Prozessakte 'Wina Mockenstock'

Rohalstag, der 11. Peraine 1045 auf Gut Kranickteich

Teilnehmer

Die Verhandlung

Zur Praiosstunde haben sich im großen Saal des Guts Kranickteich als Friedensgericht der Edle Fulco von Kranickteich als Landesherr und Richter sowie dessen Gattin, Sabea von Kranickteich, Geweihte der Peraine, als erste Beisitzende, versammelt, um Gericht zu halten und Recht im Namen des Götterfürsten Praios zu sprechen. Als zweiter Beisitzer ist dem Gericht der Edle Ulfried Tommeldan von Argenklamm, ehemaliger Scholar der Tempelschule des Rechts im Haus der Sonne zu Gratenfels, zu diensten, der auch das Amt des Protokollarius übernehmen wird. Der Saal war einfach eingerichtet, stabile und robuste Holztische und Stühle. Für den Prozess war er umgeräumt worden, ein langer Tisch als Tisch des Gerichtes an der Stirnseite, dahinter eines der wenigen Schmuckstücke an der Wand, ein Wandteppich mit dem Wappen derer von Kranickteich, an den Seitenwänden die Bilder der bisherigen (verstorbenen) Edlen des Gutes (eine Familientradition). Angeklagt ist die Gemeine Wina Mockenstock, Tochter eines Freien aus dem Albenhus’schen, sich schuldig gemacht zu haben der Hehlerei. Die Angeklagte saß mit einigen Schritt Abstand Fulco von Kranickteich gegenüber, im hinteren Bereich saßen, als Zuschauer des Prozesses, die wichtigsten Bürger des Ortes.

Fulco stand auf, nachdem sich die Unruhe des Ankommen gelegt hatte, und räusperte sich kurz. Er schaute sich kurz im Saal um und wartete einen Augenblick, bis auch das letzte “Gemurmel” aufhörte. Wer ihn gut kannte, merkte ihm seine leichte Beklemmung an. Trotzdem sprach er mit fester und ruhiger Stimme: “Wir haben uns heute zusammengefunden, um über Wina Mockenstock zu urteilen!! Sie hat sich bewusst gegen die Gesetze der Lande gestellt und diese auf unserem Gut gebrochen. So hat sie in den Augen der Götter gefrevelt. Uns stehen zur gerechten Urteilsfindung ihre Gnaden Sabea von Kranickteich sowie seine Wohlgeboren Ulfried Tommeldan von Argenklamm, Edler von Kaltenklamm zur Seite. Ich danke euch im Namen der unteilbaren Zwölf für eure Unterstützung in dieser Angelegenheit.” Bei diesen Worten nickte Fulco in die jeweilige Richtung. “Möge der Götterfürst und seine Geschwister uns bei der Findung des Urteiles leiten. Wir bitten nun seine Wohlgeboren von Argenklamm die Anklage zu verlesen.” Hiernach setzte sich Fulco und deutete mit einer einladenden Geste und einem Lächeln zu Ulfried.

Nach der Eröffnung des Prozesses durch den Edlen zu Kranickteich, verliest der Edle zu Kaltenklamm die von ihm verfasste Anklage.

Der junge Edle erhebt sich umständlich und streicht sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht, ehe er sich laut hörbar räuspert und anschließend nochmals tief Luft holt: “Das Friedensgericht von Kranickteich ist heute zusammengetreten, um über die Gemeine Wina Mockenstock zu richten. Ihr wird aufgrund des Vorwurfs der Hehlerei der Inquisitionsprozess gemacht.” Kurz blickte Ulfried zu der Angeklagten auf, welche zusammengesunken auf einem kargen Stuhl direkt gegenüber des Herren von Kranickteich und dessen Gattin saß und verloren auf ihre zerschlissenen Stiefel starrte. Ehe er mit dem Procedere fortfuhr, lugte er aus dem Augenwinkel zu Fulco und eine Schweißperle lief ihm über die Stirn. Mit lauter, aber zittriger Stimme verlas er weiter: “Zudem klage ich sie der Störung der Tempelruhe sowie der Respektlosigkeit gegenüber der Obrigkeit an!” Dass Wina Mockenstock bei den letzten Worten mit weit aufgerissenen Augen zu ihm aufblickte, nahm Ulfried nicht wahr. Sein Blick war auf Fulco und dessen Frau gerichtet, welche er mit den zusätzlichen Anklagepunkten überrascht hat.

