Eine Harte Schule Lebensliebe

Kapitel 35: Lebensliebe

Rahjalinds Worte versetzten dem Karussell der Gefühle einen neuen Schubs. Erneut kehrte sich das Unterste zuoberst, verschwamm das Bild der Novizin in Doratravas Augen. Sie klammerte sich an Rahjalinds Händen fest wie eine Ertrinkende. Auch hatte sie endlich eine Erklärung für das seltsame Verhalten ihrer Freundin am gestrigen Morgen, mit dem ihr inneres Chaos seinen Beginn genommen hatte. Das allein gab ihr schon ein wenig Trost, auch wenn sie sich selbst nicht vorstellen konnte, wie jemand mit gebrochenem Herzen nach außen so kühl und scheinbar rational auftreten konnte. Auf der anderen Seite … „Wieso Unglück?“ Die Stimme der Gauklerin klang noch immer so als betätige jemand einen schlecht geölten Pumpenschwengel. „Wenn du doch genauso fühltest wie ich … ja, Rahja mag deine Dienste fordern, weil du dich ihr verschrieben hast, aber Rahja wird dir doch sicher nicht verbieten, dich mit Haut und Haaren zu verlieben?“ Doratrava holte zitternd und stockend Luft. „Und jetzt … sitzen wir beide mit gebrochenem Herzen da … zwei gebrochene Herzen, dabei hätte es keines einzigen bedurft.“ Plötzlich erschloss sich ihr eine neues Reservoir der Tränen, welche ihr erneut in die Augen schossen. Schluchzend drückte sie Rahjalind an sich, sie konnte nicht anders. Von Weinkrämpfen geschüttelt presste sie Worte heraus, wann immer ihr genug Luft blieb: „Ich liebe dich … noch immer … wie eine Freundin … wie eine Schwester … aber am meisten …“ Hier verließen Doratrava die Worte, und sie wusste sich nicht anders zu helfen, als Rahjalind einen Kuss zu geben, in den sie all ihre Leidenschaft, die Tiefe ihrer Gefühle und den Schlüssel zu ihrer Seele legte. Doch dieser Schlüssel hatte scharf geschliffene Ecken und Kanten – er konnte die Tür zum Paradies öffnen; oder das gebrochene Herz endgültig durchbohren.

Als sich die Gauklerin von ihrer Freundin löste, sah sie direkt in die nun auch verweinten Augen Rahjalinds. „A … aber Dora … ich will dich doch in meinem Leben behalten. Als Freundin und als Schwester. Es würde mir so viel bedeuten.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich liebe viele Menschen, weißt du. Meinen Bruder, meinen Verlobten, Alegretta, meine Eltern und ja … auch dich. Über allem steht jedoch meine Liebe zur Göttin. Lucrann hat das damals verstanden, er hat sich damit über all die anderen Männer erhoben. Und ich hoffe, dass auch du das verstehen kannst.“ Kurz kaute die junge Frau auf ihrer Unterlippe, sie hoffte ihrer Freundin mit ihrer Ehrlichkeit nicht noch mehr weh getan zu haben.

Oder man warf den Schlüssel einfach weg. Und wich den Fragen aus, obwohl sie doch so wichtig waren … für Doratrava zumindest. Sie war versucht, ihre Frage zu wiederholen, doch sie fürchtete sich vor einer weiteren nichtssagenden Antwort oder dem erneuten Versuch ihrer Freundin, auszuweichen. Auch wenn diese weinte und offensichtlich ebenfalls litt, wenn sie beteuerte, es wäre ihr in jener Nacht gegangen wie Doratrava, rettete sie sich doch wieder nur in den Schutz Rahjas, ohne zu ihren eigenen Gefühlen zu stehen, wie es schien. Ernüchtert schluckte die Gauklerin schwer und bemühte sich endlich aktiv darum, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen, auch wenn sie das eigentlich gar nicht wollte. Aber ungeachtet dessen sah man ihr an, dass sie tief verletzt war.

Rahjalind konnte die Emotionen ihrer Freundin fühlen. Innerlich seufzte sie. „Siehst du, das meine mit ´andere ins Unglück stürzen´. Es ist etwas, das im Umfeld meiner Familie oft vorkommt. Du bist jetzt zwei Tage hier bei uns und musstest es schon selbst erfahren, und hast Felina kennen gelernt, der es genauso ging.“ Nun folgte auch ein äußerlicher Seufzer aus tiefstem Herzen. „Wir leben zu oft im Moment und erkennen zu selten die Konsequenzen unseres Tuns.“ Die Novizin wischte sich ihr Gesicht mit einer Serviette trocken.

„Rahjalind“, setzte Doratrava erneut an, um dann zu stocken. Wie ihre Freundin da so saß, selbst mit tränennassem Gesicht, wurde ihr bewusst, wie jung sie doch eigentlich war, fast vier Jahre jünger als sie selbst. Vor vier Jahren hatte die Gauklerin noch nicht einmal gewusst, was körperliche Liebe überhaupt war. Plötzlich kam sie sich unendlich alt vor, und doch so hilflos. Plötzlich kam sie sich wie die große Schwester vor, die ihre kleine Schwester trösten sollte – aber doch selbst Trost so nötig hatte. Pfeifend holte sie Luft, um nicht gleich wieder selbst loszuheulen.

