Ein schwerer Gang

Ein schwerer Gang

Der Oberst in Rodaschquell

Autoren: RekkiThorkarson, Rodaschquell und BioraTagan

Mitte Praios des Jahres 1041 B.F.

Dwarosch atmete frische Morgenluft. Ein neuer Tag brach heran, als der Oberst die weitläufigen Tunnel des Bergkönigreiches Xorloschs firunseitig verließ und freien Himmel über sich erblickte. Vor ihm erstreckten sich die letzten Ausläufer der über alles erhabenen Ingrakuppen.
Der klare Himmel im Praios- Mond verhieß, dass es warm, ja vielleicht sogar heiß werden würde an diesem Tag, und so sputete sich der Oberst, die zumindest ein wenig Schutz spendende Baumgrenze zu erreichen.
Er schlug einen schmalen und steil abfallenden Bergpfad ins Tal ein und wusste, dass seine Schienbeine und Oberschenkel einiges würden aushalten müssen, denn auf eine Rüstung hatte er trotz des anstrengenden Weges und der Witterung nicht verzichtet.
Dwarosch trug ein langes Kettenhemd, -kragen und die dazugehörige -haube nach hinten in den Nacken geschlagen. Ein Kenner hätte das besonders eng geknüpfte Geflecht der einzelnen Kettenringe bewundert, welches so charakteristisch für Zwergenarbeit war. Darüber lag nur ein schlichter, kurzer Wappenrock und ein breiter Gürtel.
Um beweglicher zu sein hatte er auf die Kettenhose verzichtet und stattdessen eine geschnürte, halblange Wildlederhose plus feste Wanderstiefel gewählt.
Dwarosch liebte die Berge, vor allem die seiner Heimat, den Eisenwald ebenso wie die Ingrakuppen. Er war häufig allein unterwegs, wandern und sogar klettern. Doch an diesem Tag war es keine Muße, die ihn dazu bewogen hatte, die Berge zu bereisen.
Lange hatte er diesen einen Weg aufgeschoben, denn es war kein einfacher Gang für ihn. Vor ihm lag das letzte Lehen im Isenhag, welches Dwarosch noch nicht besucht hatte, um seinen Herren um die Erlaubnis zu bitten, es für die Erstellung einer neuen, militärischen Karte vermessen lassen zu dürfen. Die Baronie Rodaschquell unterschied sich in einer ganz speziellen Art und Weise von allen anderen Lehen des Isenhag, ja sogar der gesamten Nordmarken. Es war eine Elfe, die hier herrschte.

~*~

Am Abend des darauffolgenden Tages erreichte Dwarosch sein Ziel, Kelnen, den Hauptort der Baronie. Es war ein schönes, gepflegtes Städtchen, welches durch zumeist zweistöckige Fachwerkhäuser geprägt wurde. Eine Burg, der Sitz der Baronin und ihres Vogtes, saß, nur einige hundert Meter entfernt, auf einem erhöhten, zerklüfteten Felsen.
Der der Baronie namensgebende Fluss, der Rodasch machte hier eine große Biege um besagte Felsen und erhielt auch noch zulauf durch einen weiteren Fluss, den Deilbach. Dies musste einstmals der Grund gewesen sein den Wehrbau zu errichten, um den sich im Laufe der Zeit Menschen angesiedelt hatten.
Die Mauer um die Burg hatte unter Satinavs Zähnen gelitten und war augenscheinlich nicht im besten Zustand, aber der große, massive Bergfried wusste den Betrachter schon aus der Ferne zu beeindrucken.
Der Oberst wechselte ein letztes Mal die Schulter über der er seinen Spieß trug, rückte noch einmal die Tragegurte seines Rucksacks zurecht, an dem auch der große Rundschild befestigt war und wählte dann den breiten, gepflasterten Weg, welcher zum Marktplatz Kelnens führen musste. Er sah sich nach einem einladend aussehenden Gasthof um. Heute würde ihn sein Weg nicht mehr hinauf zur Feste führen. Dwarosch war müde, mehr noch aber hungrig und durstig.
Angroschim waren in diesem Teil der Nordmarken kein seltener Anblick. Im Gegenteil, schließlich lag Rodaschquell doch in direkter Nachbarschaft zu Xorlosch. Und auch in der Baronie selbst lebten viele von ihnen. Ihren Ruf als Stadt der Steinschleifer verdankte Kelnen nicht zuletzt den Zwergen. Und doch bemerkte Dwarosch den ein oder anderen neugierigen Blick, den ihm die Bewohner Kelnens zuwarfen. Nicht unfreundlich, aber doch mit einer gewissen Verwunderung. Ein so großer und zudem noch schwer bewaffneter Zwerg musste zwangsläufig die Blicke auf sich ziehen zwischen all den Handwerkern, Bauern und Städtern, die in der kleinen Stadt ihrem Tagewerk nachgingen. Ein kleines Mädchen mit roten Zöpfen, das auf dem Weg Seilchen sprang, hielt abrupt inne und betrachtete Dwarosch mit unverhohlener kindlicher Neugier. Der Oberst lächelte ihr freundlich zu, denn wenn er auch nie eigene Kinder gezeugt hatte in Ermangelung eines Weibes, so genoss er stets ihre Nähe und schätzte unter anderem ihre gnadenlose Ehrlichkeit.