Fulco hörte dem jungen Mann aufmerksam zu. Bei den letzten Anklagepunkten schloss er kurz die Augen und stieß leise etwas Luft aus. Als er die Augen wieder öffnete, sah man Mitleid in ihnen.

Sabea wirkt aufgrund der Anklagepunkte kurz überrumpelt, sie runzelte die Stirn. Bei dem Anklagepunkt der gestörten Tempelruhe wurde ihr Blick kurz hart und unnachgiebig. Sie hatte ihre Gestik aber schnell wieder im Griff. Dann suchte sie kurz den Blick ihres Mannes. Sie sah Ulfried an und sprach mit klarer, gut hörbarer Stimme: “Könnt ihr die Anklagepunkte kurz erläutern euer Wohlgeboren? Ihr wart, wenn ich richtig informiert bin, bei der Ergreifung der Angeklagten zugegen. Da ich nicht vor Ort war, wäre ich euch für eine Beschreibung der angesprochenen Punkte äußerst dankbar.” Sie lächelte offen und freundlich in Richtung Ulfrieds.

“Ja, selbstverständlich gerne euer Wohlgeb…euer Gnaden!” Der Junge Edle wischte sich mit dem rechten Handrücken den Schweiß von der Stirn, während er mit der Linken zitternd das Schriftstück mit seinen Anklagepunkten in der Hand hielt. “Es verhält sich so,”, ein kurzes Räuspern folgte, “dass in einem Richtspruch des Jahres 538 nach dem Falle Bosparans unter seiner Hoheit Konradin ein geweihter Schrein, aequalis est, einem Tempel der Zwölfe gleichgestellt wurde. Die damals verhandelte Causa, eine Tötung durch ein unbotmäßiges Duell vor einem Schrein der Leuin, der überlebende Kombattant wurde zum Tode durch das Schwert verurteilt, findet meines Erachtens auch im hiesigen Falle Anwendung.” Mit jedem Wort schien die Stimme des Edlen fester zu werden. “Wir verhandeln hier immerhin über die Anbahnung, Planung und Durchführung eines Verbrechens an einem heiligen Orte.” Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand wedelte er zur Unterstützung seiner Worte durch die Luft. “Da die Angeklagte nach ihrer Ergreifung geständig gewesen ist, war sie sich der Schuld bewusst, wir müssen demnach einen casus dolus, mithin Vorsatz annehmen.” Der Edle von Kaltenklamm blickte nun auf und er traf die Angeklagte mit einem gestrengen Blick. “Ihre Flucht aus Erzenschöffer war demnach als Respektlosigkeit gegenüber der Obrigkeit zu werten, da sie vor diversen Edlen floh, welche sich um die Aufklärung des Falles bemühten. Auch hierzu gibt es einen Präzedenzfall aus dem Jahre 398 nach dem Falle Bosparans. Vor dem Blutgericht in Gratenfels von Praios’ Gnaden wurde seinerzeit ein flüchtiger Dieb, neben Brandzeichnung aufgrund Diebstahls, ebenfalls wegen Respektlosigkeit zu zwei Tagen Pranger verurteilt.”

Von der Angeklagten war während der Pause, die der junge Edle nun machte, ein leises Schluchzen zu vernehmen und an ihren Händen, welche sie vor ihr Gesicht gepresst hielt, tropften Tränen herab.

Ulfried atmete tief durch und wandt sich sodann mit einem stolzen Lächeln dem Ritter Fulco von Kranickteich zu.

Sabea nickte dem jungen Edlen freundlich zu. “Habt Dank euer Wohlgeboren.” Die Geweihte wirkte ernst und nachdenklich.

