Eine Harte Schule Ueberlegungen

Kapitel 31: Überlegungen

Später am Tag

Zurück auf dem Landgut saßen Doratrava und Rahjalind im ´roten Salon´ der Villa Pietra Triste bei Tisch. Der kleinere, aber repräsentative Raum war mit Rosenmarmor ausgelegt und die Wände zeigten schöne Malereien mit rahjanische Motiven. Die beiden jungen Frauen hatten gerade ein Mahl zu sich genommen, als die Novizin eine etwas längere Stille zwischen den beiden Freundinnen brach. „Wie du siehst, ist das Leben einer Dienerin der Schönen nicht immer von Harmonie, Leidenschaft und schönen Dingen geprägt. Diese Sache ist unglücklich gelaufen, und dass mein Bruder involviert ist, macht es noch ein Stück weit schwieriger.“

Doratrava sah ihrer Freundin in die Augen, wusste dazu aber nicht wirklich etwas zu sagen. So dauerte es ein wenig, bis sie sich doch zu einer Antwort durchrang. „Felina … bist du sicher, dass das Mädchen glücklich wird, wenn sie die Ursache ihres Leids alle paar Tage zu sehen bekommt?“ fasste sie ihre schon beim Gespräch heute Mittag aufgekommenen Bedenken in Worte.

Die Angesprochene wog ihren Kopf hin und her. „Ich verstehe deine Bedenken …“, meinte sie dann nach einigen Herzschlägen, „… dennoch glaube ich, dass ihr genau das helfen wird. Trauer muss man zulassen, genauso wie jedes andere Gefühl auch. Linnart um sich zu haben wird ihr anfangs weh tun, doch die Zeit und ihre neue Aufgabe wird ihr Herz heilen, davon bin ich überzeugt.“ Rahjalind lächelte ihrer Freundin zu. „Denkst du nicht, dass es ihr hilft, wenn sie ihr eigenes Leben, fern ihres strengen Vaters und der Kammer, die sie sich mit ihren Geschwistern teilen muss, leben kann? Rahja wird es fügen, vielleicht verliebt sie sich ja bald wieder.“

„Ja, vielleicht.“ Doratrava bemühte sich nicht, ihre Zweifel zu verbergen. „Sicher, von zuhause wegzukommen und nicht mehr auf jemanden anderes angewiesen zu sein, ist bestimmt gut für Felina.“ Sie dachte an ihren eigenen gestrengen Ziehvater, der sie schließlich zur Flucht getrieben hatte. Irgendwo in einem Haus unter den Augen von jemandem anderen zu leben, konnte sie sich seitdem gar nicht mehr vorstellen. Aber wie das mit Menschen war, die in einer richtigen Familie aufgewachsen waren, konnte sie sich auch nicht richtig vorstellen, insofern wusste sie nicht, ob ihre eigenen Ansichten zu dieser Sache auch für andere galten. Nicht zum ersten Mal heute stellte sie ihre Entscheidung, Rahja-Akoluthin zu werden, in Frage. Wenn sie dann ständig solche Gespräche führen sollte …

„Was hättest du ihr geraten?“, fragte Rahjalind interessiert.

Ja, was hätte sie geraten? Doratrava war froh, dass Rahjalind die Frage erst jetzt stellte und nicht, als sie noch bei Felina gesessen waren. „Ich … weiß nicht. Ich kenne ja Felina gar nicht und kann mich deshalb nicht in sie hineinversetzen. Ich weiß überhaupt nicht, was gut für sie ist. Ich könnte nur so tun, als wäre ich an ihrer Stelle gewesen und mir von da aus überlegen, was gut für mich gewesen wäre. Nur – ich wäre gar nicht in diese Situation gekommen, glaube ich. Hoffe ich. Also wenn mir ein verheirateter Mann … ach, vergiss es einfach. Ich weiß einfach nicht.“ Hilflos sah Doratrava ihre Freundin an. „Wenn das zu den Aufgaben einer Rahja-Akoluthin gehört, dann habe ich wohl schon versagt.“

