Eine Harte Schule Erklaerungen

Kapitel 9: Erklärungen

Doratrava setzte sich mangels anderer Sitzgelegenheit zögernd neben Alegretta auf das Bett und wischte sich über die immer noch feuchten Augen. „Ich … du hast gefragt und … ich habe geantwortet“, begann die Gauklerin zaghaft. „Du wolltest doch wissen, was mit mir ist. Ich … habe noch nie mit jemandem auf diese Weise darüber sprechen können, nicht mal mit Rahjalind bis jetzt, das ging irgendwie nicht. Es … fiel … fällt … mit immer noch nicht leicht, das alles zu erzählen, aber ich hoffe ja genau das, dass du mir helfen kannst. Seit … das alles begann, weiß ich oft nicht, wo mir der Kopf steht und …“ Sie holte stockend Luft und beherrschte sich mühsam, um nicht gleich wieder loszuheulen. „Es tut weh … warum tut Liebe immer weh?“ Doratrava verkrampfte die Hände in ihrem Schoß ineinander und sah Alegretta flehend an.

„Aber das, was du fühlst, ist völlig normal,. Ob Mann oder Frau, es ist gleich, wir sind gleich.“ Alegretta versuchte, das, was ihr so selbstverständlich war, in Worte zu fassen. „Du musst doch nicht gleich einen Bund mit irgendwem eingehen, nur, weil ihr euch nahe wart. Das ist etwas streng. Bei uns ist das nicht so, wir sind freier, manchen zu frei, aber das ist eine Frage der Auslegung ...“ Sie sah Doratrava tief in die Augen. „Weißt du, Liebe ist wohl das stärkste Gefühl, das wir anderen entgegenbringen können, gerade, wenn sie selbstlos und bedingungslos ist. Deshalb tut es auch so weh, wenn du meinst, dass sie nicht erwidert wird. Du entdeckst gerade so viel an und in dir, und eine Rahjani oder angehende Rahjani ist selbst für erfahrene Personen nicht einfach. Man darf nicht, auf gar keinen Fall eifersüchtig sein und vieles mehr …“

Doratrava hörte die Worte, aber der Sinn dahinter entglitt ihr weitgehend. Tatsächlich hatte sie keine Probleme damit, sich in Frauen verlieben zu können, irgendwie war ihr das völlig natürlich vorgekommen, sie hatte keinen zweiten Gedanken daran verschwendet, es hatte sich einfach … richtig angefühlt. Was nicht hieß, dass sie nun Männer verabscheute oder sowas. Wenn sie an Lugan zurückdachte, dann hatte sie im Großen und Ganzen nur angenehme Erinnerungen an ihre gemeinsamen Nächte, nur … die Tiefe der Gefühle, die unbändige Leidenschaft, das unbedingte Verlangen, die hemmungslose Hingabe, die hatten, jetzt im Rückblick, gefehlt. Aber dennoch, es war schön gewesen, auch da bereute sie nichts – bis auf dem Beginn, die magische Beeinflussung durch diese Sharisad, die offenbar nicht wusste, was sie tat. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie nach Abklingen des Zaubers stundenlang heulend durch die Nacht geirrt war. Das war zu diesem Zeitpunkt die schlimmste Erfahrung ihres jungen Lebens gewesen, vielleicht abgesehen von der Nacht, als sie vor ihren Zieheltern geflohen war.

Und einen Bund eingehen … soweit hatte Doratrava überhaupt nicht gedacht. Allein das Gefühl, sich von Jel trennen zu müssen, hatte ihr damals schier das Herz zerrissen. Da war es um keinen Bund gegangen, sondern darum, eine neue, unbeschreiblich schöne und erfüllende Erfahrung nach einer Nacht preisgeben zu müssen, weil sie wusste, dass sie nicht für immer an einem Ort bleiben und gleichzeitig glücklich sein konnte.

Und dann Rahjalind … auch da hatte sie kein Sandkörnchen lang an einen Bund gedacht. Sie hatte sich verliebt, von jetzt auf nachher, bedingungslos, erneut, so war das. Ohne Gedanken an die Zukunft, aus dem Impuls des Augenblicks heraus. Und wieder war es richtig gewesen, und wieder hatte sie vom ersten Moment an gewusst, dass es nicht von Dauer sein konnte. Aber was die kleine Stimme ihres Verstandes ihr flüsterte und was sie dann fühlte, das waren zwei völlig unterschiedliche Paar Stiefel. Und dann, am nächsten Morgen, heute Morgen, hatte Rahjalind sich die Rüstung des Rahjaglaubens angezogen und all ihr Flehen, ihre Wünsche, ihre Beteuerungen, ihre Liebe, Rahjas Gabe, an sich abprallen lassen. Eine Novizin könne sich nicht binden, hatte sie gesagt. Verdammt, wer hatte von Binden gesprochen? Aber lieben! Lieben sollte sie doch können und Liebe verstehen und erwidern! Dass diese Beziehung nicht von Dauer sein konnte, zwischen einer Adligen und einer einfachen Gauklerin, das war Doratrava vom ersten Moment an klar gewesen, aber konnte sie denn nicht von einer Novizin der Rahja erwarten, diese Wahrheit schonender beigebracht zu bekommen? Zumal sie diese Wahrheit längst kannte?

