Eine Harte Schule Abschied

Kapitel 40: Abschied

Zuerst wusch Doratrava ihre muffige Straßenkleidung in der Waschküche, dann wrang sie sie aus, so gut es eben ging, und hing sie in die Sonne, damit sie wenigstens noch ein wenig trockener wurde, während sie selbst badete. Sie beeilte sich, dann hatte sie auch keine Zeit, groß über etwas anderes nachzudenken.

Da die Gauklerin ihre eigenen Sachen ja nicht dabei hatte, musste die nach dem Bad etwas von Alegrettas zur Verfügung gestellten Kleidern anziehen. Jetzt war sie doch froh um die Gabe. Sie suchte sich etwas einigermaßen Züchtiges aus, was sie dennoch nicht für eine Überlandreise angezogen hätte, aber bis zum Gut würde das sicher genügen. Allerdings war Alegretta etwas kleiner als Doratrava, dafür deutlich üppiger, deshalb saß das Kleid leider nicht so gut. Sie zuckte die Schultern, daran konnte sie jetzt nichts ändern. Irgendwann würde sie mit den Sachen zu einem Schneider müssen, damit sie sie wirklich verwenden konnte.

Sie holte ihre leidlich trockene Straßenkleidung von der Leine, packte sie zu einem handlichen Bündel und suchte dann im Tempel nach Alegretta und Linnart. Zu ihrer Überraschung konnte sie aber weder die eine noch den anderen finden. Da lief sie Gelda in die Arme, die gerade einen Stapel Tücher irgendwo hin trug. „Gelda!“ rief Doratrava. „Hast du Alegretta gesehen? Und Linnart?“

„Oh, junge Dame …“, die Angesprochene wirkte überrascht, „… ich … äh … weiß nicht wo sie sind.“ Gelda, die gerade an Alegrettas Gemächern vorbei gegangen war, hatte natürlich eine starke Vermutung, doch wollte sie die nicht unbedingt vor der jungen Gauklerin breittreten. „Du hast deine Kleider gewaschen …“, meinte sie stattdessen in mütterlichem Ton und deutete auf das Bündel in Doratravas Händen, „… möchtest du die jetzt so feucht herumtragen, dass sich Pilze und Moder einnisten?“ Die ältere Tempeldienerin streckte ihr die Hände entgegen und lächelte. „Gib sie mir, ich hänge sie noch ein wenig an die Feuerstelle, während du auf die beiden wartest.“

Doratrava warf Gelda einen prüfenden Blick zu, nickte dann aber. „Ja, gut, wenn ich warten muss … natürlich will ich nicht, dass meine Kleidung verschimmelt. Dann hätte ich mich ja gar nicht so beeilen müssen. Ich dachte, Linnart hätte es eilig, mich zum Gut zu bringen ...“ Die letzten Sätze sprach die Gauklerin nur so vor sich hin, da sie von Gelda nicht wirklich eine Antwort darauf erwartete. Dafür drückte sie der Tempeldienerin ihr Bündel in die Hände.

Oder sollte sie allein zum Gut reiten? Eigentlich wollte sie die Verabschiedung ja schnell hinter sich bringen. Wahrscheinlich würde sie sich von Adda sowieso nur wieder ein paar ätzende Kommentare anhören müssen. Darauf freute sie sich ja schon wie sonst etwas. Aber wenn sie jetzt irgendwo wartend herumsaß, hätte sie wieder viel zu viel Zeit zum Nachdenken … Rahjalind … sie spürte schon wieder die Tränen hochsteigen, wenn sie nur den Namen dachte.

Spontan fasste sie einen Entschluss: sie würde jetzt sofort allein zum Gut reiten und nachher nochmal hierher, um sich endgültig von Alegretta zu verabschieden und ihre Kleidung und Alegrettas Geschenke abzuholen. Ob sie dabei nochmal Linnart über den Weg lief, war ihr dann egal. Kurze Zeit später saß sie auf ihrem gesattelten Pferd und schlug den Weg zum Gut Linnartstein ein.

Der Ritt vom Dorf über die Weinstraße hoch zur Landvilla der Familie vom Traurigen Stein war ein kurzer. Noch einmal betrachtete Doratrava das herbstliche Blätterkleid der unzähligen Weinstöcke in orange – es war ein Anblick, den man in den Nordmarken nicht allerorts genießen konnte. Auch sah sie eine Schar Arbeiter, die gerade dabei war, bereits überreife und braune Trauben abzuernten und in großen Körben in Richtung Dorf zu tragen. Ein junger Knecht, der ihren irritierten Blick bemerkte, erklärte, dass diese absichtlich im Stadium der Überreife und leichten Fäule geerntet wurden. Es sollte, so der junge Mann weiter, einen besonders süßen Wein ergeben, da das Mostgewicht bei diesen Trauben besonders schwer … irgendwann hörte die Gauklerin dem jungen Mann nicht mehr zu und setzte ihren Weg fort.

