Eine Harte Schule Tempel

Kapitel 2: Tempel

Rahjalind sollte nicht übertrieben haben. Die beiden jungen Frauen stiegen für die wenigen Schritt des Weges nicht einmal auf den Rücken ihrer Pferde. Ihr kurzer Weg führte sie einmal quer über den Platz des kleinen Dorfes, vorbei – so erklärte es die junge Novizin – an der ´berühmten´ Instrumentenbauerin Emer Machandel und dem kleinen Weinmarkt, von wo aus ihr Onkel Rahjaman die Erzeugnisse der Linnartsteiner Weinberge in die restlichen Nordmarken, den Kosch, Albernia, den Windhag und sogar das nördliche Horasreich verkaufte.

Der kurze Weg der beiden endete bei einem kleinen, lieblichen Fachwerkhaus, das sich in einem größeren Garten befand und über und über von Weinranken überwachsen war. „Der Rahjatempel Linnartstein …“, lächelte die junge Linnartsteinerin erklärend. „Mit Sicherheit eines der kleinsten Götterhäuser in den Nordmarken und mir seit einigen Monden Heimat.“

Von den Reben abgesehen machte das Haus einen eher unscheinbaren Eindruck auf Doratrava, gar nicht so protzig oder zumindest eindeutig als Gotteshaus zu erkennen wie manch anderer Tempel, den die Gauklerin auf ihren Reisen schon gesehen hatte. Interessiert musterte sie die Fassade, die Fenster und den Garten. Letzterer kam ihr ein wenig wild vor, aber auch einladend und irgendwie heimelig. Auf jeden Fall lud er mehr zum Verweilen ein als der tadellos in Schuss gehaltene Kräutergarten des Traviatempels, in dem sie praktisch aufgewachsen war. Bevor ihre Gedanken zu sehr in ihre unerquickliche Kindheit abdrifteten und ihr den Abend verdarben, schob sie diese schnell zur Seite.

„Und jetzt?“ fragte sie Rahjalind. Ein kurzer Anflug von plötzlicher Nervosität ließ sie innehalten. Ihre Freundin hatte vorhin gesagt, dass die Geweihte ihr möglicherweise helfen könne. Sie wusste eigentlich gar nicht, ob sie diese Hilfe überhaupt wollte. Was wenn … und dann müsste sie doch … Doratrava schüttelte den Kopf, kurz waren ihre Gesichtszüge erstarrt, aber dann fing sie sich wieder und lächelte ihrer Freundin zu. „Gehen wir rein?“

Rahjalind nickte knapp. Kurz hatte sie überlegt, Doratrava den schönen Garten des Tempels im Licht des Madamals zu zeigen - die Rosenbüsche, Weinreben und den Schrein des Heiligen Linnart, ihres Ahnen, und der Weinbeergeiß. Doch saß ihr bereits nach kurzer Zeit unter dem klaren Zelt der Nacht unangenehme Kälte in ihren Gliedern – es war ein typisch kühler Abend für den späten Travia und eben diese Tatsache ließ sie ihren Plan sogleich wieder verwerfen. Stattdessen betraten die jungen Frauen das kleine unscheinbare Häuschen.

Sogleich strömte ihnen ein warmer, von Rosenduft geschwängerter Hauch entgegen. Diesem Odeur folgend, betraten Rahjalind und Doratrava den Vorraum zum Tempel. Zu ihrer Linken fand sich eine Kleiderablage und als wäre es die normalste Sache auf dem Dererund, streifte die Novizin mit einigen wenigen Handgriffen ihre Kleidung ab. Die Gauklerin konnte sehen, dass ihre Freundin allem Anschein nach fror, war die Gänsehaut, die ihren Körper bedeckte doch ganz augenscheinlich.

Als sie sich entkleidet hatte, wandte sich die Linnartsteinerin zu ihrer Begleiterin um und sah ihr auffordernd entgegen. „Hab keine Scheu, Dora …“, sagte sie lächelnd.

