Eine Harte Schule Rahjaliebe

Kapitel 36: Rahjaliebe

Während des Weges zurück ins Dorf ritten die beiden Frauen schweigend nebeneinander her. Rahjalind spürte, dass sie Doratrava enttäuscht hatte, doch wusste sie nicht wie. Sie hatte ihr doch sogar gesagt, dass sie sie liebte. Worte, die sie ja so offen nicht einmal ihrem Verlobten gegenüber gesagt hatte – es war etwas besonderes für sie. Nur weil sie eine Dienerin der Göttin der Liebe war, hieß das doch nicht, dass sie immer und überall in Liebe brennen musste. Sie mochte es, Freude unter die Menschen zu bringen, sie wollte selbst ein Leben voller Freude, und wenn es einmal Tränen gab, dann würde sie diese versuchen wegzulächeln, oder wegzureden … oder weg-zu-umarmen … Rahjalind war gerne für die Menschen da, egal ob diese traurig oder fröhlich waren. Bei Doratrava war es anders, sie hatte die Gauklerin näher an sich herangelassen, als sie das sonst tat … wohl auch näher, als es in ihrer Situation angebracht gewesen wäre. Schließlich würde sie bald eine Geweihte sein, sie musste die Gläubigen an sich lieben und nicht nur ein-, zwei davon. Sie dürfte doch keinen Unterschied zwischen den Menschen machen, oder? Und dann war da auch noch Lucrann. Nach ihrer Weihe würde sie ihn heiraten und wohl auch nach Liannon ziehen, oder Elenvina – ja nachdem, wo er leben wollte. Vielleicht hatte Alegretta ja einen Ratschlag für sie und würde ihr sagen, was sie nun schon wieder falsch gemacht hatte.

***

Als Rahjalind in Alegrettas Arbeitszimmer trat, waren ihre Augen immer noch leicht gerötet und ihre Körperhaltung geknickt. „Hast du einen Moment?“, fragte sie in beinahe schon flüsternden Ton. „Doratrava möchte mit dir sprechen.“

Nach einer Weile stand eine zweite verheulte und geknickte Gestalt vor Alegretta. Die Hochgeweihte zog, nachdem sie Rahjalind mit einem Nicken entlassen hatte, die Augenbrauen hoch. Dass der Versuch, ein liebeskrankes Mädchen aufzurichten, derart eskalieren würde, hätte sie nicht gedacht. „Was ist denn passiert?“ Sie wies auf den Stuhl vor sich. „Erzähle mir doch mal deine Version. Was plagt dich ?“

Doratrava setzte sich und sah Rahjalind etwas verwirrt nach. Was hatte ihre Freundin denn Alegretta bereits gesagt? Andererseits war sie irgendwie froh, jetzt doch allein mit der Hochgeweihten zu sein. Sie räusperte sich, in der Hoffnung, dass ihre ruinierte Stimme dann vielleicht etwas verständlicher klang.

„Ach“, begann die Gauklerin etwas fahrig, „Rahjalind hat dir das mit Felina doch sicher schon erzählt?“ Sie hatte in ihrem aufgewühlten Zustand komplett vergessen, die Hochgeweihte zu ihrzen. „Dass der Grund ihres Liebeskummers Rahjalinds Bruder ist? Und wir diesen dann auf Rahjalinds Vorschlag hin zur Rede gestellt haben? Rahjalind meinte, ich solle reden, und habe Linnart dann mit seinen Taten Felina gegenüber konfrontiert. Und da … da kam er darauf zu sprechen, dass er Felina zurückgewiesen habe, als sie zu tief in sein Leben hatte eindringen wollen. Und Rahjalind doch dasselbe getan hätte – mit mir.“ Erneut kämpfte Doratrava mit ihrer Selbstbeherrschung. Wenn sie hier vor Alegretta den nächsten Heulkrampf bekam, wie sollte sie dann die in ihr brennenden Fragen loswerden? Eine einzelne Träne bahnte sich dennoch wie schon so viele vorher in den letzten zwei Tagen ihren Weg zu ihrem Kinn.