Rahjalind schüttelte lächelnd ihren Kopf. „Das ist eine Schwierigkeit, die auch Geweihte der Schönen haben. Jeder Mensch geht mit Herzschmerz anders um und wir sind selbst nur Menschen. Ich denke es gibt keine richtige und gänzlich befriedigende Antwort für ein gebrochenes Herz, auch wenn die Menschen sie von uns erwarten.“ Die Novizin nahm einen Schluck. „Das wichtigste ist, dass die Leidenden nicht die Hoffnung und ihren Glauben verlieren. Rahja ist immer ein sehr willkommener Sündenbock für enttäuschte Liebende, dabei ist die Göttin doch nicht dafür verantwortlich, wenn unser Gegenüber nicht so empfindet wie wir.“ Sie schüttelte ihren Kopf. „Nein, Rahja gibt uns die Fähigkeit zu lieben … sie ist die Liebe. Wen wir lieben kommt direkt aus uns. Klar, ein frisch gebrochenes Herz wird dir im ersten Moment sagen, dass er oder sie lieber nicht lieben würden, weil es so weh tut. Doch wer würde dasselbe sagen, wenn ihn der Rausch der Liebe umfängt?“ Rahjalind zwinkerte. „Du hast also nicht versagt. Einem gebrochenen Herz zu helfen ist eine der schwierigsten Aufgaben, die wir haben. Eine Aufgabe, an der erfahrene Geweihte von Zeit zu Zeit scheitern. Denn einzig die Zeit vermag diesen Schmerz zu heilen.“

„Aber … wenn jemand zu dir kommt mit gebrochenem Herzen und du kannst ihm oder ihr nicht helfen … fühlst du dich dann nicht … nutzlos?“ wollte Doratrava mit sorgenvoller Miene wissen. „Es ist doch ganz normal, wenn die Leute in so einem Fall die Hilfe der Geweihten der Rahja suchen, oder der Novizen oder wohl dann auch der Akoluthen … aber du sagst, ihr könnt den Leuten dann oft nicht helfen … ich … ich verstehe das nicht. Noch immer nicht. Auch wenn wir darüber … wegen uns … in den letzten zwei Tagen gefühlt schon hundertmal gesprochen haben.“ Ein schwaches Lächeln erhellte Doratravas Gesicht, während sie ihre Hand auf Rahjalinds legte. „Keine Sorge – ich fange nicht schon wieder davon an. Aber ich möchte eben verstehen … wie soll ich im Namen Rahjas reisen und sprechen, wenn ich … wenn ich nicht mal die einfachsten Dinge verstehe, was das Wesen der Göttin angeht?“

Die Novizin griff nach Doratravas Hand. „Nutzlos? Nein … du musst erkennen, dass du nur denen helfen kannst, die deine Hilfe auch wollen und annehmen können. Viele Menschen erwarten sich, dass alles wieder gut wird, wenn sie denn nur mit einer Dienerin der Rahja sprechen. Doch wir sind selbst auch nur Menschen. Unsere Aufgabe ist, für die Menschen da zu sein, ihnen die Hand zu halten und ihnen Hoffnung zu schenken. Oft bekommen wir Zorn und Enttäuschung ab, oder umarmen total aufgelöste Männer und Frauen, denn auch die Trauer ist ein Gefühl, das ausgelebt werden darf und soll. So will es die Göttin, denn niemand von uns kann diese von einem auf den nächsten Moment abstellen, oder ein gebrochenes Herz mit einem Fingerschnippen heilen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, die Zeit ist es, die diese Wunde heilt. Die Zeit und auch das Vertrauen in die Göttin … dass man eben sein Herz offen hält, so schwer es vielleicht auch sein mag.“ Rahjalind stoppte und ließ ein herzliches Lächeln folgen. „Dass du das Wesen der Göttin jetzt noch nicht begreifen kannst ist ganz natürlich. Selbst ich habe es noch nicht in seiner Gänze begriffen. Deswegen müsstest du ja erst unterrichtet werden, den Rest zeigt dir die Göttin dann auf deinem weiteren Lebensweg. Wenn ich es dir nicht zutrauen würde, dass du es schaffen kannst, dann hätte ich es dir nie angeboten, Dora.“

„Hm.“ Doratrava hoffte, dass sich Rahjalind da nicht in ihr täuschte. Aber sie wollte sich auch nicht verbiegen, nur um Erwartungen zu erfüllen, die nicht ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen entsprangen. Sie half gerne, wenn es ihr möglich war, sie liebte es, einfachen und nicht so einfachen Leuten mit ihrer Kunst Freude zu bereiten, aber das hieß nicht, dass sie sich das Leid der Welt aufbürden wollte. „Ich weiß noch immer nicht, was Latrinen putzen oder Hecken schneiden mich in dieser Beziehung lehren soll“, konnte Doratrava sich nicht verkneifen zu bemerken, ohne eine Antwort von Rahjalind zu erwarten. „Schauen wir mal, wie es mit deinem Bruder läuft.“ Was immer es da zu schauen gab.

„Demut …“, wiederholte Rahjalind das, was Alegretta ihrer Freundin schon gesagt hatte, doch sollte sie zu mehr auch nicht mehr kommen, nahm die Novizin doch eine Bewegung zu ihrer Linken wahr.



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