Fulco wandte sich mit einem anerkennenden Blick Ulfried zu. “Habt Dank für die ausführliche Anklageschrift.” Dann ließ er seinen Blick kurz auf Wina ruhen, ehe er mit fester und ruhiger Stimme weitersprach: “Das Wort gehört nun euch. Was habt ihr zu den vorgetragenen Anklagepunkten und zu eurer Verteidigung zu sagen?”

Die junge Frau schluchzte noch einige Male, ehe sie der plötzlichen Ruhe gewahr wurde und erschrocken aufblickte. “M…m…meint ihr mich?”, fragte sie erschrocken und blickte die Edlen vor sich reihum an. Behutsam strich sie sich mit den Zeigefingern die Tränen unter ihren Augenlidern weg. Mit einem mitleiderregenden Blick aus ihren grünen Augen wendete sie sich dann dem Ritter Fulco von Kranickteich zu: “Ja, hoher Herr, ich hab’s schon gesagt wie’s gewesen ist. Ich wollt’ doch keinem schaden. Hab’ mich sogar gefreut, dass ich den Leut’ so gute Preise machen kann…” In Ihren Augen sammelten sich erneut Tränen und ihre Lippen zitterten. “Ich hab’ nicht gefragt, woher er die Sachen hat, sonst hätt’ er die bestimmt an einen ander’n verkauft.” Nach einem erneuten Schluchzen rannen ihr wieder Tränen über das sommersprossige Gesicht, sodass sie dieses wieder in ihren Händen vergrub.

Der junge Edle von Kaltenklamm wusste zunächst nicht, wie er mit dem erneuten Gefühlsausbruch von Wina umgehen sollte und blickte unsicher abwechselnd von ihr zur Geweihten Sabea und wieder zurück, während er seine Worte an die Angeklagte richtete: “Ihr gesteht also, dass ihr vermutet habt, es handle sich um Hehlerware?!?”

Von Wina kam als Antwort nur ein stetes Nicken, während das Gesicht weiter durch ihre Hände verdeckt wurde.

Sabea hörte aufmerksam zu. Dann richtete sie sich mit sanfter Stimme an die Angeklagte: “Was habt ihr zu den anderen Vorwürfen zu sagen, die seine Wohlgeboren vorgebracht hat?”

Fulco beugte sich bei der Frage seiner Gattin leicht vor und beobachtete aufmerksam die Reaktion von Wina.

Die junge Frau blickte mit geröteten Augen zu der Edlen auf und verzog dabei die Schnute, sodass sie ein mitleiderregendes Bild abgab. “Das mit dem Tempel?” Ihr blick wanderte vorsichtig zu Ulfried von Argenklamm, dann jedoch schnell wieder zurück zur Edlen im Geweihtenornat. “Ja, das wusst’ ich nicht. Also schon, dass es ein Tempel war, früher. Aber nicht, dass es nicht erlaubt ist, sich dort zu treffen.” Nach einem kurzen Schlucken fügte sie hinzu: “Und respektlos war ich zu dem Herr’n von hier nicht! Ich war nett und hab’ mich auch gleich festnehmen lassen und dem Herr’n alles erzählt!” Aufgeregt nickte sie bei den letzten Worten Fulco zu.

Fulco hatte der Frau aufmerksam zugehört und nickte bei den Worten der Frau. “Nun, das entspricht der Wahrheit, auch wenn ich zu Beginn schon etwas konsequenter nachfragen musste, um die Antworten zu erhalten. Als wir euch gestellt hatten, wart ihr zugänglich. Allerdings wusstest ihr, dass wir in Erzenschöffer durchaus nochmal mit Euch sprechen wollten und seid in einer Nacht- und Nebelaktion quasi geflohen. Dieses Verhalten zeigt schon eine gewisse Respektlosigkeit gegen die Obrigkeit, allerdings will ich euch auch eine gewisse Angst zugute halten.”. Fulco wirkte nachdenklich und etwas verwirrt.

