dem mächtigen Runenschwert und sorgte sogleich für Entlastung, als er in die Reihe der Lebenden trat und mit wuchtigen Schlägen gegenüber den Untoten austeilte. Marbolieb holte keuchend Luft, hustete Blut und stöhnte. Ihre Lippen, Finger und Zehen waren ob der Kälte blau verfärbt und sie schaffte es merklich nicht, eine der Gestalten um sie herum klar zu fixieren.

Süß ist der Sieg

Alle waren sie nahezu am Ende ihrer Kräfte, hatte Verletzungen davongetragen, bluteten und hielten sich dennoch tapfer auf den Beinen, kämpften und hielten dem Albtraum stand. Nur sehr langsam kippte das Pendel zu ihren Gunsten, ein Untoter nach dem anderen ging zu Boden, wurde enthauptet, oder Bewegungsunfähig gemacht. Dann stürmte Dwarosch voller Wut und mit einem unartikulierten Schrei auf den Lippen zwischen den Verteidigern hindurch und hieb mit seinem Schild die Beine des Leichnams in Vollplatte weg, so dass dieser scheppernd zu Boden ging. Richild, die sich bisher seiner erwehrt hatte, nutzte die sich ihr bietende Gelegenheit und ließ ihren Hammer niedersausen. Er traf den Topfhelm und stauchte ihn fast zur Gänze zusammen. Undefinierbare Flüssigkeit lief aus dem Sehschlitz und aus dem Übergang zum Torso hinaus. Nun, da der stärkste der Untoten gefallen war, brach die Angriffslinie recht schnell auseinander. Und einzeln war ihnen bedeutend besser beizukommen. Schon kurz darauf lagen alle von ihnen auf den Boden. Dort wo noch Zuckungen zu erkennen waren, hieb Antharax die Köpfe ab. Dwarosch ließ es sich nicht nehmen selbst zu toten Hexe zu gehen – genauer: zu dem Ort, an dem sein Spieß zu liegen gekommen war. Dieser lag unmittelbar hinter der Linie von zerlegten Leichnahme, dort wo der Spieß sie getroffen und die geweihte Waffe ihr Leben eingefordert hatte. Von ihrem Leichnam war nichts mehr zu sehen – lediglich einige fette, bleiche Maden schlitterten träge über den eisigen Grund. Der Oberst griff nach seiner Waffe und nahm sie auf. Sie war überzogen von klebrigem, faulen Schleim. „Richhild“, rief Dwarosch der Landmeisterin zu. „Hierher. Athax, kümmer' du dich um ihre Gnaden. Xagur, Andorgam, seht nach ob von den Aufgehängten noch jemand am Leben ist.“ Derweil sich die Golgaritin träge zu ihm schleppte und der Hauptmann zu Marbolieb herüber ging, schritt er der Made hinterher, einen hasserfüllten Gesichtsausdruck zur Schau stellend. Den Spieß zum Stoß vor dem Körper gehalten. Sie würde ihm nicht entkommen. „Was haltet ihr davon, ist diese Widerwärtigkeit“, er deutete Richild, dass er die Made meinte, als sie ihn erreicht hatte, „welche von der verfluchten Hexe übriggeblieben ist?“ Die Landmeisterin holte tief Luft, betrachtete die Made und zertrat sie entschieden unter ihrem Absatz. „Möglich.“ Sie wischte sich im nur wenig saubereren Eis des Hofes den Schleim vom Schuh. „Da sind noch ein paar.“ Sie wie noch auf ein halbes Dutzend Maden, die versuchten, sich zwischen den Steinen zu verkriegen, stützte sich auf ihren arg zerhauenen Schild und schnaubte. „Es kommt manchmal vor, dass Paktierer am Ende zu etwas Eklem zerfallen.“ Mit einem mißbilligenden Blick raffte sie sich schließlich wieder auf und ging auf die Jagd, um sie fein säuberlich eine nach der anderen zu zertreten. Er streckte ihr die Hand mit dem Spieß hin. „Wäret ihr so freundlich mir euren Hammer zu leihen? Eine dem Totengott geweihte Waffe wird hier mehr ausrichten können und hoffentlich ein endgültiges Ende vollstrecken.“ „Braucht ihr nicht.“ beschied sie den Oberst kurz. „Zertretet sie einfach.“ Der Oberst grunzte das er verstanden hatte und sah sich nach seinen Soldaten um. Zogoltrina sah noch am besten aus von den vieren. Die anderen saßen inzwischen, nachdem den Tod aller weiteren Ritualopfer und Füchse festgestellt hatten und waren bereits dabei gegenseitig ihre Wunden zu versorgen. „Trina, hol unsere Rucksäcke und dann verbrenn die Reste der Maden mit Lampenöl“, befahl Dwarosch. „Mach vorher ausreichend Licht. Keine darf übersehen werden, es darf nichts übrigbleiben von ihnen!“ Dann ging er selbst ans Werk die Maden zu zertreten. Antharax trat derweil zu Marbolieb und schickte sich an, die Dolche zu lösen. Die Priesterin schrie auf, und Athax’ fluchte. „Die Dinger sitzen fest.“ Mit erheblichem Kraftaufwand schaffte er es dennoch, die ersten beiden zu lösen, ungeachtet der Schmerzensschreie der Frau. „Warte noch.“ Dwarosch legte seinem Freund die Hand auf den rechten Arm, als er gerade den nächsten Dolch herausziehen wollte. Zogoltrina kam gerade mit ihrer Ausrüstung wieder. „Hol mir mein Medizinkästchen“, er nickte in Richtung der Zwergin, welche sich mit den Rucksäcken abplagte. „Ich brauche Mohn zur Betäubung, Heilsalbe und Verbände.“ Nach diesen Worten widmete er sich wieder ganz und gar Marbolieb. Er hatte nicht von ihrer Seite weichen wollen, nachdem er sie endlich gefunden hatte, doch er trug Verantwortung und musste in erster Linie dieser nachkommen. Dwarosch nahm seinen Pelzmantel ab und bedeckte die Geweihte. Als Athax das Kästchen auf den Tisch neben Marbolieb gestellt und geöffnet hatte, stopfte der Oberst eine Pfeife und mischte Mohn mit in den Tabak. Er entzündete sie und ließ die Geweihte den Rauch einatmen. Erst als er wusste, dass das Betäubungsmittel langsam wirkte, begann Dwarosch damit, sie auch von den anderen Messern zu befreien, eine Arbeit, die ihm fast selbst körperlichen Schmerz bereitete, da er wusste, welch Pein Marbolieb trotz allem erleiden musste. Es kostete den Oberst einiges an Kraft, die verbliebenen beiden Dolche zu lösen – über drei Fingerbreit hatten sie sich ins Holz gegraben und schrammten mit einem unangenehmen Kratzen an den Knochen der zierlichen Frau entlang. Diese rollte sich wimmernd unter dem dicken Mantel des Angroscho zu einer Kugel des Unglücks zusammen und umschlang ihre Knie mit den Händen, ihren Kopf an die Brust gepresst, während aus den Wunden an ihren Extremitäten einen neuerlicher Blutstrom rann. Trina und die Landmeisterin hatten sich derweil der letzten vier Maden angenommen. Halbfingerlang, feist und bleich waren die aufgedunsenen Wesen, die letzten ihrer Art, die es offensichtlich nicht mehr geschafft hatten, eine schützende Zuflucht zu finden. „Blach.“ stellte die Landmeisterin fest und wischte sich die Stiefel ab, ehe sie sich ihrem geschundenen Bruder im Glauben zuwandte, dessen Rüstung an einer Schulter in Fetzen hing. Ein unangenehm schrilles Zischen drang an die Ohren der Gruppe, dass sich binnen weniger Herzschläge zu einem Heulen steigerte, während eine gleißend helle Kugel am Himmel erschien. Alle wandten sie ihren Blick dem fallenden Stern zu und erstarrten voller Ehrfurcht. Sie waren Teil von etwas Großem gewesen in dieser Nacht, doch anscheinend war ihr Erfolg, ihr Sieg über die Paktiererin nur Illusion gewesen, denn niemand wagte diesem Ereignis ein positives Omen abzugewinnen. Den Sternenfall mochten kulturschaffende Völker auf der gesamten Nordhälfte des Kontinents gesehen haben. Offenbar hatte die Hexe trotz des missglückten Geweihtenopfers ihr Ritual vollziehen, beenden können. Ganz genau verfolgte der Oberst die Flugbahn des Himmelskörpers und verinnerlichte die Richtung seines Falls anhand dem Stand der Sternenbilder, nachdem auch der Schweif des Sterns erloschen war, den er über das Firmament hinter sich hergezogen hatte. Er versuchte auch die Entfernung abzuschätzen in der der Einschlagskrater, den es ohne jeden Zweifel geben musste, liegen mochte. „Bei Angroschs Hammer. Das bedeutet nichts Gutes“, entfuhr es Dwarosch, als auch das letzte Gleißen am Himmel erloschen war. Der Stern indes war gen Mittag gezogen, weit über die Kämme des Eisenwaldes. Doch wie weit genau und wo er niedergegangen war, das konnte keiner der hier Anwesenden mit Sicherheit bestimmen. Dwarosch löste sich schnell aus seiner ungläubigen Lethargie und besann sich auf die aktuell anstehenden Dinge. Alles andere, vielleicht sehr Weitreichende würde warten müssen. „Athax“, wandte sich der Oberst erneut an seinen Hauptmann. „Richtet uns unten ein sicheres Lager ein, wo wir uns verbarrikadieren können. Wir werden einige Tage Ruhe benötigen, bevor alle reisefähig sind. Seht nach dem Jungen, er benötigt möglicherweise weitere Hilfe. Ich will auch ihn mit nach Burg Rabenstein nehmen. Trina, du baust aus einer der Türen, die wir nicht mehr benötigen, eine Trage für ihre Gnaden, den Tisch hier will ich verbrannt sehen, wie alles Übrige hier. Dies beinhaltet auch die Leichname. Du schaffst Feuerholz und Gebrannten hoch. Angroschs Feuer wird alles wiedernatürliche verzehren, bis es aus unserer Welt getilgt ist.“ Nach diesen Befehlen versorgte Dwarosch Marboliebs Wunden noch an Ort und Stelle. Der Rauch der Pfeife, den er vor ihre Nase legte, sorgte alsbald dafür, dass sie hinwegdämmerte.

Zwei Tage später

Als Marbolieb zu sich kam, war viel Zeit verstrichen. Dank der Verabreichung von schwarzen Mohn war es gelungen, sie über zwei Tage ruhig zu stellen, so dass ihr Körper dank Salben und starker Heilmittel ohne Störung genesen konnte. Müde und vor allem benommen schlug sie die Augen auf. Die Geweihte lag auf einem improvisierten Lager, auf und unter Fellen auf dem Boden, nahe eines brennenden Kamins unterhalb der Erde, in einem geräumigen Kellerraum. Ansonsten war der Raum nahezu leer. Neben ihr lag Dwarosch und schlief wie ein Stein. Nur das beständige Heben und Senken seines tonnenartigen Brustkorbs deutete auf Leben hin. Er hatte sich lediglich eine Decke übergeworfen, seine Rüstung hatte er abgelegt und trug nur ein leichtes Leinenhemd. Es war warm, wie sie nun registrierte, da ihre Sinne langsam wiederkehrten, und das, obwohl sie nackt war bis auf etwas schweres, kaltes, Metallisches, das um ihren Hals lag. Von nebenan klangen gedämpfte Stimmen durch eine dicke, hölzerne Tür. Ihre Finger glitten über den groben Steinboden und die Gestalt des Zwergen neben ihr. Sie zuckte zusammen, als habe sie ein körperlicher Schlag getroffen. „Dwarosch?!“ Ein entsetzter Schrei war der Name des Zwergen, der allen Schrecken der vergangenen Zeit in sich trug. „Hat sie Dich auch gefangen?“ Der Angroscho ruckte hoch, noch sichtlich vom Schlaf benommen starrte er sie aus Augen an, die erst nach einigen Augenblicken die ihren fanden. In der Zwischenzeit wurde die Tür aufgerissen, hinter denen die Geweihte zuvor Geräusche vernommen hatte. Richild blickte erschrocken zu Marbolieb, nickte dann aber nur stumm, als sie sah, dass sowohl sie, als auch Dwarosch wohlauf waren. Der Oberst nahm Marboliebs Hände und während die Landmeisterin die Tür wieder schloss und etwas von ‚sie ist wach‘ murmelte, begann Dwarosch zu sprechen. „Nein. Sie ist während des Rituals von meinem Spieß durchbohrt zu Boden gegangen und dort in abstoßende Maden zerfallen, die wir hoffentlich alle zertreten und verbrannt haben.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich werde dir alles erzählen, doch erst einmal musst du etwas essen und trinken, dich weiter ausruhen und zu Kräften kommen. Wie fühlst du dich?“ Die Priesterin blickte ihn an, schlug die Augen nieder und fragte mit bebender Stimme „Mirla?“ Dann brach ihre Selbstbeherrschung unter der Erinnerung des Erlebten, sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und begann mit bebenden Schultern zu weinen. „Es geht ihr gut“, versuchte Dwarosch ihr ihre Ängste sogleich zu nehmen. „Aldaia brachte sie in den Travia- Tempel.“ Er legte ihr die breiten Händen an die zarten Schultern und drückte sie, legte seinen Kopf an den ihren. „Ich war bei ihr, habe sie friedlich schlafen sehen. Sorge dich nicht und glaub mir, es war wahrlich nicht einfach, die Herrin des Hauses davon zu überzeugen, sie auch nur sehen zu dürfen. Ich würde vor ihr fliehen, wenn sie mit ihrem Nudelholz auf mich zu gerannt käme. Niemand wird zu ihr gelangen, der es nicht soll. Ich glaube, solche Frauen nennt ihr Drachen.“ Bei dieser Betitelung musste der Oberst kurz Lachen, doch es war Absicht und er hoffte, sein Humor würde auch sie erreichen. Marbolieb schluchzte vor Erleichterung, barg ihren Kopf an Dwaroschs Brust und umschlang seinen Hals mit ihren Armen. Langsam verebbte ihr Weinen. Mit geschlossenen Augen genoss sie die Nähe und ihr Atem beruhigte sich. Dwarosch spürte die Knochen unter ihrer Haut deutlich – die Paktiererin schien es nicht für notwendig befunden zu haben, ihre Gefangenen zu füttern. Er empfand es ebenfalls als beruhigend, mehr noch tröstlich sie wieder bei sich in Sicherheit zu wissen. Dwarosch hatte im Stillen für sich geweint, nachdem er mit ihrem bewusstlosen Leib alleine gewesen war. Gute Männer und Frauen waren gestorben, Kameraden, die er zu schätzen gelernt hatte in den vergangenen Götternamen. Aber auch die über so viele qualvoll-lange Tage angestaute Angst um Marbolieb hatten ihren verdienten Tribut gefordert.

Nachdem Dwarosch sich wiederholt die Wunden Marboliebs angesehen und die Verbände erneuert hatte, gab er ihr etwas von den Sachen, die sie unten in den Kellern gefunden hatten zum Anziehen. Es waren einfache Kleidungsstücke aus Leinen, doch sie würden genügen, bis sie wieder in die Zivilisation zurückgekehrt waren. Unbeholfen mühte sie sich mit den unbekannten Kleidungsstücken, und ihre Hände zitterten, als sie sich diese schließlich über den Kopf zog. Ihre Haare waren zwei Fingerbreit gewachsen, glatt und schwarz wie Rabenfedern – ihre Haut aber war bleich bis auf zwei hektisch rote Flecke auf den Wangen und tiefe Schatten unter ihren glänzenden Augen. Es würde eine Weile dauern, bis dieses Erlebnis endgültig vergangen war. Während die Geweihte kurz darauf etwas von dem kargen Essen zu sich nahm und vor allem heißen Tee trank, den Zogoltrina ihnen auf Bitten Dwaroschs hereingebracht hatte, begann der Oberst sich routiniert die Rüstung anzulegen. „Ich werde mit Baschtox und Andorgam eine kleine Runde drehen draußen. Es ist jetzt Tag. Richild und Amalvin sind nebenan, ebenso Trina. Sei also unbesorgt. Leg dich wieder schlafen und komm zu Kräften. Du wirst sie brauchen. Wenn du aufwachst und der Meinung bist, dass du die ganze Geschichte verträgst und hören willst, werde ich dir sie erzählen.“ „Dwarosch.“ Marbolieb streckte bittend die Hand in Richtung des Oberste, eine zutiefst verloren wirkende Geste. Sie senkte den Kopf und ließ ihren Arm sinken, faltete die Hände in ihrem Schoß und blickte zu Boden, keine weiteren Anstalten unternehmend, den Zwergen aufzuhalten. „Ruh dich aus. Je schneller du wieder auf den Beinen bist, desto eher kannst du deine Tochter wieder in die Arme schließen. Mir wird die alte Vettel nur die Augen auskratzen, wenn ich da noch einmal alleine auftauche. Bitte“, seine Stimme und sein Blick waren flehentlich, „versuch zu schlafen.“ Die Priesterin wandte mit hängenden Schultern den Kopf ab, den Blick auf den Boden gerichtet. Sie schluckte, blieb aber eine Antwort schuldig. Die Schritte des Oberst verklangen und Stille kehrte ein. Die aufgeheizte Luft im Keller war stickig und schal und nahm ihr den Atem. Größer als ihre Zelle war dieser muffige Raum – aber ebenso dunkel. Und ebenso beklemmend. Marboliebs Hände gruben sich in die dicken, langen Grannen des Fells, auf dem sie kniete; sie konzentrierte sich auf ihre Atmung, den regelmäßigen, beruhigenden Gleichklang des Lebens. Niemand würde sie hier herausholen gegen ihren Willen. Niemand sie vergessen. Nach ein paar Tagen spürte sie den Hunger kaum mehr. Doch nicht, solange die Begleiter Dwaroschs im Nebenraum saßen. Die Schweißperlen auf ihren Schläfen trockneten langsam, während ihr Atem tiefer und regelmäßiger wurde und die Erschöpfung zusammen mit der abgestandenen Luft ihren Tribut forderte. Mit einem Knarzen öffnete sich die Türe.

Dom Dwarosch

Die Runde draußen blieb erfreulich ereignislos. Die klare, eisige Luft hieb in die Gesichter der Angroscho, und dichte graue Wolken am Horizont kündeten von dem nächsten Flockengewirbel, wie es die vergangenen beiden Tage schon des Öfteren über die Ruine und den Wald gekommen war und die Spuren des Kampfes mit einer dicken, weißen Leichendecke überzogen hatten. Xagur hatte verkündet, dass das nächste Dorf, Finsterbach, kaum anderthalb Wegstunden entfernt war – dennoch hatte sich keine Menschenseele bislang gezeigt. Als die Angroschim wieder in der Wärme waren, ihre Pelze abgelegt hatten und sich Dwarosch davon überzeugt hatte, das Marbolieb die Erschöpfung doch irgendwann übermannt haben musste, berichtete Amalvin, dass ihr zweiter Patient die Augen aufgeschlagen und nach Wasser verlangt habe. Der Bursche, den sie eingekerkert und gefesselt, in einem grausigen Zustand in den Kellern vorgefunden hatten, hatte fiebernd die letzten Nächte überstanden. Die nun erkennbare Besserung seines Zustandes erfreute Dwarosch und er entschloss sich gleich nach ihm zu sehen. Es interessierte den Oberst, was der Junge zu berichten wusste. „Kannst du sprechen“, fragte er mit tiefer, ruhiger Stimme, als er sich auf einen Schemel, neben das Krankenlager des Burschen setzte. Der Bursche betrachtete den Oberst mit riesengroßen Augen und wurde bleich, als er die Stimme des Zwergen hörte. Er mochte vielleicht vierzehn Sommer zählen und seine Wiege hatte vermutlich irgendwo jenseits des Eisenwaldes gestanden, zumindest erzählten seine schwarzen, leicht gewellten und mittlerweile ordentlich verdreckten Haare, seine gebräunte Haut und seine Hakennase von einer südlichen Herkunft. Noch immer ließ das Fieber seine dunklen Augen glänzen. „Ich ... .“ Er brach ab, schluckte, dass sein Alriksapfel tanzte, und setzte erneut an. Der erste Bartflaum hatte gerade eben erst begonnen, auf seinen Wangen zu sprießen. „Es tut mir so leid, Dom!“ Er hustete, rang nach Luft und begann von neuem. „Ich konnte doch nicht wissen ... ich bin Ramiro. Und ich erbitte Eure untertänigste Verzeihung, Dom!“

"Ich bin Dwarosch und bitte lass das 'Dom' weg", erwiderte der Zwerg mit einem sanften Lächeln. "Das klingt in meinen Ohren immer noch seltsam, auch wenn ich inzwischen mehrfach auf der anderen Seite des Eisenwaldes gewesen bin. Ramiro, woher aus Almada stammst du?" Der riss die Augen auf. „Aber, Dom ... .“ Er schluckte. „Ich und meine Familie sind Tagelöhner aus der Gegend von Culming. Oder wir waren es – bis vor einigen Jahren Kriegsvolk unser Dorf geplündert hat. Und Dom ...bitte seid uns nicht böse. Aber ich musste doch meine Familie ernähren!“ Fast schon panisch betrachtete er den Zwergen. „Ist das hier Eure ganze Sippe?“ Der Subtext ‚waren die hinter mir her’ war deutlich zu hören. Der Oberst schüttelte sachte den Kopf. "Nein mein Junge. Dies sind meine Soldaten. Wir haben der Frau, die dich hierher verschleppen ließ und ihren Gefolgsleuten das Handwerk gelegt. Du brauchst dich nicht mehr zu ängstigen wegen ihnen. Sie können dir nichts mehr tun." Dwarosch machte bewusst eine Pause, nach diesen, für den Burschen sicher wichtigen Worten. "Und jetzt sag mir bitte was du damit meinst, dass du für die Deinen sorgen musst?" „Ich bin doch jetzt das Familienoberhaupt.“ Der Junge weinte fast. „Und irgendwie muss ich ja etwas zu Essen für sie bekommen. Ich hab’ das damals nicht böse gemeint, und es tut mir leid wegen Eurem Gold!“ Deutliche Verwunderung zeigte sich auf der Miene des Zwergen. "Wie meinst du das? Gehörtest du etwa zu den Wegelagerern, die uns vor einigen Monden im rabensteiner Wald ausgenommen haben?" „Wir brauchten doch das Essen!“ Blanke Panik klang aus der Stimme Ramiros, der immer kleiner unter seinen Decken wurde. "Du hast bereits eine weitaus größere Strafe erhalten, als du sie verdient hast. Vergessen wir den Überfall. Ich zürne dir nicht weiter deswegen." Dwarosch seufzte. "Die anderen sind tot", es war mehr eine Feststellung denn eine Frage. "Wie seid ihr der Hexe in die Hände gefallen?" Tränen rannen aus Ramiros Augen. „Meine kleine Schwester?“ Er schluchzte. Es dauerte geraume Zeit, bis er in der Lage war, weiterzusprechen. „Sie haben uns nachts umstellt –Untote Leichen! Es war grauenhaft!“ Mit einem tiefen Grollen des Bedauerns quittierte der Oberst das Vernommene. Er hatte es geahnt. Wahrlich, dieser Junge war vom Leben gestraft worden, traumatisiert aller Wahrscheinlichkeit nach noch obendrein. Was für eine Schande, das hatte er nicht verdient. Das hatte es niemand in seinem Alter. Kurz schloss Dwarosch die Augen und seufzte, dann legte er Ramiro die breite, schwielige Hand sachte auf den Unterarm. "Wenn du willst, dann kannst du mit mir nach Senalosch kommen. Ich brauche ohnehin noch einen fleißigen Botenjungen. Was sagst du?" „Ihr werdet mich nicht aufhängen?“ Unglaube stand in den Zügen des Burschen. Für Wegelagererei wartete im Mittelreich auf die ertappten Sünder der Strang, das wußte er nur zu gut. Ramiro nickte, mit fiebrigen Augen – so heftig, als würde sein Kopf abfallen. „Dann komm’ ich mit Euch. Auch wenn ich nicht weiß, wo Senalosch ist. Aber, Dom – meine Familie.“ Seine Stimme brach und wurde zu einem kratzenden Flüstern. „Habt Ihr sie gefunden? Wie sind sie gestorben? Wir müssen sie doch noch anständig begraben! Und sie brauchen doch einen Boronspriester für die letzten Riten.“ Wichtig war ihm dieser Punkt, konnten doch nur so die Dinge ihre Ordnung erhalten und die Seelen der Verstorbenen vom Großen Raben geholt werden. Angstvoll blickte er den muskelbepackten Krieger an. "Keiner hat überlebt, Junge. Du bist er einzige, den wir retten konnten", Dwarosch versuchte es so einfühlsam wie möglich zu sagen. Doch es war eine grausame Wahrheit, aber es brachte nichts, sie ihm vorzuenthalten. Je früher er sich damit auseinandersetzte desto besser war es für ihn, das war die Überzeugung des Obersts. "Die Rabenritter in unseren Reihen haben Gebete für die Toten gesprochen", versuchte er Ramiro in diesem Punkt die Angst zu nehmen. "Selbst an diesem unheiligen Ort wird keine dunkle Magie mehr in der Lage sein, die Seelen deiner Angehörigen zu verderben. Was deine Verfehlungen angeht, so werden wir auf dem Weg in meine Heimat ein langes Gespräch führen." Ernst blickte der Zwerg den Jungen an. "Aber was im rabensteiner Wald geschehen ist, bleibt auch hier. Es wurde schließlich niemand verletzt. Verstanden?" „Verstanden.“ Ramiro nickte heftig und fügte dann sicherheitshalber hinzu. „Dom Dwarosch.“ Er überlegte sichtlich, ob er auf den Punkt mit dem Begräbnis noch einmal eingehen solle, besah sich die Alternativen und schluckte die Frage, ehe sie über seine Lippen entweichen konnte. "Gut", befand der Oberst mit einem zufriedenen Nicken und ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Er hatte scheinbar erfolgreich Hoffnung in Ramiro geweckt. Sie würde den Jungen alles überstehen lassen. Das war es was zählte, nicht sein verletzter Stolz bei dem Überfall. Dwarosch hatte auch diese Lektion längst verinnerlicht. An das 'Dom' würde er sich nun hingegen wohl oder übel gewöhnen müssen.

