Eine Harte Schule Deja Vu

Kapitel 25: Déjà-vu

„Ich nehme Rahjalinds Zimmer, wenn diese nichts dagegen hat“, begann Doratrava mit erzwungener Ruhe und einem Seitenblick auf ihre Freundin. Um dann gleich fortzufahren, ohne die Stimme zu heben: „Wenn ich ein Zimmer nehme.“ Herausfordernd sah sie Alegretta an. „Um es nochmals zu sagen: ich will keine Geweihte werden und damit auch nicht in das Noviziat eintreten. Ich habe mich von Rahjalind zunächst überreden lassen müssen, überhaupt darüber nachzudenken, die niederen Weihen der Rahja zu empfangen. Inzwischen bin ich mit mir soweit im Reinen, um das aus mir selbst heraus zu wollen – oder eher versuchen zu wollen, da ich wie gesagt zu wenig weiß, um mir ein abschließendes Urteil bilden zu können. Deshalb sehe ich auch ein, dass mich jemand darin unterweisen muss, was das Wesen Rahjas ausmacht und was die Aufgaben ihrer – niederen! - Diener sind, wenn sie dem Volk das Wesen Rahjas nahebringen sollen. Ich wage zu behaupten, dass dazu nicht gehört, dem Bauern Erpel zu erklären, wie er ein Samttuch von den Spuren rahjanischer Betätigung befreit. Oder wie er seine Latrine säubert.“ Doratravas Augen brannten regelrecht in grünem Feuer, ihre Stimme war immer emotionsloser geworden bei dieser langen Rede, ohne an Lautstärke zu gewinnen, eher das Gegenteil war der Fall.

„Ich habe das alles schon hinter mir“, sprach Doratrava nun nach einer kurzen Pause, welche sie für einen weiteren Blick auf ihre Freundin benutzt hatte, die nicht glücklich aussah, weiter. „Als die Gaukler mich als kleines Kind aufnahmen, war der Preis dafür, dass sie mich nicht einfach zu meinen verhassten Zieheltern zurückbrachten, eben jener: Putzen, Waschen, Aufbauen, Abbauen, alle Drecksarbeit, die sie finden konnten, so war zumindest damals mein Eindruck. Das mache ich nicht noch einmal durch. Und ich bin vermutlich eine der besten Tänzerinnen und Akrobatinnen, die man in weitem Umkreis finden kann. Da ich das bleiben möchte, muss ich, wenn ich mir nicht frei nehme wie gerade, jeden Tag ein paar Stunden üben. Wenn die Unterweisung zur Akoluthin damit nicht vereinbar ist, war es das – leider.“

Wieder machte Doratrava eine kurze Pause, ihre flammend grünen Augen ließen die goldbraunen der Hochgeweihten nicht los. „Ich habe Euch eingangs versprochen, nicht bei der kleinsten Schwierigkeit die Flucht zu ergreifen.“ Sie ballte eine Hand zur Faust und erhob diese. „Ich habe in Mendena waffenlos einem Dämon gegenübergestanden und ihn besiegt!“ Nicht allein, aber das tat jetzt nichts zur Sache. „Ich habe mich schon mehr Schwierigkeiten stellen müssen als die meisten Leute in einem ganzen Leben. Ich stehe zu meinem Wort. Was ich tue, tue ich mit Leidenschaft, sonst ist es nicht wert, getan zu werden! Wenn Rahja mich haben will und ich Rahjas Wesen als das meine akzeptieren kann, werde ich die niederen Weihen annehmen. Ich kann Euch nicht vorschreiben, was Ihr eine Akoluthin lehren wollt und wie. Aber ich kann mir einen anderen Lehrmeister oder eine andere Lehrmeisterin suchen.“