Sabea wartete geduldig, bis ihr Gatte ausgesprochen hatte. Sie dachte kurz nach. Sie wendete sich an ihren Gatte und murmelte ihm kurz ins Ohr. “Wer Angst hat, verbirgt in der Regel etwas.” Dann drehte sie sich in Richtung der jungen Frau auf der Anklagebank zu und sagte mit ruhiger, klarer Stimme: “Nun, es ist natürlich nicht verboten, sich in der Kapelle der Heiligen Lechmin von Weiseprein zu treffen bzw. diese zu nutzen. Aber muss euch doch klar sein, dass auf dem Boden, welchem dem Gott der Wahrheit geweiht wurde, keine zwielichtigen Geschäfte gemacht werden können, ohne Götter Fürsten zu freveln?”. Es klang etwas Unglaube in der Stimme der Geweihten bei den letzten Worten mit, sie schaute Winna auffordernd an.

Die junge Frau blickte zu Boden, während sie laut zu weinen begann. Das einzige Wort, welches sie noch hervorbrachte, war ein zitterndes: “Ja.”

Ulfried von Argenklamm nickte bestätigend und sein Gesicht verriet einen Ausdruck von Besorgnis. Er betrachtete die Angeklagte noch kurz mit zur Seite geneigtem Kopf, dann wandt er sich dem Edlen von Kranickteich zu und räusperte sich kurz, ehe er zum Sprechen anhob: “Wenn Euer Wohlgeboren gestattet, so würde ich gerne das als statthaft erachtete Strafmaß der Anklage vortragen. Bezüglich der Schuld der Angeklagten dürften keine Zweifel mehr bestehen.”

Fulco nickte dem jungen Mann kurz zu, sein Gesichtsausdruck war ernst und angespannt. Er mochte diese Pflichten des Lehnsherren gar nicht. Er holte nochmals kurz Luft und setzte mit ruhiger, traurig klingender Stimme an: “Tut dies euer Wohlgeboren. Ich möchte allerdings anmerken, dass die Angaben der Angeklagten maßgeblich dazu beigetragen haben, ein anderes und mindestens ebenso schwerwiegendes Verbrechen aufzuklären. Wenn dies begünstigend bedacht werden kann, tut dies bitte ebenfalls.”

Sabea schaute die junge Frau mitfühlend an. Die junge Frau hat wirklich keinen guten Stand in dieser Sache. Die Geweihte schüttelte traurig den Kopf und lauschte ihren beiden Mitrichtern.

“Ja, äh…euer Wohlgeboren.” Ulfried wirkte etwas überrascht und schüttelte kurz seinen Kopf. “Selbstverständlich werden solche Sachverhalte…ähm…berücksichtigen. Also aber…ähm…das finale Urteil habt ihr zu fällen!” Es folgte eine kurze Verneigung in Richtung des vorsitzenden Richters, ehe der junge Edle sich wieder zur Angeklagten drehte und einmal tief Luft holte. Mit fester Stimme begann er zu verlesen: “Die Gemeine Wina Mockenstock hat sich schuldig bekannt der Hehlerei in mehreren Fällen, der Störung der Tempelruhe sowie der Respektlosigkeit gegenüber der Obrigkeit. Bezüglich des Vorwurfs der Hehlerei übernimmt das Friedesgericht in Ermangelung eines Accusator diese Rolle. Statt auf Compensatio, mithin Ausgleich, zielt die Strafe in einem solchen Inquisitionsprozess auf Abschreckung und Buße ab.” Ulfried blickte von seinem Papierbogen auf und lugte zur Angeklagten hinüber, die noch immer zusammengesunken auf ihrem Stuhl saß. “Primis! Die Anklage erachtet es für statthaft, die betroffene Ware zu beschlagnahmen. Da es sich um Hehlerei in mindestens einem weiteren Falle handelt, mag die Gemeine mit einer zusätzlichen Geldstrafe belegt werden, die sich mangels bekannter Forderungen der von ihr geschädigten Personen nach dem Prinzip idem est an dem Wert der beschlagnahmten Ware bemessen soll. Ihr soll hierbei zugute kommen, dass sie geständig gewesen ist und Reue zeigt, sodass ein Factor von zwei Dritteln als gerecht gesehen werden kann. Die zusätzliche Geldstrafe betrüge sodann 43 Dukaten, 7 Silberlinge und einen Heller und ist an das Friedensgericht zu Kranickteich zu entrichten.” Der junge Edle atmete kurz durch, ohne seinen Blick zu heben. “Secundos! Für die Störung der Tempelruhe sieht das heilige Recht die Prüfung der Frömmigkeit und die Möglichkeit der Buße als optima solutio vor, sofern die Seele der angeklagten Person nicht bereits als verloren gelten muss. Das…ähm…möchten wir mangels entsprechender Erkenntnisse jedoch ausschließen.” Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn. “Ein Bußgang zur Kapelle der heiligen Lechmin oder einem anderen Schrein oder Tempel des Herren Praios, gefolgt von einer Stunde des Gebets und der Einkehr zur Läuterung der Seele der Angeklagten, sehen wir daher als Empfehlung an das Gericht.” Ein kurzes Räuspern. “Tertius et finis! Aufgrund der Respektlosigkeit gegenüber der Obrigkeit fordern wir…und, ähm…somit auch ich als Betroffener,”, Ulfrieds blick schwiff kurz zu Fulco, “...Ausgleich in Form einer öffentlichen Ermahnung der Angeklagten durch das Gericht sowie eine formelle Entschuldigung durch die Gemeine Wina Mockenstock, welche schriftlich niederzulegen und den betroffenen Edlen zuzustellen ist. Die Kosten hierfür sind der Angeklagten aufzuerlegen und werden mit sieben Dukaten und acht Silbertalern veranschlagt!”