Dreimal reicht

Nachdem Dwarosch sich mit einem aufmunternden Drücken von Ramiros Schultern von dem Jungen verabschiedet hatte, ging er in den Kellerraum, den Zwerge und Rabenritter die vergangenen Tage häufig als gemeinsamen Speiseraum genutzt hatten und in dem die meisten von ihnen auch schliefen, wenn sie keine Wache hielten oder oben patrouillierten. Der Oberst weihte Athax kurz in seine Pläne betreffend Ramiro ein, während er sich einen heißen Tee aufgoss und die Pfeife ansteckte. Gleich darauf ging er wieder in den Kellerraum, in dem Marbolieb schlief. Dwarosch warf zwei weitere Scheite ins Feuer, setzte sich dann unweit der Geweihten auf den Boden und lehnte sich gegen seinen Rucksack, welcher mit Decken ausstaffiert war, um es bequemer zu machen. Das Feuer, das zu wenigen glimmenden Kohlen zusammengesunken war und den Raum in dunkles Dämmerlicht gehüllt hatte, griff gierig nach der neuen Nahrung und leckte mit goldenen Flammenzungen an den groben Brettern. Die Priesterin schlief unruhig, drehte sich von der einen auf die andere Seite und zog an den Verbänden um ihre Handgelenke. Ihre Augen bewegten sich unter ihren geschlossenen Lidern und Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Die dicken Felldecken hatte sie zur Seite geschoben. Marboliebs Lippen bewegten sich und sie schloss ihre freie Hand um die schweren Glieder der Halskette, die sie trug. Die Frau hustete, schlug die Augen auf und blieb einige Atemzüge lang erschöpft liegen, ehe sie sich aufsetzte, mit unsicheren Bewegungen ein Boronsrad vor der Brust schlug und sich mit gesenktem Kopf niederkniete. Das Feuer zeichnete ein Bild aus Licht und Dunkelheit auf ihre feinen Züge, modellierte ihr hübsches, ebenmäßiges Profil, doch verschwieg es auch die hart hervortretenden Konturen ihrer Wange und ihres Kiefers nicht, welche die Erlebnisse der letzten Wochen eingemeißelt hatten. Den Oberst schien sie nicht bemerkt zu haben. „Erschrick bitte nicht“, war deswegen das erste was er sagte. Dwarosch sprach sanft und leise, versuchte so einfühlsam wie möglich zu sein, auch um die Geweihte nicht mehr als nötig zu stören. Der Übergang vom Zustand des Träumens ins Diesseits konnte ein heikler Moment sein, vor allem nach allem was geschehen war. Der Zwerg lächelte sachte und stellte den dampfenden Becher Tee, dessen Geruch nach Gewürzen sich inzwischen im Keller verteilt hatte, vor Marbolieb auf den steinernen Boden. Marbolieb hob den Kopf und blickte in Richtung des Zwergen. „Dwarosch.“ Halb Frage, halb Feststellung war dies. Sie streckte die Hand in seine Richtung aus, blieb ungeschickt an dem Becher hängen, zuckte erschrocken zusammen und zog ihre Finger mit einem Wehlaut zurück, als sich der heiße Tee über ihre Hand und ihre Knie ergoss. Die Geweihte legte ihre brennende Hand in ihren Schoß und blieb mit hängenden Schultern sitzen, alles um sie herum in den Hintergrund geschoben von dem jähen, unerwarteten Schmerz. Sie presste ihre Lippen zusammen, konnte aber nicht verhindern, dass sich in ihrem Augenwinkel eine Träne sammelte, die in ihren Wimpern hing und langsam über ihre Wange kullerte. Dwarosch zischte ein lautes, “Orkendreck”, zwischen den Zähnen hindurch und rückte kurzerhand an Marbolieb heran. Er griff mit lang ausgestrecktem Arm nach seiner Wasserflasche, welche in einer Außentasche seines Rucksacks steckte, öffnete sie und goss großzügig kaltes Wasser über die verbrühten Körperstellen. “So besser?” fragte er, nachdem er sein Halstuch, welches er für gewöhnlich als Schutz vor der Kälte vor dem Mund trug, wenn sie draußen waren, wassergetränkt um ihr Knie gebunden hatte. Marbolieb nickte, und kurz überlegte ein dankbares Lächeln, ob es über ihre Lippen flattern sollte, ehe es wieder verlosch wie eine ausgepustete Kerze. Sie bewegte die Finger ihrer verbrühten Rechten und ein weiterer Tropfen erschien glitzernd in ihren langen, dunkeln Wimpern. „Warte.“ Dwarosch erkannte, dass es noch nicht gut war und streckte sich noch einmal nach seinem Rucksack, diesmal um das kleine Medizinkästchen hervor zu holen. „Die Brandsalbe haben wir ja zum Glück noch gar nicht benötigt“, kommentierte der Oberst kurze Zeit später mit einem leicht ironischen Tonfall, als er die zähe, fettige Masse aus einem Tiegel dick auf ihre Hand auftrug. „Rede mit mir bitte“, versuchte er schließlich von neuem einen Zugang zu der Geweihten zu bekommen, als er fertig war. „Nur dann kann ich helfen.“ Leicht und weich wie eine Feder lag die Hand der Geweihten in der Pranke des Zwergen, auch wenn er an der Spannung ihrer Muskeln deutlich spürte, dass die Prozedur wahrlich nicht angenehm für die Priesterin war. Ihr Atem ging zu schnell und Ihre Haut, wo er sie berührte, war wärmer, als sie hätte sein sollen. „Danke.“ Sie flüsterte die Worte nur. Kurz huschten ihre Augen über sein Gesicht, ehe sie irgendwo auf Höhe seiner Schulter verharrten. „Es tut mir so leid, dass du so viele Freunde meinetwegen verloren hast, Dwarosch.“ Ihre Stimme war kratzig geworden, während sich ein neuer Tropfen in ihren Wimpern verfing. Die Augen des Zwergen schlossen sich einen schier endlos, langen Moment. Dwarosch seufzte schwer bekümmert und rang offenbar mit der Fassung. Doch er fing sich nach einer Weile und sah Marbolieb an. Sein Blick jedoch war glasig und strafte seine feste Stimme lügen, als er zu sprechen begann. „Sie sind nicht wegen dir gestorben, sondern um ein Verbrechen zu sühnen und einer Frevlerin das Handwerk zu legen, Marbolieb. Wärest du keine Geweihte und auf normalem Wege verschwunden, so hätte ich dich alleine gesucht, doch war uns allen klar, dass es sich um eine gewaltsame Entführung handelte. Die gefundenen Spuren und dass Mirla zurückgeblieben war, ließ nur diesen Schluss zu. Ich, wir mussten handeln. Meine Kameraden gaben ihr Leben um dem Recht Geltung zu verschaffen und den Willen der Götter zu erfüllen. Darüber hinaus denke ich jedoch, dass wir alle in etwas weit Größeres verwickelt wurden, als wir bisher dachten. Das Ritual, welches wir gestört haben und dessen Teil wohl dein Opfer werden sollte, könnte bedeutend finsterer Natur gewesen sein und eine größere Tragweite besitzen, als wir es uns ausmalen können.“ Eindringlich forschten Dwaroschs Augen in denen der Geweihten, während er seine Worte wirken ließ, doch sie verweigerte ihm hartnäckig jeden Blickkontakt. „Deswegen ist es meiner Meinung nach auch so wichtig, dass wir der Sache weiter nachgehen. Meinst du, wir können jetzt über das sprechen, was geschehen ist?“ Die Augen der Geweihten huschten unstet über das Gesicht des Zwergen, ohne seinen Blick einzufangen und festzuhalten. Schließlich schloss sie für einen Moment die Lider, atmete tief ein und aus und nickte. „Was ist euch widerfahren?“ Dwarosch tat einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und sann kurz darüber nach wie er beginnen sollte, beschied dann aber, dass es das Beste war ganz von vorn anzufangen. Und so erzählte er Marbolieb, wie ihn jene Nachricht in Senalosch erreicht hatte, welche von ihrem Verschwinden berichtet hatte, von der winterlichen, beschwerlichen Reise nach Calmir, dem Besuch bei der Jagdmeisterin, den des Traviatempels, der Spurensuche im Tempel, dem Zusammentreffen mit den Golgariten und schließlich von ihrem düsteren, blutigen Weg, den Gewaltmärschen zu dem Ort an dem sie sich nun befanden. Nur in den Momenten, da er vom Tod seiner Soldaten berichtete, zitterte seine Stimme und er wandte den Blick von der Geweihten ab, ließ in hinab oder ins Feuer gleiten. Ansonsten beschrieb er das Erlebte objektiv, fast nüchtern und Marbolieb wusste um die Intention dahinter. Sie kannte Dwarosch. Auf diese Weise versuchte er zu verhindern, dass er sich zu sehr von seinen Emotionen beeinflussen ließ. Er versuchte stets nüchtern zu analysieren, was bei seinem leidenschaftlich- aufbrausenden Wesen wohl geboten war in solchen Situationen, wollte man daran nicht zugrunde gehen. Ja, es war auch eine Art Selbstschutz. Besonders ausführlich und detailgetreu wurde sein Bericht, als er an dem Augenblick angekommen war, wo sie das Ritual erblickt hatten. Er beschrieb die Szenerie aufs Genaueste, was sie gesehen hatten, gehört, wie sie vorgegangen waren, welche Gegenwehr sie erfahren hatten. Schließlich senkte er die Stimme, um die Worte der Hexe wiederzugeben, als sie ihre Anrufung vollzogen hatte. „Uttara’vah, hole mir Rîjsha“, gab er jene Worte wieder. An dieser Stelle brach Dwarosch seine Erzählung ab und suchte nach einer Reaktion, irgendeiner Regung an der Geweihten. Die Priesterin hatte seinem Bericht still, fast reglos, gelauscht, die Hände auf ihren Schenkeln ineinandergelegt, die Augen niedergeschlagen. Ihre Blicke waren sich nicht begegnet. Kleine Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn und ihren Schläfen, und die stickige Luft in dem finsteren Kellerloch raubte ihr den Atem. Sie würde nicht mehr hier herauskommen. Ihre Zunge klebte ihr am Gaumen und ihre papierdünnen Lippen hatten schmerzhafte Risse – doch der dumpfe, nagende Durst verging rasch vor den Kopfschmerzen, die sie seit ihrem Erwachen im Griff hatten und die nun zu einem neuen Furioso erschollen und wie Pauken durch ihren Schädel donnerten. Sie klammerte ihre gesamte Konzentration an die Worte Dwaroschs, die präzise und meistenteils emotionslos durch den kahlen Raum hallten – eine klare, schnörkellose Beschreibung der Dinge und darunter eine Geschichte von Verlust und der Bitte, ihm Trost zu spenden, während zugleich das Reißen und Schlagen hinter ihrer Stirn beständig an Heftigkeit gewann. Er beendete seine Erzählung und mit den letzten Worten, die seine Lippen verließen, manifestierte sich das Reißen zu einem schneidenden, jähen Hieb durch ihren Geist, gefolgt von niederhöllischer Eiseskälte, die sich ihres innersten ermächtigte und in dem das knisternde, erboste Keckern einer Elster widerhallte, die gefangen in einem Gefäß dieses zerspringen ließ mit ihren spitzen, schrillen Schreien. Dwarosch fühlte, wie der Name zitternd in der Luft stand – und mit einem Mal die Temperatur im Raum absackte, bis sein Atem als Wolke in der Luft hing. Die Flammen im Kamin sackten zusammen und wurden zu einem bläulichen Glühen, und gerade am Rand seines scharfen Hörvermögens hörte er das schimpfende Keckern einer Elster, das einige Herzschläge lang im Raum nachhallte, ehe es langsam verklang. Der Zwerg sprang auf, die Augen angstvoll geweitet, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, als taste er nach etwas in der Dunkelheit. Gehetzt ruckte sein Kopf hin und her. Was war das, was ging hier vor? Dwarosch spürte seinen Puls rasen. Die Flammen des Feuers leuchteten wieder in traviengefälligem Gelb und leckten an den Scheitern, während die Temperatur im Raum binnen weniger Herzschläge auf das vorherige Maß anstieg, den Zwergen im Zweifel darüber zurückließ, ob es hier jemals kälter gewesen wäre. Irritiert und ein wenig benommen sah sich der Oberst weiter um. Jedoch ließ er die Arme wieder sinken, da er keine körperlich greifbare Gefahr ausmachen konnte. Suchte aber trotzdem beständig nach einem Anzeichen, dass er sich nicht getäuscht hatte, nicht alles nur Einbildung gewesen war. Marbolieb hatte sich nach vorn gekrümmt und ihre Hände über den Kopf geschlagen. Sie zitterte am ganzen Leib, gab aber keinen Laut von sich. Mit einem vernehmbaren Ächzen ließ sich Dwarosch vor Marbolieb auf die Knie fallen, als er die Sinnlosigkeit seines Handels erfasst hatte und griff die Geweihte sachte bei den Schultern. „Beruhige dich. Was geschieht hier?“ Es dauerte einige Atemzüge lang, ehe Marboliebs Zähneklappern so weit aufhörte, dass sie wieder in der Lage war, sich zu artikulieren. Mit gesenktem Kopf brachte sie „der Dämon ... sie hatte ihn gerufen ... .“ hervor. Schauder liefen durch ihren Körper und auf ihrer viel zu heißen Haut hatten sich Gänsepusteln gebildet. „Phexens Gegner ... „ presste sie heraus, was in einem Stöhnen unterging „... durch meinen Kopf.“ Sie presste ihre Handballen vor die Augen und verstummte, gefangen unter einer neuen Welle von Kopfschmerzen, die gegen ihre Stirn brandeten und beständig mehr ihre Aufmerksamkeit heischten. ‚Deswegen also die Füchse‘, dachte Dwarosch und verzog angewidert das Gesicht. Dann besann er sich, dass Marbolieb litt und er ihr helfen musste, wenn er es denn überhaupt vermochte. „Was kann ich tun? Wie kann ich dir helfen?“ „Bring mich hier raus.“ Erstickt klang die Stimme der kleinen Geweihten. Flehentlich setzte sie hinzu. „Bitte.“

Ohne ein weiteres, unnötiges Wort zu verlieren stand Dwarosch auf, griff nach seinem Pelzmantel, welcher als Polster auf seinem Rucksack gelegen hatte und warf ihn Marbolieb über. Dann beugte er sich zu ihr herab und hob sie hoch, so dass sie wie ein Kleinkind auf seinen Armen lag. Er barg sie an seiner breiten Brust, als er im forschen Marschschritt den Weg nach oben antrat. Die überraschten Gesichter der anderen, als der Oberst die Tür mit einem Fuß aufstieß kommentierte er lediglich lakonisch mit „frischer Luft“, ließ sich jedoch in keiner Weise aufhalten oder auch nur zum Verweilen nötigen. Selbst auf der Wendeltreppe verringerter er seine Geschwindigkeit nicht, doch atmete er schwer und Marbolieb konnte sein Herz hämmern spüren, als sie Tageslicht empfing und kalte, klare Luft ihre Lungen flutete. An der Oberfläche wandte sich Dwarosch sogleich von jenem Ort ab, an dem das Schreckliche geschehen war und ging einige dutzend Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Der Schnee knarzte unter seinen Stiefeln. An einem umgestürzten Baumstamm hielt er an und setzte sich mit einem leichten Stöhnen darauf. „Ist es hier besser“, fragte er vorsichtig, als er seine Beine nacheinander gerade machte, um die beanspruchten Muskeln zu dehnen. Marbolieb hatte die Augen geschlossen und war fast bis zur Nasenspitze in den dicken, warmen Fellumhang gehüllt. Sie lehnte ihren Kopf an die breite Brust des Zwergen und ihre langen, schwarzen Wimpern lagen wie Tuschestriche auf ihrer vom Fieber fleckigen Haut. Die eisige, klare Luft drang in ihre Lungen und erzählte von Tag und Licht und Freiheit. Nach und nach ließen die dröhnenden Kopfschmerzen bis auf ein erträgliches Maß nach. Sie seufzte erleichtert und Dwarosch spürte, die Anspannung in ihrem Körper langsam weniger wurde. „Danke.“ flüsterte sie, so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu hören. Auch Dwarosch entspannte sich nun, da er wusste und spürte, dass Marbolieb sich allmählich beruhigte. Er legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und berauschte sich an dem flüchtigen Moment der Ruhe, des Friedens. Sie war bei ihm und sie lebte. Fest und gleichmäßig spürte sie seien Herzschlag, seine Atemzüge, an ihrer Wange. Die leisen Geräusche des Winterwaldes umfingen sie beide – das feine, kaum wahrnehmbare Knistern der froststarren Zweige, das Rascheln des Windes in den Eiskristallen und hin und wieder das Geräusch eines Vogels, der in den wie gefroren dastehenden Bäumen nach Futter suchte. Die Priesterin genoss den Frieden und die Geborgenheit aus vollem Herzen, ihren Kopf an seine so vertraute Gestalt gelehnt, und pustete einige Haare des Umhangs beiseite, die sie persistent an der Nase kitzelten. Ihr Mund war trocken und langsam gewann der Durst wieder Oberhand über ihre Kopfschmerzen. Sie schmiegte sich enger an seine Brust, und flüsterte „Sie ist tot.“ Ein winziges Lächeln stahl sich auf ihre rissigen Lippen, und sie seufzte erleichtert. Doch Dwarosch plagten noch immer Zweifel. „Spürst du es, oder ist dies nur deine Überzeugung“, fragte er deswegen. „Dass sie in diese Maden zerfiel gibt mir zu denken, hinterlässt einen bitteren Geschmack. Vielleicht aber hätte ich nur gern ihren bleichen Schädel zertreten. Ich wünsche ihr ewige Qualen in der Seelenmühle.“ Härte zeigte sich in seiner Stimme und hatte sich auch seinen Zügen bemächtigt. Die Abscheu die Dwarosch verspürte war für Marbolieb körperlich wahrnehmbar. Es brauchte drei lange, tiefe Atemzüge, bis er die negativen Gefühlte, die Zweifel wieder eingedämmt hatte, abschütteln vermochte er sie nicht, noch nicht. Die Erinnerungen an die vergangenen Tage waren noch zu präsent, trotz aller Erfahrung und Selbstkontrolle. Sachte schüttelte der Oberst den Kopf über seine eigene Reaktion, sein Aufbrausen. „Ein Stern ist gefallen.“ Sagte er mit wieder sanfter, ruhiger Stimme. „Gleich nachdem mein Spieß sie fällte.“ Er spürte Marboliebs winziges Nicken mehr, als dass die kleine Geste zu sehen wäre. Sie fuhr sich mit trockener Zunge über die rissigen Lippen. „Rîjsha ist ein Stern im Raben, kaum zu sehen. Sie wollte ihn holen.“ erklärte sie betrübt. Dwarosch spürte, wie sie zu zittern begann, und eine einzelne Träne rann aus ihrem Augenwinkel. Sie schluckte mühsam und kämpfte um ihre Selbstbeherrschung. „Halte mich fest.“ Ihre Worte waren nur ein Hauch. „Bitte.“ Noch näher zog der bullige Zwerg den zierlichen Körper der Geweihten an sich heran, als er ihrer Bitte nachkam. Sie benötigte, nein sie brauchte Halt. Wie selbstverständlich erhöhte er seinen ohnehin bereits festen Griff an ihrer Schulter und der Hüfte. Mehr konnte er kaum für sie tun in diesem Moment. Stille setzte ein. Alles war gesagt. Nun kannte sie die gesamte Geschichte. Marbolieb würde ihm die Antworten geben nach denen er verlangte, sein Geist dürstete, wenn sie dazu bereit war. Lange Zeit schwiegen sie beide. Ein leichter, eiskalter Wind kam auf und trieb die schweren Schneewolken so weit auseinander, dass einige Strahlen des Praiosschildes sie zu durchdringen vermochten. Der Schnee glitzerte wie ein Farbenspiel aus reinen Diamanten, als das helle Licht ihn traf und mit einem mal ein Gleißen über die vormals so trostlose Landschaft legte. Marbolieb hatte die Lider geschlossen und atmete in die Halsbeuge des Zwergen – schnell und leicht ging ihr Atem, wie der eines kleinen, aufgeplusterten Vogels. „Sie hat zwei gerufen.“ Trost fand sie in der festen Umarmung, ein sicherer Anker, der sie umfing und hielt. „Den Bringer der verbotenen Wünsche – und die diebische Elster.“ Ihre Stimme war brüchig, und nur Stück für Stück wollte ihr der Bericht über die Lippen. Immer mehr klebte ihr die Zunge am Gaumen und ließ das Sprechen beschwerlich werden. „Sie gab mir einen Trank – ich wollte ihn nicht trinken.“ Dwarosch spürte, wie sich der Körper der schmalen Frau versteifte bei dem Gedanken daran und sie erneut zu zittern begann. Es dauerte lange, bis sie erneut das Wort ergriff. „Sie haben mich geschlagen und getreten.“ Nur noch ein tonloses Flüstern. „Und ihn mir eingeflößt. Ich konnte es nicht verhindern.“ Die Ohnmacht, die sie erfahren haben musste und nicht aussprach, konnte der Zwerg zumindest ansatzweise erahnen. „Es war, als würde mein Kopf gespalten. So weit offen.“ Sie schauderte, zu erschöpft selbst für Tränen, ihre Worte ein leichter Atem auf seiner Haut. „Sie sind gekommen – alle beide, in meinem Kopf. Ich hätte alles getan, dass es aufhört, Dwarosch, alles.“ Sie verstummte, eine kleine, zusammengekauerte Gestalt, geborgen in seinen Armen und dennoch allein mit dem Erlebten, dass ihr Innerstes auf unaussprechliche Weise geschändet hatte. „Auf einmal war es vorbei – wie abgeschnitten.“ Sie grub ihren Kopf in seine Brust, die Augen geschlossen. Ein kehliges, drohendes Knurren entfuhr Dwarosch Rachen. Erneut wollte Zorn in ihm auffachen. „Als die Hexe in die Niederhöllen gefahren ist für ihre Verbrechen“, da hatte es geendet. Er seufzte, seine Stimmung kippte bereits wieder. Marboliebs Nähe und ihr Schicksal hielten seine Wut im Zaum. „Ich bete das sie nie wieder eine Gelegenheit bekommt in unsere Welt zurückzukehren. Die Götter mögen uns davor behüten. Zu viel Schrecken, zu viel Leid und Tod hat sie verursacht.“ Der letzte Satz zeugte von aufkeimendem Schwermut. Erneut entstanden Momente der Stille, doch die Gedanken des Oberst fanden keine Ruhe. Es war schlichte seine Natur alles zu hinterfragen, um jede Gefahr ausschließen zu können. „Diese ‚Zwei‘ sollten in dich fahren? Warst du das Medium, oder nur das Tor durch das sie diese Ebene betreten sollten?“ Leise und ein Stück weit unsicher wegen der Ereignisse im Keller stellte er die Fragen. Er spürte, wie ihr ganzer Körper bebte, als sie in Gedanken nochmals das Unaussprechliche erlebte. Die Zähne der Geweihten klapperten, als sie sich mit einer Antwort mühte. „Das Tor. Und ihre Nahrung.“ Mehr ein Wimmern als Worte – sie besaß keine Worte für das Gefühl, bei lebendigem Leib zerrissen und Stück für Stück verschlungen zu werden. Sie versuchte, sich noch enger an ihn zu drücken, verzweifelt auf der Suche nach Geborgenheit und Schutz vor dem Erlebten. „Wir müssen von hier fort“, beschied Dwarosch energisch, als hätte er es bereits in diesem Moment beschlossen. „Weg von diesem finsteren Ort, der dich in seinem Bann gefangen hält.“ Er wog den Kopf hin und der, als wöge er Möglichkeiten ab. „St. Boronia“, entrann es ihm im Flüsterton, mehr zu sich selbst, denn zur Geweihten. „Ich schulde dem Raben eh noch dies Versprechen.“ Doch zuerst mussten sie zurück nach Senalosch und nach Burg Rabenstein, das war unausweichlich. Marbolieb schwieg, eng an seine Brust geschmiegt, nicht fähig, diesen einen sicheren, friedvollen Ort aufzugeben. Sie lauschte seinen regelmäßigen Atemzügen und hielt erleichtert die Augen geschlossen. Die Möglichkeit, über das Geschehene zu reden, hatte ihr gutgetan, das spürte der Oberst. Der nächste Ort, so hatte Xagur berichtet, war das Dorf Finsterbach, eine knappe Wegstunde entfernt. Bis Senalosch waren es etwas mehr als eine Woche, zur Burg vielleicht vier Tage. Der Baron indes war, so hatte Richild erzählt, zurzeit mit seiner Familie in Punin, wann er zurückkehren würde, war ungewiss, doch dies konnte durchaus auch erst in zwei, drei Monden der Fall sein, wenn die Pässe im Eisenwald freizutauen begannen.

Kellerkinder

„Ich bin froh, wenn wir endlich aus diesem Keller herauskommen.“ Die Landmeisterin strich sich durch ihr stoppelkurzes Haar und betrachtete die Umstehenden. „Hier ist nichts mehr zugange, das sich nicht bewegen soll.“ Gründlich hatten sie und Amalvin die letzten beiden Tage das Gelände abgesucht– letzterer noch immer etwas eingeschränkt durch den Schultertreffer, den er beim Angriff auf die Schergen der Paktiererin abbekommen hatte. Sie warf dem Oberst einen forschenden Blick zu. „Meint Ihr, Marbolieb schafft die Reise?“ Die gebeutelte Geweihte war der einzige Grund, der sie noch hier gehalten hatte. Nun ja– fast. „Ramiro wird sich auch schwertun– der braucht zumindest jemand, der ihn stützt.“ Wie meist ging sie zuerst die praktischen Dinge an. Der ganze Rest würde sich fügen. „Ja, ihre Gnaden und auch Ramiro werden es schaffen, wenn wir ihnen helfen.“ Die Stimme des Oberst war fest und überzeugend. Zuversicht und neu gewonnener Optimismus sprachen aus ihm. Die Tage des Schreckens waren vorüber und wenn auch Marbolieb immer noch litt, so fasste sie sich von Tag zu Tag besser. Sie mussten aufbrechen, es gab keine Alternative. Es noch weiter hinauszuzögern machte keinen Sinn. „Xagur und Baschtox haben zwei robuste Schlitten gebaut. Sie werden im unebenen Gelände selbstverständlich nur die Ausrüstung tragen können, aber sobald wir auf sicheren, einigermaßen ebenen Untergrund treffen können sie durchaus für den Personentransport verwendet werden. Die dicke Schneedecke macht es möglich. Es wird eine Plackerei, aber wenn wir alle mithelfen, sollte es keine große Behinderung darstellen. Finsterbach wird unser erstes Ziel sein. Es sind nur wenige Meilen bis dorthin. Dort werden wir Proviant aufnehmen und uns umhören. Mich interessiert die Geschichte dieses Bauwerks und dieser Keller. Vielleicht können uns die Bewohner etwas dazu erzählen. Hat jemand Anmerkungen bis dahin?“ Dwarosch sah in die Runde. Seine Miene zeigte ehrliches Interesse an der Meinung der anderen. Seine Männer kannten dies Prozedere. Der Oberst wusste gern was seine Soldaten dachten und ging nicht selten auf gemachte Vorschläge ein. Besonders Athax’ Meinung interessierte ihn. Der Hauptmann nickte kaum merklich, als Dwaroschs Augen bei ihm angekommen waren und ergriff das Wort. „Wir sollten so schnell wie möglich eine Nachricht nach Senalosch schicken. Man wird uns vermissen.“ Der Oberst nickte zustimmend. „Das werden wir, Athax. Ich werde Borax und dem Rogmarog schreiben. Alsbald möglich wirst du mit Baschtox und Andorgam dorthin aufbrechen. Xagur und Trine bleiben bei mir.“ Sein Blick schweifte zur Landmeisterin hinüber. „Werden ihr eine Botschaft zum Baron entsenden? Ich würde dem gegebenenfalls einige Zeilen hinzufügen. Was sind eure Pläne, was werdet ihr weiter unternehmen in dieser Sache?“ „Ich schreibe einen Bericht für meine Ordensoberen in Garrensand – und einen weiteren an den Baron. Wenn ich diesen nach Punin schicke, sind die Zuständigen dort auch gleich mit informiert. Gern könnt Ihr Eure Zeilen dazufügen. Und dann gehe ich zurück nach Eisenbrück – im Winter durch die Wälder zu stromern und zu hoffen, dass ich einen versprengten Widergänger finde, bringt nichts.“ Richild legte den Kopf schief und betrachtete den Oberst. „In Finsterbach würde ich mich gern eine Weile mit Marbolieb unterhalten – ich möchte wissen, wie ihre Version der Geschichte lautet. Ich gehe davon aus, dass ihr sie dann mitnehmen werdet?“ Die jähe vergleichsweise gute Laune des Oberst nach seinem langen ‚Luftschnappen’ mit ihrer Schwester im Glauben war ein verräterischer Hinweis. „Was werdet ihr nach Finsterbach tun? Wo kann ich euch erreichen?“ Interesse und ein gewisser Funke Neugier stand in ihren Augen. Ein starker Kontrast zu Zogoltrinas Zügen, die immer mehr versteinerten und deren Augen schier Feuer sprühen wollten, als sie Dwaroschs Worte und die Schlussfolgerungen Richilds vernahm. “Trina”, Dwarosch hatte Mimik und Reaktion seiner Soldatin sehr wohl wahrgenommen am Rande des Gesprächs. Aber auch, dass sie nicht gesprochen hatte, als sie dazu aufgefordert gewesen war, wie alle anderen auch. Kurzerhand wandte er sich ihr zu. “Komm nach oben, wenn wir hier fertig sind.” Dann drehte er sich wieder zu den beiden Golgariten. “Das entscheidet ihre Gnaden selbst.” Dwarosch warf einen kurzen Blick zu Marbolieb, die stumm und blass auf einem Schemel nahe dem Kamin saß. “Wir werden sie nach Calmir geleiten. Sie wird verständlicherweise zuerst zu ihrer Tochter wollen. Dort kann sie abwägen, ob sie dortbleibt, oder uns nach Senalosch begleitet. Das stelle ich ihr frei.“ Die Priesterin hatte den Blick gesenkt und schien ihre Hände zu betrachten. Sie gab keinen Hinweis darauf, dass sie die Gespräche im Raum bemerkte. Allerdings,” der Oberst senkte die Stimme etwas und Besorgnis lag in seinen Worten, “wäre es mir lieber, wenn ich sie in guten Händen wüsste. Ein Seelenheiler würde ihr vielleicht helfen können. Die Gefangenschaft und das Ritual haben ihr stark zugesetzt. Sprecht mit ihr und lasst euch aus erster Hand berichten. Vielleicht ergibt sich daraus auch weiterer Handlungszwang für euren Orden. Doch zunächst sagt mir ob ihr jemanden kennt der entsprechend ausgebildet ist, Landmeisterin?” „Ich bin etwas eingerostet.“ Die Kriegerin streckte sich, dass ihre Gelenke knackten. „Aber“ sie senkte ihre Stimme ebenfalls auf das Maß des Oberst „ich würde sie dazu nach Zwackelfegen bringen, ins Kloster St. Noiona am Stillen Quell.“ Das Kloster in dem kleinen Edlengut im benachbarten Dohlenfelde war nur etwa vier Tagesmärsche entfernt, nahe der Grenze zu Rabenstein gelegen – und beherbergte viele mehr oder minder Verwirrte im Geiste, die der Betreuung bedurften. „Vermutlich wäre es gut für sie, ein paar Wochen oder Monde dort zu bleiben.“ „Gut, dann bringen wir sie dorthin, nachdem wir ihre Tochter geholt haben. Das wird zunächst das Beste sein“, stimmte der Oberst zu. Alles andere würde sich fügen, so hoffte Dwarosch. Er würde sie besuchen, nachdem er nach Senalosch heimgekehrt war und seine Amtsgeschäfte geregelt hatte. “Wie dem auch sei.” Der Oberst wechselte das Thema. Seine Tonlage wurde wieder energisch. “Noch etwas gibt es zu tun. Die Gebirgsjäger werden ihre gefallenen Brüder und Schwestern nach Hause bringen. Wir werden die Reste ihrer Körper bergen, um ihnen eine Feuerbestattung zu ermöglichen, wie es seit jeher Brauch ist. Antharax”, Dwarosch sah wiederum zu seinem Freund. “Sobald du die Nachrichten überbracht hast, wirst du mit dem vollen Banner ausrücken. Es soll eine ehrenvolle Heimholung werden und ich will das der Musikzug vor den Mauern erwartet. Die Feuer sollen einen ganzen Tag und eine ganze Nacht brennen.” Der Hauptmann nickte. Er wirkte ein wenig erleichtert. “Sehr wohl, mein Oberst.” Ein Lächeln zeigte sich auf seinen Zügen. “Es wird mir eine große Ehre sein. Niemanden in Senalosch wird den Trauerzug verpassen. Die Hörner werden erklingen und alle werden kommen. Ihr habt mein Wort”, sagte er feierlich. Auch Dwarosch lächelte bei dieser Antwort. “Du musst mir dafür nicht dein Wort geben. Ich weiß wieviel es dir, euch bedeutet.“ Dwarosch sah jedem seiner Soldaten nacheinander ins Gesicht. „Mir ist dies nicht weniger wichtig”, entgegnete er mit milder Tonlage. “Nur hat mich das Leben gelehrt, dass man sich erst um die Belange der Lebenden kümmern sollte, dann um die Toten.”

