Eine Harte Schule Vergangenheit

Kapitel 13: Vergangenheit

Anders als auf dem heimatlichen Gut gab es hier im Tempel keinen Diener, der die Truhe hätte für sie tragen können. Hier war sie nicht die „junge Dame“ oder „Herrin“, sondern als einfache Novizin am untersten Ende der Hierarchie. Deshalb war es diesmal Rahjalind selbst, die die Truhe mit den Gewändern ins Zimmer Doratravas schleppte.

Schwer atmend stellte sie diese nieder. „Alegretta meint du sollst eines unserer Kleider tragen …“, sie lächelte, und die Gauklerin konnte erkennen, dass sie diesen Gedankengang Alegrettas wohl selbst nicht ganz verstehen konnte, „… fürs Tanzen.“

Doratrava hatte sich schon gewundert, wo denn Rahjalind so lange blieb, und wunderte sich noch mehr, als sie nun mit der Kiste in das kleine Zimmer kam. Sie vernahm die Erklärung der Novizin, ihr entging auch nicht eine gewisse Verwirrung, welche aus deren Worten sprach. Doch sie kannte den Grund dafür nicht und wollte sich jetzt durch Nachfragen nicht womöglich um den Tanz bringen. „Das ist ja schön!“ rief sie statt dessen freudig aus und öffnete gleich die Truhe. Sie hielt den Atem an, als sie die Fülle an fein säuberlich zusammengelegten feinen Stoffen erblickte, die das Behältnis fast bis zum Rand füllten. Nach einem fragenden Blick zu Rahjalind und deren zustimmenden Nicken begann sie, die Gewänder nacheinander vorsichtig aus der Kiste zu heben, um sie genauer betrachten zu können.

Wie kaum anders zu erwarten, herrschten rote Farbtöne vor, meist in kräftigeren Schattierungen. Einige der Gewänder waren naturgemäß einfache Novizenroben, luftiger für den Sommer und mit mehr Stoff für kältere Jahreszeiten, mehrere Kleidungsstücke waren aufwendiger gestaltet und wohl eigentlich Geweihten vorbehalten. Der ein oder andere Umhang diente der Zierde oder schützte vor dem Wetter. Zwar freute sich Doratrava am Gefühl der edlen Stoffe unter ihren Fingern, dem Geruch von Parfüm, der kunstfertigen Verarbeitung, doch ein wenig war sie enttäuscht, da es sich doch eher um so etwas wie „Dienstkleidung“ handelte.

Doch dann, ganz unten im Stapel, neben ein paar Schärpen und kunstvoll verschnörkelten Gürteln fand die Gauklerin ein Kleid, welches von Machart, Farbgebung und Stil nicht recht zum Rest des Truheninhaltes passen wollte. Erstaunt hob sie es heraus und hielt es an ausgestreckten Armen in die Höhe, um es betrachten zu können. Das schulterfreie Kleid bestand aus drei Lagen. Das Untergewand, rein weiß, aus einem sanft fließenden Stoff, lief von der Schulter in zwei sich verbreiternden Bahnen vorne über die Brüste und hinten den Rücken entlang zur Körpermitte und ging in einen knielangen, geschwungenen Rock über. Die zweite Lage, in karmesinrotem Farbton, begann mit einem Ring um den Hals, von dem vorne zwei Bahnen nach außen über die Brüste liefen, wobei mit der unteren Lage zusammen ein rautenförmiger Ausschnitt deren Ansätze je nach Ausstattung der Trägerin mehr oder weniger deutlich erkennen ließ, während hinten eine einzelne Bahn senkrecht und sich geschwungen verbreiternd die Mitte des Rückens verdeckte. Der Rock dieser Lage war etwas kürzer als das Untergewand und deutlich stärker gefältelt. Die dritte Lage schließlich, in der Farbe dunkler Kirschen gehalten, ging von einem drei Finger breiten Kragen aus, welcher direkt unter dem Ring des mittleren Gewandes ansetzte und den Hals wie dieser ringsum umschloss. Von Kragen führten viele einzelne fingerbreite Streifen nach unten, sodass sie den Oberkörper fast wie in einer Art Käfig einsponnen. Zur Taille hin verbreiterten sich die Streifen ein wenig, dort waren sie auch miteinander verbunden, um dann aber wieder einzeln und nochmals deutlich breiter werdend in lanzettförmigen Spitzen auszulaufen, welche lose ein kurzes Stück über die Säume beider Untergewänder hinaushingen. Eine goldene Kordel mit kunstvoll geknüpften Knoten diente als Gürtel.