~*~

Das Gasthaus zu finden, war nicht schwer. Es lag am Marktplatz; ein sehr großes, längliches und L-förmiges Fachwerkhaus, das eine mit einem hohen Holzgitter umrahmte und überdachte Terrasse besaß. Offen genug, um in den wärmeren Monaten ordentlich Licht hineinzulassen, zugleich aber auch vor der unbarmherzigen Mittagssonne im Praios zu schützen. Zwischen dem kunstvoll geschnitzten Holzgitter wanden sich hier und da wilde Rosen – so, wie sich auch die alten, baufälligen Mauern von Burg Rodaschblick erobert hatten. „Rosenhof“, stand auf einem Holzschild, das an einer eisernen Kette an einem hölzernen Pfahl hing. Einige Menschen saßen an reich gedeckten Tischen auf der Terrasse. Schwatzend, lachend. Dwarosch trat zunächst ein. Da die meisten Gäste offenkundig den Sommerabend genießen wollten, hoffte er, im Inneren mehr Ruhe zu finden.
Tatsächlich war das Innere des „Rosenhofes“ so gut wie leer. Nur einen einzigen Gast konnte Dwarosch ausmachen. Ein älterer Herr, der einen Eintopf aß und offenbar der Stille gegenüber der Sommersonne den Vorzug gab. Dunkles Holz beherrschte das Gasthaus. Die eckigen Tische waren an den Wänden entlang angeordnet und zum Teil mit halben Holzwänden voneinander abgeschirmt. Auf den Bänken und Stühlen lagen rote Sitzkissen, und auf den Tischen standen kleine, dicke Kerzen, die in Messingständern steckten. An den Wänden hingen hier und da einfache Zeichnungen, die Motive des Umlands zeigten: die Burg, die Stadt, Wälder, Seen und den Wasserfall, der sich in der Nähe der Burg in einen kleinen See stürzte. In der Mitte befand sich ein langer Tresen, dahinter eine Tür, die offenbar zur Küche führte. Gegenüber dem Eingang führte eine Treppe ins Obere, rechts neben ihr, im kurzen Teil des L-förmigen Gebäudes, befand sich ein großer Raum, den man mit zwei Schiebetüren von der Wirtschaft trennen konnte.
„Garoschem! Willkommen, werter Herr Angroscho, willkommen im Rosenhof“, klang es nun vom Tresen her. Dahinter stand eine wohlbeleibte Frau Mitte fünfzig, mit kurzen, wilden, dunkelbraunen Locken. Ihre kleinen, blauen Augen blitzten vor Freude, und Ihr Gesicht schien ein einziges Lächeln zu sein, das ehrlich und herzlich wirkte. Die gutmütige Matrone trug ein weißrotes Kleid und segelte sogleich in seine Richtung.
„Was darf ich Euch denn bringen?“ Noch bevor er antworten konnte, fuhr sie munter fort: „Wir haben einen frischen Kräutereintopf mit einigen Kartoffeln und Hühnchen. Wenn ihr möchtet, kann ich euch auch eine ordentliche Hirschkeule bringen, das wird dann nur etwas dauern. Aber in jedem Fall – da bin ich sicher – wollt ihr ein schönes, kühles, Dunkles! Wir haben sogar ein paar Fässer Angbarer hier – der einzige Gasthof weit und breit mit Angbarer!“, schloss sie nicht ohne einen unverhohlenen Stolz, um sogleich hinzuzufügen „nun ja, wir sind ja ohnehin der einzige Gasthof weit und breit ...“ und kurz amüsiert zu lachen und Dwarosch erwartungsvoll anzuschauen.
Dwarosch lächelte unweigerlich über so viel Freundlichkeit. „Garoschem gute Frau. Ich nehme ein Angbarer und bei einem wird es ganz gewiss nicht bleiben.“ Er feixte. „Dazu bitte den Kräutereintopf. Ich setze mich dort herüber.“ Er wies auf einen der Tische in einer Ecke des großen Raumes. „Und lasst mir bitte eine Kammer herrichten. Ich werde erst Morgen wieder aufbrechen. Nach einem guten Frühstück versteht sich.“ Wiederum lächelte er.
Der Oberst ging zu dem erwählten Tisch herüber, nahm sein Packen vom Rücken und stellte es gemeinsam mit dem Spieß gegen die Wand. Schwer ließ er sich auf den kurz unter der Last protestierenden Holzstuhl fallen und lehnte sich dann seinerseits gegen die Mauer in seinem Rücken.
„Einmal den Eintopf und ein erstes Angbarer. Kommt sofort“, sagte die Matrone und machte sich gleich auf, um Dwarosch kurze Zeit später ein Tablett mit dampfendem Eintopf, einem Körbchen mit Brot und einen Humpen mit kühlem Bier auf den Tisch zu stellen.
„Na, dann hoffe ich, dass es Euch bekommt, Väterchen. Ich bin übrigens Friedselma, die Wirtin hier im Rosenhof“, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und legte beide Arme verschränkt auf die Tischplatte, um ihn mit einem abwartend-zufriedenen Lächeln anzusehen – so, als warte sie darauf, dass er den Ersten Schluck oder Löffel zu sich nehme, um zu sehen, ob es ihm auch tatsächlich schmeckt.
„Mein Name ist Dwarosch.“ Er nahm den Humpen und tat einen tiefen Schluck. Danach nickte er und stellte eine äußerst zufriedene Miene zur Schau. „So muss ein Bier schmecken. Sehr gut!“
„Das Zimmer mache ich euch gleich selbst zurecht. Wir haben im Rosenhof zwei Zimmer, die extra auf die Ansprüche von Zwergen hin eingerichtet sind“, sagte sie mit unverkennbarem Stolz und hob einen Zeigefinger. „Kompakte, stabile Betten mit harten Matratzen und guten Wolldecken anstatt der flauschigen Federbetten. Wobei wir im Hochsommer natürlich auch Leinendecken auslegen wegen der Hitze.“ Sie machte eine kurze Pause.
„Und außerdem bin ich sehr neugierig“, fügte sie dann breit lächelnd und fast nebensächlich hinzu. So, als sei es eine völlige Selbstverständlichkeit, oder als spreche sie über das Wetter.
„Deshalb hoffe ich doch, noch ein bisschen mehr über Euch zu erfahren. Wir haben hier zwar viele Zwerge, aber das sind meistens Händler oder Handwerker, und Ihr seht mir weder wie das eine noch das andere aus. Und natürlich bin ich Euch auch gern behilflich, wenn Ihr irgendwelche Fragen zu unserem schmucken kleinen Kelnen habt. Also, was führt Euch denn in unsere gute Stadt?“
Der Oberst grinste. Ja, er hatte schon so etwas geahnt, als sich die Frau zu ihm an den Tisch gesetzt hatte. Die Neugierde war ihr bereits zuvor anzusehen gewesen.
„Das ist im Grunde schnell erzählt.“ Er nahm noch einen Schluck und zuckte kurz mit den massigen Schultern.“ Ich bin Obrist des Eisenwalder Garderegimentes und in Ausübung meines Amtes hier. Ich muss mit ihrer Hochgeboren sprechen.“
Dwarosch machte eine bewusst, ausgedehnte Pause, nahm ein Stück Brot und tunkte es in den Eintopf, um das noch heiße, vorzüglich riechende Essen endlich kosten zu können.
Friedselmas Augen weiteten sich und ihr Gesicht nahm einen überraschten und ehrfürchtigen Ausdruck an. „Ein Oberst seid Ihr? Ein Oberst! Also ein richtiger Befehlshaber der Armee... du liebe Güte, warum habt Ihr denn das nicht gleich gesagt, Euer... Hochwohl...geboren?“ Sie schien nicht so recht zu wissen, was die korrekte Anrede für einen Oberst war.
Der Zwerg lächelte milde auf die Worte Friedselmas, kaute gelassen zu Ende und spülte den Bissen mit einem kräftigen Schluck hinunter, bevor er antwortete.
„Gute Frau, in erster Linie bin ich ein Angroschim und ganz sicher kein Edelmann. Wenn Ihr denn wollt, so nennt mich schlicht und einfach Oberst, das tun eigentlich alle, daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt.“
„Oh, na wenn das so ist!“ Schnell fand die Wirtin ihre Fassung wieder und fuhr munter mit ihrem Geplapper fort. „Ganz ehrlich, das hab' ich Euch natürlich gleich angesehen, dass Ihr ein Kämpfer seid, bei all dem Rüstungszeug, das Ihr mitten im Sommer mit Euch herumschleppt. Oberst... das gefällt mir, wisst Ihr? Ich habe noch nie einen echten Oberst hier in meiner Stube gehabt. Graf Ghambir war schon einmal hier mit seinem Gefolge. Aber einen Oberst hatte ich noch nie.“ Es klang wieder ein wenig Stolz mit, während sie das sagte. „Und nun wollt Ihr also zur Baronin!“
Dwarosch hob eine Braue bei der Erwähnung des Grafen und nickte seinerseits anerkennend. Lenkte dann aber auf ein anderes Thema ein, um unnötige Spekulationen und Klatsch zu vermeiden.
„Bevor Ihr Euch den Kopf zerbrecht, was Thema dieser Unterredung seien wird.“ Sein Gesicht zeigte ein noch breiteres Grinsen. „Es geht lediglich um die Bitte meinerseits mit einigen meiner Männer ein paar Übungen auf dem Gebiet Rodaschquells durchführen zu dürfen. Es sind allesamt friedenssichernde Maßnahmen, welche auch in den angrenzenden Lehen stattfinden.“
Nach dieser kurzen und prägnanten Erklärung nahm der Oberst den Löffel und begann sein Mahl. Die Wirtin sah wie hungrig der Zwerg war der vor ihr saß, denn er aß nicht unbedingt wie ein Edelmann. Nein, er gab sich nicht die Mühe die besten Manieren zu präsentieren, das tat er nur notgedrungen, wenn er musste.
Die schlechten Tischmanieren schienen die Wirtin nicht wirklich zu stören. Vielmehr nutzte sie die Gelegenheit, weiter mit dem Zwergen zu sprechen, der weiter munter zulangte.
„Ich kenne mich natürlich nicht so aus mit all diesen Militärrängen und so. Aber das klingt wirklich sehr bedeutsam …. Oberst! Aber wo sind denn Eure ganzen Soldaten? Und wenn Ihr hier Soldaten habt, dann solltet Ihr das dem Herrn Darian sagen. Und natürlich auch dem Herrn Vogt da droben auf der Burg.“ Etwas kleinlauter fügte sie hinzu: „nicht.... nicht, dass ich Euch belehren will, hoher Herr.“
Dwarosch hob halb belustigt, halb tadelnd eine Augenbraue. Er mochte diese Anrede wirklich nicht. Unterbrechen wollte er die Wirtin deswegen jedoch nicht, sah er doch, dass dies ein zumindest schwieriges Unterfangen war.
„Ich.... ich mein ja nur...! Der Vogt will sowas immer ganz genau wissen, wisst Ihr? Also wegen der ganzen Kosten und so. Und weil er sowieso immer ganz genau wissen will, was sich in seiner Baronie so alles tut. Also ich meine natürlich in der Baronie von Frau Hochgeboren …, aber die wird sowieso kein Interesse an Euren Soldaten und Übungen haben, denke ich. Aber da plappere ich und plappere, und dabei habt Ihr doch schon gesagt, dass Ihr zur Burg wollt.“ Zu dem kleinlauten Klang ihrer Stimme gesellte sich nun noch ein leicht betretener Blick.
Der Oberst verschluckte sich fast am Bier, als die Wirtin erkannte, dass er ihr bereits eröffnet hatte zur Burg zu wollen und lachte herzhaft. „Seit Euch einer Sache gewiss, keiner meiner Soldaten betritt Rodaschquell, wenn ihre Hochgeboren damit nicht einverstanden ist. Ich bin alt genug um zu wissen, dass das Leben zu kurz ist um sich leichtfertig, unnötigen Ärger zu bereiten.“
Gerade wollte er nochmals den Humpen ansetzen, da sah er das sein Bier bereits leer war. So reichte er das Gefäß Friedselma über den Tisch. „Seid so gut und bringt mir noch eines und dann erzählt mir von der Baronin. Ich bin gespannt zu hören, was Ihr zu berichten habt.“
Die Wirtin erhob sich, sah kurz nach dem Alten, der noch immer mit seiner Schale beschäftigt war, und verschwand dann in der Küche.
Dwarosch nutzte die sich ihm nun bietende, günstige Gelegenheit. Er rieb frech grinsend die Hände aneinander und machte sich dann mit dem Appetit eines ganzen, ausgehungerten Wolfsrudels über die Speisen her.
Kurze Zeit später erschien Friedselma mit einem weiteren Humpen schäumenden Angbarers, den sie Dwarosch auf den Tisch stellte. Dann betrachtete sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Zufriedenheit das Schlachtfeld, das der nicht gerade zimperliche Zwerg bis dahin hinterlassen hatte – und die fast leere Schüssel.
„Ich denke, ich werde Euch auch gleich noch etwas mehr Eintopf bringen. Lange hat der ja nicht gehalten.“
Dwarosch nickte bloß grinsend mit vollen Backen.
„Wo seid Ihr denn so lange gewesen, dass Ihr so ausgehungert seid? Habt Ihr denn da nichts anständiges zu Essen bekommen? Na, das wird Euch hier nicht passieren!“ Und wieder machte sie kehrt und kam dann mit einem Topf zurück, den sie mit einem schweren Wolltuch an einem Henkel hielt. Darin steckte eine Kelle, mit der sie zwei weitere Portionen in Dwaroschs Schüssel schaufelte.
Der Oberst zuckte nur mit den Schultern, grinste fast ein wenig verlegen und gab ein knappes, „Wandern macht mich immer so hungrig“, als Erklärung ab.
„Freut mich, dass es Euch schmeckt. Die Kräuter sind auch aus dem eigenen Garten. Also einige meine ich. Der Pfeffer kommt natürlich aus dem Süden. Und ich habe auch ein bisschen Muskatnuss aus ... aber was rede ich da wieder! Meine Küche interessiert Euch sicher nicht. Also, wo waren wir stehen geblieben? Ich hab' ja gerade ein bisschen Zeit. Jorge da drüben hat es auch nicht eilig.“ Sie warf einen Blick über die Schulter in Richtung des Alten.
„Nachher will er nur noch seinen Birnenkompott, da muss ich halt immer mal wieder schauen. Über die Baronin wollt Ihr mehr wissen, ja? Tja-haa, das kann ich mir vorstellen! Alle Fremden, die zum ersten Mal hierherkommen, wollen immer alles über sie wissen!“ Etwas leiser fügte sie hinzu: „Also, wenn Ihr zum ersten Mal hier sein solltet, Euer Hochw... ich meine, Herr Oberst.“
Der Zwerg nickte nur kurz und ließ Friedselma weiterreden. Wieder einmal zeigte sich, dass Wirtsleute immer die beste Anlaufstelle waren, wenn man etwas über Land und Leute erfahren wollte, in dem man sich gerade befand, dachte er zufrieden.
„Sie ist hier im Isenhag eine richtige Sehenswürdigkeit, vielleicht sogar im ganzen schönen Herzogtum“, sagte die Wirtin mit einem gutmütig-amüsierten Ton und einem breiten Grinsen.
Dwarosch wurde kurz stutzig. Die Wirtin führte eine durchaus kecke Rede, indem sie die Herrin von Rodaschquell als eine „Sehenswürdigkeit“ bezeichnete. Aber schnell kam er zu dem Ergebnis, dass die einfache Matrone es halt nicht besser auszudrücken wusste.
„Ich komme ja nicht so viel herum, aber es kommen immer wieder Leute von weit her zu uns. Nicht bloß die Händler, sondern auch Barden. Aus Garetien und in den letzten Jahren auch wieder aus Alberina, seit der dumme Krieg zwischen dem Herzogtum und dem Fürstentum vorbei ist. Und das glaubt Ihr nie: Vor ein paar Jahren war hier sogar ein Zwergenbarde!“
Dwarosch verschluckte sich und musste kurz husten.
„Jaja“, fuhr Friedselma ungerührt fort. „Ich glaube das war ein Hügelzwerg aus dem Kosch. Hatte gesagt, er habe schon so viel von der Frau Baronin gehört, und da sei er gekommen, um ihr ein Ständchen zu bringen. Auf einer Sackpfeife!“ Die gutmütige Matrone lachte herzlich, und es hätte Dwarosch nicht gewundert, wenn sie ihm in ihrer jovialen Art auf den Schenkel geklopft hätte.
„Nach allem was ich hörte, war er gar nicht schlecht. Ich weiß jetzt nicht, ob es der Baronin auch gefallen hat, also diese Art Musik. Aber der Zwerg blieb immerhin zwei Tage bei ihr auf der Rodaschblick. Denn Musik, das müsst Ihr Wissen, liebt sie sehr, und deshalb mag sie eben auch Barden und hat sie gern zu Gast. Sie singt auch selber, und das wohl besser als jeder, den ich kenne. Na gut, das sind jetzt auch nicht so viele, die ich kenne, also ich meine Sänger. Aber was ich sagen will, ist, dass sie eben eine sehr schöne Stimme hat. Deswegen nennen viele sie auch nur ,Die Nachtigall'. Und wenn die Nächte lau sind, so wie jetzt im Sommer, dann werdet Ihr sie oft auch hören können, wenn sie vom Turmzimmer aus mit den Vögeln und dem Wasserfall um die Wette singt“, sagte sie kichernd.
„Aber Ihr solltet Euch vorsehen! Ihre Lieder sind manchmal ... etwas seltsam. Die haben schon so manchem Burschen den Kopf verdreht, der meinte, ihr abends zuhören zu müssen. Und verstehen werdet Ihr sowieso nichts, wenn sie nicht gerade Lieder in unserer eigenen Sprache singt. Es sei denn, Ihr seid der elfischen Zunge mächtig. Wobei sie in letzter Zeit wieder viel auf Reisen ist. Vor allem im Sommer ist sie auch mal länger fort. Aber Ihr habt Glück: Soweit ich weiß, war sie gestern noch da“, sagte Friedselma mit strahlenden Augen.
Ein jähes Klopfen unterbrach ihre Rede. Der alte Jorge hatte damit begonnen, mit dem Stiel seines Holzlöffels gegen die Tischplatte zu hämmern. Erst etwas zaghaft und leise, dann jedoch, da Friedselma es nicht sofort bemerkt hatte, lauter und lauter werdend. „Das letzte Mal, als ich hier bedient worden bin, muss noch Kaiser Hal geherrscht haben“, rief der Alte maulend in den Wirtsraum.
Dwarosch hätte fast losgeprustet, konnte aber noch überzeugend vorspielen sich ein wenig beim hastigen Essen verschluckt zu haben.
Friedselmas Gesichtsausdruck wurde schlagartig missmutig. Sie drehte sich um:
„Ja ja, ich komme ja gleich und bringe dir deinen Kompott!“
„Hoffentlich noch bevor ich zu Boron gehe!“
Die Wirtin verdrehte die Augen und seufzte schwer.
„Verzeiht, Euer... Herr Oberst. Das ist nur EIN ALTER MIESEALRIK.“ Sie sagte es so laut, dass Jorge es hören konnte, was der Angesprochene – ohne hinzusehen – mit einem energischen, abfälligen Winken kommentierte.
„Genauso schlimm wie meine Schwester droben auf der Rodaschblick“, fügte sie leise hinzu – mehr zu sich selbst, obwohl sie den Oberst ansah. „Ihr entschuldigt mich bitte kurz, damit ich ihm seinen Kompott bringen und den Radau beenden kann.“
Sprach's, erhob sich erneut seufzend und rauschte in die Küche, um dem Alten seinen Birnenkompott zu bringen. Kurz darauf stampfte sie wieder zurück und legte ihm die kleine Schale mit einem grimmigen Gesicht auf den Tisch, während sie die leere Eintopfschüssel zurücknahm.
Drei weitere Gäste betraten die Wirtsstube, zwei Männer und eine Frau. Dem Anschein nach waren es hiesige Stadtbüttel, die nun ihren Feierabend genießen wollten und sich lachend und schwatzend an einen Tisch nicht unweit des Alten setzten, was dieser – noch immer vornüber gebeugt und nun seinen Kompott löffelnd – mit einem leichten Murren kommentierte, da es nun mit der Ruhe offenbar vorbei schien.
Dwarosch sah kurz auf und nickte den Neuankömmlingen zu, widmete sich dann aber wieder seinem Mahl. Seine vielen Jahrzehnte als Söldner in der Fremde ließen ihn die drei Personen aber dennoch unauffällig beim Näherkommen mustern. Es war die eingespielte Routine, welche er nicht ablegen konnte.
Die drei Neuankömmlinge machten einen heiteren, gelösten Eindruck. Zwei von ihnen trugen stabile Lederrüstungen und einfache Kurzschwerter an den Seiten. Die Ausrüstung schien schon etwas älter zu sein, aber durchaus brauchbar. Die beiden jüngeren wirkten zwar drahtig, aber doch recht untrainiert. Einfache Büttel, denen man ab und an zeigte, wie ein Schwert zu gebrauchen war, mehr aber nicht. Der dritte hatte schon deutlich mehr Sommer gesehen als die anderen beiden, die Dwarosch auf Mitte zwanzig schätzte. Er war sicher schon um die 50. Er hatte einen schlecht gepflegten schwarzgrauen Stoppelbart und trug ein altes Kettenhemd, das um seinen Bauch herum schon eine ordentliche Beule offenbarte. Mit einem schweren Seufzer ließ er sich krachend auf einer der Bänke nieder und blickte sehnsüchtig in Richtung Friedselma, die bereits mit einem Tablett mit drei Bierkrügen anrauschte und ihn anherrschte, er solle ihr das Mobiliar nicht lädieren.
„Solltest du nicht lieber auf Wasser umsteigen, Rauert?“, sagte die junge Büttelin lachend und tätschelte den beginnenden Wanst Rauerts. „Darian ist wieder in der Burg, und der wird dir das nicht mehr lange durchgehen lassen. Außerdem hast du morgen Dienst am Burgtor“, sagte der andere Tischnachbar nicht ohne ohne einen gewissen Hohn in der Stimme.
Rauert saß zurückgelehnt und mit vor dem Bauch gefalteten Händen und geschlossenen Augen vor dem Tisch und wartete auf sein Bier. „Ja ja“, sagte er nach einer Weile schlicht, ohne etwas hinzuzufügen.
Bei der Erwähnung des Burgtores horchte Dwarosch auf und nahm sich vor den dreien eine Runde Bier zu spendieren, bevor er sich zurückzog. Wenn der Alte sich morgen auf Wache an ihn erinnern würde, wenn er um Einlass bat, konnte das von Vorteil sein.
Noch beließ er es bei einem Gruß mit dem erhobenen Bierkrug und einem freundlichen Nicken in Richtung der Büttel.
Die drei Büttel erwiderten die Geste und nickten auch dem Zwerg freundlich zu.
Und noch bevor irgendjemand etwas sagen konnte, platzte es gleich aus Friedselma heraus: „He, Ihr drei Tunichtgute! Darian ist jetzt euer geringstes Problem! Wisst ihr eigentlich, wer das hier ist? Das ist Oberst Dwarosch vom Eisenwalder Eliteregiment! Die Besten der Besten! Und der wird euch Faulpelzen mal ordentlich Beine machen!“, sagte sie mit in die Hüfte gestemmten Armen und einem lauten Lachen.
