Eine Harte Schule Treue

Kapitel 37: Treue

„Danke“, krächzte Doratrava schließlich leise. „Ich werde versuchen, Rahjalind die Zeit zu geben, die sie braucht.“ Sie schwieg ein paar Augenblicke lang und ließ die Bedeutung der Worte Alegrettas auf sich wirken. Doch plötzlich kamen ihr noch andere, besorgniserregende Gedanken in den Sinn. „Alegretta“, setzte die Gauklerin erneut mit ihrer ruinierten Stimme an, mit einem deutlich unsicheren Unterton. „ich … Rahjalind ist die Zweite, in die ich mich richtig verliebt habe. Die Erste, Jel … also Jelride, sie ist älter als ich, Witwe, und hat einen kleinen Sohn, ich … mag sie immer noch und habe auch versprochen, sie wieder zu besuchen. Aber das ist alles erst vier Götternamen her, und als es … passiert ist mit Jel, da war mir selbst klar, dass das nichts werden konnte, ich hätte mein Leben nicht aufgeben können, um für immer in einem winzigen Dorf im Wald, in den Bergen zu leben, und Jelride gehört die Taverne dort, sie hätte auch nicht einfach mit mir mitkönnen, mit ihrem Sohn und allem. Und deshalb bin ich nach der Liebesnacht schweren, ja gebrochenen Herzens freiwillig gegangen, und auch Jel hat gelitten, aber sie hat nicht versucht, mich festzuhalten. Und dann … dann habe ich plötzlich Rahjalind getroffen, vier Monate später, und … ich weiß nicht, Rahjas Flutwelle? - hat mich überrollt, hinweggespült, viel stärker noch als beim ersten Mal. Wie gesagt, ich mag Jel immer noch, aber lieben tue ich jetzt Rahjalind, nur sie. Ist ...“, Doratrava schluckte schwer, „ist das jetzt Verrat? Und wenn ich von hier fortgehe, um Rahjalind Zeit zu geben, kann es sein, dass mir das nochmal passiert – auch wenn ich das gar nicht will? Ich will die Liebe zu Rahjalind nicht verlieren – auch nicht so! Oder … wäre das dann Rahjas Wille, ein Fingerzeig, was auch immer?“ Ängstlich, wie die Maus vor der Schlange, sah Doratrava die Hochgeweihte an.

"Mit der Liebe ist es ein schwieriges Spiel, sie kommt, wie du gemerkt hast, manchmal wie ein Sturm. Sie kann aber auch langsam wachsen wie ein Baum, aus Freundschaft kann Liebe werden und umgekehrt. Sie ist nie garantiert, sie ist launisch und unberechenbar. Und trotzdem oder gerade deshalb ist sie so schön. Sie verändert sich auch im Laufe der Zeit. Dem Sturm der Gefühle folgt beim richtigen Partner Liebe, die tief wurzelt, die ruhiger und vertrauter ist. Du kannst viele Personen fragen, was Liebe ist, und jeder würde sie anders beschreiben. Manche brauchen sie so dringend, wie Rosen das Wasser und die Sonne, andere sind genügsamer." Alegretta legte beschwichtigend die Hand auf die Doratravas. "Ich weiß, das beantwortet deine Frage nicht. Ich habe nur etwas ausgeholt. Nur Rahja selbst weiß, wie es sich weiter entwickeln wird. Wenn du länger fort bist, ist es wahrscheinlich, dass du dich wieder verliebst. Das ist kein Verrat, Rahjalind versteht es. Vielleicht ist es dann so stark, dass du nicht mehr zurück willst, oder es verebbt und ihr trefft euch wieder. Jeder wird dann reifer sein. Schau, bei Jelride konntest du es dir auch nicht vorstellen, noch einmal so zu fühlen. Sei offen und lass dich überraschen. Genieße den Weg und die Freiheit. Du weißt, dass du zurückkehren kannst und nicht mehr ohne Heimat bist."

Die Gauklerin musste erneut schlucken, um die Worte Alegrettas zu verdauen. Einerseits war sie erleichtert zu hören, dass es kein Verrat war, sich neu zu verlieben, auch wenn ihr Gefühl etwas anderes sagte; andererseits hatte sie Angst davor. Ja, sie lebte ein unstetes Leben und liebte es so, wie es war, aber ihre beiden kurzen Liebesabenteuer hatten ihr klar gemacht, dass ihre Seele offenbar nach einem beständigeren Platz suchte, nach Geborgenheit, echter Zuneigung, einer Heimat. Die Alegretta ihr gerade angeboten hatte.

