Eine Harte Schule Herzlos

Kapitel 38: Herzlos

Doratrava sah Rahjalind nach und fühlte sich … leer. Da lief ihre Freundin, eigentlich sah es fast aus, als floh sie – und ihr Herz nahm sie mit. An seiner Stelle blieb nichts als ein schwarzes Loch in ihrer Brust, das nichts fühlen konnte. Eine Taubheit breitete sich in ihr aus, die es ihr unmöglich machte, sich zu bewegen. Dabei musste sie doch noch einiges tun, bevor sie gehen konnte. Alegretta hatte ihr Proviant und Kleidung – Kleidung? - versprochen, und ihre ganzen anderen Sachen lagen noch in ihrem Zimmer auf Gut Linnartstein. Sie musste sich auch von ihren Gastgebern verabschieden … vor einer Stunde hätte das noch ihren Magen verknotet, aber jetzt … fühlte sie nichts. Gar nichts. Vielleicht war das besser so. Wer nichts fühlte, konnte auch nicht verletzt werden. Und niemanden anderen verletzen. Sie lenkte den Blick nach oben, in die Sonne, und musste blinzeln, aber Tränen kamen keine mehr. Nun, Herr Praios, dachte sie schwerfällig, ist heute allen beteiligten Parteien Gerechtigkeit widerfahren? Hat heute jeder bekommen, was er verdient? Sie senkte den Blick wieder, Praios‘ Auge brannte zu hell und zu heiß. Eigentlich sollte sie in den Schatten gehen, sie hatte ihre helle Haut schon viel zu lange der prallen Sonne ausgesetzt. Zum Glück ließ ihre Straßenkleidung nicht viel davon frei.

Aber sie konnte nicht. Statt dessen legte sie sich auf die Seite, zog die Beine an die Brust und schlang ihre Arme um den Kopf. Dann suchte sie in der Leere, die einmal ihr Herz bewohnt hatte, nach … irgend etwas.

Es war einige Zeit vergangen. Manchen mochte es wie eine Ewigkeit erscheinen, anderen wie ein kurzer Blitz am Himmel. Alegretta war ihre und die Gewänder der Novizen durchgegangen und hatte ein ansehnliches Päckchen hübscher Sachen dabei. Alles schon gut verpackt. Gelda war derweil damit beschäftigt gewesen, Proviant für ungefähr zwei Tage herzurichten. Aus Neugier nahm Alegretta alle Gaben selbst, da sie wissen wollte, wie Rahjalind und Doratrava verblieben waren. Es war mittlerweile dunkel geworden und fast wäre die Geweihte über die zusammengekauerte Gestalt gestolpert. „Huch! Bei den Göttern, Dora, was machst du hier?“

Doratrava schreckte hoch, als sie Alegrettas Stimme hörte. Lange hatte sie in der Leere nach etwas gesucht, aber nur den Schlaf gefunden …

Die Gauklerin sah schrecklich aus, eher wie ein Geist denn wie ein lebendes Wesen. Mit hohlen Augen, in denen ein blasses, rubinrotes Feuer brannte, sah sie die Geweihte an. „Was?“ krächzte sie mit etwas, das mehr wie eine rostige Säge klang als wie die Stimme eines Menschen. Immerhin setzte sie sich auf. Nach und nach kamen ihr die Ereignisse des Nachmittags wieder zu Bewusstsein. Rahjalind – fort. Gehen. Sie musste gehen. „Ich … sollte meine Sachen holen vom Gut“, rasselte sie, ohne Alegretta richtig anzusehen. Dass es bereits dunkel war, nahm sie gar nicht richtig wahr. Dann fiel ihr Blick auf das Paket in der Hand der Geweihten. Alegretta. Kleidung. Proviant. Für sie. „Ist das für mich?“ fragte sie heiser. Der Schatten des Schattens eines Lächelns huschte kurz über ihr Gesicht.