Solch ein Kleid hatte Doratrava noch nie gesehen, und sie konnte sich auch nicht recht vorstellen, wer es wohl bei welcher Gelegenheit einmal getragen haben könnte. Vermutlich lag es schon eine ganze Weile in der Truhe, vielleicht länger, als der Tempel hier überhaupt existierte. Das Kleid sah nicht so aus, als wäre es speziell zum Tanzen gemacht, aber es beengte nicht, eher im Gegenteil, und war kurz genug, um die Beinarbeit nicht zu behindern. Zudem versprachen die verschiedenen Stofflagen den Körper der Trägerin bei Bewegung in ein interessantes Licht zu setzen, wie die Gauklerin in einem kleinen Anfall von traviagestrenger Scham feststellte. Schnell wischte sie diesen Gedanken zur Seite und warf Rahjalind, die geduldig mit ihr zusammen den Inhalt der Truhe gesichtet hatte, mit einem aufreizenden Lächeln einen fragenden Blick zu. „Was ist das? Darf ich das für den Tanz benutzen?“

Rahjalind entgegnete ihr ein herzliches Lächeln. Auch ihre Augen strahlten beim Anblick des Kleides. „Da hast du dir das schönste rausgesucht …“, die Novizin kicherte mädchenhaft, „… es gehört wohl Alegretta, aber da sie meinte, ich solle dir eines der Kleider geben und sie dieses nicht ausgeschlossen hat, würde ich sagen – ja, trag es zum Tanz. Seit ich hier im Tempel bin, habe ich noch nicht gesehen, dass es getragen wurde, und es wäre doch schade, diesen Zustand so beizubehalten. Probiere es doch einmal an.“

Während ihre Freundin dabei war, in das aufregende Stück Stoff zu schlüpfen, rang die junge Linnartsteinerin damit, ob sie etwas ansprechen sollte, das unter Umständen vielleicht besser unausgesprochen bleiben würde. „Tut mir leid …“, piepste sie dann doch und ließ dabei ihren Kopf hängen, „… wegen dem allen hier … ich dachte es hilft dir, wenn du mit Alegretta redest, vor allem weil ihr beiden ja eine sehr ähnliche Kindheit verbracht habt und auch sie einen längeren Kampf mit ihrer Vergangenheit auszufechten hatte.“

Das dreilagige Kleid war ein wenig schwierig anzuziehen, zumal man vorsichtig sein musste, die vielen filigranen Schnüre und Bänder weder zu beschädigen noch zu verknoten, so dass die Gauklerin Rahjalind dankbar war für die ein oder andere Hilfestellung. Ja, tatsächlich passte das schöne Kleid ihr nicht perfekt, war doch Alegretta etwas kleiner und üppiger, aber mit ein wenig gemeinsamem Ziehen und Zupfen bekamen die beiden jungen Frauen den Stoff einigermaßen in Griff, so dass sich Doratrava schließlich erfreut im Kreis drehen konnte, um die Röcke fliegen zu sehen.

Dann erst besann die Gauklerin sich der Aussage Rahjalinds. Erstaunt hob sie die Brauen, gleichzeitig konnte sie dem Drang nicht widerstehen, die offenbar geknickte Freundin in die Arme zu nehmen und ihr tröstend über die Haare zu streicheln. „Was meinst du damit? Ähnliche Kindheit? Was für einen Kampf?“ Leicht befremdet sah sie die Novizin an. „Ich … sie hat mir nichts von sich erzählt … müsste ich da etwas wissen?“

Kurz kaute die junge Novizin an ihrer Unterlippe. Sie war sich sichtlich unschlüssig darüber ob es ihr wohl gestattet war, Alegrettas Vergangenheit vor einer Freundin auszurollen. Sie konnte nicht einschätzen, wie ihre Lehrmeisterin dazu stehen würde. „Aber du musst mir versprechen, dass du ihr nichts davon erzählst.“

