Eine Harte Schule Demut

Kapitel 26: Demut

Kaum hatte sich die Tür geschlossen, veränderte sich Alegretta schlagartig. Sie sah müde und traurig aus und stützte sich auf Rahjalind. „Ach, meine Kleine. Was soll ich nur machen? Es wäre doch nicht für lange gewesen. Eine Zeit, die uns, wie du weißt, daran erinnern soll, dass wir IHRE Diener und Vermittler auf Dere sind. Ich weiß, wie gern du sie hast und deshalb würde ich die Latrinen weglassen, aber ich muss als Tempelmutter auch mal streng sein.“ Sie fuhr der Novizin durch das honigblonde Haar, das wie gesponnenes Gold zwischen ihren Fingern glänzte. „Liebchen, bald bist du so weit. Rahja wird dich berühren und in den Kreis ihrer Geweihten aufnehmen, ich spüre es. Es mögen Tage oder Monde sein, aber du dienst ihr sehr gut. Ich hoffe, du bleibst dann bei mir im Tempel?“ Trauer stand in ihren schönen Augen und die Novizin wusste, dass Alegretta Angst vor einem erneuten Verlust hatte, ihr aber nicht im Weg stehen würde. „Sei bitte dennoch so gut und nutze die Chance im Gestüt. Dein Onkel Rahjaman ist dort, seine Frau Verema hat nicht nur ein gutes Herz, nein, sie wird dir alle Frage beantworten. Aber ... was denkst du hinsichtlich Dora? Schon um dich glücklich zu machen würde ich sie nehmen, aber sie zeigt keinerlei Einsicht und sie wird Probleme machen.“ Sie seufzte. Ja, sie schluchzte gar, während sie auf eine Antwort wartete. Es gab nicht viele Personen, auch nicht Adda, denen sie sich so anvertraute.

Die Novizin nahm ihre Lehrmeisterin in ihre Arme und küsste sanft ihre Lippen. „Mach dir nicht zu viele Gedanken, Gretta …“, sie schmunzelte, „… sonst bekommst du noch Falten.“ Dann löste sich Rahjalind wieder von ihr. „Wegen mir musst du gar nichts tun. Dora im Übrigen auch nicht. Sie wirkt ein bisschen so, als fühle sie sich durch mich gezwungen, den Gedanken, Rahja zu dienen, überhaupt in Erwägung zu ziehen.“ Das hübsche Mädchen ging ein paar Schritte auf und ab. Wie eine Löwin. „Wir wissen beide, dass Rahja zu dienen mehr bedeutet als rauschende Feste zu feiern, hübsch auszusehen und sich zu lieben. Wir müssen genauso mit dem Leid enttäuschter Liebe, Alkoholsucht und ähnlichem umgehen können. Wir müssen den Gläubigen eine Stütze sein und ihnen zur Hand gehen, damit sie den Glauben an die Herrin nicht verlieren. Dora … auch sie würde die Göttin repräsentieren, wenn auch nur als Laie … wenn sie nicht mit vollem Herzen dabei ist, wird sie es nicht schaffen und sie wird nur darunter leiden und sich eingesperrt fühlen.“

Die Hochgeweihte überlegte und betrachtete dabei Rahjalind ... Sie hatte ihren Entschluss gefasst: „Komm, wir gehen zu Dora.“

***

Alegretta schmunzelte, als sie die spielerischen, kunstvollen Übungen Doratravas sah. Da diese in ihrer Versunkenheit von den beiden Frauen überrascht worden war, hielt sie leicht verwirrt in der Bewegung inne und ging dann wieder an ihren Platz. Rahjalind setzte sich wieder zu ihrer Freundin und hielt ihr behutsam die Hand, welche Doratrava dankbar nahm.