Nachdem der Edle von Kaltenklamm die letzten Worte verlas, schien die Anspannung von ihm abzufallen und seine Haltung erschlaffte. Er wollte sich gerade umwenden um sich auf seinem Stuhl abzustützen, als plötzlich die Angeklagte aufsprang, vor ihn trat und mit beiden Händen um seine Unterarme griff. Erschrocken fuhr er zusammen und blickte mit weit aufgerissenen Augen in das Gesicht von Wina. “Habt Dank hoher Herr! Ich will alles machen wie ihr’s gesagt habt! Ich dacht’, ihr wollt’ mich hängen sehen!” Während des letzten Satzes quollen wieder dicke Tränen aus ihren hellen, grünen Augen und kullerten über ihr zartes, mit Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht.

Ulfried konnte nicht anders, als ihr hübsches Antlitz einen Moment zu betrachten, ehe ihm die Hitze und Röte zu Kopf stieg und er sich grober als beabsichtigt von ihr los riss. Hierbei kam er ins Straucheln und fiel mit dem Hintern noch gerade so auf den Stuhl hinter ihm, auf welchem er nun wenig vorteilhaft saß. “Wir…wir…wir dürfen gar niemanden hängen lassen! Wir sind ein Friedensgericht!”, rief er der Angeklagten entgegen, als wolle er ein kleines Kind für eine ungebührliche Bemerkung schelten.

Sabea hörte dem jungen Mann interessiert und aufmerksam zu. ´Er weiß wirklich, wovon er spricht. Wie Schade für ihn, dass er seine Ausbildung nicht beenden konnte.` Dann schweiften ihre Gedanken kurz ab `Was ein schmucker und intelligenter junger Mann aus Ulfried geworden ist, genauso wie Fulco ihn beschrieben hat. Schade, dass er zu alt für unsere Lioba ist, er wäre ein vortrefflicher Schwiegersohn´ Bei der Reaktion des jungen Edlen auf die körperliche Berührung der Angeklagten musste die Geweihte kurz schmunzeln, hatte ihr Antlitz aber schnell wieder im Griff.

Fulco nickte bei den letzten Worten von Ulfried in die Runde und sammelte sich kurz. Dann erhob er sich von seinem Sitz und sprach mit gesetzter ruhiger Stimme an Winna gewandt: “Ich bitte euch, tretet wieder an euren Platz zurück” Nachdem die junge Frau wieder an ihrem Stuhl stand, sprach er weiter und schaute zu Sabea “Euer Ganden, ihr habt die Anklageschrift vernommen. Habt ihr Einwände oder etwas hinzuzufügen?”