„Ich weiß nicht, was Rahjalind dir von der Nacht nach dem Fest erzählt hat, aber wir sind uns sehr nahe gekommen in dieser Nacht. So nahe, dass ich mich hoffnungslos in Rahjalind verliebt habe. Hoffnungslos trifft es übrigens sehr gut. Obwohl Rahjalind nicht bestreitet, dieselbe Nähe gefühlt zu haben wie ich. Und doch … und doch hat sie mir die Sache mit ihrem Verlobten verschwiegen. Hat sie mich am nächsten Morgen fast schon kalt und abweisend behandelt Und mir mehrfach dargelegt, dass Rahja ihre erste Liebe gilt und dahinter jegliche andere Liebe zurückstehen müsse. So habe ich ihre Worte zumindest verstanden.“ Stockend hielt Doratrava inne, um Luft zu holen, da ihre eng gewordene Kehle sonst das Sprechen unmöglich machen würde.

Nach einigen Augenblicken konnte die Gauklerin endlich fortfahren, sie zwang sich förmlich dazu, denn sie wollte Antworten, Antworten, die ihr Rahjalind nicht geben konnte. Mehr Tränen flossen aus ihren Augen, aber sie presste die Worte mit ihrer kratzigen Stimme heraus: „Alegretta … ich weiß, dass ich und Rahjalind niemals ein normales Paar werden können … sie hat ihre Verpflichtungen der Göttin gegenüber und ich liebe die Freiheit und könnte niemals nur an einem Ort leben. Aber das kann doch eine aufrichtige Liebe nicht am Erblühen hindern? Die Göttin Rahja verbietet doch ihren Dienern nicht etwa, einen anderen Menschen zu lieben? Also richtig zu lieben, nicht nur um der körperlichen Befriedigung willen?“ Flehend sah Doratrava der Hochgeweihten ins Gesicht, versuchte jede Regung zu lesen.

Alegretta hatte aufmerksam und ernst zugehört. Als sie das von Linnart vernommen hatte, bildeten sich steile Falten auf ihrer Stirn. Diesen Kerl würde sie sich auch einmal zu einem Gespräch holen müssen. „Kindchen, hier, trink erstmal etwas Wasser.“ Sie ging zu Doratrava und legte ihr eine weiche Decke über die Schultern. Dann setzte sie sich wieder.

Doratrava war nicht durstig, zumindest hatte sie das gedacht, aber nach dem ersten Schluck trank sie den Becher in einem Zug leer. Ihr war auch nicht kalt, zumal sie ihre Straßenkleidung und nicht die dünnen Rahjagewänder trug, aber sie ließ Alegretta mit der Decke gewähren.

„Die Fragen, die du stellst … sie sprudeln nur so aus dir heraus und ich muss sie erst sortieren, da jede für sich eine wichtige Frage ist, die die Menschen beschäftigt, seit es Rahja gibt und wir als ihre Diener zwischen Göttin und Menschen vermitteln. Also, wo fange ich an. Das Zeug um Felina lassen wir weg, das würde zu weit führen und hilft uns nicht. Aber du siehst, dass es anderen ebenso ergeht.“ Alegretta trank nun selbst etwas Wasser und betrachtete Doratrava, ob sich diese von selbst beruhigen würde oder weitere Hilfe in diesem psychischen Ausnahmezustand benötigte. „Ich versuche, das Wirrwarr aus Fragen zu kürzen und du sagst mir, ob das so passt, ja.“ Sie wartete keine Antwort ab. „Also, Linnart hat in seiner charmanten Art die wunde Stelle gefunden, der unsensible Brocken.“

Doratrava nickte unglücklich.

„Frage eins: Du hast dich in Rahjalind als Person, nicht als Novizin, verliebt, sie hat die Liebe erst erwidert und weist dich jetzt zurück, ohne befriedigende Begründung. Warum? Frage zwei: Dürfen oder viel mehr können Rahjani andere Menschen lieben, so wie es, sagen wir mal, ein vertrautes, `normales` Paar kann. Wenn ja, was hat das für Konsequenzen? Waren es wirklich nur zwei Kernfragen? Was meinst du? Dann werde ich dir einiges erzählen.“ Alegretta wirkte ganz anders, als sie sie zuvor getroffen hatte. Viel gütiger und wärmer. Sie strahlte Ruhe und Frieden aus. Mehrere Kerzen erleuchteten den Raum, ein kleiner Brunnen mit hässlicher Männerstatue plätscherte friedlich und die Kerzen verströmten den Duft von Flieder. Nicht Rosen, es mussten nicht immer Rosen sein.