Wohlwollend und schon wieder leicht erregt betrachtete Doratrava den wohlgeformten Körper ihrer Freundin, doch zögerte sie nun. Sie hatte keine Scheu, sich vor ihrer Freundin auszuziehen, aber obwohl sie in einem Tempel der Rahja waren, konnte sie doch nicht so richtig aus ihrer Haut. Vor fremden Menschen, und seien es Diener der Schönen Göttin, wollte sie sich nicht einfach so nackt zeigen. Andererseits war niemand hier außer ihr und Rahjalind …

Sie überwand ihre Bedenken und zog sich schließlich ebenfalls aus. Sie verdrängte den Gedanken daran, dass jederzeit jemand anderes hereinkommen konnte. Statt dessen strich sie sanft mit den Fingern über Rahjalinds Arm. „Du frierst ja“, raunte sie der Novizin ins Ohr, doch so nah bei ihrer Freundin bekam sie nun selbst Gänsehaut – aber nicht wegen der Kälte, die hier drinnen auch nicht mehr gegeben war. Nur ihr Unbehagen, was nun folgen sollte, hielt sie davon ab, Rahjalind in den Arm zu nehmen. Notgedrungen wartete sie ab, was die Novizin tat, da sie nicht wusste, wie sie sich hier zu verhalten hatte.

Durch ein recht seichtes kleines Becken konnte der Tempel betreten werden. Das Wasser war, wie auch die aufgeheizte Luft, warm und angenehm. Eine Wohltat, wie Rahjalind meinte, sodass sie sich bei der rituellen Waschung extra viel Zeit ließ.

Doratrava folgte dem Beispiel ihrer Freundin und begann sich ebenfalls zu waschen. Nachdem sie weiterhin unter sich blieben, entspannte sie sich langsam, dabei taten das Wasser und die warme, feuchte Luft das Ihrige dazu. Umso schwerer fiel es ihr dadurch aber, völlig nackt in unmittelbarer Nähe zu Rahjalind zu verweilen und … nichts zu tun außer sich zu waschen. So war sie fast froh, als es der Novizin endlich genug war und sie aus dem Wasser stieg. Schnell folgte sie.

Aus dem Becken hinausgestiegen lagen Handtücher und rote Tuniken bereit. In größeren Tempeln wurden diese einem gereicht – hier, in wahrscheinlich einem der kleinsten Häuser Rahjas auf Dere überhaupt, musste der Besucher selbst Hand anlegen. Die Tuniken reichten von durchsichtigen Seidentüchern, bis hin zu züchtigen, hoch geschlossenen Stücken aus Wolle. Rahjalind entschied sich für erstere.

Doratrava trocknete sich ebenfalls ab, dann suchte sie sich ein leichtes, aber undurchsichtiges Gewand. Ihre Freundin quälte sie weiter bittersüß mit ihrer Kleidungswahl, und die Gauklerin hatte alle Mühe sie nicht ständig nur anzustarren und ihre Hände bei sich zu behalten. Doch als sie den Baderaum durch die hintere Tür verließen, zuckte sie leicht zusammen, als sie einer weiteren Person gewahr wurde. Unwillkürlich rückte sie einen halben Schritt von Rahjalind ab – und ärgerte sich gleich darauf über sich selbst.

„Rahjalind, meine Liebe …“ Noch bevor die Novizin Doratrava herumführen konnte, wurden sie von einer älteren Frau mit kurzen blonden Haaren begrüßt.

„Gelda …“ Die junge Linnartsteinerin begrüßte die Ältere mit einem kurzen Kuss. Dann wandte sie sich zu ihrer Freundin um. „Gelda ist die gute Seele hier bei uns im Tempel. Sie kümmert sich hier um alles, zu dem Alegretta und ich nicht kommen.“

Rahjalind schob Doratrava sanft nach vorne, wobei sie einen ganz leichten anfänglichen Widerstand überwinden musste. „Das ist meine Freundin Doratrava, eine Gauklerin. Du solltest sie tanzen sehen.“ Die so Gelobte lief verlegen ein wenig blassrosa an, aber das konnte bei ihrer fast weißen Haut nur jemand erkennen, der sie gut kannte oder sehr genau beobachtete. Doch sie kam gar nicht dazu, sich ein paar Worte zurechtzulegen.