Sabea schaute ihren Mann liebevoll an. Mann konnte der Geweihten ansehen, dass ihr die junge Frau leid tat. Dann schüttelte sie unmerklich den Kopf: “Nein, euer Wohlgeboren. Die Anklageschrift ist klug und gut formuliert.“ Hier lächelte sie kurz in Ulfrieds Richtung. “Die Schuld der Angeklagten steht einwandfrei fest.”

“Ich danke euch für die vortrefflich formulierte Anklageschrift euer Wohlgeboren, auch euch Dank für eure Einschätzung euer Gnaden.” Dann wandte Fulco seine Aufmerksamkeit wieder der jungen Frau auf der Anklagebank zu: “Hiermit verkünden wir Kraft unseres von den Göttern gegeben Amtes im Namen der Götter und unserer hochwohlgeborenen Landesherrin folgendes Urteil: Die Gemeine Winna Mockenstock wird in den Anklagepunkten der Hehlerei, der Störung der Tempelruhe sowie der Respektlosigkeit gegenüber der Obrigkeit als Schuldig befunden. Ihr wird durch dieses Friedensgericht auferlegt, eine Summe von 43 Dukaten, 7 Silbertalern und 1 Heller an das Friedensgericht zu Kranichteich zu entrichten. Ferner wird die Hehlerware durch die Obrigkeit eingezogen. Der Angeklagten wird auferlegt, eine formelle Entschuldigung in Schriftform an die betroffenen Edeldamen und -Herren zu verfassen. Diese wird den betroffenen Personen zugestellt, wofür der Gemeinen ein weiterer Betrag von 7 Dukaten und 8 Silbertalern berechnet wird. Zu guter Letzt wird ihr aufgetragen, einen Bußgang in die Wehrhallen des Praios, den Tempel des Götter Fürsten zu Elenvina, zu begehen. Möge sie dort in mindestens einer Stunde innigen Gebetes um Läuterung für ihre Taten bitten und sie die Gnade des Lichtbringers und seiner Geschwister ereilen.” Fulco dachte kurz nach und holte nochmal kurz Luft, bevor er sich erneut an die Angeklagte wandte und mit gestrenger Stimme sprach “Winna Mockenstock nehmt ihr dieses Urteil an?”

Die junge Frau schlich nach der Aufforderung durch Fulco wieder an ihren Platz zurück und setzte sich. Sie schien zudem immer noch überrascht über ihr forsches Auftreten. Und wohl auch über die Reaktion des jungen Edlen. Geduldig lauschte sie den Ausführungen des wohlgeborenen Richters und nickte bei beinahe jedem Wort erleichtert. Auf die finale Frage antwortete sie sodann auch nickend und im Brustton der Überzeugung: “Ja, edler Herr, das will ich tun!” Dann kniff sie die Augen zusammen und neigte den Kopf leicht zur Seite, als sie kleinlaut ergänzte: “Wie muss ich das denn zahlen hoher Herr? Ich hab’ nur ein paar Dukaten bei mir.”

Noch bevor Fulco etwas erwidern konnte, platzte es aus Ulfried, der sich auf seinem Stuhl mittlerweile zurechtgerückt hatte, heraus, wobei er um einen festen Klang seiner Stimme bemüht war: “Euer Pferd! Es ist sicher mehr wert als die Strafe beträgt.” Er vermied es, die Angeklagte direkt anzublicken. “...oder aber die Schuldknechtschaft.”

“Was heißt das, edler Herr?”, fragte Wina vorsichtig und blickte dabei zwischen Fulco und Ulfried hin und her.

Fulco schaute kurz irritiert auf, fing sich aber schnell wieder und nickte nach den Worten von Ulfried. “Nun, wie seine Wohlgeboren schon sagte. Wir werden euer Pferd in einbehalten und es entweder veräußern oder euch bei Begleichung der Summe wieder aushändigen.”

“Ja aber wie soll ich denn ohne meinen Alrico nach Gauhaven kommen?”. In dem Gesicht der jungen Frau zeigte sich Unverständnis. “Zu Fuß und ohne Geld komme ich erst in Wochen an…und muss unterwegs verhungern!”

“Welches Gewerk habt ihr denn gelernt?” Ulfried von Argenklamm war die wieder aufkeimende Verzweiflung der Angeklagten sichtlich unangenehm. Er versuchte seine Stimme beruhigend klingen zu lassen.