Doratrava war völlig überfordert, all diese Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen. „Eifersüchtig?“ brachte sie schließlich mühsam heraus. „Wer ist eifersüchtig auf wen?“ Ihre Stimme klang müde und resigniert, und nebenan vergnügte sich Adda, die sie vermutlich weit weg wünschte, und wo war Rahjalind überhaupt? Oh, wie sehnte sie sich nach einer liebevollen Umarmung, die sie tröstete und ihre Schmerzen linderte!

Alegretta hatte Mitleid mit Doratrava, sie wirkte so verzweifelt und verletzlich, sie sehnte sich so sehr nach etwas anderem, das sie wohl bisher leider nie gehabt hatte. So nahm sie die junge Frau zärtlich in den Arm und strich ihr über die hübsche Wange. „Du hast die Liebe eben erst richtig entdeckt. Und anstatt dich zu freuen, leidest du so sehr. Dabei hast du so schöne Erfahrungen gemacht, und, da bin ich mir sicher, es werden noch mehr kommen, jetzt, da du dich geöffnet hast.“ Es war nicht leicht zu erklären, Alegretta wusste genau, was Doratrava suchte, doch war dies … nun ja, etwas anderes. „Du sehnst dich nach der einen Person, die dich liebt, so, wie du bist. Wir, also auch Rahjalind, die noch recht unerfahren ist und ja noch unter meiner Obhut steht, liebt dich sicher, aber auf ihre Weise. Sie wird auch andere lieben, Männer und Frauen, aber ihre wahre Liebe gilt der schönen Göttin, eine Rahjani hat man nie alleine, man muss sie immer teilen und sich bewusst sein, dass das, was andere als Liebesbeweis sehen, für uns zu unserem Glauben gehört, es hat eine tiefe Bedeutung, aber es ist nicht, wie bei Travia, auf eine Person bezogen.“ Alegretta lachte, nicht fröhlich, eher resigniert oder ironisch, es war schwer zu sagen. „Unsere Liebe ist Rahja, vielleicht würde ich mir auch jemanden wünschen, der emotional stark genug ist, mich zu lieben, wie ich bin und mir die Freiheit meines Glaubens zu lassen? Selten findet man solche Menschen. Dora, du bist hübsch, du bist jung, genieße das Leben, auch mit Rahjalind, aber deine Zukunft, deine glückliche Zukunft, sehe ich nicht in ihren Armen, sie ist eher jemand, der dir helfen wird auf deinem Weg.“ Die kleine, aber charismatische Frau zögerte kurz. „Du willst sie sicher sprechen, oder?“

Doratrava schmiegte sich dankbar in die Umarmung der Geweihten. Allerdings fühlte sie sich frappant an ihr Gespräch mit Rahjalind vom Morgen erinnert. Da hatte sie sich ihre blutige Nase schon abgeholt, als die Novizin sie über das Wesen der Schönen Göttin und die Verpflichtungen ihrer Geweihten aufgeklärt hatte, doch in einer distanzierten, fast schon kalten Weise, die dem, was die Gauklerin unter ‚rahjagefällig‘ verstand, doch sehr zuwidergelaufen war. Doch vielleicht war es eine unbewusste Schutzreaktion gewesen? Hatte sie Angst, von ihr, Doratrava, zu sehr vereinnahmt zu werden, in ihr falsche Hoffnungen auf eben jene Bindung zu wecken, die doch Geweihte der Rahja sozusagen von Amts wegen gar nicht eingehen konnten?