Doratrava saß nun ganz still, das weiße Gesicht eine symmetrische, makellose Maske, die Augen wie unbelebte Kristalle, das Haar wie Fäden aus Silber, die ganze Gestalt eine perfekte Skulptur. Plötzlich saß dort keine kleine Gauklerin mit Liebeskummer mehr, die Bauern und Kinder belustigte, sondern eine Frau, die sich alles im Leben selbst hart erkämpft hatte, gegen alle Widerstände und Wahrscheinlichkeiten, allen Widrigkeiten zum Trotz, sogar den Respekt und die Anerkennung weit höhergestellter Personen. Die Dinge gesehen hatte, welche die meisten Leute dem Reich der Märchen aus tausendundeinem Rausch zurechnen würden. Die dem Tod mehr als einmal aus nächster Nähe ins Auge geblickt hatte. Die im Kern liebenswert, hilfsbereit, selbstlos und nachsichtig war, niemandem weh tun wollte und deshalb oft als erste nachgab und Streitigkeiten lieber aus dem Weg ging. Die aber gelernt hatte, dass man sie inzwischen nicht mehr so einfach herumschubsen konnte, wenn sie es nicht zuließ. Die hier und heute nichts zulassen würde, was sie nicht wollte.

Die Gauklerin – die Gauklerin? - ließ ihre noch immer zur Faust geballte Rechte sinken und griff damit nach Rahjalinds Hand neben sich. Diese zuckte ein wenig zusammen, denn Doratravas Griff fühlte sich im ersten Moment eiskalt an und musste sich erst Wärme von der Novizin borgen, bis jene nicht mehr den Eindruck hatte, als würde sie mit einer steinernen Statue Händchen halten. Doratravas ausdruckslose Miene gab allerdings keinen Anhaltspunkt, was diese Geste in diesem Moment zu bedeuten hatte.

Nach dieser emotionalen Rede schwieg Alegretta und zog die Augenbrauen hoch. Länger blickte sie von Rahjalind zu Doratrava und zurück. Ihr Mundwinkel zuckte leicht, aber was sie dachte, war nicht zu erkennen. Rahja, die ewig harmonische, gütige Göttin, zu der viele beteten, um eines geliebten Menschens Gunst zu erhalten. Gelang dies nicht, dann war Rahja plötzlich böse und ungerecht ... wie einfach es sich manche Menschen machten. Betete nicht jeder Sterbende mit seinen Angehörigen zu Boron und viele erlitten trotzdem einen langen, grausamen Tod? Gedanken, die Alegretta durch den Kopf schossen. Dann atmete sie tief aus und begann zu antworten.

"Wohl gesprochen, Dora ... doch denke ich, dass ich mich mit Rahjalind beraten sollte. Dennoch solltest du wissen, was ich denke. Du glaubst, gewisse Aufgaben, die nötig sind, um unseren Tempel am laufen zu halten, seien unter deiner Würde, da du das schon einmal irgendwo getan hast? Jeder beginnt in unserer Gemeinschaft so … ich tat es und Rahjalind als Adelige tat es genauso. Es ist dabei eben egal, ob der Zögling von Adel ist, oder ein Findelkind. Ja selbst ihre kaiserliche Majestät würde keine Sonderbehandlung erfahren. Es ist nicht für lange. Sieh es als eine Prüfung des Charakters, die dich Demut lehren soll. Du glaubst wohl, unser Dienst bestünde aus rauschenden Festen, Liebe, Wein und Heiterkeit. Das stimmt zum Teil, aber wir kümmern uns auch um Menschen mit Kummer … um Menschen, die ihre innere Balance verloren haben … genauso wie um Wein und Pferde. Das ist oft keine saubere Arbeit, aber sei es drum. Was glaubst du, würde man sagen, wenn du als Neuling nicht durch diese Schule müsstest?" Sie nickte kurz. "Ja, schnell würde man auf die persönliche Beziehung zwischen Euch beiden kommen und man würde meinen, ich würde dich vorziehen. Persönliche Begabungen werden übrigens parallel schon von Anfang an gefördert ... es wird dir niemand verbieten zu tanzen. Im Gegenteil, es wird sehr gern gesehen werden.“

Skeptisch schoben sich ihre Augenbrauen zusammen. „Ja, es steht dir frei, eine andere Lehrmeisterin zu wählen. Aber nicht hier. Und ich bin nicht die Schlechteste, aber ich kann niemanden aufnehmen, der nicht mit ganzem Herzen bei der Sache ist." Alegretta stand auf. "Rahjalind, komm, lass uns kurz reden."