„Ich bin zu einem Entschluss gekommen.“ Alegretta wollte es hinter sich haben und kam schnell zur Sache. „Wir ersetzen den Dienst an der Latrinen und die sonstigen … äh … Reinigungsarbeiten durch Arbeit im Garten. Der Rest wird so bleiben, wie ich es gesagt habe. Ich setze nämlich voraus, dass du aus freien Stücken und aus Liebe und Zuneigung zur Herrin Rahja diesen Weg freiwillig wählst. Denn wenn dem nicht so ist, wirst du deine Ausbildung nicht hier empfangen können. Soll Bruder Rahjan dich als Freundschaftsdienst unterweisen, oder dir gar gleich die Akoluthenwürde verleihen.“ Sie zuckte mit ihren Schultern. „Ich werde dich bestimmt nicht unausgebildet und unvorbereitet als Dienerin der Lieblichen in die Welt entlassen. Rahjalind ist auch nicht für immer weg, keine Sorge.“ Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und faltete die Hände. „So, wir werden später noch einmal darüber reden … nimm dir Zeit zu überlegen und erzähl mir dann, was du dazu sagst.“

Die Novizin war verwundert darüber, dass Alegretta ihrem Wunsch so bereitwillig nachgekommen war, die Bedingungen für Doratrava zu lockern, und empfand es als ein faires Angebot. Als die Gauklerin ihr einen Seitenblick zuwarf, nickte die junge Frau bloß aufmunternd.

Doratrava saß eine Weile still und überlegte, während sie Rahjalinds warme Hand in der ihren fühlte. Sollte sie trotzdem Rahjan aufsuchen? Sie war sich sicher, dass dieser ein gänzlich anderes Vorgehen in dieser Beziehung an den Tag legen würde, allerdings war sie sich genauso sicher, dass er über ihr Anliegen sehr überrascht sein würde. Aber sie würde ihn suchen müssen, war er doch wie sie selbst sehr oft unterwegs, wie es schien.

Oder sollte sie Alegrettas Angebot annehmen? Rahjalind schien dafür zu sein, aber sie selbst war sich nicht ganz im Klaren darüber, was sie daraus machen sollte. Aber sie konnte sich Klarheit verschaffen, wenn sie hierblieb und es einfach versuchte.

Schließlich sah sie Alegretta erneut in die Augen, wobei sie nun wieder den Eindruck der verletzlichen, leicht verlegenen jungen Frau machte, als hätte es ihr Gebaren von vorhin gar nicht gegeben. „Ich … überlege es mir noch einmal. Bis wann wollt Ihr Bescheid wissen? Und noch eines: wie lange wird denn die Ausbildung dauern? Und … wie lang muss Rahjalind in Elenvina bleiben?“ Die letzte Frage trieb der Gauklerin wieder etwas Farbe ins Gesicht.

Die Tempelvorsteherin war zufrieden. "Dora, schlaf eine Nacht darüber und lass dich von Rahjalind beraten." Wieder spielte sie mit einer ihrer Haarsträhnen und machte aus dem Ende eine Art Pinselchen, mit dem sie über ihre Hand fuhr. "Wie lange ihre Ausbildung in Elenvina sein wird, hängt unter anderem davon ab, wie sie sich anstellt. Ich rechne mit zwei bis drei Wochen. Sie will doch auch die schönen Pferde sehen und ihren eigenen Charakter kennen lernen. Deine Ausbildung kann lange dauern, oder du kannst, wenn du es fühlst, plötzlich bereit sein. Nach der Grundausbildung bist du aber nicht mehr an den Tempel, also mich", sie lächelte wissend, "gebunden. Du kannst umherziehen, aber Rahjas Gebote solltest du beachten."

Hm, diese Aussage über die Dauer ihrer Ausbildung war jetzt nicht wirklich befriedigend. Aber zumindest würde wohl Rahjalind nicht sehr lange weg sein. Zu den zwei bis drei Wochen kam freilich noch die Reisezeit, aber von hier aus war das ja nicht so weit.