Wie dem auch sei, sie hatte sich mit Rahjalind wieder vertragen und war mit ihr übereingekommen, dass sie beide noch ein paar schöne Tage zusammen verbringen wollten, die sie nach Herzenslust auskosteten, und dann würde man sehen. Doratrava hatte nicht die Absicht, für immer hier zu bleiben, zumindest sagte das ihr Verstand, wenn auch ihre Gefühle gerade eine andere Sprache sprachen. Auf jeden Fall wollte sie gerne wieder zu ihrer Freundin – Geliebten, aber nicht, um mit ihr nochmals den Streit von heute morgen neu aufleben zu lassen. Die kurze Zeit, die sie noch zusammen hatten, würde sie auf keinen Fall mit erneuten Diskussionen um das Wesen der Schönen Göttin verschwenden, oh nein! Alegrettas Rat war offensichtlich, das Leben zu nehmen und zu genießen, wie es kam, und genau das hatte sie vor. Das würde sie nicht davor bewahren, dass ihr erneut das Herz brach, wenn der Tag des Abschieds gekommen war, aber diesmal konnte sie sich hoffentlich ein wenig länger darauf vorbereiten. Vielleicht wurde es dann weniger schlimm.

Ob sie selbst wohl stark genug wäre, eine solche Bindung einzugehen, wie Alegretta sie wohl für sich selbst wünschte? Eine Bindung, die Rahjalind alle Freiheiten und Pflichten ihres Glaubens ließ, ohne Eifersucht und Reue? Sie wusste es nicht, kannte sich selbst aber zumindest so gut, dass sie es bezweifelte.

Schade, dass auch die Geweihte kein Mittel kannte, um ihr die Schmerzen zu nehmen. Einem hoffnungslos verliebten Menschen mit den Verstand ansprechenden Erklärungen zu den Pflichten, die die Weihe mit sich brachte, zu kommen, war wahrlich wenig hilfreich. Zumindest fühlte sie sich nicht getröstet, auf jeden Fall nicht durch die Worte. Allein die Umarmung Alegrettas, ihre Nähe und Wärme, beruhigten Doratrava ein wenig, wenn sie sich auch Rahjalind an der Stelle der Geweihten wünschte.

So lag Doratrava also eine ganze Zeit lang schweigend in den Armen Alegrettas, den Kopf auf ihre Schulter gelegt, den Blick in unergründliche Fernen gerichtet, während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen und die Frage der Geweihten noch immer unbeantwortet im Raum hing. Mit einem tiefen Seufzen löste sich Doratrava schließlich widerwillig aus der Umarmung und setzte sich wieder aufrecht hin. „Ja, ich möchte wieder zu Rahjalind“, sprach sie endlich mit leiser, etwas verloren klingender Stimme. „Hab Dank für deine Worte und deine Nähe. Ich … solange ich hier bin, mag es sein, dass ich dich nochmal besuchen komme.“ Und danke für die Rettung vor Adda, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Hmm, gerne, meine Kleine. Aber du solltest noch etwas warten. Adda badet noch und sie schätzt es nicht, gestört zu werden ...“ Alegretta musterte Doratrava mit seltsamem, nachdenklichem Blick. „Wahrscheinlich ist es besser, wenn du hier bleibst und ich Rahjalind hole. Sie mag dich, aber binde dich nicht an sie, das wird dich nur unglücklich machen, ihr seid beide noch so jung.“ Ohne weiteres wandte sie sich zum Gehen und ließ Doratrava alleine zurück. An der Schwelle warf sie dann doch einen Blick zurück. „Dora … das ist Liebe, so ist Liebe. Sie tut weh, gerade beim ersten Mal, aber immer wieder. Du meinst, es würde dich von innen zerreißen …“ Da die hübsche, unsichere Frau gar so unglücklich und verloren war, legte Alegretta so viel Zuversicht und Wärme in ihre Worte, wie es bei dem Thema möglich war. „Niemand weiß, was wirklich hilft, oft die Zeit oder ein anderer Mensch … doch es geht vorbei, glaube mir. Das ist die Liebe. Und doch ist sie so schön.“

Doratrava starrte die Geweihte an, und wieder drohten ihr Tränen in die Augen zu steigen. Ja, genau so fühlte es sich an, sie hätte es nicht besser beschreiben können, schön und schrecklich, grausam, schmerzhaft, herzzerreißend – und süchtig machend. Sie wollte noch etwas sagen, doch ihr Hals war zu eng dazu, und dann war Alegretta gegangen.

Die Gauklerin ließ sie sich rückwärts aufs Bett fallen und starrte die Decke an. Niemand wusste, was wirklich half? Nicht einmal die Geweihten der Göttin, unter deren Schutz die Liebe stand? Und warum nur machte sie das alles so fertig? So kannte sie sich gar nicht, sie war doch eigentlich ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch, der gelernt hatte, aus jeder Situation das Beste zu machen. Warum funktionierte das hier nicht so recht?



Kapitel 8: Überraschung

Kapitel 10: Pläne