Eine Harte Schule Schwester

Kapitel 22: Schwester

Als Doratrava die Strahlen des Praiosmales wachküssten, war Rahjalind fort und sie sah sich, wie schon am Tag zuvor auf dem Gut ihrer Familie, alleine im Bett liegen. Sie konnte ihre Freundin zwar noch riechen – der Duft ihrer Haare und das Rosenöl, das sie sich stets auftrug - doch war sie in der einfach eingerichtete Kammer nicht auszumachen.

Tief sog Doratrava den Geruch ein und seufzte. Sollte sie einfach liegenbleiben? Es war ihrem Gefühl nach noch recht früh, und sie war bekennende Langschläferin. Erfahrungsgemäß wollten die Leute eher abends als am frühen Morgen von Gauklern unterhalten werden, da gewöhnte man es sich schnell an, die Morgenstunden zu verschlafen.

Aber dann regte sich die Unruhe in der Gauklerin, als ihr einfiel, was sie mit Rahjalind am Abend besprochen hatte. Ausbildung zur Rahja-Akoluthin. Sofort regte sich wieder ein mulmiges Gefühl in ihrem Bauch. Ob man da früh aufstehen musste? Aber das war vermutlich der unwichtigste Aspekt dieser Angelegenheit. Erneut seufzend schlug Doratrava die dünne Decke zur Seite und schwang ihre schlanken, weißen Beine aus dem Bett. Sie stand auf, machte sich einigermaßen frisch an der Wasserschale, welche auf einer Anrichte stand, zog die dünne Gewandung an, welche statt Alegrettas Kleid heute Morgen bereitlag und verließ das Zimmer auf der Suche nach einem Ort, wo sie sich erleichtern konnte und nach Alegretta und Rahjalind. Zeit, sich Gewissheit zu verschaffen – und ein Frühstück.

Im Tempelraum angekommen, dauerte es nicht lange, bis die Gauklerin Rahjalind ausmachen konnte. Sie saß gerade bei Tisch und kaute an einem Stück Käse. „Oh …“, stöhnte die Linnartsteinerin auf und winkte Doratrava zu, „… da bist du ja schon. Komm zu mir, Schwester. Ich habe dir etwas zu essen richten lassen.“

‚Schon‘? Na, wie auch immer, umso besser, wenn sie es hier auch nicht so mit dem früh Aufstehen hatten; wobei Rahjalind ja durchaus schon deutlich vor Doratrava wach gewesen war.

„Essen hört sich gut an“, stimmte die Gauklerin zu. „Aber Rahjalind … könntest du mich weiter beim Namen nennen, bitte? ‚Schwester‘ hört sich noch so fremd an, so distanziert. Außerdem kann ich dir ja nicht versprechen, am Ende wirklich deine Schwester im Glauben zu werden.“

Fast schien es als riefen diese Worte für Rahjalind Enttäuschung hervor. Kurz schürzte sie ihre Lippen, blieb sonst jedoch ruhig und unterbrach die Gauklerin nicht.

„Und was passiert jetzt?“ kam Doratrava auf das zu sprechen, was ihr am meisten unter den Nägeln brannte. „Sprechen wir mit Alegretta?“

Kurz deutete die Novizin auf den zweiten Teller am Tisch. Darauf lagen, schön angerichtet, Käse, Brot, Wurst und Weintrauben. Vor allem letztere schienen hier, so kurz nach der Erntezeit, allgegenwärtig zu sein. „Wenn du gegessen hast, hat uns Alegretta in ihr Arbeitszimmer bestellt. Sie wird dir wohl ein paar Fragen stellen und entscheiden ob sie dich unterrichten wird.“ Rahjalind hob beschwichtigend ihre Hände. „Aber keine Sorge, du hast nichts zu befürchten. Sie ist zugänglich und wird dich in ihr Herz schließen.“