„Ich … ich glaube schon, dass … das die wichtigsten Fragen sind“, stimmte die Gauklerin der Analyse der Hochgeweihten stockend zu. „Ich … auf dem Fest, das hat sich einfach so ergeben, das hatte nichts damit zu tun, dass sie Rahja-Novizin ist, und als sie dann plötzlich in meinem Zimmer stand, da … ich weiß nicht, hat mich der Blitz getroffen, ich kann das nicht besser erklären. Und jetzt … ich … ich meine, Rahjalind hat mir ja gesagt, dass sie meine Freundin sein will und meine Schwester und alles, und das ist schön und das will ich auch und ich will ihr nicht wehtun, weil ich sie liebe, aber ...“, wieder stahl sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel. Sie musste blinzeln und Ihre gerade noch rehbraunen Augen strahlten plötzlich in sattem Smaragdgrün. „Ich … wir … reden ständig aneinander vorbei und sie weicht mir aus, ignoriert meine Fragen und scheint sich dessen nicht mal bewusst zu sein. Vorhin hatte ich den Eindruck, sie wie ein verschrecktes Reh in die Ecke gedrängt zu haben, und das … wollte ich nicht, ich will sie nicht verletzen, ich will, dass sie glücklich ist! Am liebsten mit mir, aber wenn … wenn das nicht geht, dann …“ Nun quollen die Tränen schon wieder in größerer Menge aus beiden Augen, Doratravas Verzweiflung stand ihr überdeutlich ins nasse Gesicht geschrieben. Die Gauklerin zog die Beine an den Körper und schlang die Arme um die Knie, um dann den Kopf darauf zu legen. „Ich liebe sie so sehr“, hörte Alegretta nur noch ein dumpfes, ersticktes Murmeln.

Die Geweihte ging zu Doratrava, nahm sie sachte beim Arm und führte sie zu einer Chaiselongue. Sie setzte sich neben sie und barg sie in einer beruhigenden Umarmung, bis die Tränen wieder versiegten.

Als Alegretta ihre Hand an sie legte, zuckte Doratrava zuerst zusammen, aber dann ließ sie sich mitziehen. Schließlich begrüßte sie sogar die Umarmung und schmiegte sich eng an die Geweihte. Sie schluchzte noch eine Weile an Alegrettas Schulter und durchnässte dabei ihr Gewand, aber dann beruhigte sie sich tatsächlich ein wenig.

„Rahjalind ist noch nicht so weit. Sie ist jung und lebensfroh, so soll es sein. Aber sie ist sich der Konsequenzen ihrer Handlungen, die sie spontan und emotional trifft, noch nicht ganz bewusst. Das muss sie lernen. Sie liebt dich, ganz sicher, aber sie kommt mit ihren Gefühlen noch nicht klar. Wir Rahjani müssen lernen, die Geweihte in uns von unserem persönlichen Liebesleben zu trennen. Es ist also durchaus möglich, einen Menschen wirklich über alles zu lieben und trotzdem frei und harmonisch Lust und Ekstase im Tempel auszuleben. Der Partner der Rahjani muss dabei psychisch sehr stark sein, um das zu akzeptieren. Rahjalind fühlt sich eingeengt, sie hat ja noch nicht die Priesterweihe empfangen, was ein sehr bewegendes, prägendes Erlebnis sein wird. So reagiert sie abweisend und verschreckt. Sie hat in ihrem Kopf dasselbe Chaos, das du auch hast, aber es äußert sich eben anders. Lauf ihr nicht nach und erdrücke sie nicht, sondern gib ihr Zeit und lass es auf dich zukommen."

Die Worte der Hochgeweihten übten eine überaus tröstliche Wirkung auf Doratrava aus. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, Rahjalind zu verstehen, ergaben ihre widersprüchlichen Handlungen und Worte einen Sinn – zumindest, wenn Alegretta recht hatte mit ihrer Beschreibung von Rahjalinds Befindlichkeiten. Doch eine kleine Stimme im Kopf der Gauklerin mahnte sie, dass auch Alegretta keine Gedanken lesen konnte und deshalb nicht sicher war, ob es sich genau so mit Rahjalind verhielt, wie die Geweihte es beschrieben hatte. Aber sie wollte Alegretta glauben, sie wollte glauben, dass Rahjalind einfach noch nicht so weit war und sie aber im Grunde genauso liebte wie Doratrava die Novizin, auch wenn diese sich das noch nicht eingestehen konnte oder wollte.



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Kapitel 37: Treue