Zwist

Als Trina am oberen Ende der Wendeltreppe ins frei trat dämmerte es bereits. Der Himmel war bedeckt und ein leichter Schneefall hatte eingesetzt. Der Oberst saß unweit des Ausstiegs auf den Resten einer umgestürzten Mauer und zog an seiner Pfeife. Er sah in Richtung des nur undeutlich auszumachenden Scheins jenseits der Bäume, wo das Praiosmal untergehen mochte. „Über drei Tage liegen sie jetzt schon da draußen.“ Trauer lag in ihrer Stimme, aber auch wachsende Wut und Anklage. „Ferrizyna war die erste.“ Dwarosch wusste wohl, dass die beiden Frauen, trotz ihres unterschiedlichen Charakters, eng befreundet gewesen waren – vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass Kriegerinnen in seinem Regiment noch immer die absolute Ausnahme waren. „Ihr habt nicht einmal bemerkt, was Ihr für sie bedeutet habt, oder? Sie hätte alles für Euch getan – und ihr hättet alles von ihr haben können!“ Sie stemmte ihre Arme in die Hüften, immer mehr in Rage geratend. „Sie hat Euch ihr Herz geschenkt – und ihr habt sie geopfert – für diese hochnäsige, spindeldürre Ziege, die es nicht einmal für notwendig erachtet, einen anzusehen, wenn man mit ihr spricht!“ Und das hatte sie getan – ausführlich, als sie ihr den Kopf gewaschen hatte, wie viele tapfere Angroschim – und eine Angroschna – für sie gestorben waren in den letzten, harten Tagen. Sie schnaubte und wandte sich ab, zitternd vor Wut. „Ich weiß“, Verständnis und auch Trauer lagen in Dwaroschs Stimme. „Es wird vermutlich nicht viel von ihnen übrig sein. Ich mache mir da wenig Hoffnung.“ Er seufzte und zuckte mit den Schultern. „Doch was wären die Alternativen gewesen? Wir waren alle verletzt und angeschlagen. Und es wäre unverantwortlich gewesen jemanden hier allein zurückzulassen.“ Nochmals stieß der Oberst die Luft aus. „Trina, es ist nicht immer leicht Entscheidungen zu treffen, die solche Tragweite besitzen, aber irgendjemand muss sie treffen. Glaub nicht, dass es mir leicht fällt Brüder und Schwestern in den sicheren Tod zu führen. Das ich als Befehlshaber zur Projektionsfläche von starken Gefühlen, Trauer und daraus geborenem Hass werde liegt in der Natur der Sache. Ich wusste das dies geschehen würde. Aber auch das muss man ertragen, wenn man führen will. Ich mache dir nichts vor. Ja, ich empfinde Zuneigung, eine spezielle Bindung zu dieser Geweihten. Doch es ist nicht an dir darüber zu urteilen.“ Dies kam entschieden. „Wir haben uns auf dem Feldzug kennengelernt. Sie hat meine Seele vor der Verderbnis, dem Tode bewahrt. Ich würde nicht hier sitzen, würde es sie nicht geben.“ Es war eine Tatsache und als solches sprach Dwarosch es aus. Auf Ferrizynas Gefühle ihm gegenüber würde Dwarosch nicht eingehen. So eine Diskussion führte zu nichts und war seiner Meinung nach auch mehr als unangemessen. Es ging Trina schlicht nichts an was er darüber dachte, was er fühlte. Er wusste es nicht. „Doch das ist alles nicht der Grund warum ich mit euch ausgezogen bin“, fuhr er fort. „Du warst dabei, hast gesehen was diese Hexe getan hat, wie viele Untote sie erhoben und beherrscht hat, welche Bedrohung sie darstellte. Wären wir nicht gewesen, hätten wir das Ritual nicht gestört und sie getötet, dann würden jetzt zwei mehrgehörnte Dämonen in unmittelbarer Nachbarschaft zu unserer Heimat existieren. Bedeutend mehr Tode hätte es gefordert sie zu vernichten. Dies ist eine mehr als ausreichende Begründung für den Einsatz von Soldaten.“ Seine Wangenknochen mahlten. „Nein, es gab keine Alternative!“ „Es gibt immer eine Alternative!“ Blitze schossen aus Trinas Augen. „Aber ich bin ja nur die Soldatin – ich habe das nicht zu wissen!“ Sie stemmte die Fäuste in die Seiten, wandte sich um und stapfte – nein, rannte fast – erbärmlich fluchend in die Ruinen zurück, den Oberst zurücklassend. Einige Wortfetzen – darunter eine ‚elende Ziege!’ – konnte er so gerade noch vernehmen, ehe der fallende Schnee ihre Stimme erstickte. Der Oberst schnaubte verärgert und hämmerte mit der Rechten auf den Stein ein auf dem er saß. Was bildete sich Trina ein? Er fluchte. Sie hatte ihn verärgert mit ihren Fragen, Unterstellungen, aber er hatte es ihr nicht gezeigt und das war der richtige Weg gewesen. Wieder einmal hatte sich gezeigt, dass Emotionen kein guter Ratgeber waren, auch nicht im Umgang mit Untergebenen. Die Kontrolle seiner Wut machte sich im Kleinen bezahlt. Albrax hatte diese Schwäche, seinen Jähzorn immer offen benannt gegenüber Dwarosch, als er noch unter dem Hochkönig in den Korknaben gedient hatte. Sie würde sein Urteilsvermögen trüben hatte er gesagt und, dass sie ihm im Weg stünde würde er einmal selbst ein größeres Kommando führen. Dwarosch hatte sich daran erinnert und an dieser Schwäche gearbeitet. Er hoffte das Zogoltrina einsehen würde das sie es war die irrte und, dass er es ehrlich meinte, doch wissen tat er es nicht. Vielleicht auch würde man seine Worte als Schwäche auslegen, falls sie die Runde machten. Auf alle Fälle aber hatte er zunächst dafür gesorgt, dass es zu keinem Streit kam der zu eskalieren drohte. Dennoch würde er sie im Auge behalten müssen.

Inventur

Den Rest des Abends verbrachten die Zwerge und die beiden Ordensritter damit, ihre geringe Ausrüstung wieder zu packen. Marbolieb war im Nebenzimmer vor Erschöpfung eingeschlafen und würde, so hoffte der Oberst, dadurch rasch wieder zur Kräften gelangen. Das Labor und die Wohnräume der Paktiererin hatte Antahrax, teils in Begleitung des Oberst und der Landmeisterin, oberflächlich durchsucht. Neben Schmuck, Kleidung, Duftwässern und Schminkzeug hatten die Wohnräume nichts Aufsehenerregendes hergegeben, die Gerätschaften und nur halb aufgeräumten Labortische hätten einem Magus ungleich mehr Wissen verschafft als dem damit deutlich überforderten Kämpfern. Neben Sternenkarten und wissenschaftlichen Abhandlungen über das Wesen verschiedener Dämonen fand sich auch die Anleitung eines Gebräus unklarer Verwendung aus allerlei eklen Zutaten, die in hastiger, doch gestochen klarer Schrift notiert waren – darunter fünf Quadratfinger Totenhaut, 25 Skrupel gemahlenes Marboblei, ein Krötenschemel, fünf verbrannte und zerstoßene Rabenfedern, fünf Unzen Schmalz eines lebenden Menschen und fünf Unzen in klarem Alkohol gelösten Lotos, fünf Skrupel zerstoßenen Blutachat und neun Skrupel pulverisierten, in Säure gelösten Türkis – alles zusammen in einer mehrtätigen Prozedur zu brauen, und bei Neumond schließlich auf ein Fünftel zu reduzieren – was die Paktiererin, den Spuren nach zu urteilen, denn auch unternommen hatte. Eine verschlossene Schatulle mit mehreren Edelsteinen und sicher 200 Dukaten stand in einer Ecke mit verschiedensten alchymischen Grundstoffen, offensichtlich eher unbeachtet als sei sie an einen wenig störenden Ort geräumt worden. Diese nahmen die Zwerge selbstverständlich an sich. Die Hinterbliebenen der gefallenen Soldaten würden zumindest eine kleine Entschädigung erhalten. Auf eine genaue Untersuchung der verschiedensten Töpfchen und Tiegelchen verzichteten sie indes – dies hätte mehr Zeit bedurft, als sie hatten, abgesehen davon, dass sie das wenigste sicher zuordnen konnten.

Und so brach die kleine Schar am Morgen des kommenden Tages auf und ließ den Ort des Schreckens endlich hinter sich. Beide Zugänge zu dem gefundenen Kellersystem hatten die Zwerge kontrolliert zu Einsturz gebracht, indem sie ausgewählte Stützpfeiler durchsägten und einen der Teile dann mit Seilen aus gebührendem Abstand wegzogen. Dwarosch wollte später in fachkundiger Begleitung wiederkommen. Bis dahin musste aber sichergestellt werden, dass niemand hineingelangte. Zumindest nicht ohne großen Aufwand. Da das erste Ziel, der kleine Ort Finsterbach nicht weit entfernt lag, hatte man keine große Eile und konnte sich an das Ziehen der Schlitten gewöhnen und musste Marbolieb und den Jungen nicht mit einem hohen Tempo quälen. Die Geweihte hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Sie stand beim Aufbruch an die halb eingefallene Mauer der Ruine gestützt da und blickte verloren zu Boden. Die Landmeisterin bedachte das Szenario mit einem leisen Kopfschütteln, wechselte einen Blick mit Amalvin und nahm mit ihrem Waffenbruder die Priesterin in die Mitte, je einen ihre Arme über den Schultern der beiden gerüsteten Krieger. Dennoch stolperte sie blindlings durch den Schnee, und allen dreien war die Erleichterung anzumerken, als sie den Wald hinter sich ließen und die Priesterin endlich auf den Schlitten laden konnten. Dwarosch hatte den Jungen derweil auf dem Rücken getragen bis zu diesem Punkt. Es war bereits fast Mittagsstunde, als Antharax von der Spitze der lockeren Formationen vermeldete, dass der Weiler in Sichtweite war.

Fragen und Antworten in Finsterbach

Finsterbach war ein kleiner Flecken inmitten von weitläufigen, mit Bruchsteinen umfriedeten Feldern. Unweit des Ortes reckten einige Obstgärten hinter dichten Hecken ihre nun kahlen Zweige in den grauen Winterhimmel. An dem von einer gewaltigen Linde überspannten Dorfplatz und –brunnen lagerten die reichen und prächtigen Häuser des Ortes – dreigeschossige, schmucke Fachwerkbauten, deren altersschwarze Balken mit den offensichtlich regelmäßig gekalkten, fast schneeweißen Ausfachungen kontrastierten und die samt und sonders ihre Giebelseiten zum Dorfplatz reckten. Neben dem Schulzenhaus, dem breitesten Bau, baumelte an einem kaum kleineren Haus ein hölzernes, aufwendig geschnitztes Schild, das seinen Storchen in einem Nest über drei Küken zeigte. Direkt gegenüber stand ein etwas gedrungeneres Bauwerk, dessen Ausfachungen durch einen breiten, rostroten Zierstreifen abgehoben waren, und über dessen Eingangstür ein Schild mit einem grinsenden Goblin mit einem großen Humpen Bier in der Hand hing. Antharax sah zu Dwarosch und rümpfte die Nase. “Rotpelz”, kam es mehr als Frage denn als Feststellung, dass er die gemalte Figur richtig zugeordnet hatte. Dwarosch nickte ein wenig belustigt, “genau. Aber mit einem Rotpelz will man nicht unter einem Dach nächtigen, dies ist vermutlich lediglich eine Schänke. Wir nehmen das Storchennest”, entschied der Oberst. “Seltsamer Humor”, erwog Antharax und Dwarosch brummte zustimmend. Sie alle waren froh die erste Etappe beenden zu können, denn wenn sie auch nicht sonderlich lang gewesen war, so hatte sie einiges an Kraft gekostet. Die Schlitten durch den fallenden, nassen Neuschnee zu ziehen war anstrengend und schweißtreibend gewesen, auch wenn sie die Aufgabe reihum erfüllt hatten. „Mir han zwoi Zwoierzimmr, zwoi Einer unn’ de Schlafsaal.“ beschied der gewichtige Wirt, ein hochgewachsener, vollkommen erkahlter Mann, der das fehlende Haupthaar durch einen schmutzigbraunen Backenbart, der wild in alle Richtungen wucherte, leidlich erfolgreich wettzumachen suchte, die so unverhofft aufgetauchten Gäste. Händereibend zählte er die Köpfe und sah offensichtlich das Geschäft der Woche vor sich. “Wir nehmen den Schlafsaal”, beschied der Oberst. “Es sei denn ihr wollt euch anderweitig einquartieren Landmeisterin?” Fragte er mit einem Seitenblick auf Richhild. Die Golgaritin und er hatten sich angeregt unterhalten auf dem Weg. Sie hatten über ihre Vergangenheit, Stationen ihres bisherigen Lebens gesprochen und eine gewisse Selbstverständlichkeit gefunden, mit der sie miteinander umgingen. Der nüchterne, taktierende Ton war wohlwollendem Respekt gewichen Richild schüttelte den Kopf. „Der Schlafsaal ist in Ordnung – wenn eure Leute nicht zu sehr schnarchen.“ Ein kurzes Grinsen huschte über ihr Gesicht, rasch wieder vergangen. Sie war zurückhalten gewesen mit den Dingen, die sie in den Orden geführt hatten. „Niemand wird im Orden geboren, Oberst. Belassen wir’s dabei.“ Hatte sie erklärt – und dennoch bereitwillig einige Dinge über das Ordenshaus und ihre Unternehmungen in den vergangenen Jahren geplaudert, die jedoch eher weniger mit den direkten Belangen des Ordens zu tun hatten. Dwarosch ließ es sich nicht nehmen, erst den Jungen und dann Marbolieb ins erste Stockwerk hinauf zu tragen, wo sich der Schlafsaal befand. Er wies seine Soldaten an, die Ruheplätze nahe der Tür zu belegen und sorgte dann dafür, dass sich alle mit frischen Wasser wuschen und die nassen, verschwitzten Sachen zum Trocknen aufhängten. Er wollte, dass niemand krank wurde, das konnten sie sich nicht leisten. Ramiro war durch den Marsch deutlich mitgenommen, saß aber mit wachen, blitzenden Augen auf seinem Strohsack und betrachtete neugierig die militärisch gut organisierten Abläufe der Zwerge, die in kürzester Zeit ihre gesamtes Gepäck verstaut und ihre Kleidung gereinigt und gewaschen hatten. „Bekommen wir heute noch Essen?“ erkundigte er sich neugierig und der Oberst brummte betätigend. Marbolieb ließ sich mit einem erleichterten ‚Danke Dir’ von Dwarosch auf ihrer Schlafstatt absetzen und blieb, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, sichtlich erschöpft, aber durchaus glücklich damit, wo sie war, den Blick auf ihren Händen, während um sie herum die emsige Betriebsamkeit losging und erst nach einiger Zeit wieder zu einem geordneteren Ablauf fand – der eine ganz neue Spannung erhielt, als der Geruch nach einem kräftigen Kohleintopf aus der Küche des Storchennestes herankroch und sich durch das Haus arbeitete. Dies und die Aussicht auf ein frisches, schäumendes Bier oder – je nach Geschmack – einen heißen Würzwein schaffte es, die Lebensgeister aller wieder zu wecken. Gemeinsam nahm man ein kräftigendes, warmes Mahl ein, was die Stimmung ein wenig zu heben vermochte. Lange saß man beieinander, aß und trank. Ein wenig Normalität nach der langen Zeit der Entbehrungen und des Schreckens taten gut. Am späteren Nachmittag füllte sich die Schankstube mit vielen Dörflern – von denen so manche neugierig versuchten, einen Blick auf die mitten im Winter hereingeschneiten Wanderer zu erhaschen. Marbolieb hatte sich nach dem ausgiebigen Essen an die Wand gelehnt und lauschte, die Augen geschlossen, dem Getümmel, ohne sich am Gespräch zu beteiligen. Nach einem reichlich tollpatischen Kampf mit dem Eintopf schien sie erleichtert, diese Hürde irgendwie gemeistert zu haben – auch wenn sie in den Augen des Obersten in ihrem schlichten, sandfarbenen Leinenkleid immer noch sehr gewöhnungsbedürftig aussah, eine Kleidung, die sie selbst indes nicht zu berühren schien. Als Dwarosch sein drittes Bier bekam, fragte er den Wirt nach dem Dorfschulzen und nach der alten Ruine, die sie gerade erst hinter sich gelassen hatten. „Die Schulzin will ich Euch natürlich holen, Herr Zwerg.“ Diensteifrig buckelte der Wirt vor seinen Gästen, die ihm jetzt im Winter ganz unverhofft das Haus füllten. „Aber warum fragt ihr nach dem Hexenturm? Dort solltet ihr nicht hingehen, da ist’s nicht geheuer! Und das sagt man nicht nur so, müsst ich wissen.“ Die Stimme des Wirtes war zu einem verschwörerischen Flüstern herabgesunken, als er einen forschenden Blick in die Runde warf – und mit ihm waren auch die Gespräche im Raum, die größtenteils der Einschätzung der Gäste geschuldet zu sein schienen, bis auf Flüsterlautstärke abgesunken, als sich die Dörfler, vier Dutzend mochten es gut sein, redlich mühten, auch gar kein Wort zu verpassen. Mit listig blitzenden Augen fügte der Wirt hinzu. „Das weiß hier nämlich ein jeder, und mein seliger Herr Vater, der hat das Hexenweib einmal gar selbst gesehen!“ Tiefe, andächtige Stille im Raum unterstrich seine Worte. Dem Oberst war das plötzliche, allgegenwärtige Schweigen und nicht entgangen. Seine Augen wanderten forschend im Raum hin und her, doch als niemand weiter etwas sagen wollte räusperte er sich. „Die Hex ist tot“, gab er mit knappen Worten die Tatsachen wieder. „Aber freilich ist sie das, hoher Herr!“ bekräftigend nickte der Wirt. „Die wurd’ anno selbigsmal, drei Jahrzwölfte ist das sicher her, hier auf dem Scheiterhaufen verbrannt – ein echter Inquisitor von d’ Praioskirch ist dafür hergekommen!“ „Wo Feuer ihren Leib nur zeitweilig zu verzehren und nicht zu vernichten vermochte, hat geweihter Stahl es vollbracht“, entgegnete Dwarosch mit fester Stimme, so dass ihn alle hören konnten. „Wir haben sie vor einigen Tagen in die Niederhöllen gejagt, wo sie hingehört und mit ihr hoffentlich ihre gesamte, untote Brut.“ „Oh, Herr Zwerg, die war un’ is tot, seid’s versichert. Seine Ehrwürden Föhrenstieg hat damals noch die Asche höchstselbsten in den Wind, den Wald und das Wasser gestreut – die kann nimmer wiederkommen! Nimmermehr!“ Der Wirt sprach mit dem Brustton der Überzeugung und vielstimmiges Gemurmel der Dörfler unterstütze ihn. Der Oberst grunzte abfällig, beließ es aber dabei. Anscheinend hatten Hexen in Rabenstein Tradition. „Der alte Inquisitor Ungolf?“ Die Landmeisterin tat einen tiefen Zug aus ihrem Humpen und streckte genüsslich die Beine aus. „Ich habe von ihm gehört. Das war doch der, der letztes Jahr auf der Jungfernfahrt der ‚Concabella’ sein Leben ließ, den Zwölfen sei’s geklagt.“ Sie wandte sich an den Oberst. „Ein gemäßigter Herr – und wenn der eine Hexe verbrennt, dann wahrlich zu recht. Ich könnt getrost davon ausgehen, dass aus einem Scheiterhaufen der Inquisition auch keine Paktiererin mehr aufersteht.“ „Das heißt dann wohl, dass wir von unterschiedlichen Plagen sprechen“, kommentierte Dwarosch. Richhild musterte den Wirt, der dem Wortwechsel mit wachsender Verwirrung gelauscht hatte. „Was hatte die Hexe denn verbrochen, guter Mann?“ Der Wirt strich sich mit einer Hand über den Nacken und ließ seinen Blick zwischen der Ritterin im Ordensornat (aber ohne Rüstung – diese lag, wohlweislich, mitsamt dem anderen Gepäck im Schlafsaal. Lediglich ihren Rabenschnabel hatte die Landmeisterin samt Waffengurt mit in die Schankstube genommen. Was genau sie befürchtete, wusste sie vermutlich selbst nicht, doch nun hing der Waffengurt an der Lehne ihres Stuhles und sorgte dafür, dass sämtliche Gäste samt den Schankknechten einen mehr oder minder eleganten Bogen um die sperrige und eindrucksvolle Waffe machten) und dem Oberst kreisen. „Hamei – das war d’Frau vom Seidenhändler, dem alten Feredor.“ Die Geschichte schien den Gästen noch unbekannt – während sie hier doch längst zum Volkswissen gehörte, eine wundervolle Geschichte, um ungezogene Kinder zu bändigen und Wanderer zu schrecken – und immer wieder mit großer Begeisterung auf’s Neue erzählt. Hellhörig zog der Oberst die Augenbrauen zusammen und dachte angestrengt nach. „Seidenhändler“, wiederholte er leise die Worte des Wirts. Dann sah er ruckartig zu Marbolieb hinüber. „Sagtest du nicht, dass sie in deinem Traum pfirsichfarbenen Seidendamast getragen hat?“ Marbolieb, die mit angezogenen, umschlungenen Knien auf ihrem Stuhl gesessen hatten, fuhr auf und blickte sich verwirrt im Raum um, ehe sie den Blick wieder ihre Knie senkte und nickte. Müde sah sie aus, und die Schatten unter ihren Augen hatten zugenommen. Richild runzelte die Stirn „Komm, Schwester, ich bringe dich nach oben.“ Sie lud sich die leichte Priesterin unzeremoniell wie einen Mehlsack über die Schulter und trug sie aus dem Schankraum, begleitet von den neugierigen Blicken der Dörfler. „Was is’ mit der?“ erkundigte sich der Wirt, mit wachsam blitzenden Augen, schüttelte dann aber geistesabwesend den Kopf und kehrte zu seiner Geschichte zurück. „Der alte Feredor hat richtig teure Stoffe gehandelt, bis nach Albenhus und sogar nach Elenvina. Er hat sie von den Zwergen bekommen – und aus dem Almadanischen unten, das ist ja nich’ so weit von hier. Bis dann das mit seiner Frau passiert ist.“ Zielstrebig visierte der Wirt einen Spucknapf an und traf mit der Übung langer Jahre. Zustimmendes Gemurmel seiner Gäste unterstütze die eindrucksvolle Aufführung. Dwarosch sah Richhild und Marbolieb nach und seufzte leise. Seine Sorgen um die Geweihte waren wie natürlich wieder präsent. Er riss sich träge aus den trüben Gedanken und wandte sich wieder dem Wirt zu. Leicht irritiert fragte er, „Seide von Zwergen sagt ihr? Und was hat sie konkretes getan, dass sie im Feuer endete?“ „Brokat von den Zwergen, hoher Herr. Silber- und sogar Goldbrokat – ein ganz kostbarer Stoff, wie er sogar am Herzogenhof getragen wird. Die Seide kam aus dem Süden, soviel ich weiß.“ Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. „Seine Frau, die war ein Bankert vom damaligen Baron, sagt man – ganz hochgewachsen und schlank soll sie gewesen sein, mit Haaren so schwarz wie Kohle und ebensolchen Augen, die wie Feuer glühen konnten – und so schön, dass sie alle hinter ihr her waren. Den Seidenhändler hat sie dann geheiratet, und sie hatten eine Tochter. Die Frau aber hat die Finsteren angebetet, heißt es, im Hexenturm. Und sie hat ihr Kind mitgenommen, damit sie es ihnen opfert. Damals ist das ganze Dorf ausgezogen, mit Fackeln und Forken, und wir haben die Hexe gestellt und der Inquisitor hat sie dann verbrennen lassen. Das Kind war betäubt, heißt es, von ihren finsteren Tränken, und unschuldig, und so hat’s der Herr Feredor wieder zu sich genommen.“ Er richtete sich zu seiner ganzen beeindruckenden Größe auf. „Und so ist der Hexenturm zu seinem Namen gekommen – und der Herr Feredor wieder zu seiner Tochter.“ „Eine uneheliche Tochter des Hauses Rabenstein?“ Fragte Dwarosch mit deutlichem Interesse. „Wisst ihr was aus dem Feredor und der Tochter geworden ist nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau?“ Gerade, als der Wirt zum Antworten ansetzte, mischte sich eine grobschlächtige Frau mit kurzgeschorenem, graumeliertem Haar und zwei Zahnlücken in den Vorderzähnen ein. „Was der Eberwin Eich erzählt, Herr Zwerg, stimmt doch gar net! Ihr müsst wisse, dass es nämlich mein Vater selig war, der des alles aufgedeckt hat! Er war es, der in der Ruine das finstere Ritual gesehen hat – mit eigenen Augen! – und deshalb zum Schulzen gelaufen ist! Ohne ihn hätt’ die Hex’ ihr Unwesen getrieben und keiner hätt’ sie nimmer nie nich gefangen!“ „I erzähl’ d’ Geschicht’, Hadda! S’ ist doch Wurscht, wer was gesehe’ hat!“ Versuchte sich der Wirt energisch gegen den Einwurf zu verwehren. „Aber se hat doch recht!“ kam es von der Seite, und eine angeregte Debatte entbrannte darüber, welcher Ohm, Mutter oder Vater nun genau was getan und in der Familie weitererzählt hatte. „Aber der Herr Feredor, der hat widder g’heiert, oi Johr später.“ beschied Hadda mitteilsam. „D’ Witwe von em Duchhändler aus Elenviner, d’ Noitburg. Die gibt’s immer noch – aber die is’ middlerweile taub wie a Hummel. Die hot zwoi Kinder, a scheene Döchter, mit in’d Eh’ brocht – ganz liebe Dinger. D’ Älteste, Grimmhel, die führt heit de Lade. Und die busiert d’ Sohn von d’ Schulzin. D’ alte Herr Feredor isch letztes Jahr em Winter g’storbe. D’ erste Dochter vom Feredor war donoch scho seltsam im Kopf, die hot sich nur Lumpe angezoge und is’ im Haus rumkroche – irgendwann, als se erwachse war, is’ se dann oifach gange. A ganz häßliche Bese war des.“ „A was.“ Der Wirt sah die Gelegenheit, verlorenen Einfluss wiedergutzumachen, und kämpfte um seine Erzählung. „Des war a ganz hübsche. Schwarze Haar hat’s g’habt wie ihr Mutter und Kohleauge und a ganz helle Haut. Koi Wunder, dass der Feredor des Bankert vom Baron g’heiert hat und ganz arg mit seiner Dochter war.“ „Du hasch’ wohl nimme alle.“ Nummer drei der Gäste sah sich bemüßigt, sich einzumischen – ein alter Mann mit schütterem, grauen Haar, auf einen Gehstock gestützt, der sich dennoch mühelos nach vorn gearbeitet hatte. „I bin d.’ Follian Häsler, Herr Zwerg. D’ Vater von d’ Schulzin. Und i kann Euch sage, dass die Jung vom Feredor, also sei eigene, scho’ verdreht war – a dünne Geiß, und nimme richtig im Kopf. Schee war die nimmer.“ Das traf aber offenbar nur die Ansicht der Hälfte der Anwesenden, und der Lärmpegel im Schankraum stieg auf ein neuerliches Maß an. „Außerdem“ fuhr der Vater der Schulzin ungerührt fort. „Henn’d ihr alle koi Hex’ g’jagd. Die war scho tot, als mir im Turm ankomme send – nur d’Dochter hat noch g’lebt.“ Mit einem Kopfschütteln gab der Oberst zu verstehen, dass es ihm nun ein wenig zu bunt wurde. Er war verwirrt ob der sich wiedersprechenden Geschichte. „Nun einmal ganz langsam gute Leut“, bremste er mit leicht grollendem Unterton und ließ dabei sogar den Humpen Bier los, um beide Hände kurz zu heben. Ruhe kehrte ein. „Gut. Wer hat denn nun die alte Hexe, also die uneheliche Tochter eines Rabensteiner Barons getötet, der Mob, der Praiot beziehungsweise dessen Feuer, oder habt ihr sie bereits tot aufgefunden, als ihr zum Turm seid?“ Aufmerksam und skeptisch wanderte Dwaroschs Blick vom einem zum anderen Redner. Die gespannte Ruhe zerbarst augenblicklich, als von mehreren Seiten gleichzeitig die gesuchte Antwort kam. „Der Herr Inquisitionsrat, hat meine Muhme gesagt.“ „Die war tot, Herr Zwerg.“ „Das war meine Mutter und ihre Geschwister!“ „Wir natürlich!“ „Mausetot war sie!“ Das vorher noch dezente Grollen Dwaroschs wurde zu einem tiefen, bedrohlich wirkendem Knurren. Was jedoch bei dieser Lautstärke deutlicher seinen wachsenden Unmut wiederspiegelte, waren die buschigen Augenbrauen, welche zu einer dicken Linie zusammenwuchsen. „Ruhe“, wetterte der Oberst gereizt. „Seid ihr euch denn wenigstens darin einig, dass die Tochter noch lebte und das ihr Vater sie zu sich nahm?“ Schlagartig kehrte eine tiefe, erschrockene Stille ein. Schließlich war es der Wirt, der betreten nickte. „Freilich, Herr Zwerg. Die Tochter ist wieder zum Feredor zurück. Ich hab’ sagen hören, dass ein Perainepriester, aus Sillend unten – oder aus Calmir – sie angeschaut hat und damals sagte, dass sie ganz und gar unschuldig sei.“ Mehrfaches diensteifriges und meistenteils schweigendes Nicken, mit einigen gemurmelten „Ja, ja, so war’s.“ Und „Jo, sicher, ich hab’s auch gehört.“ bestätigten den Wirt, bis auf ein „Aber das war der Travienpriester, ganz sicher.“ aus einer der hinteren Reihen. Dwarosch blähte die Wangen und schloss kurz die Augen. Er musste sich zur Ruhe zwingen. Solche Diskussionen brachten ihn zur Weißglut. Erst als er, „Peraine oder Travia- Priester“, gefragt hatte, öffnete er sie wieder. „Und kennt jemand einen Namen?“ „Oh.“ Der Wirt blähte die Backen. „Perainerich war’s, glaub’e“ warf Hadda hilfreich ein. „Noi.“ Der alte Häsler schüttelte energisch seinen Kopf, so dass seine letzten paar Haare wehten, und schob sein weiß behaartes Kinn vor. „Des war Bruder Beribold. Ganz sicher. Un der war damals schon nimme jung.“ Mit tief in den Höhlen liegenden, hellblauen Greisenaugen musterte er den Zwerg, und Dwarosch hätte schwören können, dass ihm noch ein anderer Kommentar auf der Zunge lag, den er schluckte. Dwarosch seufzte und verzog müde das Gesicht. Er hätte es wissen müssen. Die Sache war einfach zu lange her, um Exaktes, nicht Widersprüchliches zu erfahren. Solche Geschichten erlangten schnell ein gewisses Eigenleben in den Erinnerungen der einfachen Leute. Und höchstwahrscheinlich hatte jeder Erzähler seine eigene, persönliche Vorstellung der Abläufe hinzugedichtet. So war es nun einmal. Der Oberst griff nach seinem Humpen und leerte ihn in einem tiefen Zug, viel war ohnehin nicht mehr drin gewesen. Durch eine stumme Geste in Richtung des Wirtes gab er zu verstehen, dass er noch einen wollte. Zumindest das Bier schmeckte. Naja, nach einer schieren Ewigkeit in der er nur Wasser und aufs höchste eine Tee getrunken hatte, war es mehr als nur eine willkommene Abwechslung. “Ich werde mich in Calmir nach den beiden Geweihten umhören. Vielleicht erinnert man sich in den Gotteshäusern an sie oder besser noch das Kind.” Er nickte, wie um sich selbst in diesem Entschluss zu bekräftigen. Während er auf seinen nächsten Humpen wartete und sich die Pfeife stopft versuchte er weiter die Informationen zusammenzufassen. “Für meine geistigen Notizen, wie hießen Vater, Mutter und Kind?” „Na, des hemmer doch g’sah.“ Der Häsler, sich nun, seiner Vormachtsstellung gewiss, schnaubte geräuschvoll in ein längst nicht mehr sauberes Schnupftuch. „Dr Vadder war d’alte Feredor. Celio hatt er g’heise. Und bei d’Mutter hat dere ihr Mutter wohl’ Ansprüch’ g’habt – die hat Coleta g’heiße.“ Der Wirt hatte einen seiner Schankburschen mit einer Handbewegung nach einem neuen Bier für den Oberst ausgeschickt und sah seine Gelegenheit gekommen, selbst wieder einen Satz anzubringen. „Un d’ Dochter – die hat a so ein komische Name g’habt. Hmm – was Almadanisches war’s, des weiß’ Ich genau.“ Eine ganze Weile wogte die Uneinigkeit durch den Raum, bis sich die Anwesenden schließlich auf ‚Ravena, Rowena, Rovva – oder so ähnlich’ geeinigt hatten. „Die zweite Fraa, die haßt Noitburg.“ erklärte der Wirt indes mit stolzgeschwellter Brust. Und just in diesem Moment kam der Schankbursche mit einem randvoll gefüllten Bierkrug und schenkte reihum wieder aus, was die Aufmerksamkeit der meisten in ihren Krug führte. Amalvin, der gerade eben erst den zweiten Krug angefangen hatte – und darüber hinaus einen gutgemeinten und noch immer halbvollen Teebecher neben sich stehen sah – beugte sich zu dem Oberst. „Wollen wir die zweite Frau, die Noitburg, morgen mal befragen? Die scheint ja noch zu leben.“ Zur Antwort kam zunächst nur ein zustimmendes Brummen, da der Oberst gerade dabei war seine Pfeife an einem ihm freundlicherweise gereichten, glühenden Span aus dem Kamin zu entzünden. Als er zwei Mal an dem kunstvoll geschnitzten Mundstück gezogen hatte verbreitete sich ein würziger Geruch. „Das ist eine gute Idee, jedoch habe ich aus dem ganzen Kauderwelsch nicht entnehmen können, dass sie hier lebt. Zumindest nicht mit Bestimmtheit“, gab Dwarosch offen zu. Er warf einen fragenden Seitenblick zum Wirt. „Ja mei, die lebt noch do. Im Haus von ihre Dochter, d’ Grimmhel, die jetzt de Lade führt. S’ isch des hohe, schmale Haus mit de blaue Fensterläde, glei nebem Rotpelz am Dorfplatz.“ Gab der Wirt diensteifrig Auskunft. „Oder wir fragen sie gleich.“ Amalvin streckte genüsslich die Beine aus und trank einen tiefen Zug aus seinem Bierkrug. Ein, wenn Dwarosch seine Gesten richtig deutete, nicht allzu häufiges Vergnügen. „Ich hätte in der Tat nichts dagegen“, gab der Oberst fast ein wenig überrascht zurück, während er genüsslich den Rauch aus den Nasenlöchern ausstieß. „Begleitet ihr mich?“ „Gern.“ Der Graumantel nahm einen abschiednehmenden Schluck. „Lasst es uns angehen.“ Er griff nach seinem mittlerweile fast wieder etwas getrockneten Mantel, der neben dem Feuer hing. Dwarosch tat es ihm gleich. Der Zwerg hatte sich im Schlafsaal seiner schweren Rüstung entledigt und trug nur einen wattierten Gambeson unter dem Wappenrock des Regimentes. Mit dem Mantel über den Schultern und der Pfeife im Mundwinkel verließ er kurze Zeit später an der Seite des Golgariten das Gasthaus, nicht jedoch bevor er sich von dem korrekten Sitz seines Waffengurtes überzeugt hatte indem zumindest seine kurzstielige Axt steckte. Es war sehr später Nachmittag – oder früher Abend. Die Dämmerung hatte längst eingesetzt, und der Wirt hatte den beiden noch eine Stalllaterne ausgehändigt, auf dass sie nicht fehlgingen – in sich schon eine Schwierigkeit in diesem winzigen Dorf. Wenige Dutzend Schritt später standen sie vor dem Haus mit den blauen Fensterläden, direkt neben der Schenke, durch deren schon längst geschlossene Läden Lichtschein sickerte. Im Seidenhändlerhaus war aus einem der oberen Geschosse noch Lichtschein zu vernehmen, doch es war bedeutend stiller.

