Harschfeld

Harschfeld

Landschaft in BaronieBollharschen.

Wenn am nächsten Morgen die Praiosscheibe aufgeht und der Wanderer die EisenPforte schlussendlich durchschreitet, erreicht er das Harschfeld, eine karge, von seltsamer Poesie erfüllte Hochebene, deren Name sich weniger von der winterlichen Schneedecke als vielmehr von den heute unsichtbaren Gletschern ableitet, die vor Menschengedenken das gesamte Plateau bedeckten und von denen jetzt nur noch die sanfte, ebene Bodenbeschaffenheit kündet. Zahlreiche Geröllfelder prägen heute das Bild, ebenso wie weite, von Heidekraut und Krüppelkiefer sowie anderem niedrigen Gesträuch bedeckte Flächen.

Die schulterhohen Decken einiger oft halbverfallener, von Brennnesseln und Sauerampfer umringter Steinhütten zeugen von einer vergangenen Zeit, als die Bewohner der Twergenwacht hier in großer Anzahl ihre Ziegen hüteten – auf der Oberseite ihrer Höhlen, die sich hier unter der Erde im porösen Kalk viele Meilen entlang ziehen. Doch längst haben die meisten unter den Angroschim das Harschfeld aufgegeben und sich in ihre unterderischen Behausungen zurückgezogen, und viele ihrer Hirtenhütten sind entweder verfallen oder werden von menschlichen Schafhirten genutzt. Nur selten aber erblickt man noch einen jener geheimnisvollen, kurzbeinigen Herdenhüter mit der Flöte in der Tasche und, den Wölfen und Wegelagerern zur Wehr, der Axt auf der Schulter. Nur selten auch erklingt noch der alte Name Shakadok, Grubenwiese, mit dem sie die Hochebene über ihren Höhlen und Stollen einst bedachten.


Auf dem ungastlichen, trockenen Plateau, dessen spärliche Niederschläge und Schmelzwasser meist sofort im porösen Untergrund versickern, weht stets ein kalter Bergwind. Kaum jemand außer einigen menschlichen Schaf- und zwergischen Ziegenhirten harrt hier freiwillig so lange aus, wie es nötig wäre, um die Schönheit der Jahreszeiten zu erkennen, die dem aufmerksamen Wanderer hier den Eindruck vermittelt, sich auf der Leinwand der Götter zu bewegen.
Winters ist das ganze Harschfeld wie von einem zunächst blütenreinen, später schmutzigweißen Laken bedeckt; nur an einzelnen grauen Findlingen und Felsbrocken sticht eine andere Farbe hervor. Die – gleichwohl hohen – Gipfel, die das Plateau umgeben, erscheinen dem Reisenden wegen der Höhe, auf der er sich befindet, wie niedrige Erhebungen; und da bis auf gelegentliche Spuren von Schneehase und Gemse kein Leben zu erkennen ist, mag er sich in seiner Einsamkeit näher am Himmelsgewölbe wähnen als an irgendeinem anderen

Ort auf der gesamten ViaFerra.
Frühlings tränkt der schmilzende Schnee die zunächst noch erdbraunen Bergmatten und Almen, auf denen dann Tsa unzählige Blumen wie den seltenen Tulamidenbund knospen lässt. In den langen Schatten der südlichen Grate bleiben jedoch zahlreiche vereinzelte Flecken weiß bedeckt, und so grenzt oftmals Firuns Schneefeld an Rondras Feuerlilie.
Im Sommer schießen Zittergras und Kratzdistel in die Höhe, vielerorts gedeihen Preiselbeeren und das unvermeidliche, oft bis mannshohe Weidenröschen, das eher an ein Unkraut denn an ein Geschenk Tsas denken lässt; die Geröllfelder speichern die Hitze der Sonne und verwahren Kühle und Wasser tief unter ihrer Oberfläche, und kein Baum spendet Schatten. Praiodeus Viburian von Halsing besuchte diesen Ort zur Sommersonnenwende und rühmte ihn, da hier „der Mensch einen körperlichen Eindruck von Praios’ Macht erlangen und in Demut vor seinen Gott treten könne“.