Bei der schönen Villa im Liebfelder Stil angekommen schien man ihre Ankunft einige Zeit nicht zu bemerken. Einzig ein umher stolzierender Saphirpfau musterte Doratrava aus schief gelegtem Kopf, bevor er einen langgezogenen Balzruf ausstieß. Im Herbst … nein, irgendetwas stimmte mit diesem Ort hier ganz und gar nicht. So viel war klar. Ein Stallknecht war es schließlich, der auf den exotischen Neuankömmling aufmerksam wurde. „Junge Dame, ich darf Euch mit dem Pferd helfen?“, fragte er schüchtern.

Doratrava schwang ein Bein über den Sattel und sprang elegant herunter. Sie zog sich das zwar hochgeschlossene, aber dennoch nur knielange, silbergraue Wollkleid mit dem silbernen Gürtel, welches sie sich ausgesucht hatte und in welchem sie fast erschien wie eine Gestalt ganz aus Nebel, passend zum Boronmond, leicht verlegen zurecht, denn ihr war erst zu spät aufgegangen, dass sie ja sonst zum Reiten immer Hosen trug und den Damensitz gar nicht beherrschte. Brauchte man dafür nicht sowieso einen speziellen Sattel?

„Ähm, mein Name ist Doratrava“, begann sie. Kannte der Knecht sie nicht? War er nicht auf dem Fest zugegen gewesen? An sein Gesicht konnte sie sich auf jeden Fall nicht erinnern. „Ich möchte meine Sachen holen und mich von der Hausherrin … oder dem Hausherrn … oder beiden? - verabschieden. Kannst du mich anmelden? Ich … glaube aber nicht, dass das lange dauert, du musst das Pferd also nicht absatteln.“ Ein wenig unbehaglich sah sie sich um und schlang die Arme um den Körper. Ganz so warm war es nicht mehr, und der Wind beim Reiten hatte sein Übriges getan, sie auszukühlen. Aber auch Frieren lenkte ab. Dann blickte sie den Knecht wieder an. Ihre grünen Augen hatten eine seltsame Intensität in der sonst komplett weiß-grau-silbernen Erscheinung, die sie bot.

„Hausherren …“, wiederholte der junge Mann langsam, „… ja natürlich. Ich werde Euch gleich anmelden. Nehmt doch bitte derweil in der Weinlaube Platz.“ Er wies mit seinem rechten Arm auf einen kleinen, von Weinranken überwachsenen Pavillon mit Tisch und Stühlen darin. „Ich werde nach den Herrschaften schicken lassen.“

Doratrava sah sich noch einmal um, dann übergab sie die Zügel ihres Pferdes und folgte sie der Aufforderung, sich in den Pavillon zu setzen. Mit leerem Blick starrte die die Weinranken an. Die äußere und die innere Einsamkeit harmonierten gut, fand sie, und versuchte, ansonsten an nichts zu denken.

***

Es sollte nicht lange dauern, bis besagte Hausherrin der Gauklerin in der Weinlaube ihre Aufwartung machte. Adda war in ein langes blaues Kleid aus warmen Bausch gekleidet, das über und über mit goldenen Stickereien in Form von Rosenblüten verziert war. Für ihre Ansprüche war es züchtig gehalten, doch floss es ihren kurvigen Leib hinab wie flüssiges Metall und betonte damit die Reize der hohen Dame. Augen und Lippen der Hausherrin waren mit Kohlestaub und Lippenrot dezent betont- ihre langen, honigblonden Haare kunstvoll hochgesteckt und mit goldenen Spangen gehalten. Doch kam Adda nicht allein. An ihrer Seite ging ein groß gewachsener junger Mann mit braunen Haaren und braunen Augen, gekleidet in robuste, aber hochwertige Kleidung, bestehend aus einer rot-goldenen Steppweste, dunkelbraunen Lederbeinlingen und leichten Reitstiefeln. Das Schwert am Gürtel wies ihn als Krieger aus. Doratrava konnte den Blick des Mannes auf sich ruhen fühlen – eine Mischung aus Neugier und Vorsicht sprach daraus. Etwas hinter den beiden näherte sich auch Meta, die die Gauklerin vom Vorabend kannte, der Laube.