Gelda zeigte wenig Scheu. Sie umarmte die ihr fremde junge Frau und hauchte ihr einen leichten Kuss auf die Wange. „Alegretta isst gerade zu Abend“, erklärte sie dann, bevor sie sich wieder verabschiedete. Doratrava sah ihr etwas verwirrt hinterher. Diese beiläufige Art fast schon intimer Freundlichkeit war ihr nicht geläufig und prallte schon wieder unangenehm auf die ungeliebten Grundfesten ihrer travianischen Erziehung, ob sie wollte oder nicht. Wieder einmal haderte sie im Geiste mit ihren Zieheltern.

Die beiden jungen Frauen nutzten die Gelegenheit und betraten den Tempelraum. Hier fanden sich überall kleine Tische und Sitzpolster, sodass dieser beinahe wirkte wie eine noble Schänke. In der Mitte des Raumes stand eine wunderschöne Statue der Rahja, die die Göttin nackt, mit einer Krone aus Weinreben auf ihrem Haupt, einem Weinkelch in ihrer Hand und von Weinranken umschlungenen Beinen zeigte.

Staunend betrachtete die Gauklerin die Einrichtung des Raumes und dann ausgiebig die wunderschön gearbeitete Statue, welche sie einmal umrundete. Zögernd streckte sie ihre Hand aus, schreckte erst ein wenig zurück, aber dann strich sie doch über den Arm der Göttin. Seltsam, sie hatte kühlen Stein erwartet, doch die Statue strahlte eine sanfte Wärme aus, welcher gleichzeitig etwas Beruhigendes innewohnte. Die aufgewühlten Gefühle Doratravas kamen ein wenig zur Ruhe, lächelnd wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu.

Rahjalind schritt zu einem Beistelltisch, befüllte zwei Kelche mit Traubensaft und reichte einen davon ihrer Freundin. „Bevor wir Alegretta treffen …“, begann sie dann kryptisch, während sie Doratrava zuprostete, „… sie ist manchmal etwas eigen. Oft wirkt sie etwas entrückt und sehr sprunghaft in ihren Worten und Gedanken.“ Die Novizin hob lächelnd ihre Schultern. „Wird wohl eine besondere Nähe zur Göttin sein, die sie stets fühlt.“

Doratrava nahm den Kelch und nippte daran, um gleich noch einen größeren Schluck zu nehmen. Der Saft war köstlich, noch besser als der Traubensaft, welchen sie am Tag des Maskenballs auf Gut Linnartstein getrunken hatte.. „Wie meinst du das?“, fragte sie dann etwas zögernd. Ihr kam wieder die Geweihte in den Sinn, welche sie bei der Nilsitzer Jagd kennengelernt hatte. Auf diese konnte Rahjalinds Beschreibung genauso zutreffen, wie sie fand. Dann durchfuhr sie ein erschreckender Gedanke: wenn Alegretta ähnlich seltsam wie Rahjania war, würde Rahjalind dann auch bald so werden? Kurz bekam ihr Blick etwas Panisches und sie machte unwillkürlich einen Schritt auf ihre Freundin zu, um ihr schützend den Arm um die Schultern zu legen, doch dann setzte sich der beruhigende Einfluss der Statue wieder durch und die Gauklerin atmete einmal tief durch, während sie einen weiteren Schluck aus dem Kelch nahm, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Zu viel Rahja machte wirr im Kopf ...

„Ach …“, Rahjalind machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es ist nicht so schlimm wie du denkst. Hast du Erfahrungen mit Tsageweihten?“, sie sollte keine Antwort abwarten, „Es wurde Alegretta schon des Öfteren nachgesagt, dass sie den Geweihten der jungen Göttin von ihrem Wesen her nicht ganz unähnlich sei.“

Hm, ja, Doratrava kannte eine Tsa-Geweihte, Glöckchen, ihr richtiger Name fiel ihr gerade nicht ein, aber jeder nannte sie Glöckchen. Mit dieser war sie eigentlich sehr gut ausgekommen, ja, sie hatte deren Nähe sogar genossen. Das ließ hoffen.

Die Augenbrauen der Novizin wanderten nach oben als sie einen Schluck von ihrem Kelch nahm. „Aber ich mag sie und sie wird dich bestimmt auch mögen. Alegretta ist sehr offen, direkt und ein regelrechter Quell an Gutherzigkeit. Es wird dir bestimmt gut tun mit ihr zu reden.“



Kapitel 1: Ausritt

Kapitel 3: Alegretta