Die junge Novizin hatte die Konversation mit großen Augen verfolgt. „Die Latrinen, Gretta …“, fragte sie in leisem Ton, „… ist das nicht zu viel des Guten? Ich meine, sie könnte doch den Garten machen und die Botengänge. Ich denke, dass diese Aufgaben unbeliebt genug sind, um kein Gerede heraufzubeschwören.“

Doratrava ließ Rahjalinds Hand los und stand auf. Immer noch zeigte ihr Gesicht nur eine versteinerte Maske. Ihr kristallener Blick lag noch immer auf Alegretta. Ihre Stimme klang noch immer so, als würde sie einem Gehilfen eine Einkaufsliste diktieren, als sie wieder sprach. „Um mit ganzem Herzen bei der Sache zu sein, muss ich von der Sache überzeugt sein. Die ‚Sache‘, die Ihr mir gerade vorgestellt habt, überzeugt mich nicht. Auch wenn es mich freut zu hören, dass ich meiner Berufung weiter nachgehen könnte. Aber ich stehe zu meinem Wort und werde einen anderen Geweihten bitten, mich zu prüfen und gegebenenfalls zu unterrichten – oder mich zu Euch zurückzuschicken, wenn er derselben Meinung ist wie Ihr, was die Inhalte meiner Ausbildung angeht.“

Dann wandte Doratrava sich Rahjalind zu. Ganz kurz zögerte die junge Frau, dann zersprang plötzlich die steinerne Maske, als die Gauklerin auf ihre Freundin zutrat und sie umarmte. „Rahjalind …“, flüsterte sie, allerdings nicht so leise, dass es Alegretta nicht hören konnte, „Schwester … für dich würde ich allerdings Alegrettas Bedingungen auf mich nehmen … nur für dich, wenn es dein ausdrücklicher Wunsch ist. Auch wenn du gehen musst.“ Nun war es doch vorbei mit ihrer unnatürlichen Beherrschung. Ihre Stimme brach, Rahjalind spürte ihre Wange nass werden. Zweimal musste Doratrava zitternd einatmen, bis sie sich soweit gefangen hatte, um weiterzusprechen. „Aber da ich dich sowieso verlieren werde … auf Zeit, wie ich hoffe … muss ich nicht hierbleiben. Ich kenne einen Geweihten der Rahja, mit dem ich mich gut verstehe und dem ich vertraue, mir in dieser ‚Sache‘ weiterzuhelfen. Vielleicht kennt ihr ihn auch, es gibt ja nicht so viele Geweihte der Rahja hier in den Nordmarken, soweit ich weiß. Sein Name ist Rahjan Bader.“

Dann trat Doratrava zurück, ohne sich die Tränenspuren aus dem Gesicht zu wischen, und sah wieder Alegretta an. „Soll ich hinausgehen, damit ihr reden könnt?“

Rahjalind schüttelte an die Gauklerin gewandt ihren Kopf. „Entweder du machst es, weil du es willst, oder gar nicht …“, gab sie ihrer Freundin zurück, „… ich würde nie von dir verlangen, dass du etwas tust, das du nicht willst.“

Alegretta neigte den Kopf und nickte verständnisvoll, auch wenn sie anderer Meinung war. „Es ist gut, bleib hier, nimm einen Schluck, ich bespreche das mit Liebchen nebenan.“

Als sie allein war, setzte Doratrava sich wieder und nahm einen Schluck aus dem Kelch. Aufgewühlt versuchte sie sich drüber klar zu werden, was sie selbst eigentlich wollte. Rahjalinds Aussage hatte sie wieder verunsichert. War sie wirklich mit sich im Reinen und wollte aus sich selbst heraus versuchen, Rahjas Pfad zu beschreiten? Würde sich diese Entschlossenheit nicht bald von selbst verflüchtigen, wenn Rahjalind fort war? War sie wirklich bereit, eine so schwerwiegende Entscheidung über ihren weiteren Lebensweg zu treffen?

Sie würde jetzt zu keinem Ergebnis kommen. Also stand sie wieder auf und begann, Alegrettas Arbeitszimmer mit Tanzschritten zu durchmessen. Tanzen beruhigte ihren Geist, leerte ihre Gedanken, ließ sie die Zeit vergessen …



Kapitel 24: Bedingungen

Kapitel 26: Demut