Sie war so labil. Alegretta rang mit sich. Sie konnte sie nicht hier behalten, ihr Zustand würde sich wohl weiter verschlechtern. Aber so konnte sie heute auch nicht mehr gehen. „Ja, das sind deine Sachen. Was war los? Du siehst desolat aus. So lasse ich dich nicht gehen. Du wirst auf deinem Zimmer schlafen und dich ordentlich ausruhen. Rahjalind ist der Grund, nicht wahr?“ Sollte sie die Novizin holen lassen? Nein, das würde Doratrava nur weiter aufwühlen. Sie nahm die erbärmliche Gestalt und führte sie in ihr Zimmer. „Hier, Gelda wird dir was zum Essen bringen und dann schlaf. Wir werden nach dir sehen. Das, was kaputt ist, wird hier nicht heilen. Leider.“

Widerstandslos ließ sich Doratrava auf ihr schon bekanntes Zimmer führen. Sie kam sich vor wie in einem Traum. Das Innere des Tempels floss an ihr vorbei, ein unruhiger Strom von Farben und Formen, die sie nicht zu greifen vermochte. Sie konnte hinterher nicht sagen, ob sie auch Menschen gesehen hatte – Rahjalind gar? Sie wusste es nicht. Die Fragen Alegrettas hatte sie auch nur wie fernes Rauschen wahrgenommen, nur als Rahjalinds Name fiel, hatte ein Stich an einem leeren Ort in ihrer Brust daran erinnert, dass sie noch immer auf der Suche war, diese Leere mit etwas anderem zu füllen.

Irgendwann kam Gelda mit dem Essen, doch auch das nahm Doratrava nicht wirklich wahr. Sie blickte durch die Tempeldienerin hindurch und reagierte nicht auf deren Fragen. Schließlich ging ihr auf, dass sie zumindest so tun musste, als äße sie etwas, sonst würde Gelda wohl nicht mehr gehen, also tat sie das. Als sie wieder allein war, trank sie ein paar Schlucke Wasser und legte sich dann auf das Bett, um gegen die Decke zu starren. Sie stand nochmals auf, um die Kerze zu löschen. Dunkelheit war schön. Beruhigend. Sie legte sich wieder hin und starrte erneut die Decke an, obwohl sie diese nun nicht mehr erkennen konnte. Aber manchmal flirrten weiße Punkte durch die Dunkelheit. Sie zählte die Punkte. Bis drei … dann war nichts mehr.

Als Doratrava am nächsten Tag zu sich kam – ja, so fühlte es sich an, wie das Aufwachen aus einer tiefen Bewusstlosigkeit, nicht wie aus einem borongefälligen Schlaf – war es schon hell. Mühsam erhob sie sich von ihrem Lager und schaute aus dem Fenster. Dem Stand der Sonne nach dürfte es schon um die zehnte Stunde sein. Rahjalind – da war wieder dieser Stich im Nichts – war bestimmt schon fort. Wahrscheinlich war das besser so. Stich. Die Gauklerin verzog das Gesicht.

Aus der Waschschüssel starrte ihr ein Monster entgegen, die Augen grau wie der Nebel, der ihren Geist umwölkte, die Haare zerzaust und wild in alle Richtungen abstehend, das Gesicht eingefallen. Das bisschen Wasser würde ihr heute Morgen nicht helfen. Sie brauchte ein Bad. Sie stank, als hätte sie die Nacht mit einem Bären verbracht. Aber dann kam es ja nicht mehr darauf an. Schnell zog sie sich aus, denn natürlich hatte sie in ihren Kleidern geschlafen, die jetzt genauso stanken, dann begann sie mit Liegestützen und anderen gymnastischen Übungen, bis sie nicht mehr konnte. Das half gegen schlechte Stimmung. Zumindest hatte es das bisher immer. Aber wenn sie an Rahjalind dachte – Stich. Lieber noch fünfzig Kniebeugen.

Eine Stunde später sprach Doratrava völlig erschöpft und verschwitzt bei Alegretta vor, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, woran sie heute und in einem Rahjatempel keinen weiteren Gedanken verschwendete, und noch immer hohlwangig und mit wild zerzausten Haaren. Wann hatte sie das letzte Mal richtig gegessen? Gestern, Frühstück, mit Rahjalind – Stich! –, in einem anderen Leben.