Der Herbst bedeckt das Plateau mit leuchtend roten und gelben Farben, denn viele Bäume wachsen als niedrige Sträucher dicht an Sumus Leib und kleiden sich in den Trachten der Jahreszeit. Windhosen brausen verspielt über das Plateau und wirbeln das Laub in die Luft; schließlich werden Blätter und Boden braun, bis ihn Firun wieder weiß bemalt.

Zu jeder Zeit aber wird das Harschfeld dem empfindsamen Beobachter den Eindruck im Gedächtnis brennen, in wilder Abgeschiedenheit allein auf der Welt zu sein.
Im Laufe der Jahrhunderte haben die Herdentiere rings um die Straße unzählige Pfade in ihre Weidegründe getrampelt, so dass die eigentliche ViaFerra, falls sie sich nicht ohnehin unter dem Kleid des Wintergottes verbirgt, im Geflecht der vielen staubbraunen Adern oft kaum mehr zu erkennen ist. Nur selten begegnet man wieder den Steinhäufchen, die den Weg anzeigen, die übrige Zeit weiß man nicht, ob man hinauf- oder hinabsteigen oder auf gleicher Höhe bleiben soll. Das war übrigens in früheren Zeiten der Grund für einen ständigen Zwist unter den menschlichen und zwergischen Schaf- und Ziegenhirten, die jeweils einen Teil des Plateaus für ihre Tiere beanspruchten und deren Herden sich oft auf der weiten Ebene vermischten. Sogar die spärlichen Wasserläufe, unter ihnen der vom GutDrachentrutz herabfließende BachDrachquell, verlieren sich in unzähligen Mäandern, ehe sie schließlich irgendwo unter der Erde versickern, wo sie die Tropfsteinhöhlen der Zwerge entstehen lassen.

Von den wenigen menschlichen Schafhirten, welche im Sommer die auch von ihnen so genannten Zwergenhäuschen bewohnen (während sich die Angroschim auf zurückgezogenen Almen fernab der Straße aufhalten), kann der interessierte Reisende dann auch die althergebrachten Namen der das Harschfeld einrahmenden Berge erfahren, die wie im gesamten Osten der Vogtei seltsame Namen wie Turgai Meniu oder Sirrah Minalakh tragen. Denn keinen Deut hat sich das Volk um die Bemühungen der Kartographen des Militärs, eine Namensgebung auf Hochgarethi durchzusetzen, geschert – wenig verwunderlich in Anbetracht eben jener Offiziere der Rohalszeit, deren Phantasielosigkeit wir heute in bester Sanin-Tradition ein gutes Dutzend Eisenwälder Gipfel mit dem hochamtlichen Namen „BergWaldstein“ einschließlich aller erdenklicher Variationen verdanken … .

In einem großen Rund von hochaufgerichteten Felsblöcken zum östlichen Ende des Harschfelds hin, am höchsten Punkt des Weges, treffen schließlich, so mag es scheinen, zwei Viae Ferrae aufeinander: Auf dem kreisrund angelegten Platz stößt die bisher beschriebene, von den zahllosen Verästelungen der Tierpfade umgebene Strecke auf eine breitere und bessere, mit Bruchsteinen gepflasterte Straße, die fortan von zwei niedrigen Steinwällen gesäumt wird und hinter einer Felsbarriere zum Abstieg ins Tal von Eisenbrück ansetzt. Wie das Kleine Volk zu berichten weiß, war ihm dieser Kreis vor langer Zeit ein heiliger Ort und der westliche Abschluss ihrer Straße, denn in der Altvorderenzeit, als sich die Angroschim die Berge nur mit den Rotpelzen teilen mussten, da ward eine Passstraße von ihnen geschaffen als Überbrückung des Rabensteiner Massivs, das sie wohl nur schwer mit ihren Felstunneln durchqueren konnten.

Viel später traten sie diese Straße, zunächst widerwillig, an die Menschen ab, die sie über ihre ursprüngliche Länge hinweg ausbauten, bis der heutige Verlauf entstand. Von hier an, schaut man nach Osten, ist die ViaFerra einen Gutteil des Jahres über auch für Ochsenkarren passierbar.

-- Main.IseWeine - 11 Feb 2021