Eine Harte Schule Scherben

Kapitel 34: Scherben

Als die beiden beim Ausgang des Salons standen, blickte Rahjalind immer noch betreten vor sich auf den Tisch. „Es tut mir leid, Dora“, flüsterte sie dann.

Im ersten Moment reagierte Doratrava nicht. Dann stellte sie langsam den Stuhl wieder auf, während weiterhin nasse Tränen von ihrem Kinn fielen. Schließlich setzte sie sich wieder, brachte es aber nicht über sich, Rahjalind anzusehen. Statt dessen legte sie ihre Hände flach auf die Tischplatte vor sich und starrte diese mit brennenden Augen an. „Warum?“ brachte sie endlich krächzend heraus.

Sie hatte bereits dutzende Menschen mit Herzschmerz vor sich sitzen gehabt, doch nie hatte sich Rahjalind so machtlos gefühlt. „Es tut mir leid … es war selbstsüchtig von mir. Ich wollte mich doch nur wieder normal fühlen … frei … bis du mir dann deine Liebe gestanden hast … dann setzte die Realität ein und ich fühlte mich schlecht. Ich wollte dir nicht weh tun.“ Auch die Novizin wagte es nicht ihren Blick oder Körperkontakt zu suchen – Dinge, die ihr sonst so leicht fielen, wenn es sie nicht selbst betraf.

Das Blut rauschte Doratrava in den Ohren, so dass sie Mühe hatte, ihre Freundin zu verstehen. Frei … Liebe … Realität … schlecht filterte ihr Geist einige Worte heraus, die einen wilden Reigen in ihrem Kopf tanzten, bis ihr schwindlig wurde. Sie schloss die Augen wieder, in der Hoffnung, dass sich ihre Gefühle wieder beruhigten, und hatte das Gefühl, der Stuhl beginne unter ihr zu schwanken, so dass ihr schlecht wurde. Hastig schluckte sie mehrmals, damit sie wenigstens ihren Körper wieder unter Kontrolle bekam. Ihr war immer noch schwindlig, sie traute sich nicht, sich zu bewegen, weil sie dann für nichts garantieren konnte. Noch immer tropften heiße Tränen der Enttäuschung auf ihre Hände, erst jetzt wurde sie gewahr, dass ihr Körper vor unterdrücktem Schluchzen zitterte. Soviel zur Kontrolle.

Rahjalind verzichtete darauf, ihrer Freundin nun zu nahe zu treten. Sie war nun die falsche Person, um ihr die Hand aufzulegen oder sie in den Arm zu nehmen. Dora würde gegenwärtig wahrscheinlich sogar Linnarts Nähe vorziehen. So saß die Novizin einfach nur da, schuldbewusst und über ihr eigenes Verhalten traurig, doch auch still und regungslos.

Doratrava brauchte noch eine ganze Weile, bis all ihre Tränen geweint waren. Und auch dann saß sie noch eine Zeit lang still und unbeweglich. Wo sollte sie auch hingehen? Warum sollte sie irgendwo hingehen?

Aber irgendwann setzten ihre Gedanken wieder ein, ungebeten, ungewollt, unvermeidlich. Sie spürte, dass Rahjalind immer noch da war, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Sie spürte, dass Rahjalind litt. Wegen ihr. Sie wollte nicht, dass Rahjalind litt. Reichte es nicht, wenn eine von ihnen beiden Schmerzen empfand? Unendlich schwerfällig erhob Doratrava sich, machte einen Schritt zu Rahjalind hinüber, hockte sich hinter ihren Stuhl und umschlang sie von hinten mit den Armen. „Du hättest es mir einfach sagen sollen“, flüsterte sie ihrer Freundin mit heiserer, kratziger Stimme ins Ohr. „Dann wäre das alles nicht passiert. Aber man kann die Zeit nicht zurückdrehen … die Nacht, die wir miteinander verbracht haben, war für mich so real wie nur wenige Dinge bisher in meinem Leben. Ich will sie nicht vergessen und nicht verleugnen, ich werde sie immer in meinem Herzen bewahren. Ich hätte meine Freiheit geopfert, hättest du mich am Morgen darum gebeten. Aber nur, weil ich nicht wusste, dass ...“ Ihr Krächzen erstarb, ein Zucken durchlief Doratravas Körper, aber sie hatte keine Tränen mehr übrig. Sie versuchte, weiterzusprechen, aber ihre Stimme versagte ihr den Dienst.