„Rahjalind“, versuchte sie es noch einmal und versuchte ihrer Stimme einen sanften Klang zu geben, was ihr mehr schlecht als recht gelang, da die ganze Heulerei diese nachhaltig ruiniert hatte. „Du hast doch selbst gesagt, dass man seine Gefühle ausleben soll. Und Gefühle erzeugen Gefühle, das ist doch kein Unglück. Ein Unglück wird es nur, wenn man eines daraus macht, indem man seine eigenen Gefühle verleugnet.“ Sie hielt inne, als sie eine Erkenntnis traf. Vielleicht … drückte sie sich einfach zu kompliziert aus für ein achtzehnjähriges Mädchen, Rahja-Novizin hin oder her. „Ich meine damit … du hast doch vorhin selbst gesagt, dass du mir so nahe warst wie ich dir in jener Nacht. Das ist die Liebe, die ich meine. Lass sie zu. Sehe sie nicht als Unglück. Es kann nicht Rahjas Wille sein, eine solche Liebe zu verleugnen.“ Flehend sah Doratrava ihrer Freundin in die Augen.

Rahjalind verzog kurz ihre Lippen. Ein Ausdruck, der nicht leicht zu deuten war. „A… aber ich verleugne das Gefühl doch nicht. Warum denkst du sowas? Ich will dich doch in meinem Leben behalten.“ Sie konnte den Gedankengängen ihrer Freundin nicht so recht folgen, doch wenigstens legte sich der eben immer stärker werdende Impuls, einfach zu Alegretta zu laufen und sie um Hilfe zu bitten.

Doratravas Schultern sanken schon wieder nach vorne. Wenn es ihr nicht so viel bedeuten würde – wenn ihr Rahjalind nicht soviel bedeuten würde, hätte sie schon längst aufgegeben. Warum verstand sie das einfach nicht? Und warum machte sie nun den Eindruck eines in die Enge getriebenen Rehs?

„Rahjalind“, setzte Doratrava dann zum dritten Mal mit ihrer vom Heulen knarzigen Stimme an, leise und so sanft es mit dieser Stimme möglich war. „Weil dieses Gefühl – das du teilst, das du nicht verleugnest – so einzigartig war, diese Gefühl des höchsten Glücks auf Deren, eins zu sein mit einem geliebten Menschen, geistig und körperlich, deswegen möchte ich es wieder erleben. Deine Nähe unmittelbar fühlen, deine Lippen auf den meinen, deine Hand auf meinem Körper, in meinem Körper, dein Glück in meinem Geist. Du hast das genauso gefühlt wie ich, ich habe es gespürt in jener Nacht, sonst wäre mein eigenes Glück nicht so perfekt gewesen. Willst du das denn nicht auch wieder erleben?“

Die Novizin konnte gerade keinen klaren Gedanken fassen. Ihr Mund öffnete sich, doch trat kein Ton daraus hervor. Ihre Augen wurden abermals tränennass, wusste sie doch nicht, was Doratrava von ihr hören wollte. Sie hatte doch schon gesagt, dass sie sie liebte und dass sie sie nicht verlieren mochte, auch wenn sie kein Paar sein konnten. Was wollte sie denn jetzt von ihr hören? Es sollte ihrer Freundin doch klar sein, wie sehr ihr die gemeinsame Zeit gefallen hatte und was sie ihr bedeutete. Warum sonst wollte Rahjalind sie in der Gemeinschaft der Rahjakirche wissen? Wieso kam sie nur auf solche Fragen? Kurz dachte sie daran, nach ihrem Bruder zu rufen, dessen tiefe Stimme sie immer noch von draußen zu vernehmen schien, um nicht mehr ganz so alleine zu sein. Sie fühlte sich in die Enge getrieben und überfordert und klammerte sich am Tischtuch fest.

Doratrava verstand es nicht, aber ihre in ihren Augen doch so einfachen, elementaren Fragen schienen Rahjalind zusehends in Panik zu versetzen. Ihre Freundin so voller Angst und Verzweiflung zu sehen, tat ihr fast körperlich weh, zumal in ihrem eigenen desolaten Gemütszustand, der nicht dadurch verbessert wurde, dass es ihr offenbar unmöglich war, zu Rahjalind durchzudringen.

Aber sie liebte ihre Freundin, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, was Rahjalind für sie empfand, dazu war das wenige, was die Novizin auf ihre Fragen geantwortet hatte, zu widersprüchlich gewesen. Und weil sie ihre Freundin liebte, konnte sie das nicht mit ansehen. Sie zog Rahjalind zu sich heran und umarmte sie, aber diesmal nicht als Geliebte, sondern doch als große, trostspendende Schwester. Sanft streichelte sie die Haare der Novizin. „Ist gut, Rahjalind“, flüsterte sie mit stockender Stimme. „Ich will nicht, dass du traurig bist. Du sollst glücklich sein. Und wenn das heißt ...“ Hier versagte Doratrava wieder die Stimme, und neue Tränen kamen. Aber sie weinte still und hielt Rahjalind weiterhin in ihrer tröstenden Umarmung, zumindest hoffte sie, dass ihre Freundin das so empfand.

Nach einer Weile hatte die Gauklerin sich wieder etwas gefangen, zumindest äußerlich. Der Schmerz wühlte weiter in ihren Eingeweiden, und sie war sich nach diesem Tag sicher, dass das nicht so schnell aufhören würde. „Rahjalind, ich glaube, ich sollte mit Alegretta sprechen“, flüsterte sie der Novizin ins Ohr. Allein, wollte sie noch hinzufügen, aber sie brachte es nicht über sich, das auszusprechen.

Rahjalind saß immer noch etwas unbeweglich da, nickte auf die Worte ihrer Freundin jedoch knapp. „Gehen wir zu… rück …“, meinte sie dann, immer noch etwas neben sich stehend.



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