Eine Harte Schule Fragen

Kapitel 21: Fragen

Rahjalind nickte ihr wortlos zu. „Ich bringe dich auf dein Zimmer.“ Eine schmale Treppe und eine Holztür später erreichten sie eine kleine Schlafkammer. Hier befand sich neben einem rot überzogenen Bett, einer Truhe und einem Beistelltisch mit einer Karaffe und einem Teller Obst nicht viel. Die Novizin ließ sich seufzend auf der Bettkante nieder. „Hast du dir schon überlegt, wie es weiter gehen soll?“

Doratrava setzte sich neben sie und ließ sich dann rückwärts auf das Bett fallen, um die Decke anzustarren. „Weiter mit was? Mit mir? Mit uns? Mit Adda?“ Ihre Stimme klang belegt. „Vielleicht sollte ich einen letzten wilden Tanz auf Rahjas Stute mit dir wagen und morgen verschwinden. Vielleicht sollte ich einfach nur schlafen und morgen mir mit klarem Kopf etwas überlegen. Vielleicht sollte ich Rahja-Akoluthin werden.“ Nichts davon klang so, als hätte Doratrava eine abschließende Entscheidung getroffen. Ein paar Augenblicke war sie still und streichelte den Rücken ihrer Freundin. Dann setzte sie sich wieder auf und drehte sich Rahjalind zu. „Kann man Rahja-Akoluthin auf Zeit werden? Ich meine … ich bin mir noch nicht sicher, ob ich das wirklich werden will. Was das für mich dann bedeutet. Ob ich damit leben kann, ich habe immer noch Angst, dass ich mir damit eine Fessel anlege. Und Adda … bin ich dann wirklich sicher vor ihr? Oder begebe ich mich dann erst recht in ihr Netz? Sie ist doch – nur? - eine einfache, ungeweihte Adlige. Was hat sie zu sagen in der Rahjakirche? Hat sie etwas zu sagen?“ Doratravas graue Augen starrten unglücklich in Rahjalinds grüne. „Was kann ich tun, dass sie nicht mehr mein Feind ist? Ist sie das überhaupt? Oder bin ich vielleicht nur ein unbedeutendes Spielzeug für sie, das sie in ein paar Wochen vergessen hat, wenn ich weg bin?“ Die Gauklerin nahm Rahjalind in die Arme. „Aber ich will dich nicht vergessen. Und ich will dich nicht verlieren. Ich will nicht Angst haben müssen, dich zu besuchen. Ach, in Rahjas Namen, warum muss das alles so kompliziert sein?“

Rahjalind legte ob der Vielzahl an Fragen ihre Stirn in Falten. Es schien ihr falsch ihre Freundin während ihres Redeschwalls zu unterbrechen, obwohl sie sich sicher war, dass ihr die Hälfte der Punkte wieder entfallen waren. „Genau, wie es für dich weitergehen soll …“, sie lächelte, „… vergiss dabei meine Mutter. Hunde, die bellen, beißen nicht. Wichtig ist, was du willst.“ Sie streichelte ihr sanft und beruhigend den Rücken. „Aber einen Dienst in der Kirche als Mittel zum Zweck zu sehen wäre falsch. Es soll von dir selbst ausgehen, und wenn du einmal Akoluthin bist, wird dir das auf ewig bleiben. Du wirst auf ewig der Göttin verbunden sein. Im Diesseits und auch im Jenseits, also wähle weise für dich.“ Die junge Novizin lächelte und ihre Augen strahlten. „Was jedoch nicht heißt, dass du ewig im Dienst der Kirche stehen musst … du könntest dies auch befristet machen. So wie mein Bruder bei den Bannstrahlern, die niedere Weihe als Akoluthin würde dir jedoch bleiben.“

Doratrava war sich wohl bewusst, dass Rahjalind nur eine einzige Frage versucht hatte zu beantworten. Gut, nicht alle ihre Fragen hatten einer Antwort bedurft, waren eher Ausdruck ihrer Stimmung und ihrer Sorgen. Aber gerade welche Rolle Adda in Bezug auf die Rahjakirche genau spielte, hätte sie schon interessiert. Aber sie beschloss, es für den Moment dabei zu belassen und zu hoffen, dass der Hund namens Adda tatsächlich zahnlos war.