Doratrava nickte Alegretta zu, dann drehte sie sich zu Rahjalind, deren Hand sie noch immer hielt, und lächelte diese schief an. „Gehen wir uns beraten? Oder hast du heute andere Pflichten?“

Kurz blickte Rahjalind auf die Tempelobere, die ihr daraufhin knapp zunickte. „Wir können gehen, wenn du willst …“, meinte sie dann an Doratrava gewandt und erhob sich von ihrem Stuhl. Alegretta noch ein etwas gequält wirkendes Lächeln zuwerfend, führte sie die Gauklerin mit sich an ihrer Hand.

Der Weg der beiden jungen Frauen führte sie in Rahjalinds Kammer. Die Novizin setzte sich auf die Kante ihres Bettes und schob ihre Augenbrauen nach oben. „Was sagst du?“, fragte sie dann knapp.

„Ich weiß nicht ...“, antwortete Doratrava zweifelnd und zerknirscht. „Ich … wollte … will dir keinen Ärger machen, irgendwie habe ich aber das Gefühl, ich mache allen Ärger. Adda, Linnart, dir, Alegretta ...“ Unglücklich schaute sie ihre Freundin an, dann setzte sie sich neben ihr auf das Bett, um Rahjalinds Nähe zu spüren. „Ich habe wirklich die Absicht gehabt, das mit dem Dasein als Rahja-Akoluthin auszuprobieren, vielleicht hast du recht und das steckt wirklich in mir. Aber ich will mich nicht dafür aufgeben, ich will ich selbst sein und bleiben. Und ich weiß immer noch nicht, was Latrinen putzen oder jetzt Gartenarbeit damit zu tun haben soll. Wie soll mir das auf dem Weg zu Rahja helfen? Was soll ich etwas dabei lernen, das mir hilft, anderen Leuten Rahja näherzubringen?“ Die Gauklerin kaute auf ihrer Unterlippe. „Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Sie ließ den Kopf hängen, so dass ihre langen weißen Haare wie ein Schleier über ihr Gesicht fielen.

Die Novizin schnalzte leise mit ihrer Zunge und schüttelte den Kopf. „Warum solltest du uns Ärger machen? Wichtig ist, was du fühlst, dass für dich das Richtige ist.“ Sie lächelte ihr aufmunternd zu. „Denk nicht immer an die anderen. Nicht an mich, meine Mutter, Alegretta oder meinen Bruder.“ Abermals griff Rahjalind nach ihrer Hand und legte sie in die ihre. „Der Dienst im Tempel sollte dich Demut lehren, sonst nichts. Wir sind hier Diener der Göttin und der Menschen und stellen uns selbst auf kein Podest. Alegretta ist da normalerweise sehr streng und dass sie dich … nur … im Garten arbeiten lässt, zeigt, dass sie dich wohl schon ins Herz geschlossen hat.“

„Demut ...“, Doratrava fühlte dem Begriff zögernd nach, „… die kenne ich schon … als rechtlose Herumtreiberin musste ich schon viel erdulden in dem Bewusstsein, dass ich mich wahrscheinlich wehren könnte, es aber schlimme Konsequenzen hätte. Also habe ich hingenommen. Und weggesehen, wenn es andere getroffen hat. Oder ist es eine andere Art Demut, wenn man niedere Arbeiten verrichtet? Ich habe eigentlich noch nie viel über Demut nachgedacht. Ist Demut das sich Fügen ins Unvermeidliche? Muss das dann freiwillig geschehen? Ist Gartenarbeit freiwillig, wenn ihre Nichterledigung das Ende meiner Ausbildung zur Folge hätte? Ach, ich weiß nicht, warum ist alles immer so kompliziert?“