“Ge…Gewerk?” Wina blickte überrascht zu Ulfried. “Äh…mein Vater ist Flussfischer. Und ich hab’ dann angefangen, den Fang auf dem Markt zu verkaufen. Und dann hab’ ich auch noch die Eisenwaren vom Olbert mitgenommen und hab’ die auch verkauft. Und die gingen viel besser. Und in Albenhus hab’ ich noch mehr dafür bekommen. Deswegen hab’ ich dann in Gauhaven auch die anderen Schmiedesachen gekauft. Werkzeuge, kleine Waffen, sogar Eisennägel. Da konnt’ ich mit dem Preis noch immer ‘drüber gehen in Albenhus.” In dem Gesicht der Angeklagten war ein gewisser Stolz zu sehen.

Sabea hatte dem Wortwechsel zugehört. “In Grauhaven habt ihr aber die Mittel eure Schuld zu begleichen? Und wie lange benötigt man bis dort auf dem Pferd?”

Die Worte der Geweihten schienen wieder Hoffnung in ihr aufkeimen zu lassen. Wina rückte auf ihrem Stuhl hin und her, bis sie ganz aufrecht saß. Dann legte sie die Hände in ihren Schoß und lächelte Sabea gewinnend an. “Wenn ich reite wie der Wind, will ich’s in zwei Tagen bis Gratenfels geschafft haben. Dann kommt die Reichsstraße, dann geht’s flugs, da sind es…hmmm…vier oder vielleicht fünf Tage bis Albenhus. Ja und dann bin ich schon beinahe da!” Sie nahm ihre Finger zuhilfe und zählte daran herunter. “Ich würde sagen, in zwei Wochen kann ich’s hin und wieder zurück schaffen!” Sie biss sich sodann auf ihre Lippen, ehe sich ihre Augen wieder weiteten und sie noch schnell hinzufügte: “Das klingt für die edle Dame vielleicht nach viel, aber wenn ich mich Anfang Tsa auf den Weg mache, dann bin ich meist erst Anfang Phex im Gratenfels’schen!”

Sabea nickte kurz in sich hinein: “Und eure Mittel dort reichen aus, um die Schuld zu begleichen?”

Fulco hörte dem Wechsel zwischen seiner Gattin und der jungen Frau mit leicht gerunzelter Stirn zu. `Was hat sie vor?`, schoss es ihm durch den Kopf?

Wina nickte eifrig: “Das will ich behaupten!”, sagte sie mit deutlich hörbarem Stolz in der Stimme.

Ulfried folgte dem Wortwechsel der beiden Damen neugierig, mischte sich jedoch nicht ein.

Sabea nickte bei den Worten der jungen Frau und wandte sich an ihren Gatte: “Euer Wohlgeboren, warum sollten wir sie nicht mit ihrem Alrico in ihre Heimatstadt reisen lassen, begleitet von Kulman.“ Dabei zeigte sie auf den jungen Büttel von Kranickteich. ”Aktuell ist die Lage ruhig und sein jüngerer Bruder Arvid kann ihn in seiner Abwesenheit vertreten, dies hat er bei Krankheit ja auch schon gemacht. Dann soll Kulman sie hin und zurück begleiten, damit sie im Anschluss den Bußgang antreten kann. Was haltet ihr davon?” Sie blickte bei ihren Worten auch kurz zu Ulfried, um seine Reaktion einzufangen.

Fulco hörte Sabea aufmerksam zu und schmunzelte. `Wenn es etwas gibt, was größer als ihr Verstand ist, ist es ihr Herz.` Dann räusperte er sich und nickte, bevor er sich an den Büttel wandte: “Kulman, wärt ihr zu dieser Aufgabe bereit? Immerhin würden sie euch ein paar Wochen von Heim und Kind fernhalten?”

Der Angesprochene erhob sich von seinem Platz: “Wenn es euer Wunsch ist und der Wille des Gerichts, bin ich natürlich dazu bereit.” Dann setzte er sich wieder.