Eine alte Geschichte

Auf das energische Klopfen der beiden öffnete sich schließlich ein Fenster im ersten Stock, und eine mit einer Schlafhaube bewehrte Gestalt, ein älterer Mann, hielt eine Laterne aus dem Fenster. „Was ist denn los, was macht Ihr so einen Krach?“ Vorsichtig spähte er nach unten. „Die Zwölfe mit euch guter Mann“, entgegnete Dwarosch in tiefer Tonlage freundlich. „Mein Name ist Dwarosch, ich bin Oberst des Eisenwalder Regimentes von drüben in Nilsitz und das hier“, er deutete auf den Graumantel neben sich, „ist Amalvin von Orden des heiligen Golgari. Wir wissen, dass die Uhrzeit eigentlich nicht angemessen ist, aber wir würden gerne mit Frau Noitburg sprechen. Es geht um ihren verstorbenen Mann und es ist wichtig.“ „Häh? Jaja, is’ schon gut.“ Schnarrte der Mann, schlug den Fensterladen zu und wenig später hörte man schlurfende Schritte zur Tür und das Knirschen eines Riegels, ehe das Tor aufschwang. „Kommt herein. Die alte Herrin erwartet euch.“ Der Mann brachte die unverhofften Gäste in die gute Stube im Obergeschoss – ein sauber gefegter Raum mit glänzendem Dielenboden, bemalten Wänden und einem kleinen, nun für die Nacht verrammelten Butzenglasfenster, das deutlich vom Reichtum des Haushaltes berichtete. Ein schwerer Eichenholztisch war das Herzstück des Raumes, acht schwere, geschnitzte hochlehnige Stühle gruppierten sich herum, an den Wänden standen eine hölzerne Anrichte und drei verzierte, große Truhen. An der Stirnseite brannte in einem schmucken Kamin ein warmes Feuer und verlieh dem Raum, der mit mäßigem Erfolg versuchte, die Ausstattung eines Adelshauses zu kopieren, eine angenehme Wärme. Am Tisch saß eine hochgewachsene, schlanke Frau, welche gewiss schon deutlich über siebzig Winter gesehen hatte. Sie trug ein strenges, eng anliegendes Kleid aus schwarzem Bausch, an den Ärmeln und am Kragen mit feiner Spitze gesäumt, und eine gleichfalls schwarze Spitzenhaube über ihrem grauweißen, zu einer sauberen Flechtfrisur gesteckten Haar. Ihre Haut war faltig und von Altersflecken gezeichnet, ebenso wie ihre knotigen, dürren Hände. Neben ihr stand eine Frau irgendwo Ende der Vierziger, in einem feinen Kleid aus Bausch und Wolle, mit goldenen Borten bestickt, wie es sich nur eine sehr reiche Kauffrau leisten mochte. „Die Zwölfe zum Gruße, Herr Oberst, Herr Ritter.“ Die alte Dame nickte beiden zu, erhob sich aber nicht. „Ich bin Noitburg Feredorin, und das hier ist meine Tochter Grimmhel. Was führt Euch beide zur Unzeit zu mir?“ Ihre klare Aussprache wies noch immer den Elenviner Dialekt auf – eine Wohltat für die malträtierten Ohren des Oberst. Sie betrachtete den Zwergen aus überraschend jungen und aufmerksam blitzenden hellbraunen Augen, überraschend jung und agil in dem so alten Gesicht. „Aber setzt Euch doch, ihr beiden.“ Dünn war ihre Stimme über die Jahre geworden, doch schwang in ihr die gesamte Autorität einer langjährigen Händlerin mit, die viel verhandelt und beraten hatte in ihrem langen Leben. „Habt Dank“, eröffnete der Oberst freundlich und setzte sich der Dame gegenüber. Amalvin nahm an seiner Seite Platz. „Zunächst einmal muss ich mich bedanken, dass ihr uns jetzt noch empfangt“, begann Dwarosch. „Ich werde versuchen es kurz zu machen, um euch nicht länger als nötig vom Schlaf abzuhalten.“ Er räusperte sich kurz, zog noch einmal an der Pfeife und kam dann ohne Umschweife auf den Grund ihres Besuchs. „Meine Gefährten und ich sind erst vor kurzem in Finsterbach angekommen und haben im Gasthof von euch erfahren. Wir kommen vom sogenannten ‚Hexenturm‘, wo wir gewaltsam ein götterlästerliches Ritual beenden mussten, bei dem nicht nur Menschen und Füchse geopfert wurden, sondern auch eine Geweihte des Boron sterben sollte. Die Hexe und ihre Untoten erlagen unseren Stahl.“ Kurz verharrte Dwarosch und zog ein weiteres Mal genüsslich an seiner Pfeife, bevor er fortfuhr. Seine Augen blieben auf Frau Feredorin gerichtet. „Wir haben erfahren, dass es schon einmal eine solche Hexe hier gegeben haben soll, welche dem Turm ihrem zweifelhaften Namen verdankt. Sie war die erste Ehefrau eures verstorbenen Gatten, so erzählte man es uns jedenfalls.“ Der Oberst hob beschwichtigend die Hände, bevor die Frau etwas entgegnen konnte. Er war sich bewusst, dass seine Worte durchaus als provokant aufgefasst werden konnten. „Wir sind nicht hier, um irgendwelche Anschuldigungen vorzubringen gute Frau, seid dessen versichert. Ich bin mir lediglich bewusst, wie solche Geschichten von Mund zu Mund weitergeben werden und was sie am Ende noch mit der Wahrheit zu tun haben. Deswegen sitzen wir hier, um zu hören, was ihr davon wisst.“ Aufmerksam beobachtete Dwarosch die Regungen der Frau, konnte er doch auch nicht wissen, ob ihre Geschichte den Tatsachen entsprechen würden. Die alte Händlerin hatte den Oberst ihrerseits aufmerksam betrachtet, und immer weiter legte sich ihre Stirn in Runzeln. „Was? Wer ist eine Hexe?“ fragte sie schließlich, während ihre Tochter einwandte „Meine Mutter ist etwas harthörig, werte Herren – ihr solltet lauter mit ihr sprechen.“ „Was sagst Du?“ wandte die Alte sich an ihre Tochter, die sich herabbeugte und ihrer Mutter ins Ohr rief. „Im Hexenturm war eine neue Hex’! Sie haben sie erschlagen! Und jetzt wollen sie wissen, was Großvater damit zu tun hatte!“ Die Lautstärke, welche die wohlgeübte junge Frau an den Tag legte, drang vermutlich bis durch die geschlossenen Läden und schepperte laut in den Ohren der beiden Männer. „Mit der neuen Hex’ doch ganz sicher nichts.“ entgegnete die Händlerin und blickte die zweie mit aufmerksam blitzenden Augen an. „Mein lieber Mann ist im letzten Winter zu Boron gegangen, hab’ er seine Seele wohl behütet. Aber ganz gewiss wollt Ihr etwas über seine erste Frau, die Coleta, wissen, nicht wahr?“ Sie setzte sich zurück und faltete die Hände in ihrem Schoß, holte Luft und begann mit ihrer Geschichte. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. „Die Coleta war die Tochter einer Händlerin – aus dem Elenviner Land wohl, ich glaube, sie hat zu den Siebenfelds gehört, sie war die Älteste vom alten Siebenfeld. Es hieß, ihre Mutter hätte sich mit einem Adligen eingelassen und ein Bankert zur Welt gebracht, weshalb ihre Familie sie davongeschickt hätte – oder sie davongelaufen sei. Jedenfalls wollten sie hinterher nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ich müsst wissen, dass sie Siebenfelds damals schon ein Kontor in Elenvina hatten, und ihres in Albenhus haben sie damals erst aufgebaut. Damals haben sie die Pökelfehde mit den Kerpsteyns begonnen, was dem alten Kerpsteyn den Kopf kostete, als ihm sein Schiff, die Sibellia, unter dem Hintern absoff – sie hatte nicht nur Äpfel und Pökelfleisch geladen, sondern auch, wie es hieß, ein paar Ballen Brokat, die er schmuggeln wollte. Jedenfalls hat sich Coleta davongemacht und ist wohl eine Weile durch die Gegend gestreunt. Wenn ihre Mutter ordentlich verheiratet gewesen wär', dann hätt’ sie irgendwann das Kontor und den ganzen Handel geerbt, aber so ist der Coleta nichts geblieben – und ihre Mutter war wohl ordentlich wütend auf den Herrn Baron, dass er sie hat sitzenlassen. Die Tochter, also die Coleta, ist dann meinem Mann, dem Celio, begegnet. Ihr müsst wissen, dass das ein richtig Lieber war. Ich hab’ ihn immer gefragt, wie er es schafft, den Handel am Laufen zu halten, wenn er doch so nachgiebig ist – der hat keinen einzigen Schuldner in die Knechtschaft getrieben, und hat ihnen immer Kredit gegeben. Und komischerweise haben sie dann trotzdem bezahlt. Vielleicht haben die Zwerge damals deshalb so gern mit ihm gehandelt – er hat immer den besten Brokat mit den schönsten Metallfäden bekommen, aber das war vielleicht auch, weil er zu einem guten Bier auch nie nein sagen konnte.“ Gedankenverloren hing sie einige Atemzüge lang ihren Erinnerungen nach, und ihr wehmütiges Lächeln berichtete, dass sie trotz aller Worte über die weichen Geschäftspraktiken ihres Mannes sehr zufrieden mit ihm und seiner Weise gewesen war. Sie schwieg, so lange, dass Dwarosch die Befürchtung überkam, dass die alte Dame eingeschlafen währe, als sie urplötzlich wieder die Augen öffnete und den Zwergen fixierte. „Alleweil, Celio hat mir gesagt, dass sie schön war wie die junge Rahja selbst. Haare wie schwarzer Rauch, die Haut weiß wie Schnee und Augen, so leuchtend wie Sterne. Schlank und Rank war sie gewesen und ihre Stimme so süß wie der Gesang einer Nachtigall. Es war kein Wunder, dass er sie zur Frau genommen hat, obwohl sie selbst gar nichts mehr besaß. Aber immerhin war sie ja auch die Tochter eines Adligen. Und irgendwann hat sie ihm dann sogar eine Tochter geschenkt, die Rovena. Schön wie ihre Mutter war sie, und er war so vernarrt, dass er ihr die schönsten Kleider aus Brokat, Bausch und Seidendamast geschenkt hat. Und die Coleta, die hat ihrer Tochter sogar das Lesen und Schreiben beigebracht, wie’s ein Händler ja auch kennen sollte. Aber der Celio, dem ist das immer schwer gefallen, das war damals, als er dann mich geheiratet hat, höchste Zeit, dass ihm jemand ordentlich die Bücher machte. Die Coleta hat das nicht getan – die war dafür immer dabei, wenn’s in den Städten einen Ball und eine Lustbarkeit gab, und ihre Tochter, die Rovena, die hat sie mitgenommen, sobald sie alt genug dazu war. Meinem guten Mann hat’s natürlich gefallen, wenn jeder seine Frau und seine schöne Tochter bewundert hat, und er hätt’ sie in jedes Handelshaus verheiraten können, und sogar ein paar Junker haben ihn nach der Hand seiner Tochter gefragt. Aber sie hat nicht heiraten wollen und wollt’ lieber hier bei Vater und Mutter bleiben, was ihn natürlich über Gebühr stolz gemacht hat, diesen armen Narren.“ Weich und liebevoll war ihre Stimme geworden, und wieder verlor sich ihr Blick in der fernen Vergangenheit, als ihr Mann noch nein schmucker, junger reicher Handelsherr gewesen war. Kratzig wurde ihre Stimme, als sie irgendwann fortfuhr. „Meistens haben sie trotzdem hier, in Finsterbach, gelebt, weil hier eben die ganzen Handelsstraßen nicht fern sind. Und Celio hat erzählt, dass die Coleta das auch gerne so haben wollte. Sie hat studiert und die Rovena gelehrt, und ganz oft waren sie im Wald spazieren, die zwei, während der Celio arbeiten musste. Damals gab’s noch viel weniger Wölfe als heute, und die Wälder waren noch freundlicher als jetzt, wo doch fast hinter jedem Stamm ein Strauchdieb oder Schlimmeres sitzt.“ Sie hustete, zog ein Spitzentaschentuch aus dem Ärmel und spuckte energisch hinein, ehe sie es umständlich wieder faltete und verstaute. „Wo war ich?“ Sie räusperte sich lauthals. „Ach ja, die Studiererei. Dass das nix Gutes sein kann, das hat der Celio nicht begriffen. Er hat ihr sogar Geld gegeben, damit sie sich die Bücher kaufen kann, die sie haben wollte. Und er hat mir mal erzählt, als, viele Zeit danach, dass die Coleta eine richtige Wut auf ihren Vater gehabt hat, weil der doch ihre Mutter hat sitzen lassen. Zeit ihres Lebens hat sie mit den Adligen nichts mehr zu tun haben wollen, und hat auch verboten, dass die Junker und Ritter, die ihrer Tochter so gern den Hof gemacht hätten, jemals auf’s Anwesen kamen. Einmal hat sie einen, der mit der Laute vor der Tür stand, von den Hunden davontreiben lassen, dass er bis Calmir gerannt ist, hat mir Celio erzählt. Er war da nicht glücklich darüber – immerhin hat er seine ganzen teuren Stoffe doch an den Adel verkauft, und die Kunden verärgert man nicht – zumindest dann nicht, wenn sie’s nicht zu arg treiben oder zu viel anschreiben lassen. Alledieweil, der Hagrian, einer aus’m Dorf, der hat sich damals auch in die Rovena verguckt- so wie die ganzen jungen Burschen, und ein paar der älteren Mannsbilder noch dazu. Der ist ihr wohl mal nachgeschlichen, als sie und die Coleta zusammen im Wald waren. Bis an die alte Turmruine ist er gekommen, und hat gesehen, dass sie sich da im Turm wohl ein Zimmer eingerichtet hatten. Und weil er doch so naseweis war – und ihm die Rovena so arg gefallen hat – ist er ihr hinterhergestiegen und hat gesehen, dass Mutter und Tochter zusammen einen ganz finsteren Zauber ausgeführt haben – was genau, weiß ich nicht, aber Celio hat mal erzählt, der Hagrian hätte gesagt, sie hätten da ein Fellbündel mit Nadeln gestochen und den Namen vom Baron gesagt und das alles verbrannt. Der Hagrian aber ist erschrocken, weil’s auch so arg nach Schwefel gestunken hat, wie er später dem Inquisitor erzählt hat, hat mein Mann gesagt, und hat die Dörfler geholt, und die sind alle zusammen zum Turm. Und dann, hat Celio gesagt, als sie ankamen – er war natürlich auch dabei, müsst ihr wissen, weil er nicht glauben konnte, was der Hagrian über seine Frau und seine Tochter erzählte und die Lügen nicht hören wollte. Er war schon ein braver, der Celio.“ Wieder kam das Taschentuch zum Einsatz, diesesmal zum Abtupfen der Augen der alten Dame, die bei der langen und grausamen Erzählung feucht geworden waren. „Jedenfalls, als sie ankamen, war die Coleta tot und ein Dolch ist in ihrer Brust gesteckt und überall war Blut. Und die Rovena war vollkommen verschüchtert und hat geweint und konnte sich nicht erinnern, wie sie dahin gekommen war. Und überall lag das Magierzeug herum, Bücher, und Kessel, und Nadeln, Dolche, Schreibzeug, Kräuter und die seltsamsten Tinkturen. Die Rovena haben sie dann in’s Dorf gebracht – und den Bruder Perainibold aus Sillend geholt, damit er nach Rovena schaut. Und der Schulze hat sogar Meldung bis zum Baron machen müssen, aber da ist niemand gekommen, weil der auch gerade verstorben war – in der gleichen Nacht, hat mir Celio erzählt. Nur ein Inquisitionsrat, ein echter, ist ein paar Tage später in den Ort gekommen und hat die Coleta, die wohl ein Hexenweib war, verbrannt und den Magierturm leerräumen lassen. Bruder Perainibold hat gesagt, dass Rovena unschuldig sei, und Celio sich um sie kümmern solle. Aber sie war seitdem richtig seltsam im Kopf und nimmermehr so wie vorher – die hat keine schönen Kleider mehr angezogen und saß nur noch in der Asche und hat sich die letzten Lumpen angezogen. Und als Celio und ich im Jahr darauf den Travienbund eingegangen sind – mein erster Mann, der Bosper, war verstorben, und ich kannte den Celio schon lange aus dem Kontor, weil er uns, meiner Familie, die Stoffe verkauft hat, die wir dann flussabwärts gehandelt haben – bin ich mit meinen zwei Mädchen nach Finsterbach gezogen und habe mal zugesehen, dass der Laden des armen Manns da wieder auf Vordermann kam und die ganzen Außenstände zumindest aufgestellt werden und der Zoll richtig berechnet wird. Sonst wär’ der Celio noch arm geworden.“ Sie schniefte, bei dem Gedanken an all das Leid – und all die Arbeit, und ihre Tochter drückte ihr ermutigend die Hand. Während der ganzen Geschichte hatte die junge Feredorin die Gäste nicht aus den Augen gelassen und mehrfach versucht, den Blickkontakt mit Amalvin aufrecht zu erhalten. Die sich anspannende Haltung des Kriegers berichtete, das ihm das auch nicht entgangen war, und die Blicke, die er mit Dwarosch getauscht hatte, waren beständig weniger geworden. Augenblickslang kehrte Stille im Raum ein, während die alte Frau sich räusperte. Der Oberst hatte sehr interessiert gelauscht, während er immer wieder genüsslich an seiner Pfeife gezogen hatte. Die Geschichte der alten Frau fügte vieles so zusammen, dass es endlich einen Sinn ergab. Er hatte keine Zweifel, dass sie die Wahrheit sprach. Ja, so musste es sich zugetragen haben. Den Blickkontakt Amalvins mit der Tochter nahm Dwarosch unterdessen wohl wahr, jedoch sagte er nichts dazu, versuchte sogar sich jegliche Überraschung äußerlich nicht anmerken zu lassen. Er wollte den Graumantel keine Unannehmlichkeiten bereiten, oder gar eine peinliche Situation heraufbeschwören. Nein, er würde ihn später fragen, wenn sie beide alleine waren auf dem Weg zurück zum Gasthof. Anstatt dessen hakte der Oberst an anderer Stelle nach. Noch war sein Wissensdurst nicht zur Gänze gestillt. „Was ist aus Rovena geworden?“ „Wie bitte? Sprecht bitte lauter!“ Die alte Frau beugte sich vor und hielt eine Hand hinter das Ohr. „Rovena! Was hat sie getrieben?“ Übersetzte Grimmhel wieder in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. „Ach, Rovena.“ Die alte Dame räusperte sich erneut und fuhr dann mit brüchiger Stimme fort. „Wisst Ihr, Edle Herren, so ist das halt mit dem Alter – da wird schon das eine oder andere ein bißchen weniger.“ Sie lächelte unter ihren zahllosen Falten. „Aber ja, die Rovena. Die ist komisch im Kopf geworden. Sie hat sich in Sack und Fetzen gekleidet und saß den ganzen Tag in der Asche am Herd – und im Garten, wo sie in einer Ecke einen Haselbusch gepflanzt hat. Wissen die Zwölfe, was sie damit wollte – doch Bruder Perainibold sagte, es sei gut, wenn sie ihre Zeit Peraines Pflanzen widme. Wir haben versucht, sie wieder zu den Bällen und Empfängen mitzunehmen, die sie doch so gemocht hat – gerade Du, Grimmhel, nicht wahr?“ Die Angesprochene zuckte erschrocken zusammen, offensichtlich waren ihre Gedanken gerade nicht bei ihrer Mutter und der uralten Geschichte gewesen, und nickte eifrig. „Aber sie wollte das nicht und hat sich dagegen gesträubt. Sie wolle Buße tun, hat sie gesagt. Ich habe überlegt, ob ich einen der Rabenpriester rufe, aber das wollte sie auch nicht, und was für ein Bild hätte das gemacht.“ Traurig schüttelte sie den Kopf. „Sie ist immer seltsamer geworden, hat kaum noch gesprochen –und nach vier, fünf Jahren ist sie dann irgendwann einfach gegangen, ohne ein weiteres Wort.“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Dabei war sie doch alles, was von Celio noch übrig war. Wir haben sie hier nie mehr gesehen.“ „Vielleicht war das gut so.“ Grimmhel besaß eine angenehme Stimme, tief für eine Frau, aber klangvoll und ausgewogen. „In den Hexenturm ist aber niemand mehr gegangen – da ist der Wald drübergewachsen, mehr noch als vorher schon. Wir wussten nicht, dass da wieder jemand ist – aber im Winter geht sowieso niemand so tief in den Wald.“ Erzählte sie Amalvin, der seinerseits energisch die alte Händlerin fixierte. „Gibt es noch etwas, das ihr wissen mögt?“ Erkundigte sich die Jüngere höflich. „Oder etwas, das ich für euch tun kann.“ stand unausgesprochen im Raum. Laut genug, dass es auch an die Ohren ihrer Mutter drang, setzte sie hinzu. „Ihr müsst Schlimmes erlebt haben, wenn Ihr Euch bei diesem Wetter durch den Wald schlagt.“ Mit ernster Miene bestätigte der Oberst die letzte Äußerung durch ein zaghaftes Nicken. Gut, dass diese Menschen nicht wussten, wie schlimm es gewesen war. Worte würden den Schrecken niemals erfassen können, würden niemals über genug Gewicht verfügen, um die Bilder angemessen wiederzugeben, die vor seinem geistigen Auge an ihm vorüberzogen, wann immer er an die vergangenen Tage dachte. Dwarosch hatte gehofft, dass er solche Untotenhorden nach der Trollpforte und der Schlacht in den Wolken, bei dem der verfluchte Schwarze Kaiserdrache Rhazzazor mit seinem Skelett-Heer Gareth angegriffen hatte, niemals wieder würde sehen müssen. Und auch wenn der Kampf am Hexenturm nur ein Scharmützel gewesen war im Vergleich zur Dämonenschlacht und dem endlosen Heerwurm, so war er dennoch in der Lage, ihn zu schockieren. Etwas abwesend schüttelte der Zwerg den Kopf, als ihm die Frage einfiel, die immer noch im Raum stand. „Nein“, sagte er mit leicht belegter Stimme und blickte dann zu Amalvin herüber. „Fällt euch noch etwas ein?“ „Nein.“ Amalvin wiederholte die Geste des Oberst. „Habt Dank für die Geschichte.“ fügte er in einer Lautstärke hinzu, die ganz sicher die Ohren der alten Frau erreichte und beinahe das Fensterglas erzittern ließ. „Wir müssen jetzt gehen!“ Er erhob sich, nickte den beiden Damen zu und begann, den strategischen Rückzug – genau wie ein solcher sah es in den Augen Dwaroschs aus – anzutreten. Der Oberst hatte Mühe seine Augenbraue nicht anzuheben, zu offensichtlich auffällig war Amalvins Verhalten. Dwarosch glaubte nun auch zu wissen worin es begründet lag, zumindest hatte er eine vage Vermutung. Er schenkte den beiden Frauen ein offenes, ehrliches Lächeln und auch einige warme Worte. „Ich muss mich dafür bedanken, dass ihr aus den losen Fragmenten die uns bisher bekannt waren eine Geschichte gemacht habt. Das wird uns helfen, das Geschehene richtig einzuordnen und auch weiterzugeben. Meine Damen, ich wünsche eine angenehme Nachtruhe. Die Götter mit Euch.“ Nach diesem freundlichen Abschied folgte Dwarosch dem Graumantel, der es anscheinend eilig hatte, hinauszukommen. Und so war er auch bereits ins Freie getreten, als die Jüngere der Frauen den Zwergen zur Tür geleitet hatte. Auf dem kurzen Weg zurück zum Gasthof schloss der Oberst rasch auf. „Trinken wir noch einen Absacker zusammen?“ fragte er, als er wieder an der Seite des Golgariten schritt. „Gerne.“ Amalvin streckte sich und genoss die kalte, klare Winterluft. Die Nacht war nun vollständig hereingebrochen und außer den beiden Kriegern waren die Straßen wie ausgestorben. Das Tor des Dorfetters war verschlossen und verrammelt, und auch wenn es nur aus einem dicken Flechtzaun bestand – wie der Rest der Einfriedung auch – so würde es zumindest einen gewissen Schutz gegen vierbeinige Übergriffe gewähren. Kaum ein Lichtschein drang aus den Häusern, die sich um den Dorfplatz kauerten wie die Küken unter den Flügeln einer Glucke. Vor dem Storchennest brannte an einem Haken noch eine Laterne, sicheres Zeichen, dass der Wirt noch ausschenkte. Wärme, Licht und das Lachen einiger Zechkumpane, darunter, wenig verwunderlich, der Zwerge und – mehr verwunderlich – Ramiros, dessen hochrote Wangen von entschieden zu viel Bier kündeten – drang den beiden entgegen. Von der Landmeisterin war nichts zu sehen. Dröhnend lachend trat der Oberst zu dem Tisch an dem auch die Zwerge und der Bursche saßen. „Na na na, dass ihr mir den Jungen nicht so sehr abfüllt“, sagte Dwarosch mit deutlichem Humor in der Stimme. „Ohne Körperspannung trägt er sich sicher wie ein nasser Sack, wenn er den ganzen Tag verschläft.“ Nochmals lachte er und drückte dann kurz aufmunternd den Nacken des sitzenden Ramiros, um ihm zu signalisieren, dass er es nicht so meinte. Dwarosch legte den dicken Pelzmantel ab und hängte ihn wieder neben den Kamin auf. Dann neigte er kurz den Kopf Richtung Tresen, während er zu Amalvin sah und beide Männer gingen zu dem durch den Zahn der Zeit leicht ramponierten, hölzernen Umlauf, hinter dem sich der Wirt die meiste Zeit aufhielt, herüber. Nachdem der Oberst zwei Gebrannte bestellt hatte, sah er zum Graumantel auf. „Habt ihr ein Gelübde abgelegt?“ fragte der Oberst mit leiser Stimme und achtete dabei darauf, dass niemand ihnen besondere Aufmerksamkeit schenkte. Hören konnte sie ohnehin niemand, so laut war das Gejohle im Schankraum. Der Graumantel umfasste sein Schnapsglas und betrachtete gedankenverloren den Inhalt. „Ihr meint Enthaltsamkeit bei rahjanischen Dingen?“ Er hob in der für ihn typischen Geste die Schultern. „Mein eigener Entschluss beim Eintritt in den Orden.“ Er schüttelte den Kopf. „Warum fragt Ihr?“ Der Oberst prostete dem Größeren zu und stürzte den Inhalt ohne eine Miene zu verziehen runter. Im Anschluss hämmerte er das kleine dickwandige Glas auf den Tresen und erhob sogleich die Hand, um zwei Weitere zu ordern. „Ein solches Gelübde ist eine Entscheidung die man nicht leichtfertig fällen sollte“, setzte er weiter im ruhigen Ton an. „Aber niemand tritt den Golgariten ohne triftigen Grund bei. Es ist eine Verpflichtung fürs Leben. Versteht mich nicht falsch, ich hege großen Respekt vor eurem Entschluss und ich würde euch auch deswegen niemals nach dem Grund dafür Fragen, auch wenn ich nicht verhehle, dass er mich interessiert. Ich versuche immer zu verstehen, wie die Soldaten um mich ticken. Oft gehören dazu auch Menschen. Sie zu verstehen heißt ihnen ein besserer Anführer sein zu können. Meine Verwunderung und die daraus resultierende Frage gründet sich eher darin, dass ich in den Reihen eures Ordens eher das Vorhandensein anderer Gelübde vermutet hätte beziehungsweise davon weiß.“ „Das ist nicht der einzige Inhalt des Eides, den ich geleistet habe.“ Der Graumantel trank den Gebrannten in einem Zug aus und schob das leere Glas über den Tresen. „Dinge wie Gehorsam, Verschwiegenheit und Treue sind auch ein Teil davon. Aber manche Dinge lässt man am besten vollständig hinter sich – Teile davon mitzuschleppen bringt wenig. Außer Ärger. Und Frauengeschichten sind da ganz vorne mit dabei. Auf euer Wohl!“ Er vernichtete den zweiten Gebrannten entschlossener als den ersten. “Diese Dinge hatte ich schon fast vorausgesetzt”, kommentierte der Oberst die drei anderen Teile des Eides die Amalvin aufgeführt hatte ernst. Dann hob auch er den zweiten Kurzen. “Und auf das deine! Ich bin froh dich da draußen an unserer Seite gehabt zu haben.” Diesmal stellte Dwarosch das Glas langsam auf der Tresenfläche ab, nachdem er es wiederum ohne Aufsehens in einem Zug geleert hatte. “Ich glaube ich sehe jetzt nach unseren Damen”, meinte er darauf ein wenig nachdenklich. “Bleibst du noch hier unten?” Der Graumantel nickte. „Bis später.“ setzte er noch hinterher.