Die Art, wie sie es gesagt hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass es nicht GANZ ernst gemeint war. Und doch schauten die drei Angesprochenen schweigend und mit großen Augen in Dwaroschs Richtung ...
Der Wiederum konnte nicht mehr an sich halten, ließ sich gegen die Rückenlehne kippen und hielt sich lachend den vollen Bauch.
Gerade als er beschwichtigend die Hände hob, um eine Erwiderung auf die Worte der Wirtin zum Besten zu geben, erklang ein wahrlich markerschütterndes Rülpsen und der Oberst musste von neuem anfangen zu lachen, diesmal jedoch über sich selbst und die Situation.
„Entschuldigt!“ Dwarosch versuchte offensichtlich gezwungen eine betretene Miene zu machen, was ihm nur wenig überzeugend gelang. Also musste er es mit Worten versuchen.
„Wie sagt man, je besser der Drill der Soldaten, desto schlechter ihre Manieren?“ Der Zwerg schüttelte immer noch amüsiert den Kopf. „Bevor hier weitere Gerüchte gestreut werden.“ Er tat einen leicht tadelnden, aber zwinkernden Seitenblick auf Fiedselma. „Ja, ich bin der Obrist von ‚Ingerimms Hammer‘ und will zur Baronin, das hat mit euch aber nichts zu tun, gute Leute.“
Kurz entschlossen beschloss Dwarosch das Momentum zu nutzen. „Friedselma, sei so gut und bring den dreien ein Bier und schreib es auf meine Rechnung.“ Nochmals zwinkerte er ihr zu. „Heute soll kein Auge trocken bleiben. So gut gegessen habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr. Da kann ich unmöglich am Bier sparen.“
Die Wirtin schaute etwas ungläubig. „Gleich noch eines? Ich habe ihnen das erste doch gerade erst hingestellt!“
Dwarosch schaute sie mit einem väterlich-gutmütigen, aber doch bestimmenden Blick an. „Die kommen gerade vom Dienst und sind durstig. Das erste wird schneller geleert sein, als du glaubst, und der Abend ist noch lang.“
„Ha!“, erwiderte diese. „Da würde ich ja glattweg gar nicht widersprechen, so, wie ich die dreie hier kenne, vor allem Rauert, diesen alten Tagedieb“, sagte sie und stieß den Büttel in die Seite.
„Frieda, nun red' nicht so viel und hol' endlich das Bier!“, sagte dieser schlicht.
Rauert hatte während des kleinen Gesprächs den ersten Krug bereits in wenigen Zügen heruntergestürzt, nachdem er dem Zwergen zuvor kurz mit einem zufriedenen Grinsen zugeprostet hatte.
Die junge Frau mit den dunkelblonden, schulterlangen Haaren, die am Tisch saß, hob ebenfalls ihren Krug. „Habt Dank, Oberst! Ich bin Lischka Bitterfuß. Und der schweigsame hier links neben mir“ – sie blickt zu ihrem Nachbarn, der recht schlank von Statur war und sehr kurze, schwarzbraune Haare hatte – „... ist Mikal Tiefhuser, der Sohn des alten Schlachtschiffes, das uns da gegenübersitzt, Rauert Tiefhuser. Auch wenn er ihm zum Glück gar nicht ähnlich sieht!“
„Prost!“, schloss Rauert, während Mikal rot anlief und verlegen zu Boden schaute.
„Wollt Ihr Euch nicht zu uns setzen, Herr Oberst?“, fragte Lischka. „Es wäre uns eine Ehre, den Obristen von Ingerimms Hammer an unserem Tisch zu haben.“
Dwarosch nickte mit vollem Mund. Er nahm jedoch noch das übrig gebliebene Stück Brot, um damit die Schüssel vor sich zu säubern. Als er aufstand steckte er sich den letzten Happen in den Mund, schnappte sich seinen Humpen und setzte sich zu den dreien.
„Ihr wollt also Frau Baronin besuchen? Das ist ungewöhnlich!“, sagte Rauert und blickte dabei gedankenverloren auf den Tisch mit einem kleinen Schnapsglas, das er gerade geleert hatte.
Dwarosch antwortete gut gelaunt mit einer Gegenfrage, bevor er sich selbst einen Schluck des Starkgebrannten gönnte und sein eigenes Glas leerte. „Und warum? Weil ich ein Zwerg bin?“
„Naja. Ein bisschen schon. Aber vor allem, weil Ihr ein schwer gerüsteter Kämpe seid. Eigentlich ist das so: Die Zwerge, wenn sie keine Kämpen sind, gehen immer zum Vogt, denn dann sind sie Händler oder Handwerker und haben Geschäfte im Sinn. Und eher kriegerische Zwerge sprechen meistens mit Meister Borrosch, Sohn des Borrom, das ist der Burgschmied, denn dann geht es ums Waffenhandwerk. Aber meistens kommen Händler. Krieger kommen nur selten hierher. Denn die Frau Baronin macht sich nichts aus dem Kriegshandwerk, müsst Ihr wissen. Deswegen gibt’s auf Rodaschquell auch keine Turniere oder sowas.
„Dafür kommen alle Nase lang Barden. Ist ja nicht so, als würde es auf Rodaschquell keine Feste geben“, warf Lischka mit einem leichten Lächeln ein.
„Oh“, ließ Dwarosch einen überraschten Ton vernehmen. „Von diesem Schmied wusste ich bisher noch gar nicht. Aber seid gewiss, nun da ich weiß das es ihn gibt, werde ich auch ihn besuchen und mir seine Handwerkskunst ansehen. Ich muss meinen Lindwurmschläger ohnehin ausbessern lassen.“ Sagte der Oberst erfreut.
Er nahm einen Schluck Bier, um danach fortzufahren. „Mich führt eine dienstliche Angelegenheit zu Ihrer Hochgeboren. Dass sie dem Volk der Elfen entstammt, ist für mich nicht von Bedeutung.
Zur Erstellung einer neuen, präzisen, militärischen Karte müssen Marschübungen und Vermessungsarbeiten hier in Rodaschquell durchgeführt werden, ich sprach schon vorhin mit Friedselma darüber. Hierfür brauche ich die Einwilligung der Baronin.“
„Marschübungen und Vermessungen für eine Karte? Das klingt sehr wichtig!“, sagte Rauert mit nachdenklicher Mine. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihre Hochgeboren Euch diese Bitte verwehren wird.“
„Aber seid gewarnt“, warf Lischka ein. „Vogt Korninger wird Euch viele Fragen stellen und wissen wollen, ob diese Manöver für ihn – ich meine, für Rodaschquell – mit Kosten verbunden sind. Und wenn ja, wie hoch diese sind. Und wenn ihm nicht gefällt, was er hört, wird er Euch tausend Gründe und Vorschriften präsentieren, warum es nicht geht.“
„Ja, da hat sie Recht“, sagte Rauert. Fast ein wenig verschwörerisch neigte er sich nach vorn zu Dwarosch: „Glaubt mir, Ihr werdet eher den Vogt überzeugen müssen als die Frau Baronin. Und der alte Korninger …. verzeiht, ich meine natürlich der ehrwürdige Herr Vogt … ist mit allen Wassern gewaschen.“
„Aber mit Ritter Darian habt Ihr gewissermaßen auch einen Verbündeten“, fügte Lischka schnell hinzu. „Ich empfehle Euch daher, bei der Unterredung vorzuschlagen, dass es aus militärischer Sicht wichtig wäre, dass auch der Ritter dabei ist. Dann habt ihr bessere Karten.“
Der Oberst lauschte seinen Tischgenossen geduldig. Als sie geendet hatten nickte Dwarosch nachdenklich, bevor er wieder zu reden ansetzte. Ja, er würde sich diese Hinweise zu Herzen nehmen. Schaden konnte es definitiv nicht. Schon jetzt hatte der Abend im Schankraum nicht nur aus kulinarischer Sicht sein Gutes gehabt.
„Das werde ich tun, danke. Sagt, weilt dieser Ritter Darian am Hofe der Baronin? Was könnt ihr mir weiter von ihm berichten?“
Die drei warfen sich bedeutungsschwere Blick zu.
„Ihr wollt, dass wir Euch über unseren Hauptmann berichten?“, fragte Lischka listig.
„Naja“, antwortete Dwarosch, „ich weiß eben gern, mit wem ich es zu tun habe“.
„Tja-haaaa“, setzte Rauert an, „Darian ist die Art von Ritter, wie Klein-Alrik sich den typischen Ritter vorstellt! Groß und rondrianisch, immer gerade heraus, eine echte Kämpfernatur, dabei galant und immer an vorderster Front, wenn es um Turniere, Wettkämpfe und Herausforderungen geht. Und manchmal ein echter Hitzkopf“, wie er etwas leiser hinzufügte.
„Und er sieht so guuut aus“, warf Lischka lächelnd mit einem schwärmerischen Ton ein, während sie ihr Kinn auf ihre Hände legte, die Ellenbogen auf dem Tisch abstützte und Mikal einen neckischen Blick zuwarf. Der wiederum errötete etwas und knuffte Lischka mit einem gut vernehmlichen „heeee“ in die Seite.
„Jaja, das stimmt schon“, sagte Rauert nachdenklich. „Dasselbe gilt auch für Eduina, die Zofe der Baronin. Frau Morgenrot hat die beiden gern um sich. Sie und Darian weichen nie von ihrer Seite und passen immer auf sie auf.“
„Frau Baronin und Darian gäben schönes Paar“, platzte Friedselma herein,während sie ein paar Schnapsgläser auf den Tisch knallte. „Und wenn ihr mich fragt, dann ist es grausam von ihr, ihn so leiden zu lassen!“
„Wie darf ich denn das verstehen?“, fragte Dwarosch.
„Naja“, antwortete die Wirtin, „wären wir in Gareth bei all den feinen Leuten bei Hofe, hätte Darian vermutlich viele Verehrerinnen. Aber er selbst verehrt nur eine, wenn Ihr versteht, was ich meine. Als Darian damals nach Rodaschquell kam, war er noch blutjung. Vielleicht 17 Lenze. Aber sehr schnell hat er sich in die Baronin verguckt, die ja seit 20 Jahren um keinen Deut gealtert ist.“
„Und wer könnte ihm das verdenken, wer sie einmal gesehen hat“, sagte Rauert mit einem nach innen gerichteten Blick. „Aber bedauerlicherweise macht sich Baronin Morgenrot nichts aus großen Kämpfern. Sie macht sich überhaupt nichts aus Turnieren und Lanzengängen und mächtigen Rittern.“ Er zuckte die Schultern. „Ist halt so.“
„Dann könnte sie ihm ja endlich mal sagen, was Sache ist“, schimpfte Friedselma. „Aber das macht sie nicht! Sie ist immer freundlich zu ihm und lächelt ihm zu und macht ihm falsche Hoffnungen!“
„Was erwartest du denn von ihr? Sie ist halt eine Elfe“, sagte Rauert. „Soll sie ihn etwa nach Brabak schicken, nur damit er es endlich begreift? So ist Frau Morgenrot nicht. Sie macht ihm keine Hoffnung, aber sie weist ihn auch nicht zurück. So ist sie nun einmal.“
„Also ich finde das grausam! Was sagt Ihr dazu, Herr Oberst?“ Friedselma warf Dwarosch mit in die Hüften gestemmten Händen einen energischen Blick zu, der keinen Widerspruch duldete.
Der Sohn des Dwalin senkte den Kopf und starrte in seinen Humpen. Es dauerte bis er schließlich seufzte und mit leiser, leicht belegter Stimme seine Antwort gab.
“Darauf gibt es keine einfache Antwort gute Leut. Aber ich habe meinerseits eine Frage. Möchtet ihr mit einem Menschen an eurer Seite leben, der Tag für Tag älter wird, der neben euch dahinwelkt bis er schließlich stirbt, weil seine Zeit gekommen ist, während ihr scheinbar ewig jung bleibt? Würdet ihr euer Herz verschenken in diesem Bewusstsein, vielleicht sogar, wenn ihr diese Erfahrung schon einmal hättet machen müssen?”
Er hob den Kopf und ließ seinen Blick durch die Runde schweifen. Es war den Menschen als läge Traurigkeit in seinen Augen.
“Nein”, Dwarosch schüttelte den Kopf, “glaubt mir, dass möchtet ihr nicht. Niemand möchte das. Dies ist ebenso grausam.
Ich habe fast acht plus acht Dekaden gesehen und weiß inzwischen nicht mehr wie vielen Begräbnissen ich beigewohnt habe. Ich musste mich von so vielen Menschen, die mir etwas bedeutet haben, verabschieden, weil sie nach kaum mehr als sechs oder sieben Dekaden gestorben sind.”
Nochmals seufzte der Oberst. “Die Männer und Frauen meiner Familie werden alt, häufig weit über vierhundert Jahre, das sind sechs Menschenleben. Elfen sollen manchmal noch älter werden.
Könnt ihr Ermessen wie viele Freunde man in dieser Zeit hinter sich lassen muss? Die Götter haben einen seltsamen Humor, wenn ihr mich fragt.”
Friedselma blickte betreten. Eine Mischung aus Bekümmertheit und Anteilnahme, verwandelte ihr gutmütiges, freundliches Gesicht in eine Maske der Verwirrung. „Oh“, sagt sie dann. „So habe ich das noch gar nicht gesehen.“ Sie setzte sich und starrte nachdenklich ins Leere.
„Dabei solltest doch gerade du es besser wissen als alle anderen hier, wenn man vom Oberst und mir einmal absieht“, meldete sich plötzlich der alte Jorge zu Wort und drehte sich von seinem einsamen Tisch um zu den anderen.
„Ja …. ja natürlich“, erwiderte die Wirtin leise, während sie gedankenverloren auf den Tisch starrte. Fast so, als spräche sie zu sich selbst. „Aber bei mir ist das etwas anderes. Als mein Firunhard damals zu Boron ging, so hatte ich zumindest noch meine Coleta, und schon bald werde ich Großmutter sein.“
„Ja. Aber glaube mir, der Oberst hat Recht. Es ist Menschen nicht bestimmt, gemeinsam mit Elfen alt zu werden. Ihre Schönheit und ihre Alterlosigkeit sind gewissermaßen auch ein Fluch für Frau Morgenrot. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum auch dieser Koscher Baron Rodaschquell wieder verlassen hat, der so lange bei der Baronin war. Und wer weiß, wie viele Menschen Frau Morgenrot schon hat gehen sehen. Wir wissen ja gar nicht, wie alt ist. Sie könnte leicht doppelt so viele Sommer zählen wie ich. Und das wären schon eine ganze Menge“, sagte der Alte mit einem gewitzten Grinsen und hob seinen Krug mit einem Zwinkern.
„Und trotzdem ist es grausam. Herr Darian. sollte auch seine Liebe finden und eine Familie gründen können. Stattdessen ist er hier auf Rodaschquell und bewacht eine unnahbare Herrin. So lange, bis er selbst zu Boron gegangen ist. So, wie sein Oheim Odilon von Sturmfels vor ihm und wer weiß wie viele nach ihm. Das ist doch einfach nicht richtig! Ach... ich weiß auch nicht!“ Sie warf entnervt das Tuch, das sie um den Arm hatte, auf den Tisch und sah hilflos und trotzig zugleich aus.
„Ihr habt ebenso recht wie ich es habe“, meinte Dwarosch zu den vernommenen Worten.
„Ändern kann es aber keiner“, sagte Jorge. „Darian wird all das wissen. Und wenn er sie würde verlassen wollen, dann würde sie ihn garantiert auch ziehen lassen.“
„Ha!“, platzte es aus Rauert heraus. „Der und Frau Morgenrot verlassen! Eher kannst du eine Sturmlaterne ausblasen! Das wird er niemals tun!“
„Gefühle wie Loyalität, Zuneigung oder gar Liebe haben wenig mit Objektivität und noch weniger mit Logik zu tun, gab der Oberst zu bedenken. „Urteilt nicht über sie oder ihn. Mehr als auf die vermeintlich vergeudete Lebenszeit hinzuweisen könnt ihr nicht. Am Ende liegt die Entscheidung bei ihnen.“
Lischka und Mikal hatten zu alledem geschwiegen. Die junge Büttelin suchte die Hand von Rauerts Sohn und blickte ihn kurz mit einem betretenen Lächeln an.
„Aber was soll all der Trübsal“, sagte Rauert schließlich. Ich will meinen Feierabend genießen! Ändern können wir's sowieso nicht. Also los, Frieda, hol uns noch ein paar Kurze!“
„Darin wiederspreche ich euch nicht“, stimmte Dwarosch zu und schien guten Willens keine weitere Trübsal blasen zu wollen.
Als dann die kleinen Gefäße kurz darauf auf dem Tisch standen hob der Oberst seines an und blickte auffordernd in die Runde. „Auf die die Leben und die die gegangen sind. Mögen wir uns einst alle wiedersehen in seiner, heiligen Esse. Der Allvater möge es richten.“
Und so tranken sie auf das Wohl ihrer Lieben, Verwandten und Freunde.
Der Abend währte noch recht lang. In der illustren Runde wurde noch so mancher Humpen geleert, noch so manches scharfe Gebräu den Rachen hinunter gestürzt, bevor man lachend und sich umarmend auseinanderging.

~*~

Mit einem Kerzenleuchter bewaffnet stampfte Friedselma die Treppen hinauf und öffnete im ersten Stockwerk die erste Tür zur Rechten eines längeren Ganges. Dahinter steckte ein kleines Zimmer mit einem Fenster, das den Blick auf die Ingrakuppen gewährte. Die Möbel – ein großer Schrank, das Bett sowie ein kleiner Tisch, zwei Stühle und eine Truhe – waren allesamt aus schwerer Steineiche gearbeitet. Neben dem Bett stand noch ein kleiner Beistelltisch mit einem Krug darauf. Eine dunkle Wolldecke lag auf dem Bett, darüber ein zurückgeschlagenes Leinentuch. Auf dem Tisch standen eine Messingschale mit Wasser und einem Stück Seife, daneben lag ein sauberes Tuch. Friedselma stellte den Kerzenleuchter auf dem Tisch ab. „Na, dann wünsche Euch eine angenehme Nacht! Und wenn Ihr noch etwas brauchen solltet, dann lasst es mich am besten jetzt noch wissen“, sagte sie, gefolgt von ihrem plötzlichen, lauten Lachen.
Mit einem müden aber nichtsdestotrotz freundlichen Lächeln erwiderte Dwarosch ihre Frage. „Das sieht einladend aus.“ Er trat in die kleine Stube, stellte seinen schweren Rucksack mitsamt dem Spieß an die Wand und drehte sich zur Wirtin um. „Ich denke ich werde alsbald zur Ruhe kommen. Habt Dank für alles!“
Zufrieden mit sich und der Welt drehte sich Friedselma um und segelte wieder aus dem Raum. „Ein echter Oberst hier in Rodaschquell ...“, murmelte sie noch gedankenverloren.
Dwarosch schüttelte lächelnd den Kopf. Er mochte die freundliche Art, mit er empfangen worden war. Auch wenn er aus hohem Hause stammte, war er am Ende nur ein einfacher Mann und würde dies auch immer bleiben. So war ihm der Umgang mit dem gemeinen Volk meist deutlich lieber als mit Adligen.
Er schloss die Tür hinter sich und machte ein zufriedenes Gesicht. In den Genuss einer zwergengerechten Herberge kam er nicht häufig auf Reisen. So etwas gab es wenn, dann nur im Isenhag und in Teilen des Kosch. Und ja, Dwarosch wusste sowas durchaus zu schätzen. In ungezählten Jahren als Söldner hatte er viel zu oft unbequem genächtigt. Früher hatte ihn das nicht sonderlich gestört, doch inzwischen war er kein Jungspund mehr.
Die bleierne Schwere in seinen Gliedern nötigte den Oberst dazu sich zielstrebig in Richtung Bett zu bewegen. Auf dem kurzen Weg schaffte er es tatsächlich noch mit großer Mühe und einer zum Glück traumwandlerischen Routine sich der schweren Rüstungsteile am Oberkörper zu entledigen, welche rasselnd auf einem Haufen zusammenfanden. Dann plumpste er auf die Bettkante. Stöhnend und unter Verlust größerer Mengen Luft, welche aus den tiefen seiner Eingeweide stammen mussten, schnürte er sich die Stiefel auf und fiel dann hinten über, um fast augenblicklich in einen tiefen, bierseeligen Schlaf zu fallen.
~*~
Als Dwarosch am nächsten Morgen hinunterging, war Friedselma bereits zugange, unterstützt von einem Knecht und einer Magd. Der Junge – er mochte nicht älter sein als 15 – kümmerte sich um das Herdfeuer, während das Mädchen mit dem Decken einiger Tische und dem Säubern von Gläsern beschäftigt war, während Friedselma ab und an aus der Küche kam, mit dampfenden Broten, gekochten Eiern, Wurst, Käse, Sauerrahm und einigen Kräutern. Ein weiterer Gast – seiner Kleidung nach ein Händler, wie der typische Mantel und der breitkrempige Hut verrieten – war bereits mit seinem Frühstück zugange.
„Ah! Guten Morgen Herr Oberst!“, sagte die Matrone breit lächelnd. „Ich gehe davon aus, dass Ihr euch nochmal ein wenig stärken wollt, bevor Ihr Euch auf den Weg zur Burg macht, richtig?“ Ohne seine Antwort so recht abzuwarten, segelte sie sogleich in seine Richtung, und machte ihm ein Gedeck zurecht.
„Geschäftstüchtig ist sie ja“, dachte Dwarosch lächelnd. „Habt Dank, gut Frau“, sagte er dann – eine Widerrede hätte sie vermutlich ohnehin nicht akzeptiert.
„Das geht auch aufs Haus“, sagte sie. „Wann habe ich schon mal die Gelegenheit, einen echten Oberst zu bewirten? Aber empfehlt mich bloß weiter, ja?“
„In der Tat, durchaus geschäftstüchtig“, ging es Dwarosch nochmals durch den Kopf.
Nach einem vortrefflichen und wohl noch nahrhafteren Frühstück machte sich Dwarosch daran den Weg hinauf zur Burg anzutreten, nicht jedoch, bevor er sich mit persönlichen Worten und einem großzügigen Trinkgeld bei der Wirtin verabschiedet hatte. Er würde ihr Haus weiterempfehlen, soviel war sicher!
„Na, dann wünsche ich Euch eine gute Reise, Herr Oberst! Es hat mich wirklich sehr gefreut, dass Ihr im Rosenhof eingekehrt seid. Und wenn Ihr wieder zurückkommt von der Burg, würde ich mich freuen, wenn Ihr mir sagt, wie's Euch ergangen ist und ob die Baronin und der Vogt Eurem Vorhaben zustimmen. Und wenn Ihr wollt, mache ich Euch dann noch ein paar Anisplätzchen für die Weiterreise. Meine sind nämlich viel besser als die meiner Schwester! Das liegt an dem Koriander, den ich hinzugebe, aber verratet's nicht!“
„Worauf ihr euch verlassen könnt gute Frau. Ich werde vor meinem Aufbruch gen Senalosch bei euch einkehren um mich zu stärken. Auch wenn ich nicht weiß ob ich dann dank Eures guten Essens die Ingrakuppen heraufkugeln muss!“
Sie winkte ihm zum Abschied und blieb noch eine ganze Weile an der Tür stehen.