Die Angeklagte setzte ein bezauberndes Lächeln auf und erhob sich einig von ihrem Sitz, um eine handvoll Schritte nach vorne zu eilen und vor Sabea von Kranickteich auf die Knie zu sinken. Sie faltete die Hände und reckte sie der Geweihten entgegen. Bevor sie zu sprechen anhob, blinzelte sie mit ihren hellen, grünen Rehaugen noch eine Träne weg. “Habt Dank hohe Dame, bei allen Zwölfen, habt Dank! Eure Güte werd’ ich nicht vergessen und ich will euch nicht enttäuschen!”

Ulfried hatte sein Kinn auf seine rechte Hand gestützt und Mittel- und Zeigefinger auf seine Wange gelegt. So war das zufriedene Lächeln, welches seine Lippen umspielte, als er Winas Ausbruch der Freude beobachtete, nur schwer zu erkennen.

Fulco erhob sich erneut von seinem Sitz: “Dann sei es so, wie besprochen. Ihr werdet morgen im Morgengrauen aufbrechen. Wenn niemand mehr etwas zu sagen hat, wird die Verhandlung geschlossen.” Nachdem die Angeklagte von Kulman bis zur Abreise wieder in Obhut genommen worden war und das Volk sich zerstreut hatte, sah man Fulco die Erleichterung an, dass die Sache erledigt war.

Sabea gab ihrem Mann einen Kuss auf die Stirn: “Gut gemacht.“, sagte sie lächelnd. Dann schaute sie Ulfried an: “Sei noch ein paar Tage unser Gast. Fulco sagte mir, dass ihr beide noch etwas mit mir besprechen wollt. Und du weißt, Frauen sind neugierig.” Bei den Worten lächelte sie Ulfried freundlich an.

Ulfried blickte noch für einen Moment gedankenverloren Wina nach, als der Büttel sie abführte, ehe ihn die Ansprache der Geweihten aufschreckte. “Ähh…ja, gerne doch.” Dann schien er einen Moment zu überlegen. “Achso, ja”, ein Grinsen zog sich über sein Gesicht, und er zwinkerte Fulco zu, “ihr werdet bald Zuwachs erhalten, aber keine Bange, er ist bereits aus dem Gröbsten heraus.”

Epilog

Am Morgen des 12. Peraine 1045 BF diktiert die Verurteilte Wina Mockenstock ihr Entschuldigungsschreiben dem Edlen Ulfried von Argenklamm:

“Gutshof Kranickteich, 12. Peraine 1045 BF

Sehr geehrte Edel- und Rittersleut’,

mein Name ist Wina Mockenstock und ich möchte mich untertänigst bei Ihnen entschuldigen. Dass ich in Erzenschöffer so überstürzt geflohen bin und den hohen Herrschaften damit so viel Ärger bereitet habe, tut mir leid. Ich hatte Angst, dass mir etwas Schlimmes passiert, weil mir klar wurde, dass mit den Eisenwaren, die ich verkauft habe, etwas nicht stimmt. Dafür habe ich meine Strafe jetzt erhalten und werde auch noch einen Bußgang zum Praiostempel nach Elenvina machen.

Ich bitte die hohen Herrschaften nochmals um Verzeihung und verspreche, dass ich nie wieder etwas Verbotenes tun werde, die Zwölfe seien mein Zeuge!

Reumütigst

Wina Mockenstock, Gemeine

(Nach Diktat niedergeschrieben von Ulfried von Argenklamm)”

Das Entschuldigungsschreiben wurde taggleich an Lysander Quintin von Eisenfels, Irminella Ermine von Eberbach und Peranna Sabea von Graupen versandt.

Am Vormittag des 19. Peraine 1045 BF überreicht die Verurteilte dem Büttel Kulman in Albenhus die Summe von 52 Golddukaten, mit welcher dieser am 27. Peraine 1045 BF nach Kranickteich zurückkehrt. Nach seiner Rückkehr gab er zu Protokoll, dass "die Reise völlig ohne irgendwelche Besonderheiten" abgelaufen sei.

Ob und wann Wina Mockenstock ihren Bußgang nach Elenvina angetreten hat, ist nicht bekannt.