Es sollten abermals einige Momente vergehen bis Rahjalind nun wieder ihre Stimme erhob. „Ich weiß, es war gedankenverloren von mir. Ich bin eine Rahjani und habe mich im Moment verloren. Die Feier, die Freude und die Gefühle … ich ließ mich mitreißen und erst als du mir am Morgen deine Liebe gestanden hast, wusste ich, dass ich zu weit gegangen war. Dass es eben nicht nur ein Opfer an die schöne Göttin war.“ Die Stimme der Novizin wurde nun wieder etwas kräftiger. „Ich möchte dich nicht verlieren, Dora. Du bist mir eine sehr gute Freundin und ich liebe dich als eine solche.“ Sie senkte ihren Blick. „Mehr kann ich dir jedoch nicht geben. Mehr kann ich nicht einmal Lucr … äh … meinem Verlobten geben. Ihm ist es bewusst. Ich liebe ihn, er ist mir Gefährte und Partner und dennoch muss er mich teilen. Ganz werde ich immer nur Rahja gehören.“ Die junge Frau schenkte etwas Tee in eine leere Tasse. „Hier trink das. Das beruhigt.“

Doratrava musste die Novizin loslassen, damit diese den Tee einschenken konnte. Mühsam erhob sie sich und schlich zurück zu ihrem Stuhl, in den sie sich schwer hineinfallen ließ. „Zu weit ...“, flüsterte sie dann leise und immer noch krächzend. „Kann Rahjas Rausch einen zu weit tragen? Über einen Abgrund hinaus, in den man hineinfällt, wenn der Rausch verfliegt?“ Die Gauklerin starrte in ihre Teetasse, in der sich vage ihr verheultes Gesicht spiegelte. Die Augenfarbe konnte sie nicht genau erkennen, dazu gab der flüssige Spiegel Farben zu schlecht wider.

„Aber Dora …“, meinte Rahjalind dann wieder tonlos, „… es hat sich doch zwischen uns nichts geändert, oder? Du bist doch meine Freundin und dafür liebe ich dich.“ Sie versuchte es mit einem ganz objektiven Ansatz. Dass sie beiden kein Paar werden konnten, hatte sie ihr schon am Morgen erzählt, auch beim Grund dafür hatte sie ja nicht gelogen – nun ja, gänzlich ehrlich war sie auch nicht, aber dennoch galten die genannten Gründe. „Bitte sei nicht mehr traurig, du bringst mich auch zum Weinen.“

Endlich sah Doratrava Rahjalind wieder ins Gesicht, aber kein Lächeln zierte ihre Züge. „Ich will nicht, dass du weinen musst wegen mir“, sprach sie mit brüchiger Stimme. „Dazu liebe ich dich zu sehr. Aber meine Trauer kann ich nicht mit einem Fingerschnippen zum Verstummen bringen. Vielleicht muss die Trauer so groß sein, um dem, was verloren ist, den richtigen Wert beimessen zu können.“

Und hatte sich etwas zwischen ihnen geändert? Ihre Gefühle waren zu sehr in Aufruhr, um das jetzt abschließend bewerten zu können. Wobei ihr Geist sich vehement dagegen sträubte, eine solche Sache nach den nüchternen Regeln des Verstandes zu ‚bewerten‘. „Rahjalind … war es denn falsch, mich in dich zu verlieben? Wie kann ein Mensch seinen Gefühlen befehlen, wenn Rahjas Rausch über sie kommt? Bin ich zu schwach? Bin ich selbstsüchtig? Noch nie habe ich mich einem Menschen so nahe gefühlt wie dir in jener Nacht.“ Nicht einmal Jel, wie sie im Nachhinein mit einem Stich im Herzen zugeben musste. „Und ich hatte das Gefühl, dir geht es genauso. Habe ich mich so getäuscht?“ Ihre krächzende Stimme versagte Doratrava mit einem hohen Japser den Dienst, während ihre tiefblauen Augen jede Regung im Gesicht der Novizin aufzusagen schienen.

Beinahe schien es als wäre die Novizin ob der Worte, die sie eben vernommen hatte, schockiert. „Nein …“, meinte sie schlicht und griff nach Doratravas Händen, „… warum solltest du schwach sein, wenn die Herrin dein Herz erfüllt? Oder selbstsüchtig? Sie hat dich berührt und damit gesegnet, so intensiv empfinden zu können.“ Rahjalinds Augen wurden groß. „Auch wenn du das jetzt nicht glaubst, weil es eben gerade weh tut, aber das ist etwas ganz Besonderes.“ Von einen auf den anderen Herzschlag wurde nun ihre Stimme leiser und wieder unsicherer. „Was mich angeht – du hast dich nicht getäuscht, im gemeinsamen Moment mit dir ging es mir genauso. Es ist auch das Blut meiner Familie – wir vernehmen Rahjas Ruf laut und intensiv und bringen oft Unglück über uns und andere.“ Sie deutete auf die Tür. „Sogar Linnart, der im Dienst des Götterfürsten steht, ist davor nicht gefeit.“ Die junge Frau ließ ihren Kopf hängen. „Als ich dann gemerkt habe, was ich angerichtet habe, konnte ich es dir nicht mehr erzählen. Ich wollte dir nicht noch mehr weh tun, denn es hätte alles schwieriger und schwieriger gemacht. Deshalb war ich gestern früh so distanziert. Innerlich hat es mir das Herz gebrochen.“



Kapitel 33: Absicht

Kapitel 35: Lebensliebe