Nächtliche Bilder

Im Schlafsaal war es still. Die Geweihte hatte den am weitesten von der Tür entfernten Strohsack erhalten. Richild hingegen hatte kurzerhand umgeräumt und den ihren neben dem Marboliebs platziert. Beide Frauen schliefen. Verglichen mit der wettergebräunten Haut der Kriegerin wies das Gesicht der kleineren Geweihten eine gräulichgelbe Farbe auf, die nicht wirklich gut aussah. – die Golgaritin hielt die Hand Marboliebs, die sich zu einer Kugel zusammengerollt hatte, aber tief und gleichmäßig atmete. Der Oberst stand eine Weile in Dunkelheit und Stille der großen Kammer. Er betrachte die Umrisse der beiden Frauen und nahm die friedvolle Stimmung des Momentes in sich auf. Dwarosch ging davon aus, dass sie das Gespräch geführt hatten, welches Richhild ihm gegenüber angedeutet hatte und er hoffte, dass es Marbolieb helfen würde, die Erlebnisse zu verarbeiten. Auf dem Lager, welchen ihm die Landmeisterin anscheinend kurzerhand zugewiesen hatte liegend, richtete er kurze Zeit später stille Worte des Bittens an den Gott des Todes. ‘Unergründlicher, ewig Schweigsamer, nimm dich deiner treuen Dienerin an, durch deren Hilfe ich von den Fängen der Widersacher befreit wurde und schenke ihr dein gnädiges Vergessen. Sie hat Furchtbares durchleben müssen in den vergangenen Tagen. Schenke uns beiden Einsicht in das, wovon wir Teil wurden, denn das Ritual und der Sternenfall müssen von Bedeutung sein. Hilf uns verstehen, auf dass wir dir besser dienen können.’ Ihm antwortete indes nur die Stille und Dunkelheit der Nacht – Prüfung und Versprechen gleichermaßen. Und ein nagender, kleiner, wenig bestimmbarer Gedanke, der an seiner Aufmerksamkeit kratzte, aber nicht verraten wollte, welch Geistes Kind er nun sei – oder welche Einzelheit hier ein aufs andere Mal seiner Aufmerksamkeit entglitt. Dwarosch seufzte, Schlaf würde er noch nicht finden können, ganz sicher nicht. Mit einem leichten Stöhnen setzte er sich wieder auf und ging auf leisen Sohlen zu den beiden Frauen hinüber. Die Landmeisterin, welche auf dem von ihm ursprünglich erkorenen Lager ruhte und schlief regte sich kurz, als er an das Kopfende ihrer Schlafstatt trat. Marbolieb hingegen wirkte, als sei sie bereits auf Golgaris Schwingen entflogen, dem Leben entflohen. Sie sah schlecht aus. Die Geweihte war immer noch blasser als üblich, abgemagert, ihre Züge wirkten stark eingefallen. Er würde mit Richhild reden müssen, ob sie den Grund dafür kannte, warum sie nicht einmal körperlich genesen wollte. Im Moment jedoch konnte er nichts weiter für sie tun. Das Gefühl der Hilflosigkeit im Angesicht von Marboliebs Zustand ergriff einmal mehr Besitz von ihm und er hasste es. Unwillig schnaubend, aber sich weiterhin leise bewegend entfernte sich Dwarosch wieder und trat zur Tür des Schlafsaales. Ein kühles Bier war das was er jetzt brauchte. Sein Hals war trocken.

Rausschmiss

Der nächste Morgen brachte grauen, trüben Himmel und fleißiges Schneegestöber. In einem dichten Vorhang wirbelten die weißen Flocken vom Himmel und deckten eine neue, dicke Schneeschicht über das Land. Die Gäste hatten sich nach einer mehr oder minder ausgedehnten und erholsamen Nachtruhe wieder in der Schankstube eingefunden. Bei einigen der Zecher war es doch später geworden, bis schließlich der Wirt die Schließstunde verkündet und die Leute aus der Gaststube geschickt hatte. Die Landmeisterin ließ sich ein herzhaftes Frühstück bringen – und eine Schüssel Grütze mit Kompott, wie es eine durchaus gebräuchliche Morgenmahlzeit darstellte. Marbolieb indes fehlte. Dwarosch kam von draußen ins Gasthaus hinein, als die meisten der kleinen Gemeinschaft bereits Platz genommen hatten. Er musste der erste gewesen sein, der aufgestanden war, denn sein Lager war bereits verwaist, als die anderen aufwachten. Eine Wache hatte Dwarosch für nicht notwendig erachtet. Der Oberst hatte sich am frühen Morgen bereits umgehört im Dort und hatte Proviant für die weitere Reise bei einem Krämer eingekauft, welche nun zusammengepackt wurde, so dass sie sie nur abholen mussten. Mit einem nach Wärme heischenden Händereiben ließ sich der bullige Zwerg auf den Stuhl neben der Landmeisterin fallen, nachdem er seinen von Schneematsch bedeckten Mantel abgelegt hatte. „Guten Morgen“, brummte er und blickte dann lächelnd in die Runde, um jeden einzelnen zu mustern. Bei den Zechern vom Vortag blieben seine Augen ein wenig länger haften, doch verlor er kein tadelndes Wort. Der bevorstehende Marsch würde Strafe genug sein für allzu ausschweifenden Alkoholgenuss. Nachdem auch er sein Frühstück beim Wirt geordert hatte und bereits ein dampfender Krug Tee vor ihm stand, wandte sich Dwarosch mit gesenkter Stimme an Richhild. „Schläft ihre Gnaden noch und hattet ihr gestern das Gespräch, was ihr euch erhofft hattet?“ Richild schüttelte den Kopf. „Marbolieb war wach, als ich ging. Gestern hatte sie zu starke Kopfschmerzen und wollte schlafen – sie hat mir nicht viel erzählt.“ Die Landmeisterin genoss ihr herzhaftes Frühstück, und hing offensichtlich ihren eigenen Gedanken nach. Schließlich wies sie auf den neben ihr stehenden Teller Grütze und einen dampfenden Becher Tee. „Ich wollte ihr noch ein Frühstück bringen – mögt ihr das tun? Wir können hinterher reden.“ Wenn sich der Oberst selbst sein Bild gemacht hatte. Sie streckte ihre Beine aus und trank einen tiefen Schluck Tee – das Richtige an diesem Morgen, der dafür gemacht war, sich im eigenen Haus einzumummeln und nicht, in einem Gewaltmarsch gegen das Schneegestöber zu kämpfen. Aber sei’s drum – das Herumsitzen in diesem Nest brachte nichts, und je eher sie alle wieder abgeliefert hatte und ihren Pflichten in Isenbrück nachkommen konnte, umso besser. Sie hatte den undeutlichen Verdacht, dass dies noch länger dauern mochte. „Ja“, antwortete der Oberst knapp und machte schon Anstalten aufzustehen, hielt dann aber doch inne. „Eines noch“, setzte er neu und wiederum im leisen Ton an. „Habt ihr eine Ahnung, oder vielleicht auch nur einen Verdacht, warum ihre Gnaden immer noch so…”, Dwarosch rang sichtlich nach einem passenden Wort, “schlecht aussieht? Ich war davon ausgegangen, dass sie sich zumindest körperlich etwas erholt hätte, nach der Zeit, die inzwischen vergangen ist.” Die Golgaritin hob die Schultern. „Diese Frage hätte ich nachher Euch gestellt. Anstatt besser geht es ihr eher schlechter – und gegen eine Verletzung würde ein Heiltrank hervorragend helfen. Am besten, ihr schaut sie euch selbst an und wir sprechen später darüber.“ Er nickte ein wenig resigniert, stand auf und nahm das Frühstück vom Tisch, dann stapfte er nach oben, um nach der Geweihten zu sehen. Seine Soldaten blickten kurz auf, als er schon wieder ging. Trinas Blick hätte ausgereicht, um ihren Teller zerspringen zu lassen, als sie, hörbar nur für die Umsitzenden, zischte: „Und jetzt bekommt ihre eingebildete Gnaden sogar das Frühstück ans Bett serviert. Vermutlich wird ihre Hochmütigkeit als nächstes in einem Einzelzimmer schlafen. Ich könnt’ kotzen!“ Scheppernd gingen Schüssel und Teller zu Boden, als Dwarosch sich wutentbrannt umdrehte. Seine Augenbrauen bildeten eine Linie und die Zornesfalten auf seiner Stirn hatten fast die Tiefe des Tales des Großen Flusses. Krachend ging seine Faust auf dem Tisch nieder, an dem die vorwitzige Soldatin an der Seite der Kameraden saß. „Raus“, brüllte der Oberst und streckte seinen Arm in Richtung Tür aus. Mit malmenden Wangenknochen wartete er auf eine Reaktion Trinas. Die Soldatin schob aggressiv den Unterkiefer vor, ballte die Fäuste und stand ruckartig auf, ehe sie steif und aufrecht mit dem Rücken zu ihrem Oberst zur Tür stapfte. Nachdem diese sich geräuschvoll und mit gehörigem Schwung geschlossen hatte, trat der Oberst einige Schritte ins Freie. Er atmete tief ein und aus, ließ die kühle Luft sein Gemüt zumindest ein Stück weit abkühlen. So vermochte er es Trina nicht weiter anzuschreien, sondern wählte einen bedrohlich leisen Tonfall. „Ich habe dir eine Chance gegeben Trina. Dies ist die letzte Warnung. Wiegelst du noch einmal die anderen auf, dann schmeiße ich dich aus dem Regiment. Ich kann damit leben, dass du eine schlechte Meinung hast, weil du eine gute Soldatin bist, aber ich werde es nicht dulden, dass du andere aufhetzt. Ist das klar?“ Als Antwort spuckte die Kriegerin geräuschvoll aus. „Das halte ich davon! Aber bitte – wenn ihr den Therbuniten spielen wollt, dann macht doch! Aber nicht mit mir! Ich lass’ mir das Maul nicht verbieten!“ Sie wandte sich trotzig ab und wollte zurück in die Schankstube stapfen. “Gut, dann soll es eben so sein.“ Nun reichte es. „Her mit deinem Wappenrock. Den wirst du ab jetzt nicht mehr brauchen”, beschied Dwarosch wieder zunehmend gereizter. “Rüstung und Waffen übergibst du drinnen ungefragt an Athax. Wenn du dich ab jetzt still verhältst, kannst du mit uns bis nach Calmir gehen. Doch ich warne dich”, der Oberst ließ eine kurze Pause entstehen, die den Ernst seiner Worte hervorhoben. “Ich habe keine Skrupel, dich in der Wildnis zurückzulassen, wenn dein Verhalten mir noch einmal so aufstoßen sollte.” „Wie ihr wollt!“ knirschte die Zwergin zwischen den Zähnen hervor, riss sich den Wappenrock – wie stolz hatte sie den getragen! – über den Kopf und warf ihn dem Oberst entgegen. „Ihr seid so kalt und gefühllos wie ein Stein! Mögt ihr glücklich werden damit!“ Wütend rannte sie fast in die Schankstube zurück, um den überraschten Athax’ Waffen und Rüstung vor die Füße fallen zu lassen. Das ‚nur wegen dieser dummen Ziege’ verkniff sie sich indes – wohlweislich. Der Hauptmann nahm die Ausrüstung resigniert entgegen. Es hatte so kommen müssen. Trina hatte dem Oberst keine andere Wahl gelassen. Antharax fand die spezielle Bindung seines Oberst zu der Geweihten auch merkwürdig, doch würde es ihm niemals in den Sinn kommen, ihn dafür zu kritisieren, oder noch schlimmer, ihn vor anderen zu denunzieren. Nein, als Befehlshaber war der Oberst ohne Tadel, und nur das zählte. Alles andere war seine Sache. Dennoch hoffte Athax, dass Trina in Senalosch zur Besinnung kommen würde, um zum Regiment zurückzukehren. Dwarosch würde einsehen, dass ihr Verhalten auf Trauer gründete und auf nichts anderem.

Mahlzeit!