Man gab ihr ein ausgiebiges Frühstück, ließ sie ansonsten aber in Ruhe. Alegretta setzte sich nach einiger Zeit zu ihr. Doratrava konnte nicht mehr einschätzen, wie lange sie gesessen hatte. Die Geweihte sah sie sorgenvoll an. "Doratrava, ich weiß, dass es dir schlecht geht. Rede mit mir, ich habe noch etwas für dich. Es ist geplant, dass einer der Familie, wahrscheinlich Linnart, dich abholt und zur Residenz bringt." Sie merkte, wie ihr Gegenüber sich bei dem Namen verspannte. "Er ist ein guter Kerl. Urteile nicht vorschnell über ihn. Ich kenne ihn lange genug und weiß, dass du bei ihm sicher bist."

Zweifelnd sah Doratrava die Geweihte an. Ausgerechnet Linnart. Nun ja, unter rahjanischen Gesichtspunkten mochte er ein ‚guter Kerl‘ sein, aber davon hatte er ihr bisher nicht viel gezeigt. Doch musste sie sowieso zurück zum Gut, da spielte es keine Rolle. Wenn seine Pflichten ihn nicht andernorts festhielten, wäre sie ihm da dann wohl sowieso begegnet, dann konnte es auch gleich sein. Auch wenn sie nicht wusste, was Alegretta jetzt genau mit ‚sicher sein‘ in Bezug auf ihn meinte. Dass er sie vor Räubern auf dem Weg zum Gut schützen würde? Dass er auf dem Weg nicht über sie herfallen würde? Eine Idee absurder als die andere – hoffte sie, und verwarf die Gedanken daran dann schnell wieder.

„Ich brauche vorher noch ein Bad, glaube ich“, waren die ersten Worte, die die Gauklerin am heutigen Morgen sprach. Immerhin klang ihre Stimme wieder einigermaßen normal und sie schien gefasst. „Und meine Straßenkleidung müsste ich wohl auch nochmal waschen, ich habe darin geschlafen. Das hat ihr nicht gut getan.“ Dann holte Doratrava tief Luft und sah Alegretta direkt in die Augen. „Was soll ich noch reden? Es wurde doch schon alles gesagt. Nur … als ich mich von Rahjalind verabschiedete und sie ging, da … nahm sie etwas mit.“ Sie fasste sich an die Brust, als hätte sie Schmerzen. Hatte sie ja auch, genau dort. „Ich habe es mir nicht so schlimm vorgestellt. Ich habe es mir vorher gar nicht vorgestellt … wollte gar nicht darüber nachdenken. Ich … tut mir leid, dass ich so viel Ärger mache, aber gestern … ich konnte einfach nicht mehr.“

Alegretta nickte freundlich aber bestimmt. "Es ist in Ordnung. Nimm dir Zeit, deine Sachen und dich zu säubern, aber vergiss nicht, dass man schon auf dem Weg ist, um dir in die Residenz Gesellschaft zu leisten." In deutlich milderem Tonfall fuhr sie fort. "Was die Liebe, oder besser, die enttäuschte und verlorene Liebe mit einem macht, das merkt man erst, wenn es passiert. Manche verkriechen sich tagelang, stürzen sich von einem sexuellen Abenteuer ins nächste, ohne glücklich zu werden. Jede Trennung hinterlässt eine Narbe, auch wenn sie nicht sichtbar ist. Aber du wirst lernen, besser damit umzugehen und Enttäuschungen zu verarbeiten. Wer weiß? Vielleicht hast du es nicht bemerkt, aber irgend jemand fühlte einst genauso, wie du jetzt. Weil du ihn oder sie nicht gesehen hast."

Der Schatten eines sarkastischen Lächelns huschte über Doratravas Gesicht. „Alegretta – du hast eine seltsame Art, Leute aufzumuntern … oder ist das deine Spezialbehandlung für liebeskranke Gauklerinnen mit weißen Haaren und spitzen Ohren?“ Sie wurde unvermittelt wieder ernst. „Ich hoffen nicht, dass man dann, wenn einem das Herz gestohlen wird … herzlos wird. Oder? Ich will mich nicht daran gewöhnen, wie das ist. Ich will mein Herz zurück – aber in einem Stück. Jetzt wäre übrigens der Punkt, an dem ich in Tränen ausbreche. Aber ich kann nicht mehr.“ Dennoch versagte ihr die Stimme.



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