„Doratrava …“, kam es in gespielt freudigem Ton aus dem Mund der Halbergerin, die sich daraufhin kurz umsah, „… und du kommst allein …“, bemerkte sie immer noch lächelnd, doch innerlich seufzend, „… wie ich hörte verlässt du uns? Wie kann ich dir helfen?“

"Oh, Doratrava. Sollte Euch nicht der Hohe Herr Linnart bringen?" Es war ungewöhnlich, dass er seine Pflicht derart vernachlässigte. Seit ihrem letzten Gespräch hatte sie eine Ahnung, womit das zusammenhängen könnte. Sie runzelte die Stirn, stellte das mitgetragene Bündel am Tisch ab und verzog sich unauffällig in den Hintergrund.

Die Gauklerin erhob sich und nickte mit dem Kopf. „Adda … seid gegrüßt“, erwiderte sie die Begrüßung nicht unbedingt ettikettegerecht mit müder Stimme. Ihrem Blick folgend fuhr sie fort: „Ja, ich musste noch etwas erledigen, und dann war Linnart plötzlich verschwunden, und Alegretta auch, und niemand konnte mir sagen, wohin.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dann bin ich eben allein hergekommen. Ist ja nicht so, dass unterwegs Räuber lauern.“ Nun sah sie Rahjalinds Mutter ins Gesicht. „Ich wollte meine Sachen holen … und mich verabschieden. Habt Dank für die Einladung … und alles … und ...“ Doratravas Stimme kam ins Stocken, doch dann sprach sie weiter: „Und Rahjalind!“ Sie ließ offen, wie sie das genau meinte, vielleicht auch deshalb, weil sie ihrer Stimme nicht weiter traute, denn obwohl sie zunächst sehr beherrscht gewirkt hatte, musste sie nun ganz offensichtlich wieder mit ihren Emotionen kämpfen.

Die edel geschwungenen Augenbrauen der Hausherrin wanderten nach oben. „Linnart und Alegretta …“, sie brach ab und fasste sich an die Stirn. Immer dasselbe mit dieser Familie – ein wackelnder Weiberhintern und ein jeder … und eine jede – die kleine Amazone Rahjalind nahm sie dabei nicht aus, das jüngste Beispiel stand eben gerade vor ihr – vergaß sich. „Na Praios sei Dank bist du da, Jariel“, sie wandte sich zu dem jungen Mann an ihrer Seite um, der sich sogleich straffte. „Mein Vetter Jariel von Halberg, er wird dich an Linnarts statt begleiten. Bis zur Reichsstraße.“ Die Halbergerin ließ ein beinahe zuckersüßes Lächeln folgen als der Mann nickte. „Meta war derweil so nett und hat deine Sachen gepackt … nachdem wir sie waschen haben lassen.“ Adda wies beiläufig auf das Bündel am Tisch. „Das Kleid vom Ball soll dir gehören und natürlich auch die Börse Silberlinge für deinen Auftritt. Niemand soll uns nachsagen, dass wir Künstler hier auf unserem Anwesen nicht angemessen bezahlen.“ Abschätzig blickte die Hausherrin auf die Gauklerin.

Während Addas Antwort hatte Doratrava ihre Fassung wieder zurückgewonnen, nun runzelte sie die Stirn und richtete sich ein wenig auf. Die Worte der Hausherrin weckten durch allen Liebeskummer hindurch ihren Widerspruchsgeist. „Habt Dank. Falls Ihr aber Zweifel an dieser Angemessenheit habt, so bin ich gerne bereit, eine weitere Vorstellung für Euch zu geben.“ Mit dem aus ihrem Können gespeisten Stolz blickte sie Adda herausfordernd in die Augen.

Es war offensichtlich, dass Adda im ersten Moment nicht wusste, worauf die Gauklerin hinaus wollte. „Sollte einmal wieder Bedarf bestehen, werden wir dich gerne wieder bei uns begrüßen …“, meinte sie dann doch, „… vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, dich zu erreichen …“, die Hausherrin hob fragend ihre Augenbrauen, auch wenn sie, wohl mangels ehrlichen Interesses, keine Antwort abwartete, „… also dann. Es hat mich sehr gefreut dich kennen zu lernen. Ab jetzt wird Jariel auf dich Acht geben und dich nach Seeheim und dann weiter auf die Reichsstraße geleiten. Aves mit dir.“

Doratrava wollte schon den Mund öffnen, aber Adda sprach einfach weiter. Die Gauklerin runzelte die Stirn. Sie wusste noch immer nicht, was sie der Adligen getan hatte. Ja, sie hatte mit ihrer Tochter Rahja geopfert, aber das war ja nichts, was nicht jedes Mitglied dieser Familie ständig mit irgend jemandem tat, wenn sie das richtig verstanden hatte. Wie auch immer, bald brauchte sie sich darüber ja nicht mehr den Kopf zu zerbrechen.