Der Oberst brauchte einige Zeit für sich alleine, bis er zurück in den Schankraum kam. Seine Miene war eisig, doch war er höflich, als er sich beim Wirt entschuldigte und ihm versicherte, dass er für den Schaden aufkommen würde, sobald sie sich wieder auf den Weg machten. Athax und er tauschten Blicke des Verstehens aus, als der Oberst im Folgenden am Tresen stand und auf zwei neue Teller mit Frühstück wartete, um seinen unterbrochenen Weg nach Oben wiederaufzunehmen. Dwarosch war sehr dankbar für den stummen Rückhalt seines Freundes. Später, wenn sie wieder unterwegs waren, würde er mit jedem seiner Soldaten reden, einzeln. Er wollte nicht, dass die Moral seiner Truppe noch weiter unter diesem Streit litt. Es galt einige Dinge klarzustellen. Die Geweihte saß an die Wand gelehnt, die Knie angezogen, als der Zwerg den Schlafsaal betrat. Ihre Haut wies eine gräuliche Färbung auf, und tiefe Schatten standen unter ihren Augen. Beim Geräusch von Dwaroschs Schritten wandte ihren Kopf zum Eingang. Ihre Augen glitten über die Gestalt des Oberst und sie setzte sich aufrecht, als sie ihn mit einem freundlichen Lächeln ansprach. „Richild.“ „Nein“, entgegnete Dwarosch sanft, als er nähertrat. „Ich hoffe doch, ich entwickle keine Ähnlichkeit mit ihr“, sagte er leicht ironisch, überspielte damit seine Sorge und setzte sich neben sie. „Wie geht’s dir?“ Bei den Worten des Angroscho leuchtete die Miene der Geweihten auf und ein von tief innen stammendes Strahlen legte sich auf ihre ausgemergelten Züge. „Ich habe Kopfschmerzen.“ berichtete sie, in seine Richtung gewandt, und hob vorsichtig ihre Rechte, auf der sich noch immer als roter, rauer Fleck die Verbrühung durch den Tee abzeichnete. Mit äußerster Achtsamkeit tastete sie nach Dwarosch, fand zuerst seine Nase und ließ ihre Fingerspitzen über sein Gesicht bis zu seiner Schläfe gleiten, wo ihre Hand zur Ruhe kam. „Wie schön, dass Du hier bist.“ Der Zwerg stutzte. „Seit wann kannst du nichts mehr sehen, kam das mit den Kopfschmerzen?“ Dwaroschs Stimme zeugte von großer Sorge. „Seitdem ich aufwachte – nach dem Ritual.“ Die Hand auf der Schläfe des Zwergen zitterte, auch wenn die Priesterin ihre Beherrschung gut im Griff hatte. Sie senkte betreten den Kopf. „Du musst etwas essen, Marbolieb, sonst wirst du nie zu Kräften kommen. Bitte.“ Er stellte ihr den Teller in den Schoss und gab ihr den Löffel in die Hand, so dass sie die noch immer warme Grütze essen konnte. Ein dankbares Lächeln huschte über das Gesicht Marboliebs, als sie ungeschickt begann, ihr Frühstück zu löffeln. Etliche Spuren auf dem dünnen Leinenwams, das sie seit ihrer Befreiung trug, zeugten davon, dass ihr dies nicht immer ohne Weiteres gelang. Mit einem Stirnrunzeln bemerkte Dwarosch, dass sich ihre Zähne bräunlich verfärbt hatten und ihr Zahnfleisch einen dicken, bleigrauen Saum aufwies. Schließlich stellte sie die teilweise leere Schüssel beiseite und wischte sich verschämt mit dem Ärmel über den Mund, ehe sie ihre Hände auf ihrem Schoß faltete. Er ergriff ihre Hand und drückte sie, während seine Gedanken sich immer mehr zu einer Tatsache verdichteten. Das ,woran Marbolieb litt, waren nicht allein seelische Auswirkungen. Nein, nicht länger konnte er die Augen davor verschließen, dass sie wohlmöglich auch dauerhaft körperlichen Schaden davongetragen hatte. Doch wie? Dwarosch blickte auf ein langes und belebtes Leben zurück und wenn er auch keine Fachkenntnisse besaß, so hatte er viel gesehen und gehört. „Du wurdest vergiftet“, sprach er die plötzliche Erkenntnis aus, leise, einem Flüstern gleich, doch von tiefer Überzeugung durchsetzt. Marbolieb umschloss seine Hand mit ihrer zweiten. Ihre Haut wies einen ungesunden Graustich auf und spannte sich eng über die hervortretenden Knochen – und dennoch wies ihr Griff eine beachtliche Kraft auf, war mehr ein Festhalten, mit dem die zierliche Frau um Stärke rang. Und gewann. Sie nickte und kniff die Augen zusammen, als die kurze Bewegung erneut eine Kaskade Kopfschmerzen hervorrief. „Warum meinst Du?“ Einige Atemzüge lang kämpfte sie darum, wieder Herrin im eigenen Kopf zu werden, und setzte mit leiser Stimme hinzu. „Es wäre möglich. Aber warum? Wann? Ich kenne mich mit Gift nicht aus.“ Ihre Hände umklammerte die kräftigen Finger des Oberst, als wären diese ihre Rettungsleine. „Das Gemisch was du während des Rituals trinken musstest. Das ist zumindest das Naheliegendste nach dem, was du berichtet hast“, gab Dwarosch zur Antwort. „Erinnerst du dich noch an andere Sachen, die du hast trinken müssen?“ Die Priesterin ließ ihren Kopf auf die Brust sinken. Auf ein Kopfschütteln verzichtete sie diesesmal wohlweislich. „Ich habe ein paarmal Wasser bekommen. Sonst nichts.“ berichtet sie mit leiser Stimme. Ihre Schultern sackten nach unten, als sie versuchte, sich an ihre Entführung zu erinnern, und sie bot ein wahrhaft klägliches Bild. Dwarosch spürte, wie ihre Hände um die seine klamm und feucht wurden. Nur ein kehliges Grunzen wiesen darauf hin, dass der Oberst die Worte Marboliebs vernommen hatte. Unterdessen hatten seinen Augen längst begonnen in ihren Höhlen nervös hin und her zu huschen. Doch dies Anzeichen dafür, dass der Zwerg fieberhaft nachdachte, entging der Erblindeten. „Wir müssen dich schnell zu einem Medicus schaffen“, sagte er schließlich. „Gibt es in der Nähe jemanden, den du kennst, der entsprechend ausgebildet ist, in Calmir oder der Umgebung?“ Marbolieb saß in sich zusammengesunken da und machte eine Weile nicht den Eindruck, als habe sie Dwaroschs Frage gehört. Schließlich berichtete sie: „Die Baronin. Sie hat in Vinsalt studiert und ist eine ausgebildete Heilmagiern. In Calmir nur den Dorfheiler – der ist ein guter Knochenrichter.“ Nicht mehr. Die Hand des Zwergen umfasste sie mit unvermindert festem Griff. „Verdammter Orkendreck“, fluchte Dwarosch in einem Anflug von aufkeimender Wut in ihm. Ihre Handlungsoptionen schränkten sich immer weiter ein und die bisherige Planung musste über den Haufen geworfen werden, Calmir, Burg Rabenstein und Isenbrück waren nun keine lohnenden Ziele mehr. Jetzt mussten sie so schnell wie möglich raus aus Rabenstein. Mit geschlossenen Augen und einmal tief ein und aus atmend zwang sich der Oberst zur Ruhe. „Entschuldige“, fuhr er dann wieder deutlich sanfter fort. „Ich habe nur das Gefühl, dass die schlechten Nachrichten nicht abreißen wollen.“ Er schnaubte und schüttelte den Kopf, was Marbolieb daran erkannte, dass die kleinen, metallischen Verzierungen in seinen Bartzöpfen leise klimperten. „Dann bleibt uns keine große Wahl. Dem einzigen Heiler, dem ich eine Behandlung einer solchen dämonischen Vergiftung zutraue, ist der alte Gargamil. Wir müssen so schnell wie möglich nach Senalosch. Das heißt, wenn Richhild keinen anderen Einfall hat, wovon ich nicht ausgehe. Ich werde sofort mit ihr sprechen.“ „Was ist mit Mirla?“ Aufkeimende Panik klang aus der Stimme der Priesterin, und ihr Klammern um Dwaroschs Hand verstärkte sich. Das Versprechen, ihre Tochter bald wieder in die Arme schließen zu können, hatte sie die letzten schlimmen Tage über aufrechterhalten – eine Hoffnung, die nun drohte, in tausend Scherben zu zersplittern. „Willst du leben?“ Fragte Dwarosch leise. „Ich weiß nicht, wieviel Zeit wir noch haben und ob du die Kraft für den Umweg aufbringen kannst, Marbolieb.“ Traurigkeit lag in seinen Worten. „Außerdem“, er schnaubte wiederum und die Geweihte erkannte das Unverständnis in den darauffolgenden Worten, „glaube ich nicht, dass dieser Drache von einer Geweihten dir dein Kind überlassen wird, vor allem nicht jetzt, wo du krank bist. Sie war mir gegenüber sehr deutlich. Nein, den Weg nach Calmir würde ich nur gehen, wenn es die Hoffnung gäbe, dich dort zu heilen.“ Die Hände und Schultern der mageren Priesterin begannen zu zittern. „Sie ist doch meine Tochter.“ brachte sie mit erstickter Stimme noch hervor, ehe ihre Stimme brach und ihre Hände, mit einemmal kraftlos, den Griff an Dwaroschs Hand verloren. Sie drückte ihre Stirn gegen ihre Knie, umschlang diese mit ihren Armen und begann absolut lautlos und dennoch aus tiefster Verzweiflung zu weinen. Die letzte Scherbe Hoffnung zerbarst mit ihren Tränen in dutzende Splitter. Dwarosch gab ihre Hand frei und legte ihr den Arm um die Schulter, zog sie behutsam an sich. „Den direkten Weg über die Berge überstehst du in deinem Zustand nicht. Das Wetter würde es zusätzlich zu einer Tortur werden lassen“, resümierte er flüsternd, so sanft wie er es vermochte. „Die gangbarste Route ist die über die Via Ferra und sie wird einiges an Zeit in Anspruch nehmen. Der Umweg über Calmir würde uns dabei zusätzlich mindestens einen halben Tag kosten. Zeit, die wir womöglich nicht haben.“ Sie durfte nicht die Augen vor der Realität verschließen. Es brachte nichts, es ihr zu verschweigen. Er ließ die Worte im Raum stehen, wollte, dass Marbolieb darüber nachsann, erkannte, dass er recht hatte, doch die Geweihte war zu sehr Gefangene ihrer Gefühle. Dwarosch seufzte schließlich schwer, als er ihr Leid nicht länger ertragen konnte. „Wenn du meinst, stark genug zu sein und davon überzeugt bist, Mirla aus den Händen dieses Drachens befreien zu können, dann rede mit der Landmeisterin. Ich werde mich eurer Mehrheit beugen.“ Marbolieb barg ihren Kopf an seiner Schulter und ihre Tränen durchnässten das Wams des Zwergen. „Danke“ flüsterte sie mit vor Erleichterung bebender Stimme. Sie lehnte sich an die so vertraute Gestalt des Oberst und genoss das Gefühl, diese eine Last teilen zu dürfen. Ihr Weinen verebbte schließlich und nach und nach wurde ihr Atem ruhiger. „Wann ich gehe, liegt in Borons Hand, Dwarosch. Ich würde Mirla so gerne noch einmal in die Arme schließen.“ Ihre Stimme war so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. Die Geweihte schloss die Augen und seufzte, vollkommen erschöpft und erleichtert gleichermaßen.

Planänderung

Wieder unten im Schankraum angekommen ging Dwarosch direkt zur Landmeisterin und setzte sich mit resignierter Miene neben sie an den Tisch. “Ihre Gnaden ist vergiftet”, sagte er ohne Umschweife. “Zumindest sprechen die Symptome meiner Meinung nach dafür, auch wenn ich kein Experte bin. Verlorenes Augenlicht, verfärbtes Zahnfleisch, allgemeine schlechte körperliche Verfassung, Gewichtsverlust”, zählte der Zwerg das auf, was ihm aufgefallen war. “Es muss von dem dämonischen Gebräu herrühren, welches Marbolieb im Rahmen des Rituals trinken musste”, tat der Oberst seine Vermutung kund. “Verdammt”, seine Rechte hämmerte auf den Tisch, so dass das Geschirr geräuschvoll tanzte. Diesmal jedoch ging nichts zu Bruch. “Wir hatten das Rezept in Händen und haben es liegen lassen. Wir müssen versuchen uns daran zu erinnern welche Bestandteile es hatte. Nur dann wird ein Medicus darauf schließen können woher die Vergiftung rührt. Vielleicht kann man sie dann heilen.” Der Oberst schüttelte den Kopf. “Ich habe längst nicht mehr alles vor Augen, was auf dem Pergament geschrieben stand. Vielleicht kennt ihr”, er blickte zu den anderen am Tisch, darunter waren neben der Landmeisterin auch Athax und der Graumantel, “noch andere Bestandteile. In Händen hatten wir vier das Pergament alle. Ich hoffe wir können die Ingredienzien rekonstruieren.” Dwarosch zählte im Folgenden die Dinge auf die er noch im Sinn hatte und der Hauptmann ergänzte. Amalvin schüttelte sich. „Das ‚Fett eines lebenden Menschen’ war widerlich.“ Aus irgendeinem Grund ging ihm dieses Detail besonders nahe. Auch Richild sah aus, als habe sie Essig getrunken, bedachte ihren Graumantel mit einem verstehenden Blick – der dann kurz weiter zu Ramiro schweifte, der zufrieden mit den restlichen Soldaten Dwaroschs ein gigantisches Frühstück verzehrte. Schweigend griff sie nach dem Rest ihres Tees und stürzte den in einem Zug hinunter, als wolle sie einen ekligen Geschmack aus dem Mund spülen. Sie bedauerte nur, dass es kein stärkeres Gebräu war. „Ein in Säure gelöster Türkis war auch dabei.“ steuerte die Landmeisterin noch bei. „Wenn ich gewusst hätte, dass sie ihr etwas eingeflößt hat, wäre ich aufmerksamer gewesen.“ „Gut“, setzte der Oberst zufrieden nickend wieder an, als sie das Rezept beisammenhatten. „Jetzt bleibt die Frage wo wir einen Heilkundigen finden.“ Dwarosch sah Richhild fragend an. „Wisst ihr von jemanden hier in Rabenstein, den wir aufsuchen können? Wenn dies nicht der Fall ist, würde ich direkt nach Senalosch gehen wollen. Gargamil, einer unserer Geoden, wird wissen was zu tun ist, wenn wir ihm die Bestandteile des Gifts nennen.“ „Ich hätte Euch an die Baronin verwiesen – doch die ist mit ihrem Gemahl in Punin.“ Richild bedachte mit gerunzelter Stirn die Liste. „Marboblei ... das ist doch ein magisches Metall, nicht? Vielleicht ist der Geode wirklich die beste Lösung.“ Sie rieb sich über ihr stoppelkurzes Haar, das dringend eine neue Schur benötigte. „Ja. Es ist nur eher unter dem Namen Arkanium bekannt“, erklärte der Zwerg. “Nur eines noch. Marbolieb wird zu euch kommen, um euch davon zu überzeugen, dass sie den Umweg nach oder besser über Calmir übersteht und dass sie in der Lage sein wird, Mirla aus den Händen dieser… resoluten Geweihten zu befreien. Ob diese zusätzliche Wegstrecke in ihrem Zustand sinnvoll und zumutbar ist, kann und werde ich nicht alleine entscheiden, da es einzig ihre persönlichen Belange tangiert. Das steht mir nicht zu. Deswegen werden wir drei eine Mehrheitsentscheidung treffen. Das ist der meiner Meinung nach beste Weg. Bedenkt, dass wir nicht wissen, wieviel Zeit sie noch hat, sie ist sehr schwach. Wenn wir aber nach Calmir gehen, dann werden uns meine Männer nicht begleiten. Dies deckt sich nicht mehr mit einem etwaigen Dienstauftrag. Den Isenhag von Paktierern befreien und entführte Geweihte befreien ja, aber keine Familienzusammenführungen. Ich werde mich nicht angreifbar machen. Athax wird mit den anderen vorauseilen, und die Nilsitzer Berghörner blasen lassen, sobald sie Senalosch erreicht haben. Wir haben eine eigene Tonfolge für den Ruf nach Gargamil und den anderen Dienern Sumus.“ „Ich werde Marbolieb nicht alleine lassen - wir holen unsere Pferde in Calmir und kommen mit.“ entschied Richild. Der Oberst schien nicht überrascht über die spontane Entscheidung der Landmeisterin, dennoch nahm er sich Zeit sich zu sammeln und die Auswirkungen des Beschlusses im Geiste zu fassen. „Gut, dann habt ihr bereits entschieden, soll mir recht sein.“ Er stand auf und schob dabei geräuschvoll den Stuhl hinter sich vom Tisch weg. „Hört mir einmal zu Männer“, zog er die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich. „Bereitet alles für den Aufbruch vor, wir ziehen direkt nach Senalosch zurück. Athax, du und der Rest zieht auf direktem Weg dorthin. Die Golgariten, ihre Gnaden und ich werden einen Umweg über Calmir machen.“ Dwarosch sah zu seinem Hauptmann. „Lasst nach den Dienern Sumus blasen, wenn ihr die Stadtmauern erreicht habt und schickt Botschaft zu Borindarax, dass wir die dringende Hilfe eines Geoden bedürfen. An die Arbeit.“ Mit diesen Worten schloss der Oberst. „Begleitet ihr mich noch für ein paar Schritte, ehe wir aufbrechen?“ Fragte Richhild kurzerhand. Dwarosch nickte und schritt kurzerhand vor die Tür, da er davon ausging, dass die Landmeisterin ihn unter vier Augen sprechen wollte. „Ihr seid Euch sicher, dass es Gift ist?“ Die Landmeisterin war ihm gefolgt und blickte in das Flockengewirbel, das in einem dichten Vorhang aus dem trübgrauen Himmel regnete. „Und Ihr haltet den Umweg über Calmir für einen Fehler?“ Dinge, die man am besten unter vier Ohren besprach – aber nicht der Grund für dieses vertrauliche Gespräch, das spürte auch der Oberst. Der Zwerg verzog das Gesicht, was verdeutlichte, dass er sich seiner Sache nicht vollkommen sicher war. “Es ist meiner Meinung nach per se kein Gift, aber es hat eine toxische Wirkung. Es war nicht speziell darauf ausgerichtet zu töten, es war aber auch nicht vorgesehen, dass Marbolieb das Ritual überlebt. Mindestens ein Bestandteil greift ihren Körper an. Nehmt das Arkanium als Beispiel. Metalle und Mineralien haben auf eure Rasse eine bedeutend größere Wirkung, als auf uns Angroschim. Mineralien oder gar Gifte die darauf basieren, sind für unsere Körper nahezu harmlos. Magische Metalle und ihre Wirkungen sind mir aber ebenso wenig vertraut, wie die anderen, absonderlichen bis abstoßenden Zutaten. Meine Behauptung fundiert allein auf den Symptomen.” Dwarosch brach mit seiner Ausführung ab und es sah schon so aus, als sei er fertig. Dann jedoch grunzte er plötzlich, schüttelte energisch den Kopf und tätigte doch noch einmal eine Einschränkung. ”Selbst, wenn es etwas anderes und keine Vergiftung ist, so steht wohl außer Frage, dass sie im weitesten Sinne krank ist. Deswegen können wir keine Zeit vertändeln. Calmir ist ein Umweg und Mirla sicher, wo sie jetzt ist. Allein das beeinflusst meine Haltung. Doch akzeptiere ich eure Meinung. Kein Mann hat das Recht, eine Mutter von ihrem Kind fern zu halten. Und wenn es meines wäre, so würde ich vermutlich durch ein Meer von Blut waten, um zu ihm zu gelangen.” „Und sie scheint wohl genau das vorzuhaben.“ Richild seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Wie konnte ich ihre Blindheit so lange übersehen! Aber es passt zu gut.“ Sie wandte sich Dwarosch zu. „Ich kann sie so weit auffangen, dass sie es bis Senalosch schafft. Nach Calmir werde ich sie mit auf mein Pferd nehmen, das ist deutlich schneller als der Schlitten – das wird den Zeitverlust ausgleichen. Viel wichtiger ist, ihr ihre Hoffnung zu erhalten. Wenn sie die verliert, wird sie Senalosch nicht lebendig erreichen – gleich, was wir tun. Hoffnung ist ein machtvoller Antrieb – sie klammert sich an den Gedanken an ihr Kind. Die Kleine ist ihre einzige Bezugsperson.“ Sie schüttelte sich, nicht glücklich, in diese Sache hineingeraten zu sein. Abrupt blieb sie stehen und blickte forschend den Zwergen an. „Wie steht Ihr zu Marbolieb?“ Der Oberst hatte sachte genickt und somit sein Verstehen signalisiert, während die Landmeisterin davon gesprochen hatte der Geweihten Hoffnung zu geben. Darin, dass diese ihr Kraft verleihen würde waren sie sich einig. Dwarosch wusste nur nicht, ob diese die Anstrengung aufwiegen würde. Er war sich nicht sicher. Dann war der Zwerg ebenso plötzlich wie Richhild stehen geblieben, als sie jene sehr persönliche Frage stellte. Verwundert sah er sie an. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass ihr mir eine solche Frage stellen würdet.“ Er wirkte als habe sie ihn auf dem falschen Fuß erwischt, aber auch nicht so, als wolle er nichts dazu sagen. Dwarosch blickte zu Boden und dachte nach. „Nun, das ist nicht in wenigen Sätzen gesagt und offen gestanden ist mir dies zu persönlich, um es breit zu treten. Ich gehe davon aus, dass ihr das nachvollziehen könnt. Kurz umrissen kann ich euch aber sagen, dass wir uns beide sehr nahestehen. Wir teilen viele gemeinsame Erlebnisse, wissen aber gleichzeitig, um die Tatsache, dass solch Ausnahmesituationen wie wir sie durchlebt haben, die Gefühle stark beeinflussen können.“ „Ist Euch dies unangenehm?“ Die Golgaritin betrachtete den bulligen Oberst aufmerksam und mit einem diskreten Interesse, das durchschimmern ließ, dass unter der abgebrühten Kriegerin eine Priesterin steckte. Dwarosch musste schmunzeln und unterdrückte sogar ein kurzes Auflachen. „Wisst ihr, für mich ist es schlicht nicht üblich, dass ich mich mit Außenstehenden über Dinge wie Gefühle unterhalte“, gab er amüsiert zu. „Was konkret meint ihr mit unangenehm und welches Interesse habt ihr an meiner Antwort“, fragte der Oberst wieder deutlich ernster. „Ich meine Eure Annahme, dass Eure Gefühle durch besondere Situationen beeinflusst wurden.“ Ein leises Zwinkern fand sich in Richilds Augenwinkeln ein. „Haltet Ihr sie darum für weniger echt?“ Locker ließ die Kriegerin nicht. „Auf Eure zweite Frage werde ich danach antworten.“ versprach sie. „Nein“, kam die Antwort schnell, überzeugt und mit einem Kopfschütteln, dass diese noch unterstrich. „Ich weiß, dass wallendes Blut und Todesangst einiges, auch Ungewöhnliches bewirken kann, doch sind diese Tage auf dem Weg nach Mendena, in denen wir uns kennenlernten, längst vergangen. Marbolieb und mich verbindet mehr“, gestand er ohne jede Scham. Was dies jedoch war, ließ er indes unerwähnt, vielleicht auch, weil er sich dessen selbst immer noch nicht sicher war. Richild nickte, offensichtlich genügte ihr die Antwort. „Was Marbolieb jetzt benötigt, neben einem Heiler, sind Zeit, Zuwendung und Nähe. Sie ist stark – doch die Entführung hat sie über ihre Grenzen gebracht.“ Sie schwieg einen Moment und ordnete ihre Gedanken, ehe sie fortfuhr. „Sie sollte nicht alleine sein – viel Körperkontakt wird ihr ebenfalls Sicherheit verleihen. Am besten durch eine möglichst vertraute Person.“ Sie musterte den Zwergen. „Wollt ihr das tun?“ Was aber diese eigenartige Verbindung zwischen den beiden nur noch verstärken würde. Richild war sich nicht sicher, ob sie den beiden damit nicht einen Bärendienst erwies – dies wäre ihre Möglichkeit gewesen, diese Bande zu lockern – was sich auf lange Sicht ganz sicher als das Beste für alle erwiesen hätte. Sie seufzte. „Und mögen die Götter geben, dass die Traviageweihte ein Einsehen hat. Wenn die sich sperrt, benötigen wir wirklich starke Arme, um Marbolieb aufzufangen.“ Die Landmeisterin blickte zum Gasthaus. „Gehen wir zurück?“ Nachdenklich nickte der Zwerg und trat mit der Landmeisterin den Weg zurück zur Wirtschaft an. Während sie die wenigen Schritte in der immer noch kalten Luft zurücklegten antwortete Dwarosch entschlossen, aber im ruhigen Tob auf Richilds Frage. „Ich werde versuchen ihr der Halt zu sein, den sie benötigt. Sie wird es gut haben in Senalosch, seid dessen versichert. Auch euch möchte ich einladen einige Tage dort zu verbleiben.“ Über Richilds Züge huschte ein kurzes Schmunzeln. „Habt Dank für die Einladung. Ich hätte sie jedoch nicht alleingelassen, solange sie nicht sicher auf dem Weg der Besserung ist.“ Was aus dem Mund der Borongeweihten mindestens zweideutig klang.

Wenig später war die zusammengeschmolzene Gruppe abmarschbereit, während der Schnee noch immer in dichten Flocken aus dem Winterhimmel wirbelten und versprachen, dass die richtig bittere Kälte erst später kommen würde. Nachdem man die bestellte Marschverpflegung abgeholt hatte, konnte es losgehen. Marbolieb und der Junge hatten wieder auf den Schlitten platzgenommen, welche jeweils abwechselnd von zwei Personen gezogen wurden. Nur Trina war von dieser Arbeit ausgenommen. Sie ging am Ende des Zuges und war von jeglicher Unterhaltung ausgenommen. Der Oberst hatte ihr klargemacht, dass er keine Verstöße gegen diese Regel dulden würde. Und so war die Stimmung leicht angespannt, denn wenn sich auch die Soldaten ausnahmslos auf ihre Heimat freuten, so war Trinas Ausschluss aus dem Regiment schmerzlich, gerade nach dem erlebten. Zusätzlich bot der Rückweg zu viel Zeit, um über die gefallenen Kameraden nachzudenken.