Doratrava begann zu essen, zunächst schweigend. Sie wollte nachdenken, aber ihr fiel nicht ein, worüber. Lieber studierte sie Rahjalinds Gesicht, das ihr in so kurzer Zeit so vertraut geworden war. Sie hatte das kurze Zucken im Gesicht ihrer Freundin wohl bemerkt, als sie diese gebeten hatte, ihren Namen statt der Anrede ‚Schwester‘ zu benutzen. Hoffentlich stieß sie die Novizin damit nicht vor den Kopf. Aber sie wollte diese Sache hier auch nicht gleich mit einer Heuchelei anfangen. Sie würde auch beim Gespräch mit Alegretta nicht heucheln. Sie würde nichts zustimmen, das sie selbst nicht wirklich wollte. Auch nicht um den Preis, dann Rahjalind bald nicht mehr sehen zu können – zumindest für den Moment. Schlaf war doch ab und zu eine gute Sache, er ließ sie manche Dinge in neuem Lichte und damit klarer sehen. Ob ihr diese Erkenntnis auch gekommen wäre, hätte sie die halbe Nacht mit Rahjalind zusammen Rahjas Wonnen erkundet? Aber sie hatten lediglich geschlafen, aneinandergekuschelt wie Schwestern, aber nicht mehr, selbst Travia hätte daran wohl kaum etwas auszusetzen gehabt. Kurz zeigte sich ein bitteres Lächeln auf ihren Lippen.

Während die Gauklerin sich vorstellte, wie ihre Finger das Gesicht ihrer Freundin liebkosten, was ihre saphirblauen Augen trotz der kalten Farbe warm und weich erschienen ließ, zeigte sich ein ungewohnt harter Zug um ihren Mund, ohne dass sie sich dessen bewusst geworden wäre. Das war ein seltsamer Kontrast.

Die Novizin bemerkte das schmollende Verhalten ihrer Freundin. „Was stört dich denn daran, wenn ich dich ´Schwester´ nenne?“, erkannte sie das Problem Doratravas, „Wir sind eine Familie und füreinander da. Wir geben uns gegenseitig Halt, nehmen einander in den Arm, wenn wir traurig sind und lachen, tanzen, singen zusammen, wenn wir fröhlich sind. Unsere Mutter ist die Herrin Rahja, wir sind ihre Kinder. So auch du.“ Rahjalinds Augen leuchteten.

Doratrava schaute auf, dann kaute sie auf ihrer Unterlippe. Aber heute würde sie nicht ausweichen. „Du weißt, dass ich dich liebe. Nicht wie eine Schwester, sondern … also … richtig. Ich möchte dich immer ansehen, immer bei dir sein, dich küssen, immer deinen Körper spüren, deine Hände auf meinem Körper, in meinem Körper. Du … willst das vielleicht nicht mehr … aber irgendwie … wenn du ‚Schwester‘ sagst, dann klingt das so endgültig, so … fern … weil man mit einer Schwester so etwas nicht macht. Das ist als wenn du mich mit einer Nadel stichst … verstehst du, was ich meine? Ich will dir damit nicht wehtun und ich will dich auch nicht enttäuschen, aber du bist meine Freundin, und wenn jemand Ehrlichkeit verdient hat, dann du.“

Für ihre Verhältnisse hatte Doratrava sehr sachlich gesprochen, auch wenn man ihrer Stimme die Anspannung deutlich anhören konnte. Aber war sie noch vor einem Tag bei diesem Thema unweigerlich in Tränen ausgebrochen, schien diese ‚Gefahr‘ nun nicht zu drohen. Und trotz ihres eckigen, fast schon schroffen Tonfalls war der Blick ihrer Augen noch immer warm und liebevoll.

„Ach Dora …“, Rahjalind streichelte ihr sanft über die Wange und legte dann ihre Hand auf die der Gauklerin, „… süße Dora …“, die Novizin ging einen Moment lang in sich, um ja die richtigen Worte parat zu haben. „Was nur könnte sich näherstehen als Schwestern? Nichts ist sich näher als die Familie, und auch wenn wir nicht dasselbe Blut in unseren Adern fließen haben, wären wir eine Familie.“ Sie brach ab, wusste sie doch, dass es das wohl nicht war, was die Gauklerin in diesem Moment hören wollte. Aber was sollte sie ihr sagen? Dass sie sie nicht eifersüchtig liebte? Ja, Rahjalind liebte sie, genauso wie sie auch Alegretta liebte und andere. Aber eben nicht auf jene besitzergreifende Art und Weise.