~*~

Burg Rodaschblick befand sich auf der Spitze eines kleinen, bewaldeten Berges. Eine großzügige Serpentine wand sich um ihn herum und machte den Aufstieg einigermaßen erträglich, zog ihn dafür jedoch auch etwas in die Länge. Je näher Dwarosch der Burg kam, wurde er mit jeder Biegung umso mehr schmerzlich gewahr, dass zumindest die äußere Mauer in einem beklagenswerten Zustand war. Der Ring der einstmals wohl recht großen Festung war nahezu zerfallen, und an etlichen Stellen hatten Efeu und wilde Rosen die Mauern erobert.
Der Oberst kannte sich ein wenig aus mit der Geschichte der Nordmarken. Burg Rodaschblick war schon sehr alt und hatte vor langer Zeit, als das Reich noch jung war und die Nordmarken ein Königreich waren, einen festen Platz zur Erschließung firunwärtiger Gebiete eingenommen. Auch gab es hier früher einmal wichtige Minen, weswegen Kelnen noch heute einen Ruf als Stadt der Steinschleifer innehatte. Doch die Burg hatte ihre Bedeutung schon vor langer Zeit verloren und war entsprechend vernachlässigt worden. Und so hatte Satinav unerbittlich seinen Tribut gefordert.
Im letzten Drittel der Serpentine säumten Kirschbäume den Weg. In dem Gebiet, das einst der erste Burghof gewesen sein musste, gab es heute nur noch Gras.
‚Immerhin haben sie keine Obstwiese daraus gemacht, sondern das Gelände zumindest freigehalten‘, dachte Dwarosch, dem der Anblick der zerfallenen Mauern aus militärischer Sicht ganz und gar nicht behagte.
Im Gegensatz zur Außenmauer schien die Kernburg gut erhalten. Der wuchtige, rechteckige Bergfried reckte sich dem Neuankömmling entgegen, und gleich links neben ihm befand sich das zweite Tor – das nun gewissermaßen das Haupttor war. Ein Wächter stand vor dem Tor, schwer auf seine Hellebarde gestützt. Im Näherkommen sah Dwarosch, dass es etwas ältere Büttel war, den er gestern Abend im Gasthof gesehen hatte. Seine Augen waren geschlossen, und der Mann schien ein außerordentliches Talent darin zu besitzen, im Stehen vor sich hin dösen zu können …
Der Oberst trat einen Schritt hinter die Serpentine zurück, außer Sichtweite des Wachsoldaten und mimte dann einen ihn grausam beutelnden Hustenanfall vor. Die anschließende Schimpftriade auf seinen vermaledeite Gräserunverträglichkeit, hätte selbst einen selig schnarchenden Troll aus seinem verdienten Schlaf gerissen.
Als er für sich befand, dass es genug war, musste er sich ein breites Grinsen verkneifen. Schließlich trat erneut um die Kurve und lächelte dem ihm bekannten Büttel Rauert zu.
Der etwas behäbig wirkende Rauert war gerade damit beschäftigt, sich seine Mütze zurechtzurücken und versuchte gleichzeitig, seine Hellebarde halbwegs gerade zu halten. „Ah, Ihr seid es, Herr Oberst! Ich habe Euch schon kommen sehen“, sagte er dann.
„Nun, Ihr wollt ja zur Frau Baronin, nicht wahr? Na, dann kommt mal mit, dann kann Herr Welzelin Euch ja ankündigen.“
Er führte Dwarosch durch das Tor, und der Zwerg sah sich in einem sehr kleinen Innenhof um. Rechts von ihm ragte der mächtige Bergfried empor, und zur linken gab es ein kleines, offenes Steinhaus mit einem Amboss und einer Esse. Im Augenblick war aber niemand da. Der ganze Hof mochte gut zehn mal zehn Schritt groß sein. Rauert führte den Oberst dann durch einen steinernen Bogen unter einer Innenmauer hindurch auf den eigentlichen Burghof, der ungleich größer war, etwa fünfzig Schritt im Quadrat. Es gab hier Stallungen, zwei Wirtschaftsgebäude, eine kleine Kapelle und natürlich das Hauptgebäude. Die Häuser waren allesamt aus Stein oder Fachwerk und wirkten deutlich jünger und frischer als der Rest dessen, was Dwarosch bisher von der Burg gesehen hatte. Ein Ziehbrunnen – den anzulegen sicherlich viel Arbeit gekostet hatte – versorgte die Bewohner mit frischem Quellwasser von dem hier noch jungen Rodasch. In der Mitte des Hofes wuchs ein riesiger, breiter Busch, unter dem rundherum eine Sitzbank angelegt worden war.
Es herrschte ein recht emsiges Treiben. Zwei Frauen Mitte bis Ende dreißig trugen Körbe mit Wäsche vor sich her und gingen damit auf ein Nebengebäude zu. Als sie Dwarosch sahen, deuteten sie einen kleinen Knicks zum Gruß an und huschten dann weiter. In den Stallungen war ein Knecht damit beschäftigt, sich um die Pferde zu kümmern, ein weiterer schöpfte Wasser aus dem Brunnen.
„He, Lorrek, hol mal den Herrn Welzelin, wir haben einen Gast“, rief Rauert. Der Junge stellte den Eimer ab und rannte Richtung Hauptgebäude.
Während Dwarosch neben dem heute Morgen recht schweigsamen Rauert wartete, der mit nach innen gekehrtem Blick in Richtung der Bänke unter dem Busch starrte, bemerkte er plötzlich, wie ihm sein Waffengurt herunterrutschte. Just in diesem Moment kam ein Mann um die Fünfzig aus dem Hauptgebäude, zusammen mit Lorrek, der aber gleich wieder in Richtung Brunnen ging.
Der Neuankömmling bemerkte den herunterrutschenden Waffengurt und seine Augen folgten dem herabgleitenden Leder, das der Zwerg gerade festhielt. „Ähm... nun ja ….“, sagte er dann schlicht und versuchte irgendwie, das Ganze zu überspielen. „Willkommen auf der Rodaschblick! Ich bin Ulfried Welzelin, der Haushofmeister dieser Burg. Darf ich Euch nach Eurem Namen fragen, Herr Angroscho, und nach Eurem Begehr?“
Der feiste Mann besaß überhaupt keinen Hals und trug die schwere Kleidung eines höheren Bediensteten, mit einer wuchtigen Kopfbedeckung, die zum Teil wie eine Art Schal unterhalb seines Doppelkinns drapiert war. Er hielt einen Zeremonienstab in seiner Hand und trug schwere Samthosen mit weißen Strümpfen und schwarze Schuhe mit silbernen Schnallen.
Dwarosch kämpfte noch immer mit seinem Waffengurt, der noch immer nicht so recht sitzen wollte. Und nun rutschte auch noch der Dolch aus der Scheide und purzelte auf den Boden.
„Äh.... ja.... das kann ja schon mal passieren“, sagte der Haushofmeister besänftigend und tupfte sich mit einem Tuch die Stirn. „Vielleicht wollt Ihr Eure Waffen einfach in der Schmiede ablegen? Rauert wird schon gut darauf aufpassen.“
Der Oberst räusperte sich, nahm den Gurt ab und setzte zu einer Antwort an, die die Unsicherheit seiner Hände lügen strafte. Fest, nachdrücklich und befehlsgewohnt war der Ton seiner Stimme. „Mein Name ist Dwarosch. Ich bin der Sohn des Dwalin und entstamme der Sippe des Mogmarog von Isnatosch. Mein Weg führt mich jedoch als Oberst des Bergköniglich Isenhager Garderegimentes Ingerimms Hammer hierher zu euch. Ich würde gern mit ihrer Hochgeboren sprechen so sie derzeit hier verweilt und sie gewillt ist mich anzuhören.“
Dann blickte er zu dem Leder mitsamt den Waffen in seine Hände. Schmunzelnd viel ihm eine Schließe ins Auge, die defekt schien und ihren Sinn und Zweck wohl nicht mehr zur Vollständigkeit zu erfüllen vermochte. Mehr oder minder halblaut sagte er da zu sich selbst: „Ein so altgedientes Stück noch aus Zeiten da ich als Söldner den ganzen Kontinent bereiste und heute, fernab jeder Schlacht spielst du mir einen Streich. Wissen die Götter, es gäbe einen unpassenderen Zeitpunkt.“
Alsdann blickte er wieder zum Herold. „Ich will meine Waffen und meine Wehr zum Schmied bringen, hörte ich doch, dass er sein Handwerk versteht und meinem Volke entstammt.
So geht und kommet mit positiver Antwort zurück, so eure Herrin Zeit für mich erübrigen kann. Jedoch sagt bitte zuerst Ritter Darian, dass ihn sprechen möchte und teilt ihm mit, wo er mich finden kann.“
Haushofmeister Welzelin machte mit weit ausholenden Armen eine Verbeugung, die aber ob seiner Leibesfülle nicht sehr tief geriet. „So wollen wir es halten, werter Herr Oberst. Doch der Schmied ist momentan nicht auf der Burg. Der ist geschäftlich in Klein-Eisesheim und kommt erst morgen wieder. Rauert hier wird Eure notablen Waffen aber in seine Schmiede geben und darauf aufpassen, und ich werde den Meister höchstpersönlich bitten, sich das nach seiner Rückkehr einmal anzusehen, solltet Ihr länger auf der Rodaschblick verweilen. Wenn Ihr mir denn folgen mögt, denn wir wollen ja nicht, dass Ihr hier einfach auf dem Hof stehen bleiben und warten müsst, in Travias Namen...“ Welzelin schenkte Dwarosch ein freundliches, allerdings irgendwie etwas gehetzt wirkendes Lächeln und tupfte sich erneut etwas Schweiß von der Stirn.
„Also schön“, sagte der Oberst schlicht und übergab seine Waffen Rauert. „Dass du mir ja gut darauf Acht gibst“, sagte er etwas belehrend, aber nicht unfreundlich. „Natürlich, Herr“, antwortete der Büttel und blickte ihn fest und pflichtbewusst an –wenngleich auch mit etwas schläfrigen Augen.
Welzelin führte Dwarosch über den Hof in Richtung des Hauptgebäudes, einen schmucken, U-förmigen Bau aus Stein und mit Fensterläden, hinter dem ein Turm aufragte, der Teil des Gebäudes sein musste und vermutlich einen atemberaubenden Blick auf den Wasserfall bot.
„Ihre Hochgeboren …“ – er machte eine kurze Pause –„ … hält gerade Hof. Ihr werdet sie und den Herrn von Sturmfels beide in der Festhalle antreffen. Ich werde den streitbaren Herrn jedoch bitten, sich vorher mit Euch zu besprechen, wenn Ihr dies wünscht.“
Es ging einige Stufen hinauf, und der Haushofmeister öffnete eine doppelflüglige Tür. Dahinter verbarg sich eine Vorhalle mit zwei Treppen aus dunklem Holz, die ins Obergeschoss und auf eine Galerie führten. Dazwischen lag eine ähnliche Doppeltür wie das Eingangsportal. Schon bevor Welzelin auch diese öffnete, war Dwarosch, als hörte er Musik. Als der wohlbeleibte Haushofmeister die Türen links und rechts zur Seite schwingen ließ, drang tatsächlich der Klang von Harfen an Dwaroschs Ohren. Sie ließen meisterlich gespielte Arpeggios und Glissandi erklingen und wurden zudem begleitet von einer Laute, einer Flöte und einer Fidel. Welzelin wies mit einer Handbewegung in die Halle. Dwarosch sah, dass sie den größten Teil des Mittelbaus einnehmen musste und über zwei Stockwerke ging. Sie maß mindestens 15 mal 10 Schritt. Vier steinerne Säulen trugen die Galerie über ihm, einen steinernen Arkadengang. Auch im Erdgeschoss gab es unter den Arkaden Gänge, von denen je zwei Türen abgingen. Oben, in etwa sechs Schritt Höhe, sah er das Dachgebälk.
Ihm gegenüber befand sich, auf einem Podest, ein Thron aus demselben dunklen Holz wie die Treppen in der Vorhalle. Dahinter lag eine Wand mit großen, bunten Fenstern, die den steinernen Raum mit dem Licht der Morgensonne füllten. In der Wand waren links und rechts zwei geöffnete Türen. Sie ließen die frische Morgenluft hinein und gestatteten einen Blick in einen kleinen Garten, der offenbar hinter der Mauer lag. Dazwischen befand sich der mannshohe Kamin. An den Wänden hingen kunstvolle Wandteppiche. In großen Kübeln standen an mehreren Stellen der Halle kleine Bäume und Büsche. So, als sollte der Garten auch im Inneren der Burg Einzug halten.
Im Rücken und auf der Sitzfläche war der Thron mit Damast überzogen – Blau und Silber, den Farben Rodaschquells. Sowohl die Armlehnen als auch die Rückenlehne waren reichhaltig mit Schnitzereien bedacht, die zumeist Rosen und Ranken zeigten. Doch saß niemand auf dem Thron. Stattdessen sah Dwarosch zu seiner Linken eine Gruppe von Musikern. Tatsächlich standen dort vier Harfen unterschiedlicher Größe, die von den weiteren Instrumenten begleitet wurden.
Zu seiner Rechten standen unter den Arkaden zwei Mägde mit Körben in den Armen, die im Augenblick jedoch ihre Arbeit zu vergessen schienen und andächtig der Musik lauschten, von einem gelegentlichen Tuscheln und Witzeln unterbrochen. Gelehnt an eine der Säulen stand ein ziemlich großer, breitschultriger Mann um die Dreißig mit haselnussbraunem, schulterlangem Haar, ein Bein über das andere gekreuzt und die Arme vor der Brust verschränkt. Er trug ein hochgekrempeltes weißes Hemd und Hosen aus schwarzem Leder. Seine massigen Arme und seine ganze Haltung erweckten den Eindruck, als verstünde sich der Mann auf das Kriegshandwerk, und den gestrigen Beschreibungen nach zu urteilen schloss Dwarosch, dass dies Ritter Darian von Sturmfels sein musste.
Eine hübsche blonde Frau Anfang vierzig, gekleidet wie eine Edeldame mit einem gelb-silbernen Kleid, hielt eine der größeren Harfen, ebenso ein Mann um die fünfzig, der jedoch eher einfache Kleidung trug. In seinen Spitzbart hatte sich viel Grau geschlichen und er hatte eine einfache Mütze auf dem Kopf. Neben ihm spielte ein Mädchen von höchstens 15 Jahren mit langen, dunkelblonden Haaren eine weitere Harfe. Dann gab es noch zwei Herren und eine weitere Frau, die Laute, Flöte und Fidel spielten, wobei die tragende Melodie von den Harfen vorgegeben wurde.
Unweigerlich fiel des Zwergen Blick auf eine junge Dame, die eine der beiden kleineren Harfen spielte. Sie trug ein Kleid aus hellrotem Satin mit goldener Borte. Ihr feines, helles Antlitz schien makellos. Ihre Augen waren zumeist geschlossen, während ihre zarten Hände anmutig über die Saiten glitten. Sie lächelte sanft und schien ganz in das Spiel versunken, nur hin und wieder öffnete sie die Lider und offenbarte zwei strahlende Amethyste. Ihre leicht gewellten Haare waren von einem leuchtenden Rotbraun, und es lag ein seltsamer Glanz auf ihnen. So, als habe man jede einzelne Strähne kurz in flüssiges Gold getaucht. Ab und an konnte man zwischen dieser Kaskade aus Rotbraun und Gold die sich zu Spitzen verjüngenden Ohren sehen. Es konnte kein Zweifel bestehen: Dies war Liana Alyandéra Morgenrot, die Baronin von Rodaschquell.
„Da brat' mir doch einer einen Storch!“, dachte Dwarosch halb amüsiert, halb Kopf schüttelnd. „Die Mauern ramponiert, schläfrige Büttel am Tor und kichernde Mägde in der Halle, aber ein halbes Orchester unterhält sie hier – und nennt das Hof halten!“
„Der berühmte albernische Harfenbauer Caradoc Arberdan ist momentan Gast ihrer Hochgeboren – gemeinsam mit seiner Schülerin –, um Frau Baronin weiter im Spiel der Harfe zu unterrichten“, sagte Welzelin flüsternd, als hätte er Dwaroschs Gedanken gelesen. „Dort drüben steht der Herr von Stumfels“, fügte er hinzu und winkte dem Ritter etwas unbeholfen zu, peinlichst bemüht, keine allzu große Aufmerksamkeit zu erregen, um die sieben Musiker nicht zu stören.
Der junge Mann bemerkte den Haushofmeister, wandte sich den Neuankömmlingen zu und ging ihnen entgegen. Welzelin räusperte sich „Dies ist der ehrwürdige Dwarosch, Sohn des Dwalin, aus den Bergen Isnatoschs, Oberst des Bergköniglich Isenhager Garderegiments Ingerimms Hammer.“ Der Ritter fixierte den Zwergen kurz. Erst wollte er eine Verbeugung machen, hielt dann aber inne, verfiel in ein breites Lächeln und gab Dwarosch mit einem hölzernen „Garoschem“ einen festen Händedruck. „Ihr müsst verzeihen, mein Rogolan ist mies, aber es ist ehrlich. Willkommen auf der Rodaschblick. Ich bin Darian von Sturmfels.“
Der Oberst lächelte breit und erwiderte die Begrüßung des Ritters offenherzig. „Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen, hoher Herr.“
Wieder räusperte sich Welzelin und wies zu einer der Türen. „Wenn Ihr mir in die Bibliothek folgen wollt.“ Er schaute kurz über die Schulter in Richtung der Musiker. Die Dame in dem gelb-silbernen Kleid schien die Eindringlinge bemerkt zu haben und bedachte sie mit einem etwas pikierten Blick, um kurz daraufhin ein recht lautes Glissando zu spielen …
Dwarosch nickte und folgte dem Haufhofmeister, ebenso Darian von Sturmfels.
Kurz darauf hatten die beiden Männer der Waffen in bequemen Ohrensesseln in der Bibliothek Platz genommen.
Die Bibliothek lag in einem der beiden Seitenflügel des Hauptgebäudes. Sie war nicht sonderlich groß, vielleicht fünf mal fünf Schritt im Maß, aber einladend. Regale aus dunklem Holz bedeckten den Großteil der vier Wände und ragten bis zur Decke, die hier – im Gegensatz zur Haupthalle – nicht bis zum Dach reichte, denn es gab noch ein Geschoss darüber. Ein schwerer Lüster mit einem Dutzend Kerzen hing von der holzvertäfelten Decke, und auch in den Wänden waren zwischen einzelnen Regalen einige gusseiserne Kerzenhalter angebracht worden. Zwei jeweils dreiteilige Fenster ließen Tageslicht hinein, und die cremefarbenen Wollvorhänge links und rechts setzten einen angenehmen Akzent zu dem dunklen Holz in dem Raum. Auf dem Parkettboden ruhte ein schwerer Teppich.
Ein kleiner, steinerner Kamin lag zur Linken, doch brannte ob der sommerlichen Temperaturen natürlich kein Feuer darin, und die Scheite waren unversehrt übereinander gestapelt. Über dem Kamin hing ein großes Bild und zeigte eine Familie: einen Mann Mitte vierzig mit dunklem Haar, das an den Schläfen bereits ergraute, eine attraktive blonde Dame etwa gleichen Alters – vermutlich seine Gattin – sowie einen Jüngling und eine junge Frau, die beide die Züge ihrer Eltern in sich vereinten. Sie alle blickten den freundlich Betrachter an.
Vor dem Kamin standen zwei große, schwere Sessel, dazwischen befand sich ein kleiner Tisch mit einer silbernen Kanne und zwei Pokalen. Auch gab es noch eine Vitrine mit etwa einem Dutzend verschiedener gläserner Karaffen sowie einigen gläsernen Pokalen.
Darian machte eine einladende Geste in Richtung eines der Sessel und wartete, bis der Angroscho Platz genommen hatte, ehe er sich selbst setzte.
Unweigerlich blickte der Ritter zu dem Gemälde, bevor er sich seinem Gast zuwandte, und es schien Dwarosch, als bereite es ihm Unbehagen.
Dwarosch wollte keine Zeit verlieren, einen Unterstützer für seine Sache zu gewinnen, wusste er doch nicht, wie die Baronin, oder besser „die Elfe“ auf ihn und sein Ersuchen reagieren würde.
„Werter hoher Herr von Sturmfels, mein Besuch in Rodaschquell hat einen bestimmten Grund, wie Ihr Euch sicher schon denken könnt. Und da ich ein militärisches Amt bekleide, werdet Ihr auch schon eingegrenzt haben, um welches Themengebiet es geht.
Ich habe erfahren, dass Ihr sowas wie die rechte Hand ihrer Hochgeboren seid. Da meinen Anliegen militärischer Natur sind. liegt es nahe zunächst mit euch zu sprechen, falls die Baronin Rückfragen zu meinen Anliegen hat, da Ihr sie sicher beraten werdet. Darüber hinaus könnten wir die Details auf kurzem Weg untereinander klären, wenn es soweit ist.
Aber ich rede um den heißen Brei und das ist nicht meine Absicht.
Also, einerseits möchte ich ihrer Hochgeboren wie jedem anderen Baron und Vogt des Isenhag meine Unterstützung anbieten, um Wehranlagen ihres Lehens wieder instand setzen zu helfen. Die Sappeure meines Regimentes müssten lediglich hier vor Ort verpflegt werden. Es sind alles fähige Männer und Frauen, die ihr Handwerk verstehen. Und“, Dwarosch räusperte sich und nahm eine minimal andere Sitzposition ein, „nun ja, hier müsste einiges an Mauerwerk wieder in Ordnung gebracht werden.
Aber das ist nicht der einzige Grund meines Besuchs. Ich lasse derzeit eine neue Karte des Isenhag erstellen. Sie wird nicht nur Grenzverläufe und wichtige Handelswege darstellen, sondern auch Wald- und Bergpfade, ebenso wie Tunnelverläufe meines Volkes. Angaben über zu überwindende Höhenmeter, Runen für die Wegmarkierungen unter Tage, sowie voraussichtliche Marschzeiten heben ihren besonderen, militärischen Zweck hervor.“
Dwarosch machte eine kleine Pause und ließ seinem Gesprächspartner Zeit, dass Gehörte einzuordnen.
Darian wartete einen Augenblick, und verfiel dann in ein breites, entwaffnendes Grinsen. „Rechte Hand der Baronin? Ihr beliebt zu scherzen, Oberst. Ich gebe auf sie Acht und sorge dafür, dass die Büttel hier nicht ganz aus der Form geraten, und“ –
er wurde plötzlich ernst – „ich begleite sie auf ihren manchmal recht seltsamen Reisen. Aber ihre Rechte Hand bin ich freilich nicht, auch wenn ich mich um alle militärischen Belange kümmere. Sie weiß schon selbst, was sie tut“, sagte er mit einem leicht amüsierten und doch etwas schnippischen Unterton. Noch bevor Dwarosch etwas erwidern konnte, fuhr der Ritter fort: „Aber Ihr habt Recht. Die äußeren Burgmauern kann man wohl kaum als solche bezeichnen. Ich habe schon oft mit dem Vogt darüber gesprochen, aber der will von einer Ausbesserung nichts wissen. Zu teuer, sagt er immer. Ihr müsst nämlich wissen, da Frau Morgenrot der Zauberei mächtig ist ...“ – er sagte dies mit einem seltsam in sich gekehrten Gesichtsausdruck, ehe er den Zwerg wieder direkt ansah „... ist es gefügt, dass ein Vogt die alltäglichen Belange regeln muss. Und auf Rodaschquell ist dies der ehrenwerte Herr Korninger. Die Baronin hat ihn auf Empfehlung des Reichsrates hin ernannt, soweit ich weiß, und er kümmert sich eben um alles. Wie viele Lebensmittel für die Küche eingekauft werden, sofern sie nicht von den Bauern kommen, wie viele Nägel der Schuster braucht und wie viele Säcke Kohle der Schmied, … und dann schaut er Tag für Tag in die Bücher, führt die Korrespondenz mit der Kanzlei, trägt genau ein, was die Bauern an Abgaben entrichtet haben, wie viele Einheiten Waffenfett ich für meine Waffen und die meiner Leute brauche, fragt, warum die Pferde wieder so viel Hafer gefressen haben und warum der Schinken schon wieder alle sei und so weiter, und so fort. Kurzum: Der Baronin werden Kosten eher einerlei sein, aber dem Vogt dafür umso weniger. Und die erste Frage, die er Euch stellen wird, lautet: Wofür der ganze Aufwand, den Ihr da betreiben wollt.“
Dwarosch musste innerlich lächeln. In all den Jahren hatte er sich durchaus eine solide Menschenkenntnis angeeignet. Sie half ihm dabei, oft die wahren Motive oder Gedanken zu erahnen, die einen Gesprächspartner umtrieben. Doch dieser Ritter hier bemühte sich nicht einmal, sich zu verstellen – und man konnte ohnehin schon in ihm lesen wie in einem der Bücher hier im Raum. Und ganz offenkundig hielt er den Vogt für einen grantigen Erbsenzähler.
Der Angroscho wusste um die Rechtsprechung. Zauberkundige Hochadlige mussten in der Tat einen Vogt benennen, damit er sich um die Belange ihres Lehens kümmerte. Viele Barone hatten auch aus Bequemlichkeit einen Vogt. Oder weil diese Leute sich oft besser auf die wirtschaftlichen Belange verstanden. Aber bei den wenigen magiebegabten unter ihnen war es ein Muss. Allerdings hatten die zaubermächtigen Adligen die Möglichkeit, den Vogt selbst zu benennen – und auch wieder zu entlassen –, weswegen sich sich Vögte im Allgemeinen gut mit ihren Herren stellten.
Es klopfte an der Tür. „Herein“, sagte Darian. Eine junge Dienstmagd trat ein mit einem Tablett mit Früchten, etwas Gebäck sowie eine Karaffe mit Wasser, das ein wenig nach Minze roch. Sie knickste kurz, stellte das Tablett an dem Tisch ab, goss das Wasser in die silberne Karaffe und von dort dann in die Pokale. Dann knickste sie erneut und verschwand wieder.
„Warum der ganze Aufwand?“, sagte Dwarosch, nachdem die Magd gegangen war. „Nun, ich habe ein Banner Bergschützen in meinem Regiment, die mit dieser Karte dazu befähigt werden sollen, in möglichst kurzer Zeit an jedem Ort der Grafschaft zu sein. Die Bergschützen tragen nur leichte Rüstungen und sind ebenso nur leicht bewaffnet. Dafür tragen sie spezielle Ausrüstung fürs Hochgebirge und für die ewige Finsternis unter den Bergen bei sich. Sie werden den schwer gerüsteten Einheiten Zeit erkaufen, die diese benötigen, um auf ausgebauten Wegen ans Ziel zu kommen.
Herzog und Graf unterstützen meine Pläne, aber natürlich brauche ich für die notwendigen Marschübungen und Vermessungsarbeiten die Einwilligung der Lehnsherren. Darum bin ich hier.“
An dieser Stelle beugte sich der Oberst vor und sprach eindringlich weiter. „Ich bin kein Mensch. Mir sind die Zänke oder gar Fehden des Hochadels gleichgültig. Für mich hat alleine der Schutz meiner Heimat Bedeutung. Bitte glaubt mir, nichts liegt mir ferner, als die Domäne eines Lehnsherrn zu verletzen. Ich bitte lediglich um die Erlaubnis mit einer begrenzten Anzahl an Männern für einen fest definierten Zeitraum in Rodaschquell operieren zu können.“
Dwarosch lehnte sich wieder zurück und atmete hörbar aus, um die Anspannung abzuschütteln. „Ihr könntet unsere Arbeiten beaufsichtigen, wenn ihre Hochgeboren dies wünscht. Damit könnten weitere Bedenken ausgeräumt werden, vorausgesetzt es ist mir gelungen, Euch für meine Sache zu gewinnen.“
Darian sagte eine Weile nichts, sondern blickte dem Angroscho fest in die Augen. Dann erhob er sich und ergriff energisch seinen Unterarm in der Art, wie sich Kämpfer einander grüßen.
„Ihr wisst ja gar nicht, wie großartig ich Eure Idee finde! Ich unterstütze Euren Plan voll und ganz, und Ihr sollt hier in Rodaschquell jegliche Hilfe bekommen, die möglich ist.“
Dwarosch war zunächst etwas perplex über die unerwartete Reaktion Darians. Doch die Überraschung währte nur kurz. Dann begann der Oberst zu grinsen und griff seinerseits beherzt zu, um wie es ihm schien einen Interessensbund zu schließen. Sein ihm scheinbar angeborenes Misstrauen war jedoch noch nicht zur Gänze verschwunden.
„Es freut mich außerordentlich das es scheint, dass ich in euch einen Unterstützer gefunden habe. Das könnte meinem Anliegen das notwenige Gewicht verleihen.“ Der Zwerg klang noch immer diplomatisch, nicht überschwänglich.
Der Ritter ging nachdenklich zu einem der Fenster. „Mich habt Ihr bereits überzeugt, das versichere ich Euch“. Er drehte sich um und sah Dwarosch an, und sein Blick hatte fast etwas Verschwörerisches. „Aber damit die Baronin letzten Endes zustimmt, müssen wir erst an dem Vogt vorbei. Aber ich weiß schon, wie uns das gelingt!
„Lasst hören!“, sagte der Zwerg.
„Wir müssen es so aussehen lassen, als wäre es ein großes Geschäft, das er sich nicht durch die Lappen gehen lassen kann! Wenn Ihr ihm eindringlich schildert, wie aufwendig die Instandsetzung der Mauern ist, und dass er all das fast umsonst haben kann und nur für Kost und Logis der Arbeiter aufkommen muss, dann bin ich ganz sicher, dass er anbeißt!“ Er schlug sich mit der Faust in die Hand. „Ich werde Euch dann zu Seite stehen und der Baronin und dem Vogt schildern, welch großer Gewinn das für uns ist! Glaubt mir, wenn der Vogt ein gutes Geschäft wittert, dann beißt er auch an und wird die Baronin selbst beknien, der ganzen Sache zuzustimmen!“
Er sah Dwarosch enthusiastisch an.
Dieser nickte verstehend mit sachter Kopfbewegung. Dennoch sann der Oberst noch einmal kurz über die Optionen nach die er hatte. Es war ja nicht so, dass Dwarosch unvorbereitet war. Er hatte gehofft mit Liana Alyandéra Morgenrot allein reden zu können, um sie von der Notwendigkeit seiner Vorhaben überzeugen zu können, darin hatte er inzwischen Erfahrung und hielt sich für Sattelfest was die Argumentation betraf. Das der Vogt unumgänglich war brachte neue unbekannte in seinen bisherigen Plan und dass dieser eine Krämerseele war besorgte ihn. Mit solchen Menschen konnte er nicht. Er würde seine Agenda auf diesen Korninger anpassen müssen. Ohne eine solche in das bevorstehende Gespräch zu gehen hielt Dwarosch für nicht zielführend, ja sträflichst naiv und auf seine Improvisationsgabe allein wollte er sich ebenfalls nicht verlassen.
Nein, was Darian vorgeschlagen hatte war der einzig gangbare Weg, der Erfolg versprach und bei dem er darüber hinaus sogar ihn als Unterstützer auf seiner Seite wusste. Es war gut gewesen, dass er dem Rat der Büttel nachgekommen war und erst mit dem Ritter gesprochen hatte. Die Begegnung im Gasthof war eine glückliche Fügung gewesen.
„Dann machen wir es so!“ Sagte Dwarosch deswegen entschlossen und nickte noch einmal, diesmal mit einer dankbaren Miene. Schelmisch und nun seinerseits enthusiastisch hingegen fügte er an. „Was ihre Hochgeboren betrifft, so hoffe ich noch einen kleinen Trumpf im Ärmel zu haben. Also, könnt ihr eine Audienz veranlassen?“