Calmir – das Nest der Wildgans

Auf Höhe von Calmir marschierten die Zwerge weiter gen Senalosch, so dass nur noch ein stark dezimierte Haufen in der Hauptsiedlung der Baronie eintraf. Der Schneefall hatte sich verstärkt und jeder Schritt bedeutete ein Einsinken in einer anderthalb Spann tiefen Neuschneedecke. So begrüßten die Reisenden erleichtert den Anblick der ersten Häuser, über denen Willkommen und Wärme verheißende Rauchschwaden aus den Schornsteinen aufstiegen. Der Borontempel lag leer und verlassen – nach der Schneedecke auf dem Weg dorthin zu schließen, hatte in während der letzten zehn Tage niemand mehr betreten. Sie richteten sich zunächst in dem Sakralbau ein und entzündeten ein Feuer. Sie alle benötigten Wärme am dringendsten. Der nasse Schnee war rasch durch die dicken Schichten Kleidung gedrungen und Unterkühlung drohte, sobald man zur Ruhe kam und der Körper nicht mehr selbst durch die Arbeit der Muskeln Wärme produzierte. Obendrein hatte der Weg viel Kraft gekostet. Der nasse Schnee war schwer und er haftete überall. Ramiro und Marbolieb hatten es noch am besten gehabt. Sie waren mit gewachsten Zeltplanen zugedeckt gewesen auf ihren Schlitten und hatten so lediglich nasse Haare. Dwarosch hatte die Geweihte in unmittelbare Nähe des Kamins ein Lager errichtet und dorthin getragen. Amalvin war ebenso mit dem Jungen verfahren, auch wenn es ihm schon besser zu gehen schien. Es dauerte etwas, bis sich die Wärme in der Küche soweit verteilt hatte, dass es merklich angenehmer wurde. Erst dann konnten sie sich entkleiden, um ihre nassen Sachen zu trocknen. Richild hatte in den Sachen der Borongeweihten gestöbert und war mit einer dicken Wollrobe, einer wollenen Hose, Unterzeug und einem Paar derber Schuhe zurückgekehrt. Schwer war die Auswahl nicht gefallen, hatte sie damit doch ziemlich genau die Hälfe der gesamten Garderobe der Geweihten in Händen. „Komm, Schwester, machen wir Dich fein.“ schmunzelte sie und half der Priesterin, ihren längst nicht mehr so sauberes Hemd durch angemessenere Kleidung auszutauschen, wechselte ihre Verbände und schnürte der abgemagerten Priesterin die Schuhe. „Besser als vorher.“ befand sie ihr Werk, was ein leises Lächeln auf Marboliebs Lippen hervorrief. „Es fühlt sich gut an.“ stimmte die mit leiser Stimme zu. Langsam war auch der komplette Eisblock, der sich im Wassereimer der Küche gebildet hatte, so weit geschmolzen, dass sich daraus ein wärmender Kräutertee kochen ließ. Ramiro hatte energisch alle Hilfe von sich gewiesen und steckte nun in der Ersatzkleidung Amalvins – einfachem Hemd und dicker Wollhose –, die ihm in sämtliche Richtungen zu groß war. „Wollen wir heute noch weiter? Dann hole ich die Pferde.“ Amalvin blickte fragend von seiner Landmeisterin zu Dwarosch und zurück. Der Oberst zuckte mit den Schultern und blickte dann fragend zu Marbolieb herüber. „Du musst entscheiden, ob wir heute noch zum Travia- Tempel gehen. Ich weiß nicht wie kooperativ die Vorsteherin sein wird. Um ehrlich zu sein zweifle ich daran. Ich denke nicht, dass sie Mirla ohne große Diskussion herausgeben wird. Dabei werdet ihr Marbolieb helfen müssen.“ Er sah zu Richhild und Amalvin. „Für mich sind die Glaubensauffassungen dieser Frau verbohrt.“ Dwarosch schüttelte den Kopf. „Rechnet mit meiner Hilfe nur, wenn ihr Mirla mit Gewalt herausholen wollt.“ „Wirst Du nicht mitkommen?“ Marbolieb blickte sorgenvoll in die Richtung, in der sie Dwarosch vermutete. „Ich möchte nicht mehr länger warten.“ „Doch, ich komme mit“, erwiderte Dwarosch. „Was ich ausdrücken wollte war, dass ich nicht noch einmal mit der Geweihten dort diskutieren werde.“ Seine Stimme ließ keinen Zweifel an diese Aussage. „Die Ansichten oder Auslegungen dieser Frau lassen sich in keinster Weise mit den Glaubensvorstellungen meines Volkes vereinbaren. Und jeder Angroschim würde es nachvollziehen und verstehen können, wenn eine Mutter oder ein Vater eine Person erschlägt, welche sie daran hindert ihr eigenes Kind wiederzuerlangen, es ihnen vorenthalten will. Damit ist alles gesagt.“ Ernst blickte er von einem zum anderen. „Wir haben noch einen halben Tag – wenn wir dann noch nach Isenbrück gelangen wollen, wird das ein Gewaltmarsch, und wir werden erst im Dunkeln ankommen. Von Isenbrück aus würde ich weiter nach Bollharschen und dort nach Norden reiten – dort gibt es einen Saumpfad, der nach Senalosch führt, wie gut gangbar der nach diesem Schneefall noch ist, muss sich zeigen.“ Richild strich sich über ihre Haare und musterte ihre Glaubensschwester, der die Ungeduld förmlich anzusehen war. „Wenn wir Mirla unter Mutter Gansliebs Fittichen hervorholen können, reisen wir morgen weiter. Ansonsten hält uns hier nichts und wir können gleich aufbrechen.“ Sie streckte sich. „Gehen wir.“ Dwarosch nickte stumm und machte sich daran sich wieder vollständig anzukleiden. Seinen Packen würde er noch hier lassen. Wenn sie aufbrachen, würden sie es von hier aus tun. * Und so stand kurze Zeit später die kleine Gruppe vor dem Traviatempel des Dorfes, der zugleich auch die Wohnstatt des Priesterpaares war. Ob der Kälte war die Türe geschlossen, doch aus dem Kamin stieg eine stete Rauchwolke, die von einem munter lodernden Kaminfeuer erzählte. Amalvin und Ramiro hielten sich im Hintergrund, ersterer ebenso wie die Landmeisterin angetan mit voller Montur, doch ohne Waffen. Ramiro äugte neugierig an den drei Gestalten der vor ihm vorbei, als Richild die Faust hob und entschlossen und mehr als deutlich hörbar anklopfte. Er wibbelte von einem Bein auf’s andere und befragte in viel zu lautem Flüsterton den Krieger neben ihm, warum denn alle vor dem Tempel verharrten, anstatt einfach einzutreten. Marbolieb hatte dagegen die kurze Strecke nur mit Mühe bewältigt und stand nun, mit zitternden Beinen und auf die Schulter des Oberst gestützt, mit banger Erwartung vor dem verschlossenen Tor. Das sich wenige Augenblicke später öffnete. Ein hochgewachsener, hagerer Mann mit dickem, lockigen Backenbart und einem schütteren, grauschwarz melierten Haarkranz, angetan mit der orangefarbenen Robe eines Traviageweihten, musterte die bunte Truppe mit leicht gerunzelter Stirn. „Tretet ein, so ihr mit guten Absichten kommt, und seid begrüßt in der Herrin Travia Namen. Die Waffen lasst ihr aber bitte an der Tür.“ Er trat zur Seite, um die Gruppe eintreten zu lassen. Neben der Tür fand sich eine Garderobe mit Filzpantoffeln für die Gäste, Haken für die Mäntel – und einem breiten Brett für sämtliche Bewaffnungen, auf dem im Moment eher verloren ein entspannter Bogen und ein fast leerer Köcher lagen. „Meine Gemahlin ist noch in der Küche – sagt, wollt Ihr das Mittagsmahl mit uns teilen? Ich bin übrigens Vater Ganslieb – und wer ist Eure Begleitung, Euer Gnaden?“ wandte er sich an Marbolieb, die unter der direkten Ansprache fast noch etwas kleiner wurde und ihre Hand fester um Dwarosch Schulter schloss, ehe sie ihre Begleiter mit entschlossen nach vorn gerichtetem Blick vorstellte. Der Oberst nickte nur stumm, als er an dem Geweihten vorbei trat und stellte Spieß und Schild ab. Seine Miene war neutral, jedoch nicht ohne Anspannung. Dwarosch gab sich alle Mühe Marbolieb trotz der Enge des Durchgangs ausreichend zu stützen und trug somit Sorge dafür, dass sie den Weg letztlich bezwang. Der Hauptraum des Tempels erinnerte an eine große, gemütlich eingerichtete Gute Stube. Im Flur davor ging eine Holzstiege nach oben, wo wohl die Schlafräume lagen, im Tempelraum selbst befand sich an der dem Hausinnern zugewandten Seite ein gewaltiger Kamin, in dem mit hellen Flammen ein Feuer loderte. In der Mitte stand ein großer, aus dicken Holzbohlen gefertigter Tisch mit Bänken an beiden Längsseiten, neben dem Kamin führte ein Durchgang in die Küche, aus der das Klappern von Töpfen und Tellern erklang und ein überaus verheißungsvoller Duft nach Eintopf drang. Eine Travienstatue in der Ecke wachte über den Raum, um die schöne Schnitzarbeit wand sich ein ins Holz gearbeiteter Fries aus Fingerhut und Gänsefedern, eine wahrlich kunstfertige und offensichtlich auch schon einige Dutzend Götterläufe alte Arbeit. „Ganslieb, wer ist es denn?“ erklang die Stimme der Geweihten aus der Küche. „Die Boronis und der Zwerg, mein Gänschen.“ polterte der Priester nicht minder leise zurück. „Ich habe sie zum Essen eingeladen. Du darfst auftragen – Etzel wird heute nicht kommen, der ist erkältet.“ Mit einer leicht säuerlichen Miene reagierte der Oberst auf die Betitelung des Traviageweihten, doch er ersparte sich eine Belehrung, wusste er doch, dass Vater Ganslieb es nicht bös meinte. Er bugsierte Marbolieb auf eine der Bänke und nahm dann hinter ihr Aufstellung, damit ihr Rücken trotz dem Fehlen einer Lehne halt fand. Sie würde ihren Oberkörper nicht die ganze Zeit aufrecht halten können und so wollte er sie stützen, so lange es die Etikette zuließ. Mit einem dankbaren Lächeln lehnte sich die Priesterin an ihn, eine Geste, die dem Oberst mehr als alles andere verriet, wieviel Kraft ihr dieser Gang abverlangte. Vater Ganslieb verteilte hölzerne Schüsseln und Löffel an dem langen Tisch und warf Dwarosch einen fragenden Blick zu. „Wollt ihr euch nicht setzen?“ „Danke nein. Ihre Gnaden Marbolieb wurde vergiftet und ist zu schwach, um sich lange ohne Hilfe aufrecht zu halten“, entgegnete der Zwerg eine Spur zu nüchtern, um sein Missfallen an der ganzen Situation gänzlich zu verbergen. Er konnte sich das anschließende, „ich denke darüber hinaus, dass ihre schlechte, körperliche Verfassung deutlich sichtbar ist“, nicht verkneifen. Der Priester nickte, nicht ohne einen genaueren, neugierigen Blick auf die Borongeweihte. Ohne darauf zu beharren, deckte Vater Ganslieb weiter den Tisch ein und setzte sich dann an das breite Kopfende der Tafel, an der zwei Stühle nebeneinanderstanden. Die Geweihte kam, einen großen Topf mit dampfendem Eintopf in den Händen, aus der Küche und stellte ihn mit einem erleichterten Ächzen ab. Neugierig betrachtete sie Marbolieb und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Ihr seid ja noch am Leben, Euer Gnaden. Dann war das ja viel Lärm um nichts.“ Wirkliche Freude wollte in ihrer Miene jedoch nicht aufkommen. „Doch dann lasst uns erst einmal Travia preisen und essen.“ Das Geweihtenpaar erhob sich, und höflicherweise taten die Gäste es ihnen gleich. Marbolieb schwankte und hielt sich am Tisch fest, was ihr einen mißbilligenden Blick Mutter Ganslinds einbrachte. „Gütige Mutter Travia, sieh’ Deine Familie, die hier versammelt ist. Breite Deine Fittiche über sie, lass sie stets heimkehren in den Schoß der Familie und Speisung und ein Herdfeuer finden. Segne dieses Mahl, auf dass sie damit von Deiner Güte speisen. So sei es!“ Beschwörend hatte Vater Ganslieb die Hände gehoben, brach nun das Brot und reichte, nachdem sich alle wieder gesetzt hatten, den dicken Laib an den Gast zu seiner Rechten, die Landmeisterin, weiter, die es ihm gleichtat. Reihum wanderte der Laib, wobei Ramiro, der etwas verschüchtert, aber stolz wie ein Praiostagsschüler, zu Marboliebs Linker saß, diesen nach einem kurzen Blick direkt an Dwarosch weiterreichte, was wiederum dafür sorgte, dass die Hausherrin ihn bitterböse anfunkelte. „Du hast kein Benehmen, junger Mann. Hat Dir keiner beigebracht, wie man sich in einer Tischgemeinschaft benimmt?“ Ramiro senkte den Blick. „Verzeihung, Domna.“ Hilfesuchend blickte er den Oberst an. Der jedoch verdrehte nur die Augen, schüttelte ganz leicht mit dem Kopf und lächelte den Jungen aufmunternd zu. Vater Ganslieb überspielte mit einem gutmütigen Brummen das Knistern, das jäh aufgekommen war, und begann, den kräftigen Eintopf auszuteilen. Er hatte es nicht eilig. Nachdem Marbolieb Dwarosch ein Zeichen gegeben hatte, dass es gut sei, setzte auch er sich an den Tisch und griff nach der Schale, welche man ihm hingestellt hatte. Wirklich Appetit schien der Angroscho jedoch nicht zu haben, er aß nur sehr langsam und scheinbar ohne viel Freude. Der Eintopf war gehaltvoll, heiß und wohlschmeckend – und wäre unter anderen Umständen sicher willkommen gewesen. Doch so zog sich das Essen zäh und schweigend dahin, und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Mutter Ganslind ihre geleerte Schüssel zur Seite schob. „So, und ihr wollt jetzt also Travine zurück.“ Sie bedachte die Gruppe mit einem langen, mißbilligenden Blick über ihre lange Nase hinweg. Marbolieb hielt sich an der Tischkante fest und völlige Verständnislosigkeit glitt über ihr Gesicht. „Ich möchte meine Tochter.“ „Aber gewiss.“ Mutter Ganslind richtete sich zu ihrer vollen und durchaus beeindruckenden Größe auf. „Sie ist schließlich Eure Tochter.“ Absolute Mißbilligung stand in ihren Augen. „Aber sicher dürft ihr sie mitnehmen. Sobald ich sicher sein kann, dass ihr gut für sie zu sorgen vermögt und ihr den Schutz einer taviagesegneten Familie bietet. Geht den Traviabund ein – und zeigt mir, dass ihr sie nach Hause tragen könnt, ohne in die Knie zu brechen.“ Sie betrachtete ihre Glaubensschwester mit herzlich empfundener Abneigung. „Ich habe zwei wackere Burschen gefunden, die euch noch nehmen würden. Der Witwer Burian oder der Sigred, der Sohn vom Krämer Altwein. Sucht euch einen aus – oder präsentiert mir meinethalben einen anderen Gemahl. Ansonsten vergesst es.“ Dwarosch spürte, wie Marbolieb neben ihm in sich zusammensackte und am ganzen Körper zu zittern begann. „Ihr dürft jetzt gehen.“ Die Traviageweihte verspürte offensichtlich auch keinerlei weiteren Bedarf an einer Unterhaltung. Während Dwaroschs kräftiger Arm zur Seite griff, um Marbolieb wiederaufzurichten, ruckte sein Kopf zu Richhild herüber. Seine Augen versprühten mehr als nur Wut, es war schwerlich unterdrückter, lodernder Zorn, der drohte, alsbald aus ihm herauszubrechen. Sein Blick war mehr als nur eine Aufforderung, es war ein Ultimatum. Richild sprang von ihrem Sitz auf, hieb mit einer Faust auf den Tisch und herrschte die Traviageweihte an. „Ihr hartherziges, kaltes Weib! Was fällt Euch ein, einer Mutter ihr Kind zu nehmen?“ Ihre Knöchel wurden weiß und ihre Lippen waren schmal, wie mit dem Messer gezogen. Neben sich hörte Dwarosch den Graumantel murmeln. „Au weia.“ Hastig faltete der seine langen Beine hinter der Bank hervor und trat neben seine Vorgesetzte, eine Hand erhoben, als wolle er sie ihr beruhigend auf die Schulter legen – und ließ es dann doch. Mutter Ganslieb wurde bleich vor Wut. „Ausgerechnet ihr sprecht von kalt? Und ihr seid die Weise für Familie und Kinder, Kriegsfrau? Ihr begrabt sie doch nur! Ihr habt keine Ahnung, was ihr dem Kind damit antut, wenn ihr es in so eine Obhut gebt! Und ihr könnt euch nicht einmal ansatzweise vorstellen, welche Kraft es kostet, ein Kind aufzuziehen! Aber die Lebenden haben Euch noch nie interessiert, nicht wahr?“ Das zaghafte “Aber Gänschen“ ihres Gemahls überhörte die aufgebrachte Geweihte geflissentlich. „Aber die Dirne soll weiterhin vor meiner Nase ihr schändliches Leben führen, ihr unschuldiges Kind verderben und Unfrieden hier ins Dorf bringen? Ihr verlasst diesen Tempel! Und zwar jetzt gleich!“ Die Blässe im Gesicht der Travienpriesterin war in glühendes Dunkelrot umgeschlagen. „Oder wollt Ihr auch noch Tempelfrevel begehen?“ Nun hieb auch Dwaroschs freie Hand wuchtig auf den Tisch, so das er protestierend ächzte, während er sich erhob. Die hölzernen Schüsseln klapperten, eine fiel polternd herunter. “Ihr nennt sie eine Dirne? Ihre Tochter heißt Mirla und solange ihre Mutter, die hier bei euch am Tisch sitzt, lebt, habt ihr keinerlei Recht, dies zu ändern. Doch das ist nicht das Schlimmste. Oh nein. Ihr wollte sie ernsthaft zwingen jemanden zu heiraten, damit sie ihr eigenes Kind zurückerlangt? Das hat nichts mit rechtem Glauben zu tun. Solange ihr eurer Göttin derart huldigt, kann man hier gar nicht freveln, denn mehr als ihr es tut ist es kaum möglich. Den Bund fürs Leben sollte man einzig und allein aus Liebe eingehen und aus keinem anderen Grund. So gründet man Familien, das tut meine Rasse seit Jahrtausenden”, brüllte Dwarosch voller Emotion. Dann bevor jemand etwas erwidern konnte senkte er die Stimme auf äußerst bedrohliche Weise. “Wisst ihr was die Lex Zwergia ist und was sie besagt?” „Sie hat den Bastard ohne Vater zur Welt gebracht und zieht ihn ohne Familie hier auf! Was soll sie denn sein als eine Metze?“ Jetzt war auch die Stimme der Tempelvorsteherin laut geworden. „Sie verdreht allen Burschen hier den Kopf und bringt Unfrieden und Streit in die Familien! Was soll daran Travia gefällig sein? Und Ihr erwartet, dass ich hier schweige und zusehe und nichts unternehme?“ Ihre Stimme stieg zur einem schrillen Kreischen, das körperliche Schmerzen bereitete. „Ein Kind braucht Vater und Mutter – oder von mir aus auch zwei Mütter oder Väter, die für es sorgen. Dafür ist eine Familie da – für Schutz und Halt, füreinander und für die Kinder. Liebe, Herr Zwerg, hat damit gar nichts zu tun!“ Erbost stemmte sie ihre Fäuste in die Hüften und schien einen weiteren Spann zu wachsen. Ihre Stimme hallte von den Wänden wieder, und das Feuer im Herd loderte hell und wütend auf. „Und wagt es nicht, mir in der Herrin Travia Haus zu drohen! Auch die Lex Zwergia gibt Euch kein wie auch immer geartetes Recht, Geweihte in ihrem Haus zu bedrohen! Und nun geht – ihr seid hier nicht mehr willkommen!“ Dwaroschs Stimme blieb eisig ruhig und gesenkt. „Sie besagt, dass kein menschliches Gericht mich anklagen oder verurteilen kann. Nur der Rogmarok darf das. Was, frage ich also, sollte mich daran hintern mir Mirla einfach zu nehmen und sie seiner Mutter zurückzugeben? Mein König wird mich dafür nicht strafen, denn er wird den Umstand, dass ihr einer Mutter ihr Kind vorenthaltet, ebenso wenig verstehen wird, wie ich es tue. Noch dazu, wo euer Kult so unbedeutend ist für meine Rasse und man diesen Tempel in Isnatosch nicht einmal kennen wird.“ „Meine Frau hat recht – ihr tut Euch und dem Kind damit einen Bärendienst, Herr Zwerg. Sie ist nicht in der Lage, es zu versorgen.“ Vater Ganslieb legte seiner zornbebenden Gemahlin den Arm um die Schultern. Stahl blitzte in seinen Augen auf, was nicht zu dem scheinbar so gemütlichen Mann passen wollte. „Und ihr werdet die Konsequenzen tragen.“ „Hier ist die Tür.“ Mit schneeweißem Gesicht wies Mutter Ganslind auf den Ausgang. „Raus. Oder ich schwöre bei den Zwölfen, dass Travias Zorn euch begleitet, wohin ihr auch Eure Füße setzt.“ Einen Lidschlag lang senkte sich bleierne Stille über den Tempelraum, und die Wärme des Kaminfeuers übergoss die Anwesenden wie überhitzte Suppe, während der Geruch nach verbranntem Eintopf durch den Raum zog. Mit einem wütenden Fauchen schoss das Feuer bis in den Rauchfang und tauchte den Raum in ärgerliches Rot. Die Landmeisterin warf Amalvin einen knappen Blick zu, woraufhin der sich ohne jedes weitere Wort den mit offenen Augen und Mund dastehenden Ramiro ergriff und diesen schleunigst aus dem Tempel beförderte. Richild blieb, starrsinnig die Kiefer zusammengepresst. Dwarosch fühlte, wie sich Marboliebs Zittern verstärkte, sie ihre Finger schmerzhaft in seinen Arm grub und sich an ihm festhielt. „Ich will meine Tochter.“ flüsterte sie mit weißen Lippen. Mehr bedurfte es nicht. Dwarosch machte einen gewaltigen Satz über die Bank und sprintete mit Urgewalt los, was Richhild zwangsläufig dazu nötigte sich um Marbolieb zu kümmern. Viel gewandter als man es dem bulligen Zwergen zugetraut hätte umrundete er die verdutzten Geweihten und flog mit langen, weittragenden Sätzen förmlich die Treppe hoch. Dann brach das Gezeter los und es kam zum Tumult im Allerheiligsten. Die Landmeisterin handelte geistesgegenwärtig und strebte so schnell es Marbolieb zuließ Richtung Ausgang, während Mutter Ganslind und ihr Mann dem Oberst hinterhereilten. Von oben jedoch war bereits das Knarren einer Tür zu hören und nur kurze Zeit später das Splittern von Holz. Dwarosch hatte die schlafende Mirla derweil förmlich aus ihrer Wiege gerissen, an sich gepresst und die hölzernen Läden des Fensters aufgetreten. Die Geweihten der Travia standen gerade im Rahmen der Tür, als der Zwerg sprang. Er knallte mit seinem Gesäß hart auf die Holzschindeln, rutschte auf dem vom nassen Schnee bedecktem Schrägdach herab und über dessen Kante hinaus. Im Fallen vermochte er es noch seine Beine nach unten zu strecken und den größten Schwung abzufedern, doch eines seiner Sprunggelenke reklamierte die akrobatische Leistung mit einem durchdringenden Schmerz, als er im Vorgarten des Tempels aufkam. Fluchend wandte er sich Richtung Eingangstür, durch die gerade die Amalvin heraustrat, beladen mit allen Waffen und Dwaroschs Schild, Ramiro im Schlepptau. Richhild und Marbolieb folgten auf dem Fuße. Hinter ihnen zeterten die Tempelgänse. Zwickend und Flatternd attackierten die Graugänse den Angroscho, der seine winzige Beute im Arm barg, und verfolgten ihn lauthals schimpfend, bis er, als letzter der Gruppe, das Tempelgrundstück verließ. Nicht weniger lautstark erklangen die Flüche und das ‚Das werdet ihr bereuen, ihr Halunken!“ des Priesterpaares. Nach einem raschen und – auf Seiten Dwaroschs – nicht schmerzfreien Spurt langten die Gruppe wieder im Borontempel an.

In Sicherheit

Schnaufend ließ die Landmeisterin Marbolieb von ihrer Schulter gleiten und setzte sich neben sie, den Rücken an die beruhigend dicken Tempelmauern gelehnt. Sie atmete tief durch und schloss die Augen. „Das war jetzt nicht diplomatisch.“ bemerkte sie. „Nein, es war notwendig“, antwortete der Oberst überraschend barsch und streng. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Ganz vorsichtig löste er das inzwischen weinende Bündel von seiner breiten Brust und überreichte es behutsam an Marbolieb, bevor er sich einfach auf den Allerwertesten fallen ließ, um sich den Stiefel auszuziehen, welcher den offenbar verstauchten Fuß enthielt. „Ich gebe einen feuchten Dreck auf die Flüche dieser beiden Götterdiener“, fluchte er unterdessen. „Ich habe keine Angst vor dem, was sie bewirken können. Ihr Wort reicht nicht bis nach Isnatosch, vermutlich nicht einmal über die Grenzen Rabensteins hinaus. Mirla ist da wo sie der Natur aller mir bekannten Dinge nach hingehört und kein Gott soll sich erdreisten, daran zweifeln zu wollen. Angrosch möge diese Götterdiener strafen! Das ist das was ich dem Rogmarog sagen werde, wenn er mich fragt. Und das wird ihm reichen. Ich habe niemanden verletzt und keinen Frevel begangen. Niemand meiner Rasse wird das behaupten“, erklärte Dwarosch mit immer noch kochendem, feurigem Zorn. Marbolieb drückte ihre Tochter an sich und grub ihr Gesicht in den feinen Haarflaum des Kindes. Ein glückseliges Strahlen lag auf ihrem Gesicht – das indes von der erbost brüllenden Mirla nicht geteilt wurde. Das Mädchen hatte die Fäustchen geballt und brüllte mit der ganzen Kraft ihrer Lunge. Sie tastete mit einer Hand nach dem Oberst und hielt erschrocken inne, als sie seine Flüche hörte. „Dwarosch?“ Ihre Stimme bekam einen drängenden Unterton. „Was fehlt Dir?“ Richild hatte den Mund geöffnet, um etwas auf Dwaroschs Tirade zu entgegnen, verstummte aber angesichts der Dringlichkeit in der Stimme ihrer Glaubensschwester. “Mein Knöchel ist wohl verstaucht”, gab der Zwerg verärgert darauf zur Antwort. “Ich bin halt doch kein Artist aus dem Zirkus. Aber als ich mir auf dem Weg nach Calmir die Alternativen besah, schien es mir der sinnvollste Ausweg. Ich wusste das es so kommen würde”, fügte Dwarosch voll von Selbstironie an. “So wird die Heimreise wohl ein wenig unangenehm für mich werden.” „Zeig her.“ Energisch fasste sie in Richtung des Zwergen, fand seinen Schenkel und ließ ihre freie Hand daran abwärts wandern. „Welcher Fuß ist es?“ Mirla hielt sie eng an sich gepresst, eine Sache, die das Mädchen mit unzufriedenem Greinen kommentierte, nachdem sich ihr Gebrüll als wenig erfolgreich herausgestellt hatte – und es immerhin wieder unerwartet vertraut nach Mama roch. Mit, „genau der“, gab Dwarosch zu verstehen, das Marbolieb den richtigen Fuß erwischt hatte. Vorsichtig tastete Marbolieb den verrenkten Knöchel ab, drehte ihn untersuchend und versuchte, den Fuß zu strecken, was einen stechenden Schmerz durch die verstauchte Körperstelle jagte. Sie legte den schmerzenden Fuß auf ihre Knie, deckte ihre Hand über das verrenkte Gelenk und verharrte einige Atemzüge lang schweigend. Langsam breitete sich von ihrer Hand aus eine angenehme Kälte aus, erreichte die Zerrung und hüllte die schmerzenden Partien ein, bis das Pochen und Brennen langsam nachließ. In Folge der Linderung durch den heilenden Segen seufzte der Zwerg erleichtert und legte den Kopf in den Nacken. Endlich vermochte Dwarosch sich zu entspannen, auch dieses Hindernis war überwunden. Nun stand den Heimweg nichts mehr im Wege. Marbolieb lächelte zufrieden, ließ ihre Schultern nach vorn sinken und legte ihre Wange an das Köpfchen ihres Kindes. Ihre Hand ließ sie, wo sie war, und langsam breitete sich von ihr aus eine angenehme Wärme auf der Haut Dwaroschs aus. „Ich bin keine Kennerin der Lex Zwergia.“ Richild betrachtete unterdessen ihre besorgte Glaubensschwester mit einem Kopfschütteln. „Aber ich bezweifele, dass ein Einbruch in einen Tempel darüber vollständig abgedeckt wird. Euer Rogmarok würde vermutlich auf eine Beschwerde eines reagieren müssen – und so, wie ich die Sache einschätze, nach einer angemessenen Bedenkzeit. In ungefähr einigen Jahrzehnten. Und im Grunde war es auch mehr ein Ausbruch ... und die Richtigstellung eines älteren Übels.“ Nun wandte der Oberst der Landmeisterin seinen Kopf zu. Ihre Äußerung schien ihn ein wenig von Wut und Schmerz abzulenken. „Zumindest erscheint es mir so, als wäret ihr mir nicht böse wegen meiner Initiative.“ Er wählte die förmliche Anrede, wusste er doch nicht genau in welche Richtung sich das Gespräch entwickeln würde. „Ich hoffe, dass dieser eigenwillige Abgang“, Dwarosch grinste selbst ein wenig über seine Wortwahl, „euch nicht zum Nachteil gereichen wird.“ Bei diesen Worten warf der Zwerg auch Amalvin einen Blick zu und versuchte in dessen Miene zu lesen. „So wie ich könnt ihr das Geschehene wohl kaum aussitzen, doch weiß ich nicht wie euer Orden zur Kirche der Travia steht.“ „Er ist ein Kult in der Kirche der Zwölf – es sind unsere Geschwister im Glauben.“ Richild zog die Knie an, stützte bequem ihre Unterarme darauf und betrachtete den Angroscho und die magere Priesterin. „Geschwister streiten mitunter, Herr Oberst. Wenn sich ihre Hochwürden tatsächlich über die offiziellen Wege über uns beschwert, werde ich zu gegebener Zeit einen Rüffel aus Garrensand erhalten. Und diesen entsprechend demütig entgegennehmen.“ Sie grinste jäh. „Das war die Sache wert. Ihre Hochwürden war von Anfang an alles andere als zugänglich.“ Offensichtlich milde gestimmt nickte Dwarosch. „Gut das wir eine zumindest ähnliche Haltung dazu vertreten, was geschehen ist, Landmeisterin. Das macht unseren weiteren Weg sicher einfacher. Ich möchte keinen Streit deswegen. Glaubensfragen sind nie einfach, was euch Menschen betrifft, und mir sind die Kriege, die deswegen geführt wurden und werden, zuwider.“ Der Oberst stand auf und erhob das Wort, so dass alle sich angesprochen fühlten, während er den schlimmen Fuß sachte bewegte. „Nun lasst uns schleunigst sehen, dass wir hier wieder verschwinden. Ich möchte keinem aufgepeitschtem Mob begegnen. ‚Mutter‘ Ganslind“, der Oberst sprach das erste Wort spöttisch aus, ist dies durchaus zuzutrauen.“ Marbolieb, die offensichtlich tief in äußerst zufriedenen Gedanken versunken war, fuhr auf, als der Oberst sich urplötzlich erhob, und drückte ihr Kind enger an sich. Sie schwieg, blieb sitzen, wo sie war, und senkte erschöpft wieder ihren Kopf über ihr Kind, das den Oberst aus halbgeschlossenen Augen anblinzelte. Richild bedachte Amalvin und Ramiro mit einem auffordernden Blick. „Kommt, Jungs, packt Mirlas Sachen. Die wird sie brauchen.“ Sie blickte den beiden Männern hinterher, die mit mäßiger Begeisterung in Richtung der Kammer der Geweihten davonwanderten. „Vergesst nichts.“ Warf sie ihnen mit einem kleinen Grinsen hinterher. Sie betrachtete den Oberst und strich sich über die Haaren. „Woher sollte ich wissen, was ein Kind braucht?“ Entgegnete sie der Frage, die er nicht gestellt hatte. „Ich glaube nicht, dass es jemand wagen würde, den Borontempel zu belagern. Nicht hier. Aber ihr habt recht – Vorsicht verhütet Nachsicht. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie wir das später dem Baron erklären sollen.“ Der Oberst grunzte missbilligend. „Wir werden ihm Nachricht in sein Winterquartier schicken. Er wird nach Senalosch kommen und von uns erfahren welch Unheil wir von Rabenstein abgewendet haben und zu welchem hohen Preis. Diesen wird er gleich mit dem Rogmarok aushandeln können, denn der wird Entschädigung für den Verlust an Soldaten verlangen, das versichere ich euch. In Anbetracht dieser Umstände wird der alte Rabensteiner sicher nicht verkennen wem er Dankbarkeit schuldet, auch wenn er dies vermutlich niemals so ausdrücken würde. Jedenfalls glaube ich das nicht. Ich schätze ihn aber auch nicht so ein, als dass er einen von uns Strafe angedeihen lassen würde, hätte er die Autorität dazu.“, fasste Dwarosch zusammen. „Der Baron wird einen Angriff auf einen Borontempel ganz sicher nicht tolerieren – dafür steht er der Kirche des Raben zu nah. Was alles weitere angeht – und ob er nach Senalosch kommt – wird sich zeigen.“ Sie zuckte die Schultern, augenblicklich wenig geneigt, ihre – ehrlicherweise nicht besonders gute – Verbindung mit dem Landherren zu erörtern. „Ich hole die Pferde – bis dahin sollte Amalvin mit dem Packen fertig sein.“ erklärte sie, griff nach Schild und Rabenschnabel und schickte sich an, in den Schnee hinauszustapfen. Der Oberst quittierte ihre Worte mit einem erneuten, diesmal zustimmenden Grunzen und stand dann vorsichtig auf. Als sein Knöchel nicht über das erwartete Maß protestierte fing er an seine Sachen für den letzten Teil ihrer Reise zusammenzusuchen und anzulegen, die Heimat rief.