„Ich hatte nie eine richtige Familie ...“, flüsterte Doratrava. „Erst die Traviageweihten … vielleicht haben sie mich geliebt, dann haben sie es mir aber schlecht gezeigt, vor allem ‚Vater‘. Dann die Gaukler, aber eine Gauklerfamilie ist eher eine Zweckgemeinschaft, als dass sie einem Kind wirkliche Geborgenheit vermitteln könnte. Ich hatte einen Platz zum Schlafen und etwas zu essen, ja. Aber der Preis war hoch.“ Die Gauklerin sah Rahjalind in die Augen. „Ich kann nicht aus eigener Erfahrung nachfühlen, was es bedeutete, Teil deiner Familie“ - bei dieser Wortwahl musste sie unwillkürlich an Adda und giftige Schlangen denken - „nein, Rahjas Familie zu werden. Was ich nachfühlen kann, ist das hier.“ Damit zog sie Rahjalind eng an sich und küsste sie auf den Mund – nicht fordernd, sondern sanft und liebevoll, auch wenn allein das sachte Berühren der Lippen ihrer Freundin mit ihren eigenen ihr schon wieder Schwindel verursachte und ihr Inneres nach mehr schreien ließ, so dass sie ablassen musste, um nicht auf der Stelle in einem Strudel erneut aufflammender Leidenschaft zu versinken. „Das ist Rahjalind die Geliebte für mich. Rahjalind die Schwester kann ich mir noch nicht richtig vorstellen. Kann denn Rahjalind die Schwester auch Rahjalind die Geliebte sein … zumindest von Zeit zu Zeit? Dass ich dich nicht für mich allein haben kann, haben wir ja schon ausführlich … diskutiert. Davon abgesehen muss ich Rahjalind die Schwester erst kennenlernen, gib mir dafür bitte etwas Zeit.“

Rahjalind nickte lächelnd. „Das ist doch das Schöne und Besondere an unserer Familie, Dora. Wir sind alle Geliebte und Liebhaber füreinander.“ Sie zwinkerte ihr zu. „Warum sollte es uns von Mutter Rahjas Gaben fernhalten, wenn wir uns Schwestern heißen?“

Unvermittelt stieg ein intensiver Rosaton in Doratravas Gesicht, den sie nicht kontrollieren konnte, auch nicht den ungläubigen und verwirrten Gesichtsausdruck, der damit einherging. „Weil … äh … weil es falsch ist, seine Schwester rahjagefällig zu lieben?“ stotterte die Gauklerin. „Vor Travia zumindest ...“ Trotz allem, was Doratrava in letzter Zeit erlebt hatte, erleben durfte, gerade, was die Liebe anging, saß die travianische Grundprägung noch immer ganz tief in ihr. Einmal mehr verfluchte sie sich dafür, haderte mit ihren Zieheltern. Würde sie darüber jemals hinwegkommen?

„Aber dann … warum …“ haben wir heute Nacht nur geschlafen? entfuhr es Doratrava fast, bevor sie sich auf halbem Weg auf die Lippe biss. Doch dann zog sie Rahjalind energisch zu sich heran und gab ihrer Geliebten einen richtigen Kuss voller fordernder Sehnsucht – und Erleichterung. Plötzlich strahlte ihr Gesicht wieder.

Rahjalind streichelte in einer zärtlichen Geste über die Wange der Gauklerin. „Nun ja, also wären wir leibliche Schwestern, wäre es falsch … ja, aber wir sind doch eben Schwestern im Glauben. Die Herrin Rahja hält ihre schützenden Hände über uns und wir sind ihre Kinder – auch wenn wir natürlich untereinander nicht verwandt sind.“ Die Novizin blickte auf den Teller vor der Gauklerin, was ein bisschen wie eine Aufforderung wirkte.

Doratrava lächelte schief und entschuldigend, dann holte sie den Rest des Frühstücks schnell nach – auch wenn sie viel lieber diese neue, ungewohnte Art der schwesterlichen Verbundenheit weiter ausgekostet hätte. Eine gewisse Zeit lang konnte man bestimmt auch nur von Luft und Liebe allein leben, ein Gedanke, der sie ein wenig selbstironisch lächeln ließ. Als sie genug gegessen hatte, schob sie ihren Teller von sich. „Wollen wir dann?“ fragte sie ungewohnt forsch.



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