~*~

Die Halle hatte sich etwas gewandelt. Die Harfen hatte man fortgeschafft, und auch die Musiker waren nicht mehr zu sehen, als Dwarosch etwa eine halbe Stunde nach seinem Gespräch mit Ritter Darian vom Haushofmeister wieder hineingeführt wurde.
Noch immer huschten kichernde Mägde umher und schienen sich an nichts und niemandem zu stören – und am wenigsten an der Baronin selbst. Sie saß auf dem mit kunstvollen Schnitzereien versehenen Sessel, ihre Arme in dem leuchtend roten Satin mit der goldenen Borte ruhten auf den Lehnen. Ihre zarten Fesseln waren überkreuzt und lugten gerade so unter dem kostbaren Stoff hervor.
Zu ihrer Rechten, am Fuße des Podestes, stand ein kleiner Schreibtisch, den man wohl erst vor Kurzem hereingetragen hatte. Dahinter saß ein kleiner Mann mit mausgrauem Haarkranz, der 60 Götterläufe längst überschritten haben musste. Er trug ein schwarzes Wams mit weißer Spitze am Ärmel sowie eine schwarze Hose und schwarze Strümpfe. Ein seltsamer Kontrast zur Baronin. Sein Hals war umschlossen von eine jener weißen Halskrausen, wie sie oft bei Schreibern zu sehen sind, die in den Kanzleien arbeiten. Der Alte hockte in sich gekauert auf einem kleinen Stuhl, vor sich einen Stapel mit Pergamenten und ein gläsernes Tintenfässchen. Ab und an tunkte er eine schwarze Rabenfeder in das Fässchen und schrieb eifrig auf einem der Pergamente. Darian stand zur Linken der Baronin, ebenfalls am Fuße des Podests und wie schon zuvor lässig gegen eine der Säulen gelehnt.
Ulfried Welzelin verneigte sich so tief, wie es seine Leibesfülle zuließ, und räusperte sich kurz, um seinen Worten etwas mehr Gewicht zu geben, stieß zweimal mit seinem Heroldsstab auf den Boden und verkündete dann feierlich:
„Ihre Hochgeboren Liana Alyandéra Morgenrot von Rodaschquell, Baronin zu Rodaschquell.“
Erneut stieß er mit dem Stab einmal auf den Boden.
„Der ehrwürdige Dwarosch, Sohn des Dwalin, aus der Sippe des Mogmarog von Isnatosch, Oberst des Bergköniglich Isenhager Garderegimentes Ingerimms Hammer, ersucht um Audienz.“
Die beiden Mägde, die geflochtene Körbe mit Backwaren und Obst in den Händen hielten und nahe der rechten Pforten zum Garten in ihr Geplapper vertieft waren, hatten wohl wenig Interesse an Meister Welzelin und einfach weiter geschwatzt. Eine kicherte etwas lauter.
Plötzlich merkte der Alte hinter seinem Schreibtisch auf, sah energisch zu den beiden herüber und ließ ein lautes „PSCHT!“ vernehmen, bevor er sie anherrschte: „Habt ihr mal wieder nichts zu tun?“ Die beiden gescholtenen beendeten jäh ihren kleinen Plausch, wurden putterrot und schauten fast etwas ängstlich in Richtung des Vogtes. Dann knicksten sie kurz und machten schnell, dass sie davon kamen.
Liana sah nur kurz in Richtung ihres Vogtes, ihr Blick eine Mischung aus Verwunderung und Amüsiertheit. Sie wandte sich dem Neuankömmling zu und schenkte ihm ein Lächeln, das so ehrlich wirkte wie die Worte, die sie in ihrer leisen, sanften Stimme sagte: „Seid willkommen in meiner Halle, ehrwürdiges Väterchen. Ich darf Euch meine Berater vorstellen?“
Sie wies, ohne den Blick von ihm abzuwenden, mit ihrem rechten Arm nach rechts, eine langsame, anmutige Geste. „Seine Wohlgeboren Bernhelm Korninger, Vogt zu Rodaschquell“, posaunte der Haushofmeister. Dann deutete Liana zu ihrer Linken, und Welzelin ergänzte mit seiner lauten Stimme, die die Wände wackeln ließ: „Der streitbare Herr Darian von Sturmfels jüngeres Haus, Ritter zu Rodaschquell.“
Die Elfe wartete einen Moment, ehe sie das Gespräch eröffnete. „Was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs auf der Rodaschblick?“ Aus der Nähe glichen ihre Augen umso mehr zwei wundervollen Amethysten aus den tiefsten Tiefen der Ingrakuppen.
Dwarosch straffte sich, war sich bewusst, dass das Wort nun am Ihm war. Er wirkte einen Moment etwas angestrengt, als fände er nicht die passende Begrüßung, doch es entstand keine peinliche Stille, dafür währte der Moment zu kurz. Als er begann, stand eines jedoch ohne Zweifel fest: Damit hatte keiner der Anwesenden gerechnet.
„ Sanyasala gis biundao gwendala Liana Alyandéra Morgenrot, boroborinoidha Dwarosch.“
Die Wörter klangen nicht so weich, wie sie normalerweise gehört hätten und Liana erkannte sofort, dass der Zwerg etwas aus der Übung war, jedoch war die Aussprache korrekt gewesen und zeugte von einiger Erfahrung. Was die Elfe jedoch ebenfalls wahrnahm war ein Gefühl, das in der Stimme des Oberst mitschwang, als er sprach: Wehmut.
„Ihr müsst entschuldigen“, wechselte der Oberst dann mit einem Lächeln in das Garethi zurück. „Es ist lange her. Ich hoffe, ich habe Euer Ohr nicht zu sehr beleidigt.“
Schon als Dwarosch die ersten Worte sprach, wurde der Elfe Lächeln umso strahlender und schöner. Dem Ritter war die Überraschung über das ganze Gesicht geschrieben, und er glotzte mit weit geöffneten Augen und offenem Mund in Richtung des Zwergs und verfiel dann in ein breites Grinsen. Vogt Korninger wirkte irritiert, zog die Stirn kraus und machte insgesamt den Eindruck, als sei er davon überzeugt, nicht recht gehört zu haben oder zumindest nicht zu wissen, was er davon halten sollte. Weder er noch Darian beherrschten das Isdira. Darian nicht, weil er – bis auf allenfalls ein paar Brocken – nicht die Geduld dafür hatte, diese schwierige Sprache zu erlernen. Und Vogt Korninger nicht, weil er es schlichtweg für Nonsens hielt, sich damit zu beschäftigen.
Liana entging der Schwermut in Dwaroschs Stimme nicht, und so wich das Lächeln nach und nach einem freundlichen, fast feierlichen Ausdruck. Sie antwortete ihm – sehr zum Ärger des Vogts – auf Isdira. Wohl, um zu testen, ob der Zwerg nur einige wohlgesetzte Worte gelernt hatte, oder ob er tatsächlich der elfischen Zunge mächtig war. Ihr feiner Singsang durchzog Halle. „Schon viele Angehörige deines stolzen Volkes habe ich gesprochen, doch noch nie ist geschehen, dass einer mich in meiner Sprache grüßte, und dies gar noch so freundlich. Du bist mir umso mehr willkommen, Dwarosch, Sohn des Dwalin, und gerne würde ich mehr von dir erfahren, wenn du mir diese Freude bereiten willst. Sei mein Gast, solange du es wünschst.“
Das Lächeln des Zwergen wurde mit jedem Wort, dass die Baronin zu ihm sprach breiter. Seine Taktik war aufgegangen. Nochmals wählte er ihre Muttersprache, um auf die unterschwellige Frage der Elfe einzugehen. „Hab' Dank für diesen herzlichen Empfang. Mit Freuden nehme ich deine Einladung an. Du sollst erfahren, wer mir eure Sprache beibrachte und welch bedeutender Freund er mir war. Wenn es dir recht ist, komme ich jedoch zunächst zu dem Grund meines Besuchs.“
„Es wäre mir eine besondere Freude, diese Geschichte zu hören“, antwortete die Elfe sanft. „Und ich bin sicher, dass wir die Gelegenheit dafür finden werden. So ungern ich mich des Vergnügens beraubt sehe, dir weiter zuzuhören, wie du in der Sprache meines Volkes sprichst, die ich zu selten höre, so sehr befürchte ich, dass außer uns beiden hier niemand des Isdira mächtig ist.“
Fast beiläufig blickte sie in Richtung des Vogts, dessen Mine mittlerweile einen, wie es schien, leicht säuerlichen Zug angenommen hatte, und der den Singsang der Elfe gelegentlich mit einem kleinen Räuspern untermalte.
‚Ein Oberst, hm? Immerhin besser als einer dieser vermaledeiten Steuerprüfer aus der Kanzlei‘, dachte der alte Vogt so bei sich. ‚Und dazu spricht er auch noch Isdira! Da brat mir doch einer einen Dukaten! Was wird der hier wohl wollen?‘
Es ärgerte ihn, kein Wort zu verstehen von dem, was dieser zweifellos sehr kriegerische Zwerg da mit der Baronin besprach. Aber vermutlich würde es eh nur etwas Geplänkel sein. Es hatte für ihn fast etwas Komisches, diesen breitschultrigen Veteranen Isdira sprechend vor der Baronin zu sehen, die zwar deutlich höher gewachsen war als er, aber neben ihm so zerbrechlich wirkte wie eine junge Birke neben einem Berg. Schon ohnehin ein seltsames Bild: Eine Elfe und ein Zwerg besprachen menschliche Belange. Zwei Völker, die ihre Blütezeit längst hinter sich gelassen hatten …
Bernhelm rieb sich das Kinn, noch immer nachdenklich die Stirn kraus gezogen.
Der Oberst straffte sich derweil und neigte huldvoll den Kopf in Richtung des Vogtes. Er wechselte wieder ins Garethi, um nun alle Anwesenden teilhaben zu lassen. „Euer Wohlgeboren, angenehm, Eure Bekanntschaft zu machen.“ Dann wandte er sich wieder der Baronin zu. „Mit dem Hohen Herrn hatte ich bereits das Vergnügen“, er lächelte und deutete ein Nicken gegenüber Darian an. Eine Geste, welche den freundschaftlichen Ton ihres Kennenlernens andeutete.
Der Ritter erwiderte die Geste kurz und schaute Dwarosch zuversichtlich an. „Bis hierhin ist es schon einmal gut gegangen“, dachte Darian bei sich.
Dwarosch hielt es für falsch, das Treffen mit einer Halbwahrheit zu beginnen. Der Baronin und ihrem Stellvertreter etwas vorenthalten zu wollen wäre eine gefährliche Strategie gewesen, konnte er doch nicht wissen, welche Augen und Ohren ihnen zutrugen, was vor sich ging. Nein, ein Vertrauensverlust durch solche Unwahrheit, dem Vorenthalten der Tatsache, dass Darian und er sich bereits ausgetauscht hatten, war nicht in seinem Sinne und wohl auch nicht zielführend. „Hochgeboren, ich komme aus mehreren Gründen zu Euch. Lasst mich ausführlich erklären worum es mir geht.“ Dwarosch kam zur Sache.
‚Na endlich!“, dachte Vogt Korninger bei sich. „Aber bitte nicht ZU ausführlich. Ich muss mich schließlich noch auf den Besuch der Kanzleivertreter vorbereiten und die Bücher frisieren.‘
„Mit Einwilligung des Herzogs und unseres Grafen lasse ich derzeit eine neue Karte des Isenhag erstellen, welche besondere militärische Angaben enthält. Sie wird uns in die Lage versetzen, jeden Winkel unserer Heimat in möglichst kurzer Zeit erreichen zu können, um in Notsituation eingreifen und Entsatz schicken zu können.
Die Gebirgsjäger, denen sie vornehmlich dient, sind eine speziell ausgebildete und ebenso ausgerüstete Einheit meines Regimentes, die sich schnell durch die Tunnel der Angroschim wie durchs Hochgebirge bewegen kann. Um ihnen das bestmögliche Handwerkszeug, eine möglichst exakte Karte an die Hand geben zu können, nehmen wir die Distanzen und zu überwindenden Höhenmeter in Marschübungen auf. Erfahrung im Feld sind besser als theoretische Annahmen, so lautet meine Devise.
Deswegen möchte ich Euch um Erlaubnis bitten, mit meinen Männern Marschübungen auf dem Gebiet Rodaschquells durchführen zu dürfen. Ich spreche von einem Halbbanner, also nicht mehr als fünfundzwanzig Mann für einen begrenzten Zeitraum von zwei Wochen, vielleicht ein bisschen mehr. Begleitet werden würden die Soldaten von einer Handvoll Vermessungstechniker.“
An dieser Stelle machte der Oberst eine kurze Pause und sprach dann in leicht gesenktem Ton weiter. „Um es noch einmal herauszustellen, die Karte dient der Verteidigung und unsere Marschübungen werden Eure territoriale Unabhängigkeit nicht verletzen. Ihr habt mein Wort, dass dieses Unterfangen ohne viel Aufsehen vonstatten gehen wird, und so Ihr wollt, könnt Ihr mir einen fähigen Mann an die Seite stellen, der alles in eurem Sinne überwacht. Wir haben keine Geheimnisse.“ Der Oberst lächelte offen und Liana erahnte, dass der Zwerg an eine ganz bestimmte Person dachte, mit der er sich offenbar gut verstanden hatte.
Auch den listigen Augen des Vogts entging dies nicht. Überhaupt war dieser durchaus geübt darin, seine Umgebung genauestens zu beobachten.
War Dwaroschs Stimme vom Beginn an sachlich gewesen, wurde er nun eindringlicher. Dieses Projekt war eine Herzensangelegenheit des Zwergen, das wurde der Elfe recht schnell deutlich. Das war wohl auch der Grund, warum er keine Untergebenen geschickt hatte.
„Diese Karte wird das Leben eines jeden Einwohners der Grafschaft ein Stück weit sicherer machen, das ist meine tiefe Überzeugung, und viele Lehnsherrn haben mir darin bisher zugestimmt, so dass die Arbeiten, die für ihre Anfertigung notwendig sind, bereits im vollen Gange sind. Darum möchte ich Euch hiermit auch um Eure Erlaubnis bitten.“
Noch bevor irgendjemand anderes etwas sagen konnte, platzte es aus Darian heraus: „Das ist eine ganz fantastische Sache! Sie dient der Sicherheit des Isenhag und geschieht mit dem Willen des Herzogs und des Grafen. Was sollte uns davon abhalten, den ehrenvollen und wichtigen Plan des Oberst zu unterstützen?“ Er straffte sich und versuchte, seine Begeisterung halbwegs in Zaum zu halten und den folgenden Satz so ernst wie möglich klingen zu lassen. So, als sei es eine Last, die er sich zum Wohle der Sache auferlege: „Gerne erkläre ich mich bereit, den Oberst und seine Leute auf ihren Reisen durch Rodaschquell zu begleiten und, wie der Oberst sagt, ein Auge auf alles zu haben. Wobei ich nicht im Leisesten an seinen guten Absichten zweifle“, fügte er fast entschuldigend-beiläufig hinzu.
Liana bedachte ihren Ritter mit einem Lächeln, aus dem sowohl Güte und Zuneigung als auch Amüsiertheit sprachen. Dann wandte sie sich in Richtung ihres Vogts. Dieser räusperte sich erneut und sprach mit einer gewissen Süffisanz, die nicht zu überhören war.
„Nun, Herr Ritter, erlaubt mir einige Anmerkungen, da Ihr zwei Dinge womöglich nicht berücksichtigt haben könntet. Euch dürfte bekannt sein, dass die Tunnel, von denen der Oberst sprach, sich in Zwergenhand befinden. Korrigiert mich, Herr Oberst, aber es wird sich wohl um Tunnelanlagen handeln, die zum Reich von Xorlosch gehören, da sich dieses Königreich ja in unmittelbarer Nachbarschaft zu Rodaschquell befindet. Fast alles unter den Bergen gehört ja den Zwergen laut geltendem Recht.“ Für einen kurzen Moment mischte sich ein klein wenig Verärgerung in seine Stimme, während er dies sagte.
„Einer unser geschätzten Handelspartner, aber durchaus etwas …. kompliziert …, wenn Ihr mir die Bemerkung gestatten wollt. Und soweit ich recht informiert bin, erlauben die Zwerge von Xorlosch nicht jedem“
…. einen Augenblick klang es, als wolle er „dahergelaufenen“ sagen, doch schnell besann er sich eines Besseren ….
“auch noch so ehrbaren Ritter, einfach im Reich von Xorlosch umherzuwandern. Ich hörte, sie seien diesbezüglich … nun ja … sehr verschlossen. Daher dürfte es recht schwierig werden, den Leuten des Oberst in diesen Tunneln zu folgen, es sei denn, der Oberst oder Graf Ghambir hat neben einem Dispenz für das zwergische Halbbanner auch einen für Menschen erwirkt bei seiner bergköniglichen Majestät. Abgesehen davon, dass mir nichts über die Höhe dieser Tunnelanlagen bekannt ist und darüber, ob es Euch physisch überhaupt möglich sein sollte, ihnen zu folgen, da Ihr ja nun von recht rondrianischer Gestalt seid, Herr von Sturmfels.“
Korninger malte sich aus, wie es wohl aussehen mochte, wenn der hünenhafte Darian durch zwergische Tunnel kroch und den Tag verfluchte, an dem er sich zu dieser Aufgabe bereiterklärt hatte. Allerdings wusste Bernhelm tatsächlich nichts über die Höhe der Tunnel. Aber der Gedanke an enge, rußige Zwergenstollen amüsierte ihn ungemein und half ihm dabei, seine Laune zu bessern, was sich auch in seiner Stimme niederschlug.
„Darüber hinaus stelle ich mir die Frage, wer für die Verpflegung und womöglich auch den Unterhalt der Leute aufkommt. Gehen wir einmal davon aus, dass der Sold von der Regimentskasse bestritten wird. Aber dazu kommt die Verpflegung eines Halbbanners erfahrener Veteranen, dazu noch der Tross der Vermessungsleute und dergleichen. Wenn Ihr von etwa zwei Wochen und „womöglich etwas mehr“ sprecht, Herr Oberst, dann gehe ich zumindest von drei Wochen aus. Und um auf der sicheren Seite zu sein und es zudem besser rechnen zu können, nehmen wir doch gleich einen ganzen Mond an, da macht man sicher nichts falsch. Und das wären dann – wenn man nur die Verpflegung nimmt, denn sie werden ja vermutlich allein der Übung halber in ihren Zelten schlafen – bei pro Tag veranschlagt gut drei Silberlingen sowie insgesamt 35 Leuten genau 3.150 Silberlinge an Verpflegung. Eventuelle Materialkosten noch nicht eingerechnet, wohlgemerkt. Wenn man den – nichts für ungut, Herr Oberst – beachtlichen Appetit der Zwerge berücksichtigt und den Umstand, dass die viele Lauferei zudem sehr hungrig und vor allem durstig macht, und jeder kennt ja nun den ausgezeichneten Geschmack der Zwerge und ihre Liebe für gutes Bier, würde ich per se etwa weitere 380 Silberlinge für Bier hinzufügen, und das ist schon vorsichtig kalkuliert. Denn wenn es für fünf reicht, reicht es auch für zehn, wenn man etwas rationiert. Aber dennoch: 3530 Silbertaler sind für eine kleine Baronie wie Rodaschquell eine beachtliche Summe, wenn man bedenkt, dass wir ja ohnehin wieder in Frieden mit unserem Nachbarn Albernia leben und uns um Krieg keine Sorgen machen müssen, Travia sei's gedankt!“ Er beendete diesen letzten Satz mit geschlossenen Augen und einer gewissen andächtigen Ergebenheit in seiner Stimme, als der den Namen der Göttin führte.
Darian verdrehte nur die Augen und schüttelte den Kopf. Liana sagte nichts zu alledem. Ihre strahlenden Amethyste waren auf den Zwerg gerichtet.
Dwarosch schmunzelte und musste tatsächlich einen Moment lang ein Lachen unterdrücken. Was für ein Erbsenzähler! Beschwichtigend hob er die Hände und versuchte die Vorbehalte den Vogt auszuräumen.
„Ingerimms Hammer ist ein stehendes Regiment, das heißt, dass alle Kosten, der Sold und die Verpflegung, ständig aus der Staatskasse bezahlt werden. Dies ist nicht Eure Sorge. Ich bin ein Soldat, um so etwas zu verhandeln hätte ich jemand anderen geschickt, wenn dies notwendig gewesen wäre, glaubt mir.
Was die Tunnel betrifft, so würde ich den Hohen Herrn niemals einer solchen Strapaze aussetzen.“ Dwarosch grinste frech und blickte kurz zu Darian. „Nur ein sehr kleiner Mensch schafft es, da unten unser Tempo mitzugehen, denn gebeugtes Laufen erfordert viel zu viel Kraft und führt zu unsäglichen Rückenschmerzen. Naja, zumindest habe ich mir das sagen lassen.“ Nochmals grinste er.
„Aber dies ist auch nicht notwendig. Alle unterirdischen Wege sind bereits neu kartographiert worden. Diese Arbeiten sind beendet. Wir haben von den Mogmarog von Xorlosch und Isnatosch die Erlaubnis, die Tunnel ihrer Reiche zu nutzen, wenn wir auch um die inneren Verteidigungsringe von Xorlosch einen Bogen machen müssen. Das heißt also, dass wir im Ernstfall aus Senalosch aufbrechen würden und kein Tageslicht sehen, bis wir in Firun des Bergkönigreiches in Rodaschquell ankommen. Ja“, Dwarosch nickte als er die fragenden Blicke registrierte, „wir unterlaufen den Großen Fluss.“ Die Stimme des Oberst war stolz als er das sagte. „Isnatosch ist das älteste Reich meiner Rasse und existierte, als noch kein Güldenländer seinen Fuß auf den Kontinent gesetzt hatte. Die Angroschim wissen leider heute nicht einmal selbst so genau bis wohin die Tunnel reichen. Es sind einfach zu viele.
Nein, es geht hier in Rodaschquell nur um die oberirdischen Wege, durch Wälder und Täler, über kleinere Bergpässe bis zu euren Ansiedlungen die es im Notfall zu schützen gilt. Und ja, auch bis an die Grenze zu Albernia, denn auch wenn Frieden herrscht, wir alle wissen, dass sich das auch schnell ändern kann.“
Vogt Korninger zog die Mundwinkel nach unten und zuckte mit den Schultern. „Na, wenn das so ist ...“, sagte er dann schlicht.
„Wenn Ihr uns also garantieren könnt, dass Rodaschquell dadurch keine Kosten entstehen, dann soll es an mir nicht liegen. Dann müsste ich natürlich nur noch die gesiegelte Bestätigung der Kanzlei sehen, dass Ihr im Auftrag des Herzogs die Ländereien vermesst. Nur der Formalitäten halber.“
Bevor Dwarosch etwas erwidern konnte, wandte die Baronin sich dem Vogt zu und bedachte ihn mit einem leicht tadelnden Blick, ehe sie in ihrer sanften Stimme fast ein wenig belehrend sagte:
„Herr Korninger! Unser Gast ist ein Oberst im Dienste seiner Hoheit. Sein Wort ist stärker, als jedes Pergament und jedes Siegel es sein könnten.“
Der Vogt neigte mit einem leichten Lächeln kurz sein Haupt. „Euer Hochgeboren.“
Liana wandte sich wieder Dwarosch zu, und das gütige Lächeln kehrte umgehend zurück. „Euer Anliegen ist wohlgesetzt, Oberst Dwarosch, und sowohl Ihr als auch Eure Leute sind uns willkommen, um Eurer Aufgabe nachzukommen. Herr Darian hier ...“ sie wies mit einer anmutigen Geste erneut in Richtung des Ritters „... wird Euch auf Eurer Reise durch mein Lehen begleiten. Auch werde ich Euch Jagdmeister Keldor zur Seite stellen. Wohl niemand kennt die Täler und Wälder dieses Lehens besser als er.“
Sie neigte sich nach vorn und blickte Dwarosch intensiv an. Ihre klaren, funkelnden Augen glichen der Farbe, wie sie der Himmel zeigt, wenn die Sonne untergegangen ist und im blauvioletten Firmament die ersten Sterne hervorlugen. Dwarosch wurde des leichten Duftes gewahr, der die Elfe umgab.
Dwarosch Miene zeigte, wie zufrieden er mit dem Zugeständnis war, als er den Kopf leicht vor der Baronin neigte. „Danke, Eure Erlaubnis erfreut mich sehr. Darüber hinaus, werden die beiden Herren meine Arbeit sicher erleichtern.“ Er schmunzelte kurz und verkniff sich einen erneuten Seitenblick auf Darian, was ihm äußerst schwer viel. Dann fuhr er fort.
„Mein zweites Anliegen ist ein Angebot, dass ich euch unterbreiten möchte. Meine Sappeure sind derzeit dabei, die Wehranlagen der Vogteien von Nilsitz instand zu setzen. Die Arbeiten basieren auf einer Abmachung zwischen Borindarax, dem Sohn des Barbaxosch, dem Vogt und mir. Euch Hochgeboren möchte ich einen solchen Kontrakt ebenfalls anbieten.“
Korninger merkte auf. „Ein Kontrakt? Welcher Art, Herr Oberst? Ihr wollt die Rodaschblick instandsetzen?“ Er schaute, als hätte er nicht recht gehört. So, als sei der Zwerg erneut ins Isdira übergegangen.
Der Blick des Oberst glitt zum Vogt bevor er weitersprach. „Natürlich sind die regulären Kosten eines solchen Unterfangens immens, das ist mir wohl bewusst, doch ihr müsstet meine Soldaten nicht bezahlen, sondern nur Baumaterialien stellen, für Unterbringung sorgen und sie verpflegen. Der Großteil der Kosten,“
… Korninger zuckte zusammen...
„.... nämlich die der Handwerker, würden somit entfallen.“ Dwarosch ließ das gesagte kurz wirken. „Ich bin nicht unverschämt, wenn ich sage, dass dies ein Angebot ist, dass ihr so schnell nicht wiederbekommt. Und noch eines zu diesem Thema. Ich habe dieses Angebot bisher jedem Lehnsherrn unterbreitet zu dem ich in Ausübung meines Amtes gekommen bin. Fühlt Euch also in keinster Weise davon angegriffen. In Friedenszeiten vergisst man schnell, wofür Wehranlagen einmal errichtet wurden, andere Dinge erlangen Bedeutung und lassen die Instandhaltung in den Hintergrund rücken, bis sie irgendwann unwichtig, nicht mehr notwendig erscheint. Doch ich weiß, wie wichtig sie sind, denn ich habe viele Auseinandersetzungen, Konflikte, Kriege erlebt als Söldner. Diese Erfahrung lässt mich Vorsorge treffen. Die Wehr des Isenhag ist von größter Bedeutung für mich.“
Während der Angroscho sprach, tastete Liana mit Hilfe ihrer elfischen, intuitiven Magie nach dem Zwergen, suchte seine Emotionen zu ergründen, zu fühlen, und erhoffte, auch einen kurzen Blick auf sein Wesen werfen zu können.
Dwarosch war eine äußerst starke Persönlichkeit, und sein Geist schien einem Bollwerk gleich. Das war der erste, dominierende Eindruck, doch in diesem Moment schien es ihr, als wäre er so offen ihr gegenüber, als lese sie in einem vor ihr aufgeschlagenem Buch.
Sie nahm unterschwellige Anspannung war, die mit seinen Anliegen verknüpft waren. Sie verspürte zumindest ein Stück weit Besorgnis, dass man ihn zurückwies. Dass man ihm dies keineswegs äußerlich ansah, musste an seiner Erfahrung liegen, eines wohl viele Jahrzehnte währenden Umgangs mit solchen Situationen.