Siegreicher Rückzug mit Beute

Nur wenig später war die Gruppe wieder aufbruchsbereit. Mit den beiden Pferden der Golgariten zogen sie eiligen Schrittes aus Calmir aus Richtung Firun. Sie würden hinab ins Hochtal und dann gen Firun ziehen, am Gingelbacher See um die hohen Bergkämme herum, bis sie sich schließlich einige Tage später in die Schlucht zu gelangen würden, in der Senalosch lag. Es waren noch einige Tage die sie vor sich hatten, doch dann würden sie endlich zur Ruhe kommen können, im Schatten Isnatoschs. Die Dämmerung kam schnell an diesem Wintertag unter tiefhängenden, schweren Schneewolken. Der Schneefall war den gesamten Tag nicht zum Stillstand gekommen und machte den schlecht ausgebauten Weg im Hochgebirge zu einer trügerischen Angelegenheit, die überall eine Felskante oder einen tückischen Abbruch verbergen konnte. Mühevoll kämpfte die Gruppe sich voran, die Reiter führten ihre Pferde, auf dass diese nicht auf dem tückischen Grund strauchelten. Entschlossen arbeitete sich die Gruppe voran, bis sie schließlich, ein halbes Wassermaß nach Einbruch der Dunkelheit, mit einigem Glück die Schutzhütte fand. Die Landmeisterin lud sich die fast besinnungslose Priesterin wie einen Sack über die Schulter und trat die Tür der massiven Blockbohlenhütte auf. Sie schüttelte sich wie ein Hund und die Wassertropfen bildeten eine Lache auf dem Boden. „Wenn das die nächsten Tage so weitergeht, wird das spannend.“ bemerkte sie. Das Kind, das die ganze Tortur einigermaßen gutwillig über sich ergehen hatte lassen, begann hungrig zu greinen. „Ramiro, hol Holz aus dem Unterstand an der Seite der Hütte“, bat Dwarosch den Jungen im gewohnten Befehlston und trat selbst hinein. Achtlos stellte er seinen Rucksack drinnen an die Wand, nahm seinen Wintermantel ab, um ihn an einen Haken neben der Tür zu hängen und sah zum Kamin, dem einzig aus Stein gefügtem Teil der Behausung. Als er sich seiner in der dunklen Hütte gewahr wurde, ging er ohne weiter zu zögern zu ihm herüber, kniete sich nieder und kramte seine Zunderdose hervor, welche er unter den Pelzen getragen hatte. Der Junge trat zu diesem Zeitpunkt bereits wieder an seine Seite und lud einen Stapel große Scheite ab, die er über seinen Armen vor dem Körper getragen hatte. Ramiro hatte sich beeilt, sehnte er sich doch auch nach Wärme. Das Holz war trocken. Stumm dankte der Zwerg seinem Schöpfer, dass der Überdachung des Unterschlags offenbar von einem richtigen Handwerker erbaut worden und wahrscheinlich darum noch dicht war. Die Hütte jedenfalls war schon alt, das hatte Dwarosch trotz der Dunkelheit erkennen können. Vorsichtig machte sich der Oberst daran das mitgebrachte Zunder mit Funkenschlag zu entzünden. Es würde infolge das Reisig zum Brennen bringen und dies wiederum letztlich die Scheite. Der Junge war inzwischen schon wieder herausgeeilt, um weitere Scheite zu holen. Sie würden einen Vorrat anhäufen, um die Nacht über nicht mehr vor die Tür zu müssen. Niemand verspürte ein Verlangen danach. Marbolieb war an ihrem Platz an der Wand, wo die Landmeisterin sie abgelegt hatte, zusammengesunken, eingeschlafen oder besinnungslos, eine Hand auf ihre nun ernsthafte schreiende Tochter gelegt. Das Kind war durchgeschüttelt, müde, kalt, nass – und vor allem hungrig. Ramiro keuchte unter dem zweiten armvoll Holzscheiter, genug, das Feuer über die Nacht am Brennen zu halten, durch die Tür. Wenig später folgten die beiden Golgariten, die ihre Pferde in den dafür ausgelegten Unterstand gebracht hatten. Erleichtert ließ die Landmeisterin ihr Gepäck zu Boden gleiten und wärmte die Hände am prasselnden Feuer. Draußen fielen die Flocken wie ein dicker, weicher Teppich und schluckten die Geräusche schon nach wenigen schritt. Eine tiefe Stille lag über der Winternacht, unterstrichen nur vom Rascheln des Schnees. Der Oberst überließ das Feuer Ramiro und mahnte ihn sorgsam darauf zu achten, dass die noch zaghaften Flammen nicht wieder ausgingen, dann erhob er sich und ging zu Marbolieb herüber. Langsam, ein wenig schwerfällig und mit einem vernehmbaren Stöhnen ging er in die Knie und nahm Mirla zu sich auf den Arm, um sie zu wiegen. Der Zwerg setzte sich neben die Geweihten an die Wand und begann leise eines der wenigen Kinderlieder zu singen, welches er noch in Erinnerung hatte. Der Text kam zunächst stockend. Seine eigene Kindheit lag weit über ein Jahrhundert zurück. Wer wollte es ihm also verdenken. Es war ein zwergisches Lied. Doch damit nicht genug. Dwaroschs tiefe Stimme machte es zusätzlich zu einem seltsam anmutenden Ereignis für seine Zuhörer. Mirla jedenfalls schien es zumindest soweit zu gefallen, das sie sich beruhigte und den Zwergen ihre volle Aufmerksamkeit schenkte. Währenddessen legte Dwarosch die freie Hand sachte auf die Marboliebs, um sie vorsichtig zu wecken. Die Geweihte drehte den Kopf in Dwaroschs Richtung, seufzte und schlief weiter – oder glitt tiefer in ihre Bewusstlosigkeit. Das kleine Mädchen betrachtete den Zwergen aus großen, runden Augen, steckte seine Faust in den Mund und begann, in einer stillen, aber nichtsdestotrotz überdeutlichen Aufforderung schmatzend daran zu nagen. Kurz darauf prasselte ein großes Feuer im Kamin und Wärme breitete sich langsam im Innenraum der Schutzhütte aus. Der Oberst beendete seinen Gesang und bat Ramiro Marboliebs und sein Lager in unmittelbarer Nähe des Kamins einzurichten, auch wenn es nur wenig mehr als einige Decken seien würden, auf und unter die sie sich würden betten können. Dann versuchte Dwarosch Marbolieb zu wecken. Ramiro schleppte aus einer Ecke einige Strohsäcke heran, die dort eng zusammengestapelt waren, und breitete sie vor dem Feuer aus. „Lasst sie schlafen – das braucht sie jetzt am ehesten.“ Richild hatte sich neben das ungleiche Paar gekniet und legte eine Hand auf die Stirn der Geweihten. „Kümmert Ihr Euch um das Kind? Ich werde mit ihr für eine ruhige Nacht beten und sie segnen.“ Dwarosch atmete hörbar aus und machte ein wenig überzeugtes Gesicht, nickte aber zaghaft und ließ von seinem Tun ab, die Geweihte wecken zu wollen. „Ich kann es versuchen“, erklärte er anstelle dessen und die Landmeisterin erkannte, dass sein Umgang mit Kleinkindern wohl auch nicht sehr geübt war. Vorsichtig stand der Oberst auf und wies den Jungen an, sich ans Feuer zu setzen. Dann legte er ihm Mirla in den Arm, die das so gar nicht lustig fand und wieder langsam anfing zu weinen. Dwarosch ging zu dem Gepäck der Geweihten. Darin war auch eine kleine, verschlossene Kanne mit verdünnter Kuhmilch, welche sie in Calmir als Bestandteil ihres Proviants erstanden hatten. Er füllte etwas von der Flüssigkeit, in der durch die Kälte auch kleinere Eisstücke trieben, die aber aufgrund der stetigen Bewegung auf dem Weg nicht vollständig zugefroren war, in einem aus Rotmetall geklöppelten Becher und tat auch ein Stück weichen Brotes hinzu, um es darin aufzuweichen. Den Becher stellte der Zwerg auf den Sims des Kamins und erlöste dann den in diesem Moment erleichtert wirkenden Jungen, indem er Mirla wieder an sich nahm. Mit der freien Hand rührte Dwarosch immer wieder die Milch um und prüfte die Temperatur an der Außenseite des Bechers. Als er schließlich meinte, es wäre warm genug, aber noch nicht zu heiß, fing er an Mirla mit dem Löffel zu füttern. Die Kleine hatte sich inzwischen mit ihren Händen in seinem Bart verkrallt und nötigte Dwarosch so hin und wieder zu Grimassen, wenn sie allzu derb zupackte. Anfangs war es schwer, das Essen in ihren Mund zu bekommen, so intensiv protestierte sie aufgrund ihres Hungers. Doch irgendwann begriff sie offenbar, dass der Löffel dies Gefühl zu lindern vermochte und konzentrierte sich darauf. Ganz so ungeübt war sie schließlich nicht darin, immerhin hatte sie sich die letzten Wochen im Traviatempel auf ganz ähnliche Weise füttern lassen. Aber einen so bewundernswerten Bart hatte dort niemand gehabt! Mit beiden Händchen griff Mirla in das kunstvolle Flechtwerk, umfasste eine der Bartperlen und zog mit aller Kraft an ihrem Schatz, während sie hungrig ihren Mund aufsperrte. Ganz ohne Kleckse ging die Prozedur nicht ab, bis geraume Zeit später die Schüssel leer und das Kind verschmiert, satt und durchaus zufrieden ihre klebrigen Hände nach dem Gesicht des Oberst ausstreckte. Dwarosch ließ Mirla gewähren. Sie sollte doch weiterhin ihren Spaß haben. Auf ein bisschen mehr oder weniger der breiigen Masse in seinem Bart oder auf der Haut kam es jetzt auch nicht mehr an. Er war froh, dass das Essen mit dem Kind trotz aller Bedenken gut funktioniert hatte. Dass er nun noch einmal nach draußen musste, um sich mit Schnee zu reinigen, nahm er deswegen gern in Kauf. Die Landmeisterin, die sich währenddessen über die liegende Gestalt ihrer Glaubensschwester gebeugt hatte, zeichnete ihr mit Salböl ein Boronsrad auf die Stirn und richtete sich auf. „Sie wird bis zum Morgengrauen schlafen – oder zumindest so lange, bis ihr das Salböl abgewischt wird. Während sie den Ruf in Borons Arme verspürt, ist sie vor den Auswirkungen des Giftes gefeit.“ Sofern es ein Gift war. Doch die Wette war Richild gewillt einzugehen. „Achtet darauf, dass ihr sie einigermaßen warmhaltet.“ fügt sie hinzu und betrachtete das eigenwillige Bild, das der massive Angroscho mit dem winzigen Kind auf dem Arm bot. Ihre Mundwinkel zogen sich nach oben. „Ich könnte einen Ochsen aufessen.“ Ein hoffnungsvoller Blick zum Tisch zeigte ihr, dass die beiden Männer ganz ähnliche Gedanken bewegt hatten und aus dem Proviant ein ansehnliches – und dem beschwerlichen Weg durchaus angemessenes – Abendessen zubereitet hatten. Mit Ausnahme der Geweihten fanden sich alle zum Essen ein. Mirla blieb bei Dwarosch, saß auf seinen Schoss und trommelte vergnügt auf die Tischplatte, während sich die anderen stärkten. Es war ein reichhaltiges Mahl, das sie einnahmen. Der Oberst hatte auf fettreiche, nahrhafte Kost bestanden, als er das Proviant hatte zusammenstellen lassen. Die vergangenen Tage in der Kälte der Wildnis und in den Kellern des Hexenturms waren zehrend und entbehrungsreich gewesen. Nun galt es wieder zu Kräften zu kommen. Nicht allzu lange später fand die Gruppe zur Ruhe. Marbolieb lag parallel zum offenen Kamin, so dass sie am meisten direkte Wärme abbekam. Die Golgariten lagen auf der einen Seite der Ummauerung des Feuerraumes, Ramiro und er selbst auf der anderen. Während die anderen sich nun langsam schlafen legten schichtete Dwarosch noch einmal mit der Sorgfalt eines Zwergen Holzscheite im Kamin auf, so dass er die Stunden bis zum Morgengrauen sein Feuer oder wenn nicht das, dann zumindest eine ausreichende Glut würde erhalten können. Der Oberst hatte sich selbst zur ersten Nachtwache eingeteilt. Vorsicht war besser als Nachsicht. Wer wusste schon, was alles durch die Wildnis streifte. Ein rauchender Kamin konnte unter Umständen verlockend wirken auf zwielichtiges Gesindel, auch wenn es zu dieser Jahreszeit unwahrscheinlich war, dass noch jemand durch den Schnee stapfte. Seine Pfeife im Mundwinkel verströmte leicht würzigen Geruch. Es war jedoch diesmal Methumis-Tabak, der gegenüber dem Mohacca, welcher ihm leider mal wieder ausgegangen war, deutlich milder war. Zumindest hatte er noch von seiner herben Teemischung etwas übrig. Gegen Mitternacht hatte die Landmeisterin die Wache übernommen und auch Dwarosch konnte sich endlich in die Arme des Schlafes begeben, der ihn freudig begrüßte.

Nächtliche Zauber, nächtliche Grillen

Es war still. Nur die tiefen Atemzüge der Schläfer, das Knistern des Feuers und ein leises Rascheln – eine Nachtwache? – waren zu hören. Marbolieb lauschte auf die Geräusche neben ihr, die an einen brummenden Bären erinnerten. Einen gutgelaunten Bären. Die Priesterin tastete vorsichtig in die Richtung der Geräusche und traf auf einen muskulösen Oberarm und einen gewaltigen Brustkorb, der fast vollständig von einem dicken, kunstvoll geflochtenen Bart überdeckt wurde. Etwas war anders als sonst – es dauerte einige Atemzüge, bis ihr klar wurde, worum es sich handelte: die hämmernden Kopfschmerzen, seit Tagen ihr dauernder Begleiter, waren fast vollständig verschwunden. Ihre Mundwinkel zuckten, als ihre Fingerspitzen sanft wie die Flügel einer Motte über seine Wange glitten. Langsam legte sie ihren Kopf wieder zurück – die Stelle an seiner Schulter, an der er gelegen hatte, war wie gemacht dafür. Er roch gut – nach einer Mischung aus Leder, Schweiß, Metall, Pfeifenkraut und etwas Anderem, das entfernt an den ganz eigenartigen Geruch von frisch gebrochenem Stein erinnerte und ganz entschieden nicht menschlich war. Sauber – im Gegensatz zu allzu vielen Männern, die einige Reinigung für überflüssige Liebesmühe hielten. Zufrieden schmiegte sich an seinen warmen Körper, schloss die Augen und war nach wenigen Atemzügen wieder hinübergeglitten in das Reich des Unergründlichen, der auch in dieser Nacht Wacht über sie hielt.

Als sie am frühen Morgen erwachte, vernahm Marbolieb das Knarren der massiven Holztür der Schutzhütte und spürte fröstelnd den folgenden, kalten Windhauch von draußen. Sonst war es nahezu still um sie herum. Die anderen mussten noch schlafen. Nur ein ihr bekanntes, leises, tiefes Schnarchen war zu vernehmen. Widerwillig öffnete sie die Augen, doch wenig verwunderlich blieb es ebenso dunkel wie zuvor auch schon. Mit einem resignierten Seufzen schloss sie die Lider wieder. Hinter ihrer Stirn und ihren Schläfen begannen die Kopfschmerzen, die sich offensichtlich bestens ausgeruht hatten, wieder mit ihrem Pochen. Die dicken Barthaare Dwaroschs kitzelten sie an der Wange. Der Zwerg schmatzte einmal, drehte sich aus der Rückenlage auf die Seite und verzog dabei schmerzerfüllt das Gesicht, ganz so, als ob ihm das Lager nicht bekommen war. Noch halb im Schlaf versuchte die Priesterin, wieder ihre vorherige, bequeme Schlafposition zu finden, scheiterte aber an der Unruhe des Oberst. Fröstelnd schmiegte sie sich näher an die muskulöse Gestalt, die Hitze wie ein zwergischer Schmelzofen abzusondern schien. Einige Male grunzte der Zwerg noch leise, bis er endlich eine neue, für ihn annehmliche Position auf der Seite gefunden hatte. Erst dann registrierte er Marboliebs Nähe. Es war der ihm wohl bekannte und in diesem Moment nicht minder verheißungsvolle Geruch, welcher sie verriet. Dwarosch öffnete die Augen und registrierte, wie nah sie bei ihm lag. Ein wohliger Schauer lief über seine Haut. Vorsichtig bewegte er seinen Kopf ein Stück in Richtung des ihren. “Bist du wach”, flüsterte er die Frage fast unmittelbar in ihr Ohr. „Hmh.“ Sie nickte, wobei ihre kurzen Haarstoppeln über das Gesicht Dwaroschs kitzelten. Sie genoss die Wärme, die von ihm ausging. Marbolieb blinzelte, schloss die Augen dann aber wieder. „Ist es schon Morgen?“ flüsterte sie zurück. “Ich fürchte ja”, entgegnete Dwarosch seiner Stimme nach leicht amüsiert. “Wie fühlst du dich”, fragte er vorsichtig. “Du hast tief und fest geschlafen.” Marbolieb schmiegte ihre Wange an seine Schulter und gab einen kleinen, zufriedenen Laut von sich. „Gut. Ausgeschlafen.“ Ihre Stimme klang weitaus weniger brüchig als am Vortag. Sie lauschte einige Augenblicke lang in die Dunkelheit. Warm war seine Schulter und vermittelte Geborgenheit. Dwarosch atmete tief aus und nickte erleichtert, eine Geste welche die Geweihte nur anhand der Barthaare wahrnehmen konnte, die über ihre Haut strichen. “Das ist ein Anfang”, befand er schlicht. „Ich danke Dir, dass Du Mirla geholt hast.“ Sie flüsterte, sich gewiss, dass er es hören würde. Seine Haare kitzelten in ihrem Gesicht und erzählten mehr als alles andere von seiner Nähe. Ein gutes Gefühl. „Ich weiß nicht, was ich sonst getan hätte. Heiraten will ich keinen der beiden – aber der Preis wäre Mirla gewesen. Ich würde alles für sie tun.“ Sie schwieg einige Augenblicke und hing nicht sehr schönen Gedanken nach. „Der alte Burian ist schon über fünfzig – und er sucht vor allem eine Mutter für seine Kinder, nachdem seine Frau letztes Jahr starb. Und jemand, der ihm den Haushalt führt und im Stall arbeitet.“ Sie schwieg einige Atemzüge, ehe sie mit leiser Stimme fortfuhr. „Sigred, der Händlersohn, ist hinter jedem Rock her. Er hat mich vergangene Sommer einmal auf dem Anger abgepasst.“ Sie hielt inne und der Zwerg spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten. Sie seufzte und er spürte, wie sie die Nähe zu ihm suchte, ehe sie mit einer Stimme, die nicht mehr als ein Flüstern war, fortfuhr. „Er presste mich an die Tempelwand und griff mir zwischen die Beine.“ Sie zitterte bei der bloßen Erinnerung daran und ihre Stimme klang brüchig. „Ich habe ihm in die Augen gesehen – und ihm gedroht, dass er keine einzige Nacht in seinem restlichen Leben mehr in Frieden schlafen würde.“ Ein winziges Lächeln huschte über ihre Mundwinkel, erreichte aber die Augen nicht. Statt dessen stand eine steile Falte auf ihrer Stirn, Kundschafterin der Kopfschmerzen, die nun mit Macht durch ihre Stirn marschierten. „Er ist davongerannt. Und hat sich seitdem ferngehalten.“ Die Priesterin schloss die Augen – nicht glücklich mit den Erinnerungen. „Ich weiß, es wäre selbstsüchtig gewesen, Dwarosch. Aber ich hätte mich gewehrt.“ Unsicherheit lag in ihrer Stimme, und Trauer über die Abgründe, die sie an sich selbst sah. „Du hast so viel für mich getan, Dwarosch – ich stehe so tief in Deiner Schuld. Und zum Dank behellige ich Dich mit meinen kleinen Problemen. Verzeih’ mir bitte.“ Er hatte sie ausreden lassen, auch wenn es ihm schwer gewesen war. Jetzt jedoch hatte er einiges zu sagen. Dinge die ihn die halbe Nacht im Geiste beschäftigt hatten. “Du musst mir nicht danken. Was ich getan habe, ist weiterhin ein Bruchteil dessen, was ich dir seit Mendena schulde. Doch geht es längst nicht mehr darum, oder?“ Marbolieb überlegte schweigend einige Augenblicke lang. Schließlich nickte sie versonnen, schmiegte ihren Kopf enger an seine Schulter und atmete tief aus. „So ist es besser.“ „Mirla ist mir ans Herz gewachsen, ich wollte nicht, dass sie fern von dir aufwächst und ich konnte diese Ungerechtigkeit, dich zu etwas zwingen zu wollen, nicht so stehen lassen. Mein Bergungsaktion war eine Strafe für diese beiden Pfaffen, dass sie nicht mit allem durchkommen. Dich unglücklich zu wissen war etwas, dass meinem Sein widersprach.” Eine Aussage, die sich für Dwarosch seltsam formuliert anhörte. Er wusste jedoch nicht, wie er es hätte anders sagen sollen. Es entsprach im Grunde am besten dem, was er gefühlt hatte im Tempel der Travia. “Es dauert mich jedoch, dass eine Heimkehr für dich nach Calmir nun mit einigen Schwierigkeiten verbunden sein wird.” Ehrliche Besorgnis lag in seiner Stimme, die auf einmal etwas rauer klang als üblich. “Ich hoffe, dass du dich mit dem Gedanken anfreunden kannst erst einmal hier zu bleiben mit Mirla.” Die Geweihte entspannte sich merklich und genoss ihre angenehme, warme und geborgene Lage. „Ich bin dankbar für Deine Gastfreundschaft, Dwarosch. Ich komme sehr gerne mit.“ Sie kräuselte ihre Nase, als seine Haare sie kitzelten, und diesesmal erreicht ihr Lächeln ihre Augen. „Ganz unrecht hatte Ihre Hochwürden Ganslieb nicht. Mirla könnte ich jetzt nicht allein versorgen.“ Sie seufzte und schloss die Augen. Mirla nutzte die Gelegenheit, richtete sich auf und verkündete mit ungnädigem Greinen, dass die Nacht lange genug gedauert habe und sie gelangweilt, nass und hungrig sei. “Ich glaube sie hat dich verstanden”, brachte Dwarosch lachend hervor und schüttelte seine müde Trägheit endgültig ab, während er sich aufsetzte. “Auf. auf, ihr faulen Hunde. Es ist Zeit für ein kräftiges Frühstück. Danach brechen wir umgehend auf Richtung Heimat”, rief der Oberst immer noch mit amüsierten Unterton und es war deutlich, wie seine ungewöhnliche Betitelung gemeint war. Die so unsanft in ihrem Schlaf gestörten regten sich nun auch auf ihren Lagern, was Dwarosch abermals ein Grinsen abverlangte. Er griff nach Marboliebs Händen, um sie mit hochzuziehen, als er sich daraufhin aufrichtete. Nachdem die Geweihte sicheren Stand gefunden hatte hob er Mirla auf seinen Arm und schritt gemeinsam mit ihnen vorsichtig zu dem einfach gehaltenen Tisch der Schutzhütte herüber. Marbolieb bugsierte er behutsam auf einen der Schemel, bevor er ihr ihre Tochter in die Arme legte. An diesem Morgen wollte der Oberst persönlich dafür Sorge tragen, dass das Mahl aufgetischt wurde und machte sich daran alles nötige aus den Rucksäcken hervor zu holen. Marbolieb drückte ihre Tochter an sich, die, noch immer nass und hungrig, zunehmend energischer brüllte. Je mehr sie strampelte, desto schwerer stützte sich die Geweihte auf den Tisch und desto fester wurde ihr Griff um das Kind, das sich partout weigerte, sich beruhigen zu lassen. Vollkommen verzweifelt und überfordert mit dem Ganzen begann sie zu weinen. Dwarosch hielt in seinem Tun inne, als er Marboliebs Verzweiflung registrierte. Er musste sich um Mirla kümmern, denn das konnte sie in ihrem derzeitigen Zustand nicht. Sie hatte es ihm gesagt. „Es tut mir leid“, sagte Dwarosch leise und auch ein wenig beschämt. „Ich hätte dir besser zuhören sollen.“ Er nahm Mirla wieder an sich und holte rasch den Rucksack, den Amalvin und Ramiro der Geweihten gepackt hatten. Darin befanden sich auch Sachen für ihre kleine Tochter. Eine Decke aus Wolle platzierte der Zwerg auf eine noch freie Stelle auf dem Tisch, dann machte er sich langsam und mit unbeholfenen Handbewegungen daran, Mirla auszuziehen. Sie im Anschluss zu säubern war dank der Tatsache möglich, dass sie am Vorabend noch einen Eimer mit Schnee ans Feuer gestellt hatten, so dass sie nun über zumindest lauwarmes Wasser verfügten. Dies tröstete den Oberst aber wenig darüber hinweg, dass er sich wie ein Trottel vorkam, der über jeden Handgriff mehrfach nachdachte, bevor er ihn verrichtete. Das Anziehen dann ging ihm schon wieder etwas leichter von der Hand, so dass er sein Werk am Ende ein wenig skeptisch, aber dennoch nicht vollkommen unzufrieden begutachtete. Beim Essen für Mirla zubereiten konnte Dwarosch ja bereits auf eine Mahlzeit Erfahrung zurückgreifen und bediente sich dieser einfachheitshalber. Für den Weg bis nach Senalosch würde es reichen. Unterwegs konnte man ihr sicher auch so etwas weiches Brot geben, nun aber sollte es wieder die angereicherte, nahrhafte Milch sein. Währenddessen hatten auch Richhild und Ramiro am Tisch Platz genommen und sorgten nun dafür, dass auch die mehr oder minder Großen alles finden würden, wenn sie zu Frühstücken benötigen würden. Amalvin, der die letzte Wache gehabt hatte, kam gerade rechtzeitig von seiner Morgentoilette aus dem Schnee zurück ins Innere der Hütte, um gemeinsam mit den Gefährten, die sich zu diesem Zeitpunkt alle am Tisch eingefunden hatten, zu essen.

Noch einige Tage nahm die gemeinsame Reise in Anspruch, Tage, in denen sich die Reisegesellschaft immer mehr in ihre Aufgaben fand. Nicht gut war es mit der Gesundheit der Geweihten bestellt, an deren Kräften die anstrengende Reise im Schnee merklich zehrte – im Gegensatz zu ihrer Tochter, die das Abenteuer nach den ersten Schwierigkeiten zunehmend mehr genoss, auch wenn sie den Männern ungeahnte Aufgaben – und deren heldenhaftes Meistern – bescherte. Dennoch war bei allen die Erleichterung spürbar, als die ersten Rauchsäulen aus den Essen Senaloschs sich am Horizont abzeichneten, Wärme, und vor allem ein Ende der Reise verheißend.
Und, in einem Fall, auch ein Ankommen zuhause.