„Was die Begleitung angeht … muss ich beschützt werden? Vor was?“ Eigentlich hatte Doratrava fragen wollen, ob es hier doch Räuber gab, aber irgend etwas warnte sie davor, den Bogen zu überspannen. Mit ruhigerer Stimme fuhr sie fort: „Ich müsste auch nochmals beim Rahjatempel vorbei. Da Alegretta verschwunden ist, konnte ich mich von ihr nicht verabschieden, und ich habe dort auch noch ein paar Sachen gelassen.“

„Sieh es als einen Dienst … der Freundschaft. Es gibt hier in Kyndoch immerhin auch das eine oder andere Piratennest“, mit diesen Worten wandte sich die Halbergerin von Doratrava ab und schritt würdevoll in Richtung der Villa. Innerlich hoffte sie, diese Person nie wieder sehen zu müssen – den Zwölfen war es gedankt würde Rahjalind heiraten und in Liannon ihren eigenen Haushalt zu führen haben. Arbeit war schon immer die beste Methode, der Jugend die Flausen aus dem Kopf zu treiben, wobei, wenn man Linnart betrachtete … sie seufzte … dieses hitzige Blut fand wohl immer einen Weg.

Doratrava sah ihr sinnend nach. Also doch … keine Räuber, aber Piraten. Warum nur hatte sie das Gefühl, dass Adda sie alleine hätte gehen lassen, wenn sie sich sicher hätte sein können, dass sie diesem Gesindel in die Arme lief?

Als Adda sich von ihrem Gast entfernte, wandte sich der große Krieger, den sie zuvor als Jariel vorgestellt hatte, der zierlichen Gauklerin zu. „Ritter Jariel Owilmar von Halberg …“, stellte er sich nun noch einmal vor und nickte ihr grüßend zu, „… können wir?“

„Mich kennt ihr ja schon“, antwortete Doratrava mit ironischem Lächeln. „Aber wie ich schon sagte, wir müssen nochmal kurz beim Rahjatempel vorbei, damit ich mich von Alegretta verabschieden und meine restlichen Sachen abholen kann. Das wird ja wohl möglich sein?“ Sie lächelte immer noch ironisch, aber die Frage war nur halb scherzhaft gestellt. Wer weiß, was Adda diesem Ritter aus ihrer Verwandschaft wohl gesagt hatte. „Was hat Adda Euch denn über mich erzählt?“ fragte sie postwendend, als ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging. Und wo hatte Adda diesen Ritter überhaupt so plötzlich her? Sie hatte doch damit rechnen müssen, dass sie mit Linnart kam.

Der Angesprochene versuchte der Gauklerin zuzulächeln, doch fühlte sie seinen reservierten Zugang zu dieser Begegnung mit seinem exotischen Gegenüber. „Linnartstein liegt auf dem Weg. Du kannst dort gerne deine Sachen holen und dich verabschieden.“ Er setzte sich langsam in Richtung Stall in Bewegung und wartete, bis Doratrava es ihm gleich tat. „Adda hat mir nichts über dich erzählt. Ich bin erst vorhin aus Schönfelde zurückgekommen. Ich bin Dienstritter des Edlen. Das Dorf im Firun des Guts untersteht mir, wenn man so will.“ Abermals versuchte der junge Mann sich an einem Lächeln, dann empfand er das jedoch genug der vorstellenden Worte.

Gut, Adda hatte nichts erzählt … sagte der Ritter zumindest. Aber denken musste er sich doch was. Doch bevor Doratrava eine Frage formulieren konnte, stieg völlig unvermittelt Rahjalinds Bild vor ihren Augen auf, und sie musste auf einmal mit den Tränen kämpfen. Scharf sog sie die Luft ein und wandte das Gesicht ab, damit dieser Jariel das nicht mitbekam. Sie hatte wahrlich keine Lust, ihr Liebesleben vor dem Unbekannten auszubreiten.



Kapitel 39: Eskorte

Kapitel 41: Geschenk