Doch war Linnartstein, dieser Tempel der Rahja hier, die Heimat, die sie wünschte? Sie wusste es nicht. Es würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als ihre Reise fortzusetzen, mit einem offenen Auge für Orte oder Personen, die eine solche Heimat sein konnten … nein, aber dann … sie schloss die Augen und schniefte.

„Ich … will Rahjalind nicht verlieren“, wiederholte Doratrava ihre feste Überzeugung, wenn auch mit unsicherer, noch immer krächzender Stimme. „Aber … ich muss sie wohl … loslassen … für eine Zeit“, kam es dann deutlich stockend über ihre Lippen, zusammen mit einer weiteren Träne aus ihren verheulten Augen. „Aber dann … muss ich gehen, solange ich kann ...“ Sie musste das Bisschen Trost nehmen, welches das Gespräch mit Alegretta ihr geschenkt hatte, sich darin einhüllen wie in einen Reisemantel und diesen Ort verlassen, bevor die unerfüllte Liebe zu Rahjalind ihr vollends das Herz brach. Wobei, gebrochen war es schon, doch wie einen Tonteller konnte man ein Herz in zwei Teile brechen – oder in tausend Stücke zerschmettern.

„Alegretta … das mit der Rahja-Akoluthin … ich glaube, das ist noch nichts für mich“, flüsterte Doratrava mit hängendem Kopf. „Es … würde mich in jeder Minute an Rahjalind erinnern, an das, was ich gerne hätte, aber jetzt nicht bekommen kann … ich muss gehen. Schnell. Jetzt.“ Mehr Tränen flossen, erneut. „Aber … aber ich muss mich von Rahjalind verabschieden … ich … ich hoffe, ich kann das, ohne dass gleich das nächste Drama daraus wird ...“

"Du hast eine schwere aber weise Entscheidung getroffen, Doratrava. Ihr werdet beide reifen und wenn es die Götter wollen, trefft ihr euch wieder. Wer weiß das schon." Sie umarmte Doratrava liebevoll und gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Ich denke, es ist das Beste für dich, wenn du dich von ihr verabschiedest. Wir werden dir Proviant und Kleidung mitgeben. Aber dann wirst du dich freier fühlen. So ist jedes Stundenglas hier eine Qual für dich."

Doratrava nickte nur schwach, dann erhob sie sich und schlich hinaus. Sie fühlte sich wie in Watte gepackt, es rauschte in ihren Ohren und alles um sie herum kam ihr unwirklich vor, als sei sie ein Geist, nur auf Besuch in einer Welt, zu der sie den Zugang schon lange verloren hatte.

Im Hauptraum des Tempels richtete die Gauklerin ihren Blick auf die Statue der Rahja, die rein und unschuldig zurückblickte. Zwiespältige Gefühle versuchten sich darin, ihre Eingeweide zu verknoten, so dass sie sich lieber wieder abwandte. Wo war Rahjalind? Wenn sie es nicht gleich hinter sich brachte, dann … wusste sie nicht, was geschehen würde.

Es dauerte nicht lange bis sie die Novizin fand. Rahjalind saß, in Gedanken versunken und mit einer kleinen weißen Katze auf dem Schoß, auf einer Bank im Tempelgarten. Wie so oft, wenn sie traurig war suchte sie den Kontakt zu Tieren – Ifirnssternchen war eine der Katzen Alegrettas, die besonders oft die Nähe der jungen Novizin suchte. Das Fellknäuel war auch die erste der beiden, die Doratrava bemerkte. Interessiert hob sie ihren Kopf von Rahjalinds Schoß und blickte sie aus dunkelblauen Augen an. Eine Bewegung, die nun auch die Aufmerksamkeit der Traurigsteinerin auf ihre Freundin lenkte.