Jedes Mal, wenn der Blick des Obersts den ihren streifte, er sie ansah, während er sich mit dem Vogt unterhielt war es, als huschten tief verborgen liegende, nein vergrabene Erinnerungen durch den Geist des Zwergen und versetzten ihm einen Stich, ließen Wehmut, Trauer, Schmerz aufblitzen.
Und noch mehr sah die Elfe mit ihren durch Madas Wirken verfeinerten Sinnen. Etwas, das nur wenige vermochten. Ein riesiger, zottiger Höhlenbär, von beeindruckend muskulös-stattlicher Figur, zeigte sich als deutlicher Schemen hinter Dwarosch. Das Seelentier stand dabei neugierig auf den Hinterläufen, überragte den Zwergen um doppelte Länge und hatte die Nase witternd erhoben.
Noch bevor Vogt etwas sagen konnte, war es erneut Darian, der mit Begeisterung hereinplatze: „Denkt Euch nur, was für ein großartiges Angebot der Oberst dieser Baronie macht! Der äußere Ring würde wieder instandgesetzt, und die Rodaschblick wäre so stolz wie ehedem! Und das zu Konditionen, wie sie nicht besser ausfallen könnten für uns! Ein hervorragendes, einmaliges Geschäft!“ Der Ritter strahlte übers ganze Gesicht, schlug sich mit der Faust in die Hand und blickte erwartungsvoll in Richtung des alten Vogts.
Bernhelm Korninger ließ einen Moment vergehen und räusperte sich kurz, ehe er antwortete – erneut mit einem leicht süffisanten Lächeln auf den Lippen.
„In der Tat ein überaus großzügiges Angebot, Herr Oberst. Und es freut mich, zu hören, dass der Vogt von Nilsitz eine Übereinkunft mit Euch getroffen hat in dieser Angelegenheit. Nur frage ich mich Folgendes: Ihr sagtet eingangs, dass das Herzogtum für die Kosten des stehenden Regimentes aufkäme und die Verpflegung der Truppen also entfiele. Nun indes sagt Ihr uns, dass die Truppen doch verpflegt werden sollen auf unsere Kosten, wenn die Mauer instandgesetzt würde. Also wie verhält es sich denn nun?“
„Dies, Wohlgeboren“, antwortete der Oberst, „ist ein Zugeständnis, welches ich Herzog und Mogmarog machen musste, als ich mit ihnen über meinen Plan sprach, die Wehranlagen durch meine Soldaten auf Vordermann bringen zu lassen. Sie sind es, die das Regiment unterhalten, und beide ließen sich nicht von dem Gedanken abbringen, dass sie auch etwas davon haben sollten. Seine Hoheit und das Ehrwürdige Väterchen waren recht deutlich mir gegenüber.“
Er zuckte mit den Schultern. „Mir wäre es lieber, wenn wir uns nicht über Dinge wie Geld unterhalten müssten und mit Verlaub, mich interessieren Zahlen nicht sonderlich, mich beschäftigt vordergründig die Sicherheit der Nordmarken. Dennoch kenne ich die Größenordnung ziemlich genau von denen wir hier sprechen.
Natürlich würde die Instandsetzung viel Geld kosten, doch ohne mein Angebot wären die notwendigen Ausgaben schier immens.
Ich bleibe dabei, es ist ein Angebot, welches Ihr überdenken sollten.“
Der Vogt hob erneut an: „Nun, wohlan, Herr Oberst. Ich zweifle nicht daran, dass Euer Angebot ein gutes ist. Und ich mag mir gut vorstellen, dass Ihr nicht über Geld sprechen wollt. Ein Zug, der vielen ehrbaren Kämpen dieser Tage zu eigen ist.“ Fast unwillkürlich warf er dem Ritter einen Seitenblick zu. „Ich allerdings, als Vogt dieser Baronie, muss mir sehr wohl über Geld und Zahlen Gedanken machen, das ist meine Aufgabe. Und wie ich Euren Worten entnehme, tut dies auch der Herzog, was ich – versteht mich nicht falsch – sehr gut nachvollziehen kann, denn all die Arbeiter ein halbes Jahr woanders arbeiten zu lassen als an der eigenen Burg, und das auch noch kostenlos, nein, das behagte mir auch nicht. Es sei denn, sie hätten gerade nichts zu tun. Dann natürlich wäre es ein für beide Seiten einträgliches Geschäft: die Leute woanders arbeiten lassen, wo sie dann verpflegt werden und zu einem guten Preis Mauern im eigenen Reich instandsetzen. Und ohne ein Fachmann zu sein, gehe ich durchaus davon aus, dass die Arbeiten an der Mauer ein halbes Jahr dauern würden. Wenn wir auch die Türme berücksichtigen, wohl eher noch länger.
Darüber hinaus möchte ich Folgendes zu bedenken geben: Der äußere Ring der Rodaschblick ist sicherlich nicht mehr im besten Zustand, wohl wahr, aber …“
„Nicht mehr im besten Zustand?“, warf Darian aufgebracht ein, „Die Mauer ist halb zerfallen und von Blumen und Sträuchern erobert! Sollen die Stacheln der Wildrosen Angreifer abhalten?“
Korninger bedachte den Ritter kurz mit einem tadelnden Blick, ehe er mit einem säuerlichen Unterton fortfuhr.
„Es spielt überhaupt keine Rolle, ob er nun halb oder ganz oder gar nicht zerfallen ist. Tatsache ist: Der äußere Ring dieser Burg ist das Relikt einer vergangenen Zeit. Diese Burg hatte einmal eine weitaus größere Bedeutung, als sie ihr eben heute innewohnt oder ihr überhaupt zusteht. Aber nichtsdestotrotz kann sie ihrer Aufgabe als Sitz einer Baronie noch immer hervorragend nachkommen. Sie thront auf einem kleinen Berg, hat eine Mauer, ein Tor und einen Bergfried. Was will man denn mehr?“ Der Alte zuckte mit den Schultern und machte einen fast entschuldigenden Gesichtsausdruck.
„Aus meiner Sicht ist die Rodaschblick ja noch immer zu groß, aber der innere Mauerring, der Bergfried und die Gebäude, Herr Ritter, dürften ja wohl in einwandfreiem Zustand sein, oder etwa nicht? Schon der Unterhalt all dieser Anlagen, die so manchem Grafensitz konkurrieren könnten, kostet diese Baronie ein Vermögen! Und damit komme ich zum entscheidenden Punkt: die laufenden Kosten! Ihr mögt uns die alte Mauer, das Torhaus und die Türme wieder richten, Herr Oberst, aber was denn dann? Dann hätten wir hier mitten im Isenhag, beschützt von den Zwergen, die die Pässe ja wohl zu halten wissen, eine überdimensionierte Wehranlage, die Jahr für Jahr Geld verschlingt! Ein zweites Gratenfels in einer der wohl sichersten Grafschaften des neuen Reiches! Und ich mag mir gar nicht ausmalen, wie lange diese Arbeiten tatsächlich dauern würden! All die Steine, die Kosten für die Verpflegung der Arbeiter. Wenn wir all diese Kosten auch noch stemmen müssen, dann wird Rodaschquell schon bald so befestigt und auch so bankrott sein wie Gratenfels zu Baldurs Zeiten!“
„Auch wenn ihr Eure Anmerkungen allgemein haltet, Wohlgeboren, Burg Rodaschquell damit indirekt mit Burg Bernheim zu vergleichen, in der dauerhaft zwei Banner und eine Schwadron Ehrengardisten untergebracht sind und zu der weitere acht Banner Landwehr zusammengezogen werden können in Kriegszeiten, halte ich für zumindest fragwürdig. Es geht nicht darum aufzurüsten, sondern um die Wehr zu erhalten, bevor sie gänzlich darniederliegt, darum unseren Nachbarn Stärke zu demonstrieren.
Erst einmal ist jeder Baron oder Vogt für die Sicherheit seines Landes selbst verantwortlich, erst bei übergeordneten Bedrohungen würden höhere Instanzen greifen und zu den Waffen rufen, doch das braucht immer Zeit. Zeit, die eine wehrhafte Burg erkaufen kann, wenn sie standhält. Es geht darum unsere Grenzen zu sichern und dazu gehört Rodaschquell zweifellos.“
Dwaroschs Stimme war weiterhin respektvoll geblieben, doch dieser Vergleich verwunderte ihn und ließ ihn mit der Art wie er sprach ausdrücken, dass dieser unpassend gewesen war in seinen Augen. Um das zu untermauern wandte er sich jetzt gänzlich dem Vogt zu und wartete auf dessen Reaktion.
Der Vogt antwortete nun zunehmend gereizt, wobei seine Stimme weiter durchzogen war von einer feinen Süffisanz, unterstrichen von einem dezenten Lächeln.
Diese vermaledeite Zwerg ließ nicht locker, aber bei Phex, er würde nicht klein bei geben!
„Ich halte meine Aussagen mitnichten allgemein, Herr Oberst, ich benenne klare Fakten. Ihr wollt unseren Nachbarn gegenüber Stärke demonstrieren, sagt Ihr? Welchen Nachbarn? Den Zwergen, die die Pässe halten, und die seit Jahrhunderten unsere Handelspartner und Verbündeten sind und zudem von Eurem Volke? Den Alberniern, die Teil des Reiches sind? Den Orks womöglich, die weit im Norden hocken?
Nach all den Jahrzehnten, womöglich gar Jahrhunderten, in der diese Burg in ihrem jetzigen Zustand Wacht hielt, soll sie nun plötzlich wieder ausgebaut werden?
Und lasst mich meine Aussagen noch einmal präzisieren: Ich rede nicht vom Unterhalt zweier Banner Söldner wie auf der Bernheim. Ich rede von den Kosten, die allein der Unterhalt einer Burg dieser Größe auf Dauer verschlingt. Permanente Ausbesserungen, Wind und Wetter geschuldet.
Und abermals, wie ich es schon zuvor gesagt hatte: Diese Burg ist durchaus wehrhaft in ihrem jetzigen Zustand!! Denn wäre es nicht so, hätte der streitbare Herr von Sturmfels ein schlechtes Auge bewiesen bei der Beurteilung der Wehranlagen...“
Darian stieg die Zornesröte ins Gesicht.
...“ und das wollen wir doch nicht annehmen“, fuhr der Vogt ungerührt fort, „denn schließlich ist Herr von Sturmfels ein wackerer Rittersmann und um die Sicherheit Rodaschquells – das lasst mich Euch versichern – noch besorgter, als Ihr es seid. Wie gesagt, Herr Oberst, die Rodaschblick ist schon jetzt, auch mit der etwas lädierten äußeren Ringmauer, nach wie vor eine veritable Anlage, die als Baronssitz ihrer Aufgabe durchaus mehr als nachzukommen imstande ist, da der innere Ring ja intakt gehalten worden ist. Wenn seine Hoheit der Herzog jedoch wünscht, dass diese Burg wieder ausgebaut werde, um fürderhin erneut über ZWEI Mauerringe zu verfügen, dann möge der Herzog in seiner Weisheit auch die entsprechenden Mittel dafür bereitstellen. Nach oben wird es da sicher keine Grenze geben – man könnte noch Katapulte oder Triboken installieren lassen, das wäre dann tatsächlich eine große Warnung, sich nicht mit einer Burg an den Ausläufern der Ingrakuppen und fernab der nächsten Reichsstraße anzulegen.“
Der leicht spöttische Unterton konnte nun niemandem entgehen, und Korninger setzte umgehend nach: „Erst vor wenigen Jahren haben wir unter größten Kosten den alten Wehrturm an der Grenze zu Albernia wieder instandgesetzt. DAS wäre eine Erleichterung für uns gewesen, Herr Oberst, wenn Ihr Euer Angebot einige Jahre zuvor gemacht hättet! Nun steht der Turm zu Hohenberge wieder stolz wie ehedem. Und Rodaschquell ist gut geschützt. Die Rodaschblick – und dies ist der Rat, den ich Euch geben will, Euer Hochgeboren“ … er blickte in Richtung der Baronin „... benötigt keinen weiteren Ausbau. Denn auch wenn das Angebot des Herrn Oberst gut gemeint und großzügig ist, so würde es uns über die kommenden Jahre große finanzielle Sorgen bereiten.“
Der alte Vogt dachte kurz nach, wie er dem Zwergen vielleicht ein Schnippchen schlagen konnte. Einen Happen, den er ihm vor die Füße werfen konnte, auf dass er endlich Ruhe geben möge. Und durch den womöglich noch etwas für ihn herausspringen konnte.
„Aber vielleicht wollen sich Eure Sappeure und Handwerker selbst ein Bild machen, und gerne könnt Ihr die inneren Mauern und Türme begutachten.“
Über all die Jahre hatte der Vogt diese Arbeiten selbst in Auftrag gegeben. Und über all die Jahre hatte er die Kosten selbstverständlich ein wenig höher in den Büchern vermerkt, als sie tatsächlich waren, um die Differenz mit Genugtuung in sein eigenes Säckel wandern zu lassen. Dieses Laute zupfende Spitzohr und ihr muskelstrotzender dummer Ritter bekamen von alledem schließlich nichts mit. Und bei Phex, er leistete immerhin gute Arbeit bei der Verwaltung dieses kleinen Lehens und hatte kontinuierlich mehr aus den Möglichkeiten Rodaschquells gemacht.
Wenn nun des Obersts Leute sich darum kümmerten, hätte er zumindest in diesem Jahr keinen Einfluss mehr darauf und würde weniger einnehmen. Aber wenn das diesen Zwergen zufrieden stellen mochte, sollte es ihm recht sein.
Dann plötzlich kam ihm eine Idee... „Da Ihr davon spracht, dass Euch am schnellen Fortkommen der Truppen gelegen sei – und das ist ein Ansinnen, das ich durchaus nachvollziehen und bekräftigen mag – wäre vielleicht zu erwägen, eher die Straßen weiter auszubauen. Auch könnten Eure Leute nach den Brücken sehen. Das hielte ich für zweckmäßiger als den Ausbau der Wehranlagen einer jahrhundertealten Burg, die heute längst nicht mehr so wichtig ist, wie sie es einst gewesen sein mag. Durch den Bau besserer Straßen wäre allen geholfen.
Korninger faltete die Hände, neigte den Oberkörper ein wenig nach vorne und schloss dabei die Augen und beendete so seine Rede geradezu mit einer Geste der Demut.
„Vor allem mir“, dachte er innerlich.
Die Rede des Vogtes interessierte Liana nicht wirklich. Der Gedanke daran, dass die alten Wildrosen ausgerupft und durch harten Stein ersetzt würden, behagte ihr nicht. Doch dies zu regeln war des Vogtes Aufgabe und ein Feld, welches sie ihm nur zu gerne überließ. Sie hörte schon gar nicht mehr richtig zu, während sie sich mit ihrer filigranen Zauberkunst mehr und mehr an den Zwergen herantastete.
Eine gewisse Ausdruckslosigkeit und ein wenig Nachdenklichkeit legten sich über ihre feinen Züge. Was sie erfuhr, bekümmerte sie ein wenig. Dass allein ihr Anblick solche Gefühle in dem alten Zwerg hervorzurufen imstande war. Vielleicht hatte es zu tun mit jener Gestalt, welche den Oberst einst das Isdira gelehrt hatte? Dwarosch hatte eingangs ja eine Bemerkung in dieser Richtung gemacht …
Die Augen des Zwergen glühten vor Zorn und eine dicke Ader zeigte sich auf seiner Stirn. Ganz offensichtlich benötigte er alle Selbstbeherrschung um nicht aus der Haut zu fahren. Der deutliche Spott aber war zu viel für ihn. Er würde diese unverhohlene Beleidigung nicht damit legitimieren indem er blieb, nein. Der Vogt hatte sich einen Feind geschaffen an diesem Tag, und das durfte er ruhig wissen.
“Gut”, beschied der Oberst knapp. Seine Stimme war eisig und er sprach sehr leise, auch als er fortfuhr. “Dann sind die Kriege gegen die Orks und die Albernier hier also bereits in Vergessenheit geraten. Ich werde sie nie vergessen, denn ich habe Blut vergossen, um unsere Heimat zu verteidigen.” Seine Wangenknochen malten.
“Alles, was ich wollte, war, dass man meinen Vorschlag sorgsam prüft. Eine bindende Antwort hatte ich nicht erwartet. Da man aber einhundertdreißig Jahre Erfahrung im Waffenhandwerk spöttisch abtut und meint, Kuhhandel treiben zu wollen, werde ich mich nun empfehlen.”
Alles war gesagt. Herablassend behandeln ließ er sich nicht einmal von seinem Herzog. Er war ein Angroscho und kein Mensch, stand somit außerhalb ihres Rechtswesens und musste vor niemandem den Rücken krumm machen, wenn er es nicht aus eigenem Antrieb tat.
Dwaorsch wandte sich ohne weiter zu zögern an die Baronoin und zwang sich zu einem gemäßigten, freundlichen Tonfall. “Eure Hochgeboren. Dies waren meine beiden Anliegen. Wenn ihr eine fundierte Einschätzung zum äußeren Mauerring wollt, so lasst meinem Adjutanten schreiben, dann entsende ich zwei meiner Männer hierher.” Er nickte abschließend. „Mehr kostbare Zeit muss ich Euch nicht rauben.”
Der Bär hinter Dwarosch tobte. Er ging auf die Vorderpfoten nieder und warf den Kopf in den Nacken, brüllte vor Wut, nur um sich dann wieder zu seiner vollen Größe aufzurichten und die Tatzen drohend zu erheben. Dies indes sah nur Liana.
Die Elfe erkannte die Intention hinter den Worten des Oberst. Er bat indirekt und höflich darum sich zurückziehen zu dürfen. Sie hatte aber keinen Zweifel daran, dass er es auch ohne tun würde.
Ebenso unbemerkt wie sie gekommen war, zog die Baronin von Rodaschquell sich nach einer Weile schließlich wieder aus seinem Inneren zurück, jetzt, wo sie merkte, dass der Zwerg sie direkt ansprach und er innerlich aufgebracht war. Sie mochte nicht noch mehr von diesen dunklen, gramvollen Gefühlen in sich aufnehmen, noch hielt sie es für richtig, sie Dwarosch zu entlocken. Nur war es nun, da sie um ihre Existenz wusste, umso schwieriger für sie, sie zu ignorieren, sobald Dwaroschs und ihre Blicke einander kreuzten …
Die Halle war erfüllt von Verärgerung, von Missgunst und offenem Zorn. Vor sich sah Liana Kraft ihrer arkanen Künste den wütenden, gewaltigen Bären, der sich nur schwer unter Kontrolle halten zu können schien. Fast schien es, als spürte sie seinen heißen Atem. Sie erschrak – und fürchtete sich zugleich ob der kaum zu bändigenden Gewalt, die aus ihm sprach. Ihre Augen weiteten sich, und sie wich selbst auf dem Stuhl unweigerlich zurück, so, als versuchte sie, vor der bedrohlichen Gestalt zu fliehen. Denn sie war nur eine Nachtigall – und Nachtigallen fliegen fort, wenn sie einen brüllenden Bären vor sich wissen …
Zu ihrer Linken wurde sie des mächtigen Stieres gewahr, der sich im Inneren des ihr so vertrauten Ritters verbarg. Darian, der so sanftmütig war, wann immer er sie anblickte, doch der schon bald ein Sklave seines Zorns zu werden schien. Die starken Fäuste waren geballt, und er blickte den Vogt mit unverhohlener Verärgerung an. Doch Verärgerung sprach ebenso aus den Zügen des Fuchses, der das Wesen des Vogtes ausmachte, und der gleichermaßen den Eindruck erweckte, die Geduld zu verlieren, da ihn niemand zu verstehen schien. Gereizt. Überheblich. Und ob des Unverständnisses der anderen seine Fassung verlierend.
„Mein hochverehrter Oberst!“, hob Vogt Korninger an, „wie ich Euch bereits ...“
Liana hob ihre rechte Hand, während sie ausdruckslos nach vorne blickte, ohne jemanden zu fixieren.
„Genug!“, sagte sie.
Ihre Stimme, so zart sie auch sein mochte, durchzog die Halle wie ein Schwerthieb. Der Vogt unterbrach seine Rede und neigte mit einem leicht säuerlichen Lächeln sein Haupt. Die Baronin ließ ihre rechte Hand wieder auf der Lehne des Thrones sinken. Dwarosch bemerkte, dass der ovale Stein in der Mitte des mondsilbernen Diadems, das sie trug, seine Farbe verändert hatte. Zuvor hatte er das eher bläuliche Schillern eines Opals gezeigt. Aber es konnte kein Opal sein, denn nun hatte sich das Farbspiel in ein leuchtendes Orange verwandelt.
„Der Worte sind bereits viele gewechselt worden, und die Gemüter sind erhitzt. Gönnen wir uns etwas Ruhe und besinnen wir uns darauf, dass wir alle nur das Wohl Rodaschquells im Sinn haben, jeder hier nach seinen Kräften und seinem Gewissen“, sagte die Elfe, und der Singsang der Nachtigall legte sich auf ihre Zuhörer wie ein Balsam auf eine Wunde. „Auch wenn gewisse Ansichten verschieden sein mögen: Niemand, Oberst Dwarosch, niemand in diesen Hallen würde Eure Ehrbarkeit und die Selbstlosigkeit Eures Ansinnens in Frage stellen. Dessen bin ich mir gewiss.“ Sie schloss ihre Augen und ließ einen Moment vergehen, um ihren Worten mehr Gewicht zu geben und sich zu sammeln, ehe sie weitersprach.
„Ihr seid um das Wohl der Grafschaft bedacht. So, wie auch mein tapferer Ritter“ Sie wandte sich kurz Darian zu, und während er sie ansah, schmolz sein Zorn dahin wie Frostreif in der Morgensonne.
„Und ich vermag auch den Worten des Herrn Vogt zu folgen, der anmerkt, dass diese Burg ihrer Aufgabe wirkungsvoll nachzukommen vermag, und dass ein Ausbau zu ihrer alten Größe womöglich schwierig sei.
Doch wie auch immer: Ich möchte nicht, dass Ihr im Zorn von uns geht, Dwarosch, Sohn des Dwalin! Bitte folgt meiner Einladung und seid mein Gast. Solange Ihr es wünscht.“ Sie neigte sich wieder nach vorn, breitete ihre Arme in einer einladenden Geste aus, ließ sie wieder auf den Lehnen ruhen und sah den Zwerg freundlich und doch eindringlich an. Ihre Stimme war sanft. Weich. Bittend. Versöhnlich. Verführerisch. Fast unwissentlich und im Affekt bediente die Baronin sich ihres elfischen Erbes und legte Zauber in ihre Worte (Seidenzunge Elfenwort!).
„Darian wird Euch gern die Burg zeigen, auf dass Ihr Euch selbst ein Bild von der Anlage zu machen vermögt. Denn Ihr wisst zweifellos besser zu sagen als jeder andere hier, in welchem Zustand sie sich befindet und was womöglich zu tun wäre. Es wäre töricht, auf Euren Rat zu verzichten, nun, da Ihr ihn uns angeboten habt, und so wollen wir morgen erneut darüber sprechen, wenn Eure Zeit es zulässt. Und wenn Ihr es wollt, so will ich Euch nachher gern in unserem Garten bewirten, um Eurer Geschichte zu lauschen, wenn Ihr noch immer bereit seid, sie zu teilen. So bitte ich Euch denn: Bleibt noch ein wenig. Bleibt, und ruht Euch aus in der Sicherheit meines Hofes.“
Es dauerte etwas, bis die sanften, klug gewählten Worte der Baronin Wirkung zeigten, bis das Gemüt des Obersts so weit abgekühlt war, dass er leicht das Haupt in ihre Richtung neigte und sogar zu lächeln vermochte.
„Hochgeboren, das ist ein weiser Vorschlag, dem ich gerne nachkommen werde. Hast und Zorn waren noch nie gute Ratgeber.“ ‚Doch Geiz ist es ebenso wenig‘, fügte er im Geiste hinzu, verkniff sich diese Spitze jedoch. Streit würde nicht zum Ziel führen, schon gar nicht, wenn es darum ging das Gegenüber von seinem Standpunkt zu überzeugen. Nein, hier war Diplomatie gefragt, vor allem da sein Aufbrausen einzig und allein dieser Erbsenzähler zu verantworten hatte. Die Baronin war bisher sehr zuvorkommend gewesen. Vielleicht wäre sie zugänglicher für konstruktive Ideen.
„Herr von Sturmfels kann mir in Ruhe alles zeigen“, fuhr Dwarosch fort indem er den Faden Lianas aufnahm. „Ich habe keine Eile, Hochgeboren. Gern werde ich meine konkreten Vorschläge zur Instandsetzung mit ihm erörtert und im Anschluss schriftlich festhalten, so dass Ihr“, Dwarosch machte eine umfassende Geste die großzügig ausgelegt auch den Vogt miteinschloss, „in aller Ruhe besprechen und selbstverständlich auch nachrechnen könnt, was für Rodaschquell sinnvoll und verantwortbar ist“, sprach er versöhnlich.
„Darüber hinaus wird es mir eine Ehre und auch Freude sein, mit Euch zu speisen.“ Seine Vorbehalte was die elfische Küche betraf verschwieg er und ließ sie sich auch nicht anmerken.
„Ich danke Euch, Oberst Dwarosch. Ihr seid mir willkommen, so lange Ihr zu bleiben wünscht.“
Vogt Korninger zog ein missmutiges Gesicht. Aber das hatte er im Grunde schon die ganze Zeit getan. Liana indes schien wieder Zuversicht und ehrliche Freude auszustrahlen. Der seltsame Stein in ihrem Reif war nun wieder von einem opalisierenden Blauviolett erfüllt, so, wie schon zuvor. Doch Dwarosch hatte gar nicht bemerkt, wie er seine Farbe verändert hatte. Oder hatten ihm seine alten Augen bloß einen Streich gespielt? War der Farbwechsel vielleicht bloß einem einfallenden Licht geschuldet?
Liana fuhr fort und riss ihn aus seinen Gedanken: „Dann wollen wir es so halten. Es ist schon Mittag. Ich schlage vor, man führt Euch in Euer Gemach, dann stärkt Ihr Euch noch ein wenig, und dann wird Darian Euch alles zeigen, was Ihr zu sehen wünscht. Heute Abend wollen wir dann wieder zusammenkommen. Herr Korninger wird Euch bis morgen eine genaue Auflistung der Arbeiten zukommen lassen, die in den vergangenen Jahren auf der Rodaschblick und dem Lehen gemacht worden sind, was die Wehr anbelangt. Er führt genauestens Buch darüber.“
Der alte Vogt zeigte einen seltsam in sich gekehrten Blick, seine Stirn lag in Falten, und sein Gesicht hatte eine dunklere Farbe angenommen.
„Dies,“ fuhr die Baronin fort, die es nicht bemerkt zu haben schien, „zusammen mit den Eindrücken, die Ihr heute noch sammeln werdet, vermag Euch sicher ein gutes Bild zu geben, wie es um die Mauern steht. Ihr werdet feststellen, dass wir nicht untätig waren.“
Sie erhob sich.
„Ich werde mich nun zurückziehen und Euch ganz den fähigen Händen meines Ritters überlassen.“
Sie stieg die Stufen hinab und ging auf die große, doppelflügelige Tür zu. Der Saum ihres feinen Kleides glitt mit einem leisen Rascheln über den harten Stein, als sie an Dwarosch vorbeischritt und ihm dabei noch ein letztes Lächeln schenkte. Vogt Korninger murmelte – mehr zu sich selbst – ein „ich empfehle mich“ und verließ die Halle durch eine der Nebentüren.
Die beiden Kämpfer waren nun allein in der Halle. Darian hob beide Augenbrauen und sog die Luft schwer ein, als er ein paar Schritte auf Dwarosch zuging.
„Das lief nicht so, wie ich es gedacht hatte. Der alte Vogt ist ein Fuchs. Eine Erhöhung der laufenden Kosten meidet er wie ein Daimon den gurvanischen Choral. Ich fürchte, ich war Euch ein nicht ganz so guter Ratgeber. Gebt mir die Gelegenheit, es wieder gut zu machen, indem ich Euch die Rodaschblick zeige. Und vielleicht wollt ihr ja auch einen Blick auf meine Leute werfen. Sie sind manchmal etwas …. bequem … aber insgesamt ein guter Haufen.“