Nach einem kurzen Nicken der Gauklerin straffte sich Rahjalind, dämpfte jedoch gleichzeitig auch ihre Stimme. „Alegretta stammt aus der Stadt Kyndoch“, hob sie nach einigen Momenten des Schweigens an. „Ihre Familie hat dort ein Vermögen mit dem Handel über den großen Fluss und das Meer der Sieben Winde gemacht. Ja, auch meine Familie pflegt Kontakt zu der ihren. Sie war das viertgeborene Kind des Familienoberhauptes und sollte alsbald ins Familiengeschäft einsteigen.“ Die junge Frau blickte wiederholt zur Tür, ganz so, als würde sie das Eintreten Alegrettas fürchten. „Nun, ihre Familie ist wahnsinnig konservativ, sie wurde gehalten wie in einem goldenen Käfig. Sie durfte nicht allein hinaus und musste sich stets züchtig kleiden. Was schwer wurde, als sie als junges Mädchen den Ruf Rahjas vernahm.“

Rahjalinds Kehle wurde trocken und sie frohlockte, als sie einen beigestellten Becher Traubensaft bemerkte. Nach einem großen Schluck fuhr sie fort. „Monde lang hatte sie ihren Vater bekniet, dass sie dem Ruf der Göttin doch folgen dürfe, doch stieß sie bei ihrem Vater auf taube Ohren. Er wollte aus ihr eine Händlerin machen und unterrichtete sie selbst. Nach einem Götterlauf erschien dann ein reisender Geweihter der schönen Göttin vor der Tür ihres Vaters …“, Rahjalinds Augen begannen zu leuchten, „… stell dir vor, er meinte dann im Nachhinein, dass die Göttin ihm einen Traum geschickt hatte, in dem sie ihn bat, Alegretta in die Kirche zu holen. Doch auch der Geweihte wurde weggeschickt, kehrte aber hier in Linnartstein, beim damaligen Schrein, ein. Es sollte in den Händen Alegrettas selbst liegen, ihr altes Leben abzuschütteln. Sie floh von zuhause, wurde aus der Familie verbannt und machte sich ganz alleine auf in die Wildnis. Rahjas schützende Hände führten sie nach Linnartstein, wo der Geweihte immer noch auf sie wartete, und der Rest ist schnell erzählt. Sie begleitete ihn und er bildete sie aus. Seit diesem Jahr steht sie unserem kleinen Tempel vor – an genau dem Ort, wo sie Rahja damals als Kind hinführte.“

Die Novizin ließ vergnügt ihre langen Beine schaukeln. „Alegretta wurde von der Göttin erwählt. Sie ist vielleicht manchmal ein bisschen hölzern und sprunghaft in ihren Gedanken, aber sie ist auch gesegnet und es ist ein Privileg, von ihr zu lernen. Gerade wenn man weiß, was sie in ihrer Kindheit alles durchmachen musste. Deshalb kann es auch sein, dass dich dein Schicksal an das ihre erinnert hatte – auch wenn die Vorzeichen ganz andere gewesen waren, im Kern sind eurer beider Schicksale sehr ähnlich.“

Zunächst schwieg die Gauklerin, ließ die Worte auf sich wirken, überlegte, bevor sie sich einen Ruck gab. „Ich … weiß nicht, was ich sagen soll … gut, wir sind beide von zuhause weggelaufen, um unsere Bestimmung zu finden ...“ Doratravas Stimme erstarb, als sie darüber nachsann, ob sie selbst denn wirklich ihre Bestimmung gefunden hatte … irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie ohne Wissen über ihre Herkunft und ihre Eltern nicht vollständig war und deshalb auch nicht wissen konnte, was das Schicksal oder wer auch immer ihr zugedacht hatte im Leben.

„Ist denn das alles geheim, dass ich darüber schweigen soll? Weiß davon hier niemand außer ihr und dir – und jetzt mir?“ Die Gauklerin schaute unsicher zur Tür, als fürchte sie, dass Alegretta jeden Moment hereinplatzen könnte. „Warum erzählst du mir das?“ Dann legte sie schnell ihre Hand an Rahjalinds Wange und schenkte der Novizin ein warmes Lächeln. „Aber dafür hat man ja Freunde – um Geheimnisse zu teilen.“

„Bestimmung … hmmm …“, Rahjalind hing einem Gedanken ihrer Freundin nach, „… wer weiß schon, was seine Bestimmung sein mag … was die Götter mit einem vorhaben?“ Sie hob ihre schmalen Schultern. „Nicht jedem von uns offenbaren sie ihren Willen so deutlich, wie sie das bei Alegretta getan haben.“



Kapitel 12: Nur-Freundinnen

Kapitel 14: Tanz