Ungefragt setzte sich Doratrava neben ihre Freundin, streckte zaghaft die Hand nach dem süßen Kätzchen aus, zog sie dann aber wieder zurück. Nicht ausweichen, nicht zaudern. Sie suchte den Blickkontakt mit Rahjalind, unendliche Traurigkeit stand in ihren Augen, aber ganz weit hinten, wo man es nur erahnen konnte, Entschlossenheit. „Ich habe mit Alegretta gesprochen“, erzählte sie Rahjalind nichts Neues. Verdammt, nicht ausweichen. „Ich … muss gehen.“ Jetzt war es heraus. Und dann sprudelten die Worte: „Ich liebe dich über alles, Rahjalind, ich will deine Schwester, deine Freundin, deine Geliebte sein, ich möchte dich immer um mich haben … aber ich sehe deinen Schmerz und deine Verwirrung und will nicht, dass du wegen mir leiden musst. Ich kann nicht für immer hierbleiben und du kannst nicht mit mir kommen. Alegretta hat mir gesagt, dass auch ihr Rahjanis jemanden, einen Menschen, über alles lieben könnt, das wäre kein Widerspruch zum Dienst an der Göttin, nur müsste der Partner, die Partnerin akzeptieren, dass er oder sie die Rahjani mit der Göttin teilen muss. Rahjalind – ich habe das verstanden, das habe ich dir in den letzten zwei Tagen immer wieder gesagt, und das hat sich nicht geändert. Alegretta hat mir auch gesagt, ich soll dir Zeit geben, damit du mit deinen Gefühlen in Einklang kommst. Also werde ich gehen und dir diese Zeit geben. Und eines Tages werde ich wiederkommen und dich fragen, ob du mich noch immer liebst – und ob du mich liebst wie eine Schwester, wie eine Freundin oder wie eine Geliebte.“ Trotz all ihrer Entschlossenheit konnte Doratrava nicht verhindern, dass sich erneut eine einzelne Träne aus ihrem Augenwinkel löste und den altbekannten Weg über ihre Wange zum Kinn suchte.

Rahjalind verfolgte die Rede ihrer Freundin mit großen Augen. Was hatte das Gespräch mit Alegretta bloß aus Dora gemacht? Das eben gesagte wirkte so gar nicht wie die junge Gauklerin … sondern eher wie … ja … wie Alegretta. „Du wirst hier immer eine Heimat haben Dora …“, kam es in ersticktem Ton, „… und ich werde dich immer in meinem Herzen tragen … als Freundin, Schwester und als Geliebte.“ Rahjalind gab ihr einen sanften Kuss auf die Lippen. „Morgen muss ich nach Elenvina aufbrechen. Wo wird es dich hinziehen?“ Eine Verlegenheitsfrage, die sie stellte um sich von ihrem innerlichen Schmerz und der dort herrschenden Aufwühlung abzulenken.

Doratrava sah ihren eigenen Schmerz in Rahjalinds Augen gespiegelt und verstand jetzt erst recht nicht mehr, was los war. Sie wollte ihrer Freundin, ihrer Geliebten doch Leid ersparen und nicht neues Leid zufügen. Irgendwie fühlte sie sich gefangen in einem Labyrinth der Gefühle, das nur aus Sackgassen bestand, an deren Ende eine Falle lag, welche immer noch mehr Schmerzen und Verwirrung auslöste. Wenn sie nun fortging, dann war dies nicht der Ausgang aus diesem Labyrinth, sondern es war, als durchbräche sie gewaltsam die Wände, und am Ende wäre sie zwar in Freiheit, aber ihre Beziehung zu Rahjalind und ihre Gefühlswelt lägen in Trümmern.

Hoffentlich hatte Alegretta recht. Hoffentlich täuschte sie selbst sich. Ihre Gefühle waren wild, spontan, unberechenbar – auch und vor allem für sie selbst, das hatte sie in den letzten Monaten gelernt. Schon drohte ihre Entschlossenheit wieder ins Wanken zu geraten. Ihr Wunsch, Rahjalind festzuhalten und nie wieder loszulassen, wurde schier übermächtig, doch sie klammerte sich verzweifelt an ihr Gespräch mit der Hochgeweihten und drängte diesen Wunsch mühsam zurück. „Ich … ich weiß nicht … irgendwo hin … wo man mich nicht mehr herumschubst. Wo auch immer das sein mag.“ Nun konnte sie aber doch nicht mehr komplett an sich halten und nahm ihrerseits Rahjalind in den Arm und küsste sie ebenfalls auf den Mund, nicht fordernd, aber Leidenschaft bietend.

Die junge Novizin verharrte noch für längere Zeit in der Umarmung ihrer Freundin. Keine Worte, keine Tränen, kein Drama, sondern einfach nur Geborgenheit. Weitere Leidenschaft zwischen ihnen wäre gegenwärtig auch nicht gut. Es würde die Verabschiedung, zu der sich Doratrava allem Anschein nach entschlossen hatte, nur noch schwieriger machen – zumindest für sie selbst. Als sich die beiden jungen Frauen voneinander lösten, schienen die Augen Rahjalinds zu glänzen. „Denk an mich, wenn du das nächste Mal in der Gegend bist …“, flüsterte sie. Dann erhob sie sich von der Bank. „Ich muss jetzt … dann … packen …“ Die junge Rahjadienerin wandte sich ab und lief zurück in den Tempel. Sie hoffte, dass niemand die Tränen sah, die ihr nun aus den Augen schossen …



Kapitel 36: Rahjaliebe

Kapitel 38: Herzlos