Der Oberst indes zeigte ein zaghaftes, grüblerisches Lächeln auf Darians Worte hin. Er wog den Kopf leicht hin und her, bevor er zu reden ansetzte. „Ich vermag den so mühsam erkämpften Kompromiss noch nicht genau einzuordnen. Gebt mir Zeit, die Zahlen zu begutachten, dann weiß ich vermutlich besser, wo wir stehen. Ich habe einen sehr guten Freund, der in diesen Dingen ziemlich talentiert ist und mir helfen wird. Wenn sich etwas in den Zahlen verbirgt, dann wird er es ganz sicher finden. Zu diesem Zeitpunkt bin ich jedenfalls nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben, die Baronin überzeugen zu können.“
Der Zwerg machte eine kleine Pause und zeigte ein freches Grinsen. „Ich glaube, mein kleiner Trumpf kam gut an. Da hat Euer Vogt ziemlich komisch aus der Wäsche geguckt.“ Dwarosch lachte kurz auf. „Wenn mich nicht alles täuscht, konnte ich ihre Hochgeboren positiv von meiner Person einnehmen, so dass ich mir einiges vom Abend verspreche. Auf persönlicher Ebene bin ich besser, überzeugender, als auf dem Parkett des Adels. Wie ich Euch bereits sagte, ich bin ein Soldat.“
Auch Darian musste grinsen. „Mit Eurer Ansprache auf Isdira habt Ihr zweifellos alle in der Halle überrascht. Das war noch besser als der Sackpfeife spielende Angroscho, der hier vor einigen Jahren vorm Burgtor stand, um Frau Baronin ein Ständchen zu bringen. Und was das Parkett angeht: Dafür bin ich auch nicht gemacht. In einem guten paar Reiterstiefeln im Matsch fühle ich mich wohler als in der Tanzhalle.“
Der Zwerg schritt auf den Krieger zu und schlug ihm Freundschaftlich auf den Arm. „Ich danke Euch, gerade weil ich nun weiß, wie schwer es ohne Euren Argumentationsansatz geworden wäre, Darian. Seine eigene Ausgangslage nach einer Schlacht neu zu bewerten, um daraus zu lernen, heißt, beim nächsten Mal vielleicht weniger zu bluten.“ Zwinkernd lächelte der Oberst den Krieger an.
„Und nun erweist mir die Ehre, mir die Wehranlagen zu zeigen und mir Eure Männer und Frauen vorzustellen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir ehrlicher Stein und Waffenvolk zugetan sein werden.“
Der Ritter nickte ihm kurz zu. „Nun, dann lasst uns schauen, was die Küche hergibt, dann können wir auch schon aufbrechen. Ich zeige Euch zunächst die Kernburg, dann meine Leute. Vom Bergfried aus habt Ihr auch einen guten Blick auf das Umland. Und dann gehen wir die alten Anlagen ab. Wenn Ihr mögt, können wir auch noch zum Wehrturm an der Grenze zu Albernia reiten...“ er korrigierte sich rasch … „oder in der Kutsche fahren. Dann sind wir zum Abend wieder da, wenn wir uns beeilen. Aber das könnte knapp werden, den Mittagstisch müssten wir dann auf jeden Fall ausfallen lassen und ein paar Kleinigkeiten für unterwegs mitnehmen. Der Turm ist aber auch ziemlich gut in Schuss, darauf mein Wort. Der wurde erst vor ein paar Jahren ordentlich aufgemöbelt, als wir...“ er senkte seine Stimme etwas „als wir gegen die Albernier kämpfen und die Grenzen besser sichern mussten. Das Gut Wernhag ist aber nicht weit weg, da sind wir von hier mit der Kutsche in einer Stunde. Dort könnt Ihr Euch mit Ritter Ferdilas von Avaris und seinem Sohn Raidri bekannt machen. Fähige Kämpen.“ Er blickte gespielt verschwörerisch in Richtung des Angroscho. „In manch einer Baronie, so hörte ich, gibt es zehn Ritter und mehr. Rodaschquell ist klein. Aber drei Ritter, mehr braucht es nicht, um diese Baronie zu schützen und würdig zu vertreten. Die Ritter der Nordmarken sind nicht so fett und faul wie die aus dem Kosch, oder so stümperhaft und aufgeblasen wie in die aus Garetien. Da hat seine Hoheit auch ein Auge drauf.“
Dwarosch musste nicht lange überlegen. „Ich gebe zu, das Frühstück im Gasthaus unten war üppig, ist aber nun schon eine Weile her. Ich habe es nicht eilig, und außerdem stehe ich lieber auf meinen beiden Beinen und laufe zu Fuß, anstatt in einer Kutsche durchgerüttelt zu werden. Und ich möchte mir dafür alle Zeit nehmen. Der Turm kann warten. Und auch das Gut muss ich nicht gleich heute sehen. Bin ich erst einmal da, freue ich mich, die Herren von Avaris kennenzulernen, und schnell ist dann die Zeit verflogen. Lasst uns alles in Ruhe angehen. Heute schaue ich mir die Rodaschblick und Eure Leute an, um am Abend rechtzeitig die Gastfreundschaft Ihrer Hochgeboren annehmen zu können. Dann schauen wir, was der morgige Tag bringt, wenn es Euch recht ist.“
Darian nickte. „Ihr seid unser Gast“, sagte er schlicht.
Ein junger Knecht kam in die Halle. Es war Lorrek, den Dwarosch schon gesehen hatte, als er im Hof vom Haushofmeister begrüßt worden war. „He, Lorrek“, sagte Darian“, gib' Irmegunde in der Küche Bescheid, dass unser Gast und ich speisen wollen. Und dann lauf' zum Rauert und sag ihm, er soll die Leute in einer Stunde im Hof versammeln, damit ich sie dem Oberst zeigen kann.“
Innerlich musste der Zwerg lächeln. Er hat den Mittagstisch gleich für uns beide bestellt. Dann eben doch nicht in der Kammer.
„Aber Ihr werdet ihm doch zumindest die Gelegenheit geben, zuvor seine Unterkunft zu sehen und sich etwas zu erfrischen, bevor Ihr Platz nehmt?“ Zwar war es eine Frage, jedoch klang auch ein wenig gespielte Entrüstung mit an. Dwarosch hatte sie gar nicht kommen sehen, doch die blonde Frau in dem gelben Kleid, die er zuvor an der Harfe gesehen hatte, rauschte eilig an ihn und Darian heran. Die leichten Stoffe ihres eleganten Kleides wallten auf. „Eduina Malganahr, die Zofe Ihrer Hochgeboren“, sagte sie noch bevor der Ritter etwas sagen konnte, knickste in einer kurzen, aber anmutigen, fließenden Bewegung, und blickte beide erwartungsvoll an.
Darian schaute etwas verlegen. „Natürlich.“
„He, Lorrek“, rief er dann noch dem Knecht zu, der schon an einer der hinteren Türen war, „wir speisen dann im kleinen Rittersaal im Bergfried.“ Ganz leise, etwas beiläufig und mehr zu sich selbst, fügte er hinzu: „Da haben wir dann mehr Ruhe.“
Die Dame, sie mochte ein paar Jahre älter sein als Darian, warf dem Ritter einen Blick zu, aus dem eine Mischung aus Pikiertheit und Amüsement sprachen. „Nun, dann wollen wir sicherstellen, dass es dem Herrn Oberst an nichts fehlt“, erwiderte sie süffisant. „Lorrek, sei so gut und führe den Oberst zunächst in seine Kammer und frage ihn, ob er alles zu seiner Zufriedenheit vorfindet. Dann gehst du zur Köchin und sagst Ihr, dass der Herr Oberst und Ritter Darian im kleinen Rittersaal speisen und gibst Ruane Bescheid, dass sie dort alles vorbereitet. Danach besorgst du etwas Tinte aus dem Zeughaus und gehst du zum Vogt, seine Vorräte sind wieder aufgebraucht. Aber zunächst erfüllst du die Wünsche des Oberst.“ An Dwarosch gewandt fügte sie hinzu: „Möchtet Ihr zuvor ein Bad nehmen? Und sollen wir uns um Eure Reisekleidung kümmern?“
„Und vergiss nicht, dann Rauert noch Bescheid zu geben wegen der Leute“, ermahnte Darian den Knecht. Der schlaksige Junge wirkte so, als sei das alles etwas viel auf einmal für ihn und nickte bloß eifrig.
Der Oberst hob beide Hände. „Nein, nein, danke. Ich habe bequeme Garderobe in meinem Reisegepäck. Das wird vollkommen genügen.“ Dwarosch wollte nicht, dass wegen ihm so viel Aufwand betrieben wurde. Seine Reisekleidung würde er ausbürsten und wenn es sein musste selber in einem Bach auswaschen, unterwegs, so wie es für einen ehemaligen Söldner zum Leben gehörte, auf Reisen.
Ein Angebot jedoch konnte er kaum ausschlagen. „Ein Bad jedoch, das nehme ich sehr gerne vor dem Abendessen mit ihrer Hochgeboren.“ Dwarosch liebte heißes Wasser und seine entspannende Wirkung auf den ganzen Körper.
Die Zofe schien nur teilweise zufrieden mit seiner Antwort. „Nun, Herr Oberst, dann wollen wir vor Eurer Rückkehr alles vorbereiten“, sagte sie in einem heiteren Plauderton. „Das Badehaus findet Ihr dann zu Linken des Hauptgebäudes. Wollt Ihr Tannennadel oder ...“ sie überlegte kurz und kicherte in sich hinein „nein, Rose vermutlich nicht, wenn mich nicht alles täuscht, also Tanne. Lorrek wird Euch dann den Rücken schrubben, wenn Ihr wollt. Und was Eure Garderobe anbelangt: Nun, ich ging davon aus, dass Ihr etwas anderes anlegen wolltet. Doch wenn Ihr denn nun schon einmal hier seid, und unser Gast, da wäre es doch ein Jammer, wenn wir uns nicht Eurer Reisekleidung annehmen würden.“
Erwartungsvoll blickte sie ihn an. Eine Spur von Entrüstung klang in ihrer Stimme mit und machte Dwarosch klar, dass eine Widerrede vermutlich schwierig würde. Darian – Dwarosch sah es aus den Augenwinkeln – konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen in der Hoffnung, dass es niemand bemerkte. Womit er jedoch falsch lag, denn auch Eduina sah es, ignorierte es allerdings und blickte eindringlich, mit einem spitzen Lächeln auf den Lippen, zum Zwerg.
Die Augen des Oberst wanderten mehrfach von der Zofe zum Ritter hin und her. Zunächst deutete die Miene des Angroschos auf Skepsis hin, doch es viel ihm zusehend schwerer dieses Bild aufrecht zu halten. Dwaroschs Mundwinkel wanderten Stück für Stück weiter nach oben, bis er herzhaft und tieftönend zu lachen begann.
„Ich merke schon wer hier das Regiment führt“, brachte er prustend hervor und musste daraufhin nochmals lachen. Die von ihm selbst mehr spontan gewählten Worte bargen selbst enorme Komik.
Abwehrend hob er beide Hände, nachdem er sich eingekriegt hatte. „Ich ergebe mich. In meinem Rucksack findet ihr angemessene Kleidung, zumindest nach meinen Maßstäben - ich bin ein Gemeiner, kein Edelmann. Bitte, lasst sie für heute Abend waschen.“
Für einen kleinen Augenblick sah ihn die blonde Dame mit großen Augen und einem Lächeln an, aus dem Verwunderung sprach, gepaart mit einer gutmütig-verlegenen Erheiterung. „Verzeiht, Herr Oberst, ich sprach eigentlich von Eurer Reisekleidung, sobald Ihr sie abgelegt habt. Sie wäre dann bis morgen Mittag vermutlich auch wieder trocken, was bei Eurer Abendgarderobe für, nun ja, heute Abend, etwas schwieriger werden dürfte, da wir ja schon Mittag haben. Zumal unser guter Herr Magister – Boron hab ihn selig – schon vor Jahren gen Alveran gefahren ist, ich ihn also nicht wegen eines kleinen Wetterzaubers behelligen kann, sofern er sich überhaupt auf diese Kunst verstand, was mir nicht wirklich bekannt ist.“
Ehe Dwarosch und Darian den schnell vorgetragenen Redefluss so recht verarbeitet hatten, setzte die Zofe unbarmherzig nach:
„Ich schlage also vor, Ihr zieht nun mit dem guten Herrn Darian los und kümmert Euch in Eurer Reisekleidung um die militärischen Belange, und sobald Ihr wieder zurück seid, nehmen wir Eure Reisegarderobe entgegen, während Ihr es Euch im Badehaus gut gehen lasst. Dann nehmt Ihr für den Abend mit Ihrer Hochgeboren Eure Abendgarderobe, und die waschen wir dann – wenn Ihr wollt – morgen gleich hinterher. Dann müsstet Ihr allerdings auch noch einen Tag länger auf Rodaschquell verweilen, damit auch diese Wäsche ordentlich trocken wird, und ich weiß ja nicht, wie lange Ihr auf der Rodaschblick zu bleiben gedachtet. Wenn ich es recht vernommen habe, dann hattet Ihr nicht wirklich vor, morgen in der Praiosfrüh gleich wieder aufzubrechen, und dann bliebe ja noch genug Zeit.
Nicht, dass ich Euch Euren Zeitplan durcheinander zu bringen wünschte, Herr Oberst“, beendete sie Ihre Rede etwas vorsichtiger.
Der Oberst, der während der Rede der Frau mehrfach auf den Boden zu seinen Stiefeln gesehen hatte, um zu verbergen, dass seine Mundwinkel sich zwischenzeitlich recht weit in Richtung seiner Ohren gezogen hatten, nickte schlicht.
Wiederrede würde nach Dwaroschs Vermutung nur zu weiteren verbalen… Ergüssen führen. Es gab also letztlich nur eine Option: „So wollen wir es halten, gute Frau. Ihr habt mich überzeugt.“
„Sehr schön“, antwortete sie. Die beflissene Zofe war offenbar zufriedengestellt; ihre Mine verriet nichts als Heiterkeit und Selbstzufriedenheit. „Dann will ich alles vorbereiten lassen. Das Abendmahl mit Frau Baronin könnt ihr dann im Garten einnehmen. Ich denke …“ ihr Blick wanderte kurz zu Darian, „etwa zur siebenten Abendstunde wäre opportun. Dann scheint die Sommersonne so schön auf den Pavillion. Die Baronin liebt diesen Garten sehr! Sie legt auch immer wieder selbst Hand daran an, obwohl wir doch einen Gärtner haben, und eigentlich ...“
Der hochgewachsene Kämpe neben ihr räusperte sich und unterbrach sie jäh. „Es wird sicher fabelhaft, wie immer. Der Oberst und ich haben allerdings noch eine Menge vor, und wir wollen, ja müssen die wenige Zeit, die er uns zu schenken bereit ist, bestmöglich nutzen.“
Die Zofe sah den Ritter einen Augenblick pikiert an, ohne dabei jedoch auf ihr selbstzufriedenes Lächeln zu verzichten. „Nun, dann will ich die Herren nicht weiter aufhalten bei dem, was ihr noch vorhabt. Ich empfehle mich.“ Sie knickste anmutig vor Dwarosch und wandte sich dann ab. Das Grinsen in Darians Gesicht ließ den Zwergen keinen Moment daran zweifeln, dass die Selbstzufriedenheit einem neuen Herrn gefunden haben musste …
„Lorrek wird Euch nun zeigen, wo Ihr untergebracht werdet. Wenn Ihr Euch eingerichtet habt, kommt einfach nach unten.“
Besagter schlaksiger junger Knecht führte den Oberst in das erste Stockwerk und in eines der Gästezimmer. Der Raum war dem in der Gaststube unten im Dorf nicht unähnlich, vielleicht sogar noch etwas üppiger. Etwa 25 Schritt im Quadrat maß die Kammer. Ein großes Bett, in dem auch zwei Leute Platz gefunden hätten, eine Kommode mit einem Lehnsessel davor, eine Truhe sowie ein wuchtiger Schrank – und alle Möbel waren aus solider Steineiche gefertigt und mit eisernen Beschlägen verstärkt. Ein Krug mit Wasser und eine Schale standen auf einem kleinen Beistelltisch, daneben lag ein weiches Tuch. Ein Blick aus dem Fenster mit den geöffneten Läden zeigte – knapp über die Mauer hinweg – den rauschenden Wasserfall, dessen Wassermassen sich von den Ausläufern der imposanten Ingrakuppen in den See ergossen. In der Kammer mochte man es wohl aushalten, dachte der Oberst bei sich. Allerdings schien das Bett für Dwaroschs Geschmack deutlich zu weich. Er hatte schon hunderte von Betten gesehen und daher ein recht gutes Auge dafür. „Wünscht Ihr noch etwas?“, fragte der Bursche holprig. Es klang etwas abrupt, eilig und damit unhöflich. Aber Dwarosch spürte, dass er den Jungen wohl nervös machte.
„Nein Junge“, sprach der Zwerg und entließ den Burschen vermeintlich auf diese Weise. Doch als dieser die Tür des Gästezimmers gerade hinter sich schließen wollte, fragte Dwarosch, „Gibt es einen Grund dafür, dass du nervös bist, Lorrek?“
Der Bursche blieb wie angewurzelt stehen und starrte mit weit geöffneten Augen auf den Oberst. „N.. nnein, Euer, Euer Hochgeboren. Www... warum sollte ich nervös sein?“
Hochgeboren? Dwarosch musste innerlich lächeln. Nein, er war kein Adliger. Er war ein Angroscho. Er war der Sohn des Dwalin und der Oberst des isenhager Garderegiments. Er war ein Sohn der Berge, und ganz gewiss kein hochgeborener oder edelgeborener oder sonstwas. Aber er war dem Burschen nicht gram. Der einfache Junge wusste es halt nicht besser.
„Nun, du scheinst mir recht aufgewühlt“, sagte er in einer ruhigen, geradezu freundschaftlichen Stimme.
Der Junge blickte etwas betreten zu Boden. Sein sommersprossiges Gesicht, eingerahmt von den wilden, haselnussbraunen Haaren, wurde putterrot.
„I... ich.. es.. es...“
Der Zwerg unterbrach ihn nicht und hörte ihm bloß zu
„Ich... verzeiht, Euer Gnaden, es ist nur so, dass ich... ich bin noch nicht so lange auf der Burg, und ich … ich habe noch nie einen echten Oberst gesehen. Oder ihm seine Kammer gezeigt.“ Er sah den Zwergen betreten an, als habe er ihm gerade gebeichtet, seine Mutter nach Al'Anfa verkauft zu haben.
„Junge“, sprach der Zwerg im ruhigem, tiefen Tonfall. „Heb dein Kinn und sieh mich an.“ Nur zögerlich kam der Knecht Dwaroschs Worten nach. Der Oberst quittierte dies mit einem gutmütigem Lächeln.
„Ich stamme aus der Sippe des Bergkönigs ja, aber das macht mich zu keinem Adligen. Ich bin also ein Gemeiner wie du einer bist. Nenn mich schlicht Oberst. In Ordnung?“
Der Junge konnte nur schwer seine Angespanntheit verbergen, und doch bemühte er sich zumindest. „J... ja, Oberst. Wie Ihr wünscht“, stammelte er. Der kriegerische Angroscho schüchterte ihn durch seine schiere Präsenz ein. Und als Angehöriger der Sippe des Bergkönigs mochte man darüber streiten, ob er – in den Augen des Menschen – nicht doch ein Adliger war. Aber lange dachte Lorrek nicht darüber nach. Er nickte nur sehr hastig, machte dabei eine etwas unbeholfene Verbeugung und wandte sich zum Gehen. „Ich muss nun noch zum Vogt und ihm seine Tinte bringen. Ich sollte ihn nicht warten lassen, Eu... Oberst. Aber wenn ich noch etwas für Euch tun kann, dann sagt es mir nur!“ Mit einem gutmütigen Lächeln winkte Dwarosch ab. „Lass gut sein, Junge, ich habe alles, was ich brauche.“ Als er wieder alleine war, richtete er seine Sachen und prüfte das Bett. Zu weich. Wie ich's mir gedacht habe.
Der kleine Rittersaal lag im ersten Geschoss des Bergfrieds, auf Höhe des Wehrgangs. Man kam über eine hölzerne Treppe zu der schweren, eisernen Tür, die den einzigen Zugang zu dem massigen Turm bewachte. Im Gegensatz zu vielen anderen Burgen stand der Bergfried hier nicht allein inmitten des Hofes, sondern war Teil der inneren Wehranlagen. Einst, als der äußere Mauerring der Burg noch intakt war, musste er quasi in der Mitte gestanden haben. Er war leicht versetzt gebaut, so dass man von den Schießscharten aus gut sowohl den inneren als auch den äußeren Hof überwachen konnte. Das geschulte Auge Dwaroschs bemerkte sofort einen Schwachpunkt in der Verteidigung: Links und rechts neben dem Bergfried endete der Wehrgang in einem toten Mauerstück vor der Wand. Man konnte ihn nicht umrunden, und die schwere Eisentür mit der Holztreppe im Innenhof war der einzige Zugang. Dwarosch war sich sicher, dass – ähnlich der Holztreppe – früher einmal im Innenhof eine hölzerne Konstruktion ihn umrundet haben musste, aber heute fehlte sie. Im Falle einer Verteidigung musste man so den Turm über den Innenhof umrunden, um an der anderen Seite eine weitere Treppe wieder hinaus zum Wehrgang zu laufen.
Der Oberst machte sich im Geiste eine Notiz. Diese würde er später in einem Bericht niederschreiben, um dann mittels einer Skizze zu verdeutlichen, wo die Möglichkeiten lagen, diese Schwäche auszumerzen.
Der Saal selbst war genauso, wie man sich einen typischen Rittersaal in einem Bergfried vorstellt: Die kleinen Schlitze in den dicken Mauern ließen nur wenig Licht in den vielleicht sechs mal sechs Schritt großen Raum, der einen Großteil der ersten Ebene einnahm. Eine steinerne Wendeltreppe führte nach oben und unten. An den Wänden hingen alte Waffen – Langschwerter und Äxte - und Schilde, die das Wappen Rodaschquells zeigten. In der Mitte stand ein schwerer, rechteckiger Tisch mit acht Stühlen, darüber hing ein gusseiserner Leuchter mit einigen Kerzenstumpen. Ein erloschener Kamin war gegenüber dem Eingang. Die Luft roch ein wenig muffig. Der Geruch alter Mauern lag in ihr. Und doch mischte er sich mit dem Duft von Gebratenem. Auf dem Tisch standen bereits zwei schwere Krüge und ein Fässchen auf einer kleinen Holzstütze, zwei Teller aus Steinzeug, Besteck, sowie eine große Platte mit Fleisch. Dazu Brot und Tunke. Aus einer Schüssel stieg der Dampf einer kräftigen Brühe auf. Eine Schale mit Obst und Käse rundete das Mahl ab.
„Das also ist mein Reich“, sagte Darian stolz. Unten im Erdgeschoss sind die Zisterne und das Waffenlager, und im zweiten Geschoss ist meine Kammer. Darüber ist dann nur noch das Dach. Ich zeige Euch alles später. Nun nehmt Platz, Oberst, und seid mein Gast!“
„Ich habe eine Menge Ritter kennengelernt die bei weiten nicht so angenehm untergekommen waren wie Ihr, Darian. Mir scheint, Ihr habt es wirklich gut getroffen.“
Der Oberst setzte sich. Der Ritter kommentierte das mit einem Lächeln und einem Nicken und schenkte dem Zwergen ein. Dann beugten beide die Häupter und machten sich über ihr Mahl her. Der Ritter wusste dabei durchaus, seinen Gast zu unterhalten. Mit Geschichten von Turnieren, aber auch von der ein oder anderen Reise. Vom Ärger mit widerspenstigen Pferden, festgefahrenen Kutschen und auch naseweisen Zofen.
Nach einer Weile pochte es an die Tür.
„Reinkommen“, sagte Darian schlicht. Mit einem lauten Quietschen öffnete sich die Pforte, und Rauert stand in der Tür. „Wir wären dann soweit, Herr Ritter“, sagte er, während er mit den Händen seine Mütze knetete. Er warf Dwarosch einen kurzen Blick zu und nickte ihm zu. „Die Leute sind wie immer auf der Wiese vorm Turm.“
„Gut“, sagte der Ritter. Wir sind dann auch gleich fertig und stoßen dazu. Fangt schon einmal an.“ Rauert nickte noch einmal – diesmal in Darians Richtung – und schloss die Tür hinter sich, als er ging.
„Na, dann wollen wir einmal, wenn Ihr soweit seid, Herr Oberst. Aber lasst Euch Zeit. Die können ruhig warten.“
Die beiden Kämpfer beendeten ihr Mahl und gingen die Treppe hinunter und von dort weiter über den Innenhof hin zum Tor und an dem Bergfried vorbei auf die große Wiese, die vor ihm lag. Zehn Leute, sieben Kerle und drei Frauen, standen dort und schlugen – eher lustlos – mit Kurzschwertern auf einfache hölzerne Schilde. Von echtem Waffenhandwerk konnte man da nicht sprechen. Rauert stand etwas abseits mit seiner Hellebarde und wies mit ausgestrecktem Arm auf die Truppe, während er in Richtung des Ritters und seines Gastes blickte.
Dwarosch hatte längst bemerkt, dass Darian ein stattlicher Recke war, der viele rondrianischen Tugenden in sich vereinte. Von seinen Leuten jedoch konnte man das nicht behaupten. Der zusammengewürfelte Haufen, den der Angroscho da sah, schien bis auf wenige Ausnahmen untrainiert – offenbar sowohl was die Statur anbelangte, als auch im Hinblick auf das Geschick mit der Waffe. Einige von ihnen wirkten schlaksig und unbeholfen. Wie etwa Mikal, der Sohn von Rauert Tiefhuser. Andere dagegen schienen sich das Leben in den friedlichen, gesitteten Nordmarken durchaus gefallen zu lassen, wie die rosigen Wangen verrieten. Nein, echten Drill hatten diese Leute hier noch nicht erfahren.
„So, Leute“, rief Darian freudig, „Wir haben heute einen ganz besonderen Gast!“ Er deutete mit der rechten Hand auf den rüstigen Zwergen. „Das ist Oberst Dwarosch, Sohn des Dwalin, vom Eisenwalder Garderegiment Ingerimms Hammer! Begrüßt den Oberst!“ Die zehn Büttel und hielten inne, als wüssten sie nicht so recht, was nun von ihnen erwartet wurde. Die ersten reckten kurz ihre Schwerter in die Höhe, die anderen taten es ihnen dann nach. Besonders elegant oder gekonnt sah das nicht aus. Der Ritter rügte das mit einem leicht missbilligendem Bick, der jedoch nicht lange anhielt und schnell einem gutmütig-gönnerhaften Lächeln wich. „Naja, das werden wir dann nochmal üben! Und jetzt nehmt Stellung ein, jeweils zweie, und zeigt dem Oberst die Übungen, die wir im vorigen Monat durchgegangen sind!“ Die Büttel fanden sich schnell wieder zu ihren alten Paaren, nahmen eine leichte Kampfhaltung ein und begannen mit einigen einfachen Übungen, während ihr Hauptmann durch die Reihen schritt und hier und da korrigierte.