Allerdings … „Ich … denke, dann brauche ich etwas Abstand. Im Moment weiß ich nicht wirklich, ob eine Rahja-Weihe nicht eben doch Mittel zum Zweck wäre, darüber muss ich mir erst klar werden.“ Doratrava seufzte abgrundtief. „Und das geht vermutlich nur, wenn ich Adda nicht mehr jeden Tag sehe und nicht mehr jeden Tag an sie erinnert werde … und dazu muss ich gehen.“ Schwer lehnte sich die Gauklerin an ihre Freundin und musste innehalten, um ihre Gefühle im Zaum zu halten, damit sie nicht schon wieder in Tränen ausbrach.

Nachdem sich Doratravas Atem wieder beruhigt hatte, murmelte sie in Rahjalinds Schulter: „Wie läuft so eine niedere Weihe eigentlich ab? Was muss ich dazu tun?“

Rahjalind versuchte ruhig und gleichmütig zu bleiben. Nicht gefühlskalt, denn das wäre der Herrin Rahja ein Gräuel, aber dennoch darauf aus, ihrer Freundin eine Stütze zu sein und sie nicht noch zusätzlich aufzuregen. „Die niedere Weihe ist eine schöne Zeremonie. Fast wie ein Traviabund mit der Göttin. Alegretta wird dich prüfen müssen, ob du dafür reif und bereit bist, dann wird sie einen Weihesegen sprechen.“ An der Erregtheit ihrer Stimme konnte Doratrava deutlich Begeisterung und Vorfreude heraushören. „Es ist anders als eine richtige Weihe, wo dich die Macht der Göttin direkt durchströmt, aber nicht minder schön. Du wirst natürlich auch einen Eid schwören müssen, nach den Lehren der Göttin zu Leben und sie zu verbreiten. Dazu werden wir dich einige Zeit unterrichten müssen.“ Erwartungsvoll lächelnd blickte Rahjalind auf die Gauklerin.

„Hm“, machte Doratrava. Sie hörte die Begeisterung in der Stimme ihrer Freundin, aber unter ihrer Beschreibung konnte sie sich nichts vorstellen. Sie glaubte Rahjalind, dass diese davon überzeugt war, ihr stünde wirklich ein sehr schönes Erlebnis bevor, aber das war Doratrava zu … wie hieß dieses seltsame Wort dafür? Ach ja, abstrakt. Sie würde es darauf ankommen lassen müssen – wenn sie bereit war. Das mit dem Eid hatte sie schon befürchtet. Da waren sie, die Fesseln, vor denen sie Angst hatte. Wie gesagt, es mochten goldene Fesseln sein, aber Fesseln blieben Fesseln. Das konnte sie nicht von jetzt auf nachher entscheiden, darüber musste sie wirklich erst einmal eine Weile nachdenken.

„Hm“, machte Doratrava erneut. „Unterrichten? Was soll ich denn lernen und wie lange würde das gehen? Und die Lehren verbreiten … ich bin doch dann keine Geweihte. Wie muss ich mir das vorstellen?“ Je mehr sie wusste, desto besser konnte sie später entscheiden. Oder wollte sie nur Zeit gewinnen? Sie war sich ihrer selbst gerade nicht sehr sicher. Das war ein Zustand, den sie in den letzten Jahren nur selten erlebt hatte.

Rahjalind zog ungläubig ihre Stirn kraus, dann musste sie schmunzeln. Das war doch offensichtlich. „Aber natürlich würdest du die Lehren verbreiten. Die Menschen würden dich um Rat fragen. Auch wenn du keine Priesterin wärst, würden die Gläubigen zu dir aufsehen und auf dich hören.“ Ihr Schmunzeln wich einem Lächeln. „Das tun sie sogar bei mir schon, obwohl ich bloß eine Novizin bin. Und genau wie ich musst du auch unterrichtet werden … vielleicht nicht so breitgefächert, aber dennoch.“ Vorfreudig klatschte die junge Adelige in ihre Hände. „Das könnten wir hier im Tempel machen, bevor du weiterziehst. Alegretta ist eine gute Lehrerin.“

Ein Stich durchfuhr Doratravas Herz, gleichzeitig schmerzend und freudig. Baute ihre Freundin ihr hier gerade eine goldene Brücke? Wenn sie im Tempel blieb, um unterrichtet zu werden, blieb sie auch noch viel länger bei Rahjalind, was dem Sehnen ihres Herzens Linderung verschaffen würde – und neue Qual. Denn an der grundsätzlichen Einstellung der Novizin würde sich sicherlich so schnell nichts ändern, welche eine über Freundschaft hinausgehende innige Beziehung ausschloss. Doratrava wusste nicht, ob sie damit umgehen können würde, das Ziel ihrer Sehnsüchte jeden Tag unerreichbar vor Augen zu haben. Zudem müsste sie im Einflussbereich Addas verbleiben, und was dieser noch alles für Gemeinheiten einfallen würden, war nicht abzusehen. Andererseits …

Doratrava versuchte ein Lächeln, welches ihr etwas schief geriet. „Rahjalind … ich bin dir … euch dankbar vor dieses Angebot“, begann sie mit zögerlicher Stimme. „Ich … könntet ihr mich probeweise unterrichten? Ich meine, ich habe doch keine Ahnung, was mich erwartet, und will mich deswegen nicht jetzt schon zu etwas verpflichten, das ich am Ende vielleicht gar nicht kann. Würdet ihr mich unterrichten mit … mit der Möglichkeit, dass ich jederzeit aufhören kann, wenn … ich mich dem nicht gewachsen fühle?“ Unsicher sah sie Rahjalind an. „Und … dass ich, falls ich durchhalte, erst am Ende entscheide, ob ich die niedere Weihe annehmen möchte?“

Rahjalind nickte der Gauklerin knapp zu. „Natürlich ginge das. Die Akoluthenweihe und die damit einhergehenden Verpflichtungen und Prüfungen stehen sowieso erst am Ende deiner Ausbildung. Es steht dir natürlich frei abzubrechen.“ Ja, auch ihr Onkel Rahjaman hatte damals sein Noviziat abgebrochen. In der Kirche Rahjas gab es nur wenig Zwang, solange man die Lehren der Göttin in sich trug. „Es ist in unserer Gemeinschaft wichtig, dass du die Dinge, die du tust, mit voller Leidenschaft und deinem Herzen machst. Wir legen uns hier keine Ketten an, Dora.“

Das mit den Ketten zu beurteilen, behielt Doratrava sich noch vor. Nur weil man keine Ketten sah, hieß das nicht immer, dass keine da waren. Manchmal sah man sie nur deshalb nicht, weil man ihnen nicht nahe genug kam. Aber die Gauklerin war nun erleichtert, ihre Gesichtszüge entspannten sich merklich. „Das … hört sich doch gut an. Ich glaube, dann sollten wir morgen früh mit Alegretta darüber sprechen. Und ich sollte schlafen, es ist spät geworden ...“ Ein heftiger, plötzlicher Anfall von Sehnsucht ließ sie aufseufzen, ihre Stimme wurde heiser. „Rahjalind … muss ich alleine schlafen?“

Rahjalind lächelte bis über beide Ohren. Sie schien sehr erfreut über die Entscheidung ihrer Freundin. „Ja, sprechen wir mit Alegretta. Sie wird entzückt sein.“ Ihr Blick ging für einige Momente auf die Schlafstatt des bescheidenen Zimmers. „Du musst nicht alleine schlafen, Schwester.“ Kurz dachte die Novizin daran, wie viele Nächte sie wohl schon an der Seite der Tempeloberen verbracht hatte. „Du kannst bei mir im Zimmer nächtigen, Schwester. Ich denke auch, dass Alegretta nichts dagegen hätte, wenn du bei ihr nächtigst. Wie du es möchtest.“

Aha, jetzt war sie also Rahjalinds ‚Schwester‘, dachte Doratrava leicht schmerzlich, wenn auch durchaus berührt. Aber mit einer Schwester schlief man vielleicht zusammen, Rahjas Wonnen würde man mit einer solchen wohl eher nicht auskosten. Innerlich seufzend beschloss die Gauklerin, das Angebot trotzdem anzunehmen. „Dann schlafe ich bei dir, Rahjalind. Alegretta … ist mir noch zu fremd.“ Die Gegenanrede ‚Schwester‘ vermied sie bewusst. Auch das war ihr noch zu ungewohnt – und zu distanziert. Zumindest empfand sie es so.

„Schön …“, gab die junge Novizin zur Antwort, nahm ihre Freundin und nun Schwester im Glauben bei ihrer Hand und führte sie in ihr Zimmer.



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Kapitel 22: Schwester