„Ist es nicht …“, gab Rahjalind kurz zurück, „… du machst es dir kompliziert. Demut ist das Fügen in die von den Göttern gewählte Ordnung … die Gesinnung des Dienenden. Und nichts anderes sind wir, Dora.“ Die Novizin strich sich ihr Kleid zurecht. „Ich bin als eine Adelige geboren. Die Götter erhoben mich damit über das gemeine Volk und dennoch habe ich es aus freien Stücken gewählt, mich in den Dienst eben jener Menschen zu begeben, über die mich Praios erhoben hatte. Es fühlt sich eben richtig an und ich fühle, dass die Herrin Rahja es so will und mich für diese Aufgabe erwählt hat.“ Rahjalind legte ihre Hand auf die Brust der Gauklerin, über ihrem Herzen. „Wenn dein Wunsch nicht da rauskommt, dann hat es keinen Sinn. Denn wenn es dein eigener Wunsch wäre, würde es dir auch nichts machen, dich für einige Zeit in die Rolle einer Dienerin zu begeben. Es wird niemand enttäuscht von dir sein, wenn du dich dagegen entscheidest, Dora.“

„Dann scheint es nicht mein eigener Wunsch zu sein.“ Doratrava schaute Rahjalind traurig an. „Denn es macht mir etwas aus. Es hat nichts mit der Arbeit an sich zu tun, aber es fühlt sich … falsch an, ich weiß nicht warum. Es ist eben ein Gefühl, und Gefühle kann man nicht begründen. Zumindest ich kann das nicht.“ Doratrava hielt inne, sie suchte Worte, um ihre Gefühle zumindest besser erklären zu können, aber die Worten flohen sie, je verzweifelter sie nach ihnen haschte. Sie sah ihre Freundin an, deren Erklärung sie auch nur mit dem Verstand nachvollziehen konnte. Ihr Gefühl sagte ihr dagegen, dass mit Praios irgend etwas nicht stimmte. Er war doch der Gott von Recht und Ordnung. Wie konnte es aber Recht sein, wenn jemand nur aufgrund seiner oder ihrer adligen Abstammung über anderen Menschen stand, diese willkürlich schikanieren durfte, ohne das Gesetz fürchten zu müssen? Rahjalind war sicher nicht so, vielleicht fiel es ihr deshalb leichter, ‚demütig‘ zu sein. Adda dagegen … würde wohl niemals freiwillig Latrinen putzen. Ob Rahjalind das hatte machen müssen? Aber nein, sie wollte es gar nicht wissen, wollte nicht noch mehr auf diesem geistigen Irrweg wandeln, der zu nichts und nirgendwohin führte.

„Vielleicht bin ich auch einfach noch nicht bereit?“ versuchte Doratrava es dann anders. „Irgend etwas in meinem Inneren hast du berührt, als du mir den Vorschlag machtest, eine Akoluthin zu werden, Rahjalind. Auch wenn ich im ersten Moment überrascht, ablehnend, überrumpelt war, sonst hätte ich einfach gleich ‚Nein‘ gesagt. Aber der Weg, den du und vor allem Alegretta mir aufzeigt, der fühlt sich nicht richtig an. Vielleicht eben noch nicht richtig. Vielleicht muss ich tatsächlich noch eine Nacht darüber schlafen … oder zehn.“

„Wenn du nicht dazu bereit bist, wird dir niemand einen Vorwurf machen, Dora …“, meinte Rahjalind dann nüchtern.

Doratrava führte Rahjalinds Hand an ihre Wange, dann küsste sie mehrfach und sehr zart die Innenseite ihres Handgelenks. „Liebend gerne und ganz freiwillig würde ich mich mit dir zusammen Rahja ergeben, um das alles mal für ein paar Stunden vergessen zu können.“ Die Gauklerin sah nun eher schelmisch aus als niedergeschlagen oder zerknirscht. „Das ist doch dann so etwas wie ein Gebet zu Rahja? Vielleicht hilft die Göttin mir ja bei meiner Suche nach Erkenntnis?“ Trotz ihres leicht scherzhaften Untertons sprach eine gewisse Ernsthaftigkeit aus den Worten Doratravas und dem Blick, mit dem sie Rahjalinds Augen einfing.



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