Darian mochte ein wackerer Streiter sein, doch seine Qualitäten als Ausbilder waren offenbar nur mäßig ausgeprägt. Dabei bewies er mit seinen Leuten jedoch eine Geduld, ja geradezu Nachsicht, die ihn bei dem Temperament, das Dwarosch bisher an dem Ritter kennengelernt hatte, verwunderte. So hart er auch an sich selbst arbeiten mochte, von seinen Leuten verlangte er dies wohl nicht. Es fehlte ihm an Härte, die ein guter Ausbilder seinen Leuten gegenüber bisweilen an den Tag legen muss. Vielleicht war dies auch dem Einfluss der Elfe geschuldet, die sich – nach allem, was Dwarosch wusste – ohnehin herzlich wenig um militärische Belange scherte. Ganz zu schweigen auch von diesem Erbsenzähler, dem Vogt. Wenn es nach dem ginge, da war sich Dwarosch sicher, würde eine Schar schnatternder Gänse ausreichen, um die Burg zu bewachen. Und deren Eier und Federn würde der alte Geizhals noch versilbern und ein Geschäft damit machen. Wobei der Zwerg sich nicht sicher war, ob die Gänse nicht doch eine gute Wahl wären, wenn er sich den Haufen so ansah, der da vor ihm stand. Aber schnell wurde ihm bewusst, dass er nicht dieselben Maßstäbe ansetzen konnte, wie er sie von seinem Regiment gewohnt war. Das hier waren nur einfache Büttel einer abgelegenen Baronie, und keine Soldaten, die täglich gedrillt wurden. Wahrscheinlich hatten einige der Leute noch nie in einer echten Schlacht gekämpft. Wenn sie denn überhaupt je einen Kampf auf Leben und Tod gefochten hatten.
Nachdem sich der Oberst bei den Bütteln bedankt hatte für ihre Präsentation, gingen er und Darian ein Stück entlang der Mauern. Dwarosch begutachtete Steine, Fugen und die Fundamente, wo sie sichtbar waren. Währenddessen sprach er im Plauderton zum Ritter an seiner Seite.
„Sagt, in welchen Waffengattungen übt ihr eure Männer, doch sicher nicht nur am Kurzschwert oder?“
Eine Weile antwortete der Ritter nicht, sondern blickte gedankenverloren auf den Boden, während die beiden nebeneinander einherschritten. „Nein, ich zeige ihnen auch andere Dinge. Wie sie eine Hellebarde gebrauchen müssen. Wobei ich zugeben muss, dass mir diese Waffenart selbst wenig vertraut ist. Dafür bringe ich ihnen bei, wie sie den Schild halten müssen und was mit ihm möglich ist. Und auch ein paar Grundlagen im Faustkampf zeige ich ihnen, denn nicht alles muss man gleich mit der gezogenen Waffe regeln. Gerade als Büttel nicht. Den Umgang mit dem Bogen lernen bei mir die, die ein bisschen Talent dafür haben. Jagdmeister Keldor hilft mir dann dabei. Aber der Bogen ist schwierig im Umgang, und im Alltag brauchen sie ihn ja auch nicht. Und ein paar Reiter haben wir natürlich auch. Da schaue ich, dass sie sich ordentlich im Sattel halten.“
Nachsinnend nickte der Oberst bedächtig und schwieg zunächst. Erst nachdem sie einige Schritte weiter gegangen waren, setzte der Angroscho wieder bei diesem Thema an.
„Versteht meine Worte nicht falsch Darian. Ihr habt mir geholfen und so überlege ich, was ich zu tun vermag, um euch meine Dankbarkeit zu zeigen.
Ja, der Umgang mit dem Bogen ist schwierig- die Handhabung einer Armbrust hingegen ist wesentlich einfacher zu erlernen.
Bei meinem nächsten Besuch könnte ich euch zwei Eisenwalder mitbringen. In Senalosch werden vortreffliche Armbrüste gefertigt. Die besten, die Ihr finden werdet. Sie ist der passende Kompromiss zwischen Durchschlagskraft und Reichweite, dazu sehr robust.
Ich könnte euch auch einen meiner Ausbilder für ein paar Tage unterstellen, damit er Euren Männer die wichtigsten Grundlagen und den Umgang vermittelt.
Was den Schildkampf angeht, so würde ich mich selbst für ein paar Übungsstunden anbieten wollen. Ich habe es seit jeher nicht nur als Wehr genutzt und damit so manchen Gegner allein durch den Moment der Überraschung zu übertölpeln vermocht.“
Der Oberst zwinkerte dem Ritter zu. „Ich würde nur darauf bestehen müssen wieder so vortrefflich von euch bewirtet zu werden.“
Eine Weile schritt der Ritter neben dem Angroscho und suchte nach Worten. „Euer Angebot ehrt dieses Haus und auch mich selbst. Und ich bin sicher, dass meine Leute und auch ich noch einiges im Gebrauch des Schildes von Euch lernen könnten. Ihr seid mir jederzeit willkommen, Oberst! Und wenn es Euch in der Halle zu laut und zu umtriebig ist, dann kommt einfach zu mir in den Bergfried. Und die Küche wird sich auf Euch einstellen. Unsere Köchin ist zwar … etwas eigensinnig. Aber wie man einen Zwergen bewirtet, weiß sie wohl.“
Dwarosch wartete noch etwas. Darian hatte noch nicht alles gesagt.
„Was Euer Angebot der Armbrüste angeht“. Der Ritter sog die Luft ein und straffte sich etwas. „Nun …, jeder weiß, dass die Zwerge die besten bauen. Aber will ich doch den Bogen vorziehen. Die Armbrust ...es.. es ist eine Waffe, die der Herrin Rondra nicht wohlgefällig ist.“
Ich hätte es doch wissen müssen, dachte Dwarosch bei sich, der solch eine Antwort schon etliche Male zuvor vernommen hatte. Ein Rondrianer, wie er im Buche steht.
Der Zwerg nickte zunächst nur bedächtig auf die Antwort Darians.
„Auch wenn ich Rondras Sohn mehr zugetan bin als ihr selbst, so respektiere ich Eure Haltung nichtsdestotrotz. Ritterliche Tugenden werden leider immer seltener. Nicht zuletzt deswegen verrohen die Kriege immer mehr, die ihr Menschen untereinander führt. Das ist meine Überzeugung.“
Dwarosch seufzte. „Ich habe einige sehr tapfere Rondrianer kennengelernt auf dem zurückliegenden Feldzug. Ohne ihren aufopfernden, löwenhaften Kampf hätten wir das Elenviner Tor Mendenas wohl niemals nehmen können.“ Der Oberst schüttelte den Kopf und versuchte die grausigen, blutigen Erinnerungen zu vertreiben.
„Keine Armbrüste also“, resümierte er kurzerhand, auch um das Thema abzuschließen.
Der erste Ritter Rodachquells schwieg erneut eine Weile, ehe er Dwarosch ansprach. „Ihr folgt also Kor? Dem Ungestümen? Ich... ich will nicht unhöflich scheinen, Oberst. Ihr seid unser Gast. Doch hätte ich Stein auf Bein darauf geschworen, dass Ihr Angrosch oder Rondra folgt. Die Jünger Kors sind oft.... nun, sie sind so anders als das, was ich in Euch sehe.“
Darian wusste wohl, dass er mit diesen Sätzen eine Linie überschritten hatte. Es schickte sich nicht, einen geehrten Gast so unverblümt auf seine Gottheit anzusprechen.
„Es ist nicht so, dass ich ihm bedingungslos und treu folgen würde, Darian. Ich habe vielmehr oft das Gefühl, dass er mir folgt, mich instrumentalisiert, mich zu seinem Werkzeug macht, und es ihm scheißegal ist, was ich darüber denke.“
Dwarosch schnaufte unwillig. „Verzeiht diese direkten und offen gesprochenen Worte, aber sie geben die Natur der Bindung wieder, welche ich mit Angroschs und Rondras Sohn teile.
„Ich diente dem Banner der Korknaben unter meinem Hochkönig für über fünfzig Jahre. Da ist es fast selbstverständlich, dass Kor eine bedeutende Rolle in meinem Leben einnimmt. Gezeichnet hat er mich schon viel früher. Ich war noch kein Mann, als es geschah. Ein Tatzelwurm überfiel den Erztransport von Senalosch nach Makamesch, den ich begleitete. Wir waren tief unter den Bergkämmen des Eisenwaldes zu diesem Zeitpunkt. Das riesige Biest tötete fast alle Soldaten, die wir als Begleitschutz dabeihatten. Und dann offenbarte sich mir der schwarze Mantikor. Ich kenne SEINE Fratze. ER… beseelte mich und gab mir Kraft, nahm mir jegliche Angst. Es gab kein Zögern, kein Zaudern. Ich tötete den Wurm und wurde der Mann, der ich heute bin. Dies ist mehr als einhundert Jahre her.“
Der Oberst schüttelte den Kopf. „Ich habe so viele Schlachten gesehen, dass es für mehr als ein Leben reichen würde, Darian. Aber nirgends war mir der Mantikor näher als in Mendena. Das was dort geschehen, ist spottete den Göttern, ja ihrer Schöpfung. Kor mag grausam sein, blutrünstig und keine Gnade kennen - aber nur ER konnte dort obsiegen. Tapferkeit wäre nicht ausreichend gewesen.
ER ist nicht Ehre, Tapferkeit, oder eine der anderen Tugenden, die euch zu einem Ritter machen, Darian. Nein, Kor ist Krieg, und so sehr ich gelernt habe, den Krieg zu hassen, so sehr bin ich davon überzeugt, dass nur ER diese Art Kampf gewinnen konnte, den uns die Dämonenknechte aufgezwungen haben. Und das ist seine Existenzberechtigung.
Ich habe mich mit ihm arrangiert, so einfach ist das.“
Der Ritter musste nach Worten suchen. Dwarosch spürte, dass es in dem Menschen gärte, rumorte. Dass Gedanken sich aus seinem tiefsten Innersten nach oben gruben. Dwarosch gewahrte einen gewissen Trotz, den Darian mit aller Kraft zu unterdrücken versuchte.
„Wie könnte Tapferkeit nicht ausreichend sein? Was verlangt Kor denn noch, was die Herrin der Stürme nicht von ihren Anhängern verlangte?“, sagte er dann plötzlich, und eine Spur von Zorn lag in seiner Stimme.
„Bei Weitem fehlt mir Eure Erfahrung, Oberst. Ihr, der Ihr schon seit hundert Jahren das Kriegshandwerk ausübt. Doch auch ich spürte meine Bestimmung, meinen Ruf, wenn Ihr so wollt. Und ich weiß, was in einer Schlacht verlangt wird. Mein Oheim starb auf dem Schlachtfeld, und ich war bei ihm. Jung war ich damals, so blutjung. Und doch drängte es mich, in die Schlacht zu ziehen, an der Seite der Meinen. Ich verließ Vater und Mutter, um zu kämpfen, um IHR zu dienen und das Land zu verteidigen. Ich zog aus mit meinem Oheim, und Seite an Seite fochten wir. Einen besseren Ritter als ihn könnt Ihr Euch nicht vorstellen. Er war es, der die Dame Morgenrot bewachte und ihr als erster Ritter diente. Und doch entließ sie ihn, als er sie darum bat, damit er für das Reich kämpfen könne. Und er fiel in der Schlacht. Und ich war bei ihm. Und ich gelobte ihm, dass ich an seiner statt über die Herrin von Rodaschquell wachen würde. So lange, bis mein Arm zu schwer sein würde, ein Schwert zu heben. Und seitdem diene ich zwei Herrinnen, wie sie verschiedener nicht sein können. Die eine verlangt alles von mir, und die andere nichts. Die eine entfacht den Sturm in mir, und die andere legt ihn zur Ruhe. Und doch liebe ich beide gleichermaßen.“
„Und das ist gut so Darian“, sprach Dwarosch energisch und voller innerer Überzeugung zur Antwort. „Nichts sollte anders sein. Es muss Männer wie Euch geben. Ihr seid ein Vorbild, jemand der Tugenden und Werte vermittelt, auf das Eure Rasse nach den vielen, dunklen Jahren wieder lernt, Rondra zu ehren, und das auch im Angesicht eines Feindes, eines Konfliktes. Ja auch in der Schlacht.“
Nach diesen Worten atmete der Oberst langgezogen aus und senkte die Stimme. „Doch Rondra ist nicht Krieg. Dieser Aspekt gehört ihrem Sohn. Der Krieg ist wie Kor selbst eine unbezähmbare Bestie. Krieg vermag stets das schlechteste in den Menschen hervorzubringen. Niemand sollte Eure Göttin damit in Verbindung bringen.
Dient der Sturmherrin“, Dwarosch Stimme wurde nun wieder fester. „Ich diene Kor. Und glaubt mir, unsere Ziele sind dieselben. Nur die Wahl der Mittel ist eine andere.“
Des Ritters Züge entspannten sich. „Ihr seid ein Zwergenkämpe, wie ich ihn noch nie getroffen habe. Zweifellos ein erfahrener Krieger, aber ebenso wisst Ihr auch, mit Worten umzugehen. Besser als jeder andere Zwerg, den ich kenne.“
Die beiden schritten weiter an der alten Burgmauer entlang. Dwarosch konnte sehen, dass die äußere Mauer in einem erbarmungswürdigem Zustand war. Sie musste viele hundert Jahre alt sein. An manchen Stellen waren ihre massigen Quader zusammengefallen und schon vor langer Zeit den Abhang heruntergefallen, wo Wind und Wetter sie geschliffen oder gar fortgetragen hatten. Bröckelig und brüchig schien der Stein an vielen Stellen. Überall wucherten dornige Wildrosen. Löcher in der Mauer waren zum Teil von mächtigen Rosenhecken geschlossen. So, als hätten die Pflanzen die äußere Mauer eingenommen. Hier und da schickten sie sich an, auch die innere Mauer zu erklimmen. Diese zweite Mauer, das sah der Oberst mit einer gewissen Erleichterung, war aber deutlich neueren Datums und vergleichsweise gut in Schuss. Es wunderte ihn jedoch nicht, dass die Einheimischen dieses Gemäuer „die Rosenburg“ nannten. Wie ein Mantel war die Burg umgeben von den wuchernden Wildrosen.
Die Rodaschblick war eine klassische Höhenburg mit einem – für eine Baronie – sehr großen Vorbau. Sie schritten auf einer grünen Wiese, und die Straße zum Burgtor war gesäumt von Kirschbäumen. Früher einmal, vor langer Zeit, mussten hier Stallungen und Schmiede gewesen sein, dachte Dwarosch. Die äußere Mauer umschloss die innere Mauer auch nicht ganz. Die eigentliche Burg lag auf der Spitze eines steilen Hangs unweit der massigen Ingrakuppen. Die Außenmauer reichte an der linken Seite zum inneren Tor und an der rechten zum Bergfried, wie eine Art Hufeisen. Vom äußeren Burgtor standen nur noch die Überreste eines uralten Wehrturms. Wie ein abgebrochener Zahn ragten die verwitterten Steine einige Meter empor …
Darian riss den Zwergen aus seinen Gedanken. „Krieg... den hat hier noch keiner von meinen Leuten gesehen. Das sind alles Büttel. Rauert und Larona haben schon was erlebt, wissen sich auf dem Sattel zu halten und sind zuverlässig, wenn ich sie brauche. Aber einen echten Krieg... nein. Die Nordmarken sind eine friedliche Provinz. Und der Isenhag ist geordnet, auch wenn einige seiner Herren ihren Zank und Zwist pflegen. Und wir sind so nahe an Xorlosch... und keiner will Ärger mit den Zwergen von Xorlosch. Deswegen ist es auch so friedlich hier. Räuber, Orks, Monster – das werdet Ihr hier nicht finden. Keine Baronie der Menschen ist den ehrwürdigen Hallen Eurer Ahnen so nahe wie Rodaschquell. Welch eine Ironie, dass es gerade eine Elfe ist, die über dieses Land gebietet.“
Dwarosch lachte erheitert auf. „Und das noch dazu bei unserem geliebten Grafen, der ja für seine überaus liberale Art gerühmt wird. Ja, dieser Ironie kann auch ich mich nicht ganz verschließen.“
Amüsiert sah der Oberst zu dem Ritter an seiner Seite auf. „Mir ist jedoch bisher keinerlei Zank zu Ohren gekommen, was Eure Baronin betrifft. Dies kann man wahrlich nicht von allen Lehnsherren des Isenhags behaupten.“
„Nun ja. Es liegt nicht in ihrer Art. Was man von so manchen Isenhagern ja nun wahrlich nicht behaupten kann, da habt Ihr recht. Aber dass der Baron von Eisenstein hier nicht willkommen ist, dürfte Euch doch wohl bekannt sein? Der hat es wirklich geschafft, es sich mit all seinen Nachbarn zu verscherzen, sogar mit meiner Herrin.“ Darian schüttelte den Kopf. So, als könne er es selbst nicht glauben.
Dwarosch schmunzelte und nickte bekräftigend. „Auch auf mich hat er den Anschein gemacht- dass er ein… nun ja, sagen wir- nicht ganz einfacher Zeitgenosse ist. Auch wenn wir uns letztlich einig geworden sind, was das Thema betrifft, weswegen ich nun auch zu euch gekommen bin.
Was eure Herrin betrifft.“ Dwarosch zuckte mit den Schultern. „Meine Jugend, mit all ihren aus Erziehung geborenen Vorurteilen, ist lange vergangen. Ich durfte einige Vertreter der elfischen Rasse kennenlernen und über die Differenzen nachdenken, die wir Angroschim vermeintlich mit ihnen haben.
Sie besitzen wie wir ihre Eigenarten, die man kennen muss, um sie zu verstehen. Nein“, Dwarosch lachte erneut auf. „Verstehen werde wir- werde ich sie vermutlich nie, dazu ist ihr Wesen zu verschieden zu dem unseren. Aber ich respektiere die Werte für die sie stehen. Das ist vollkommen ausreichend für ein friedvolles Miteinander.“
Ein kurzes, verschmitztes Lächeln huschte über des Ritters Gesicht. „Eigenheiten... oh ja! Die gibt es wohl. Aber da sind wir Menschen sicher auch nicht ganz unbedarft. Ihr müsstet den Vogt einmal hören, wenn er von Verhandlungen mit Vertretern von Xorlosch zurückkommt.“ Jetzt war es an dem Ritter, lauthals zu lachen.
Dwarosch viel in das Lachen mit ein. „Oh ja, das können echte Granitköpfe sein, wenn es um Gold und Silber geht.“ Er zuckte mit den Schultern und grinste weiterhin breit. „Das ist in Isnatosch aber nicht anders.“
Der Oberst blieb stehen, drehte sich im Kreis und blickte dabei skeptisch auf die ‚Rosenmauer‘. „Hierüber jedoch müssen wir bei allem Humor reden. Davor kann ich nicht die Augen verschließen. Rodaschquell mag geschützt liegen und von Krieg verschont geblieben seien, doch mag dies sich einst ändern, und für diese Zeit gilt es, sich zu wappnen.
Ich werde in meinem Bericht nichts Illusorisches vorschlagen oder gar verlangen Darian, dazu habt ihr mein Wort. Dies wieder instand zu setzen ist eine Aufgabe, die viele Jahre, vielleicht Generationen in Anspruch nehmen wird. Man muss jedoch irgendwann einmal irgendwo damit anfangen müssen.
Wenn man es Stück für Stück angeht und die Arbeit in viele, kleinere Bauabschnitte unterteilt, wird sie gut zu kontrollieren und zu koordinieren und darüber hinaus auch finanzierbar sein, da sie über einen langen Zeitraum geschehen würde.“ Dwarosch nickte, wie um sich selbst Recht zu geben.
„Davon verstehe ich nur wenig. Ich bin kein Baumeister oder kenne mich mit Befestigungsanlagen aus. Allerdings weiß ich, dass seine Wohlgeboren, der Vogt nicht müde wird, darüber zu stöhnen, was die Instandhaltung der inneren Burg schon jetzt kostet. Ihr habt ihn gehört. Ich denke, es wird schwer sein, ihn zu überzeugen, die alte Mauer wiederherzustellen. Und was Frau von Rodaschquell angeht... nun, dass solltet ihr freilich mit ihr selbst besprechen, da will ich nun wahrlich nicht vorweggreifen.“
Die beiden schritten noch eine Weile die alte, äußere Mauer entlang, dann führte der Ritter seinen Gast wieder zurück zum Tor, durch den inneren Ring und dort die Treppe hinauf zur Wehr. Sie standen nun auf einer Plattform, unter der sich ein Durchgang befand, der den großen Innenhof von dem kleinen Vorhof trennte, in dem sich Schmiede und Torhaus befanden. Von hier aus startend, konnte man über die Mauer nahezu die gesamte Innenburg umrunden. Von oben sah Dwarosch den großen Busch in der Mitte des Hofes, den Brunnen, die kleine Kapelle, Stallungen, Wirtschaftsgebäude und Herrenhaus. „Wie Ihr sehen könnt, Oberst, habe ich nicht zu viel versprochen, was die Kernburg anbelangt“, sagte Darian.
Die Mauer war zum Teil von überdachten Türmen unterbrochen, die man durchschreiten konnte, und einigen runden und halbrunden Plattformen. Neben dem Bergfried und dem Torhaus gab es noch drei Türme mit schiefergedeckten Dächern, alle in etwa gleich groß. Der Turm im Nordosten unterbrach die Mauer nicht; sie führte um ihn herum. Hier war man dem Wasserfall am nächsten. Gut fünfzig Schritt entfernt fielen die Wassermassen tosend in den kleinen See.
„Das ist das Gemach von Frau Morgenrot“, sagte Darian und zeigte auf den Turm. Eine kunstvolle Balustrade, die man nur vom Gemach der Baronin betreten konnte, erlaubte sowohl einen Blick in den kleinen Ziergarten zu Füßen des Turmes als auch auf den Wasserfall. Der Balkon und die dahinter liegenden Fenster mochten so gar nicht zum Charakter einer alten Wehrburg passen. Überhaupt bemerkte Dwarosch, dass die Rodaschblick gewissermaßen ein regelrechter Flickenteppich an unterschiedlichem Gestein und Gebäuden unterschiedlichen Datums war. Außen die uralte, zerfallene Mauer und im Inneren ein ebenfalls Jahrhunderte alter steinerner Ring, der wohl schon oft restauriert werden musste. Das Herrenhaus hatte eine steinerne Basis und Fachwerk im ersten Geschoss. Es konnte keine fünfzig Jahre alt sein. Auch die Kapelle schien nicht viel älter zu sein.
Darian bemerkte den Blick des Angroscho und erläuterte, was er sah: „Ja, ganz recht. Das Herrenhaus ist noch vergleichsweise jung. Es wurde etwa zwanzig Jahre, bevor die Dame Morgenrot das Lehen erhielt, von dem Adelsgeschlecht neu gebaut, das vor ihr hier herrschte.“
Immer wieder einmal hielt der Zwerg inne und betrachtete das Mauerwerk, die Türme und die übrigen Bauten. Prüfte, stellte Fragen, die Darian nicht immer zu beantworten vermochte, und ließ sich sehr viel Zeit bei der Begutachtung.
„Ich würde gern die Flussseite der Burg sehen, und zwar von unten. Dann kann ich mir einen besseren Überblick verschaffen“, sagte er dann. „Gern“, antwortete der Ritter schlicht. Das bedeutete, dass die beiden Kämpen die Burg verlassen mussten. Die Serpentine hinab und dann am Fuße des steilen Hangs am hier noch recht jungen Rodasch entlang. Hinter sich hatten die beiden nun den Fluss, vor ihnen ragte der massive Fels auf, und darüber, in gut dreißig Schritt Höhe, begann die Mauer. An manchen Stellen konnte man jedoch kaum sehen, wo der Feld endete und wo die Mauern aus ihm wuchsen. Denn auch hier hatten sich streckenweise viele Ranken in das Mauerwerk gekrallt. Dwarosch hielt es für sehr unwahrscheinlich, dass ein Angriff auf die Rodaschblick von dieser Seite aus erfolgen würde. Allerdings war er sich sicher, dass der Ring der inneren Burg an dieser Seite ebenfalls schon arg gelitten haben musste. Dies genauer zu überprüfen, wäre sicherlich angeraten, dachte der Angroscho bei sich. Sollte sich sein Verdacht bestätigen, würden die Ausbesserungsarbeiten den Steinmetzen und Bauleuten sicherlich einiges Kopfzerbrechen bereiten ob der schweren Zugänglichkeit dieses Bereichs …
Allein der Abstecher zum Hang hatte mehr als eine Stunde gedauert. Und die Inspektion der Büttel sowie der genauen Prüfung der Mauer und der Gebäude hatten die Zeit nur so verstreichen lassen. Als die beiden zurückkehrten, war der Tag schon vorangeschritten, die fünfte Stunde der zweiten Tageshälfte musste schon hinter ihnen liegen.
„Noch genug Zeit, es Euch im Badezuber bequem zu machen. Ich denke, das sollte ich wohl auch tun nach all dem Laufen in der Sonne. Dann sollte auch schon alles bereit sein. Wir sollten pünktlich sein. Die Baronin nimmt das alles nicht so eng. Eduina und Adalberta dagegen schon.“ „Adalberta?“, fragte Dwarosch. „Die Köchin der Burg. So gut wie ihre Schwester unten im Gasthof. Aber nicht halb so gut gelaunt.“
Mit dieser eher bedrohlich anmutenden Aussicht auf noch so ein streitbares Frauenzimmer ergab sich der Oberst bereitwillig in sein Schicksal.
„Lorrek bringt Euch hin. He Lorrek“ - rief der Ritter gleich nach dem Burschen - „mach' dem Oberst den Zuber fertig, und dann auch mir. Und zackig! Wenn du Hilfe brauchst, schnapp dir jemanden aus der Küche.“ Der Junge, der bei den Stallungen gestanden hatte, rannte quer über den Hof gleich los in die Küche.
Gleich links neben dem Hauptgebäude lag das Wasch- und Badehaus. Es war bloß eingeschossig und dadurch freilich sehr viel kleiner als der Palas. Bevor der Oberst sich dorthin wandte, richtete der Ritter noch einmal das Wort an ihn: „Es war mir eine Freude, Euch die Rodaschblick zu zeigen. Wenn Ihr Fragen oder sonst etwas auf dem Herzen habt, dann lasst es mich wissen. Meine Tür ist immer offen.“
Der Oberst lächelte. „Die Freude war ganz meinerseits. Ich hoffe wir bekommen die Gelegenheit, dies zu wiederholen.“ Er wog den Kopf hin und her und grinste verschwörerisch. „Wer weiß was die Zukunft bringt. Rondra mit Euch“, verabschiedete sich Dwarosch.
Als der Knecht dem Oberst Bescheid gab, dass alles entspreched vorbereitet war, ging Dwarosch zum Badehaus und nahm ein ausgiebiges Bad, wusch sogar Haupthaar und Bart mit nach Kräutern riechender Seife. Dass dies zur Folge hatte, dass er seine Zöpfe neu flechten und auch den Bartschmuck neu befestigen musste, nahm er gerne in Kauf. Die letzten Tage waren anstrengend gewesen. Zeit zur Muße war rar gesät.
Und so musste die Tsastunde bereits angebrochen sein, als der Oberst in ordentlicher Garderobe zum Speisesaal der Burg geführt wurde. Nun, zumindest dachte er das anfangs.
Dwarosch schritt hinter Eduina durch die große Halle, vorbei an dem herrschaftlichen Lehnstuhl auf dem Podest. Die umtriebige Zofe ging geradewegs auf eine der beiden Türen zu, die zu dem schmalen Garten führten, der sich zwischen dem Herrenhaus und der Burgmauer befand. Eigentlich hätte der Zwerg erwartet, im Speisezimmer empfangen zu werden. Doch es wunderte ihn nicht wirklich, dass das abendliche Mahl im Freien stattfand. Mit einem innerlichen Schmunzeln machte er sich bewusst, wer seine Gastgeberin war. Und diese ließ es sich offenbar nicht nehmen, ihren Gast im Garten zu bewirten. Eduina öffnete die Rechte der beiden Türen und lud den Zwerg mit einer einladenden Geste ein, ihr zu folgen.
Rhododendronbüsche und Wildrosensträucher waren hier die vorherrschenden Blumen, aber dazwischen verbargen sich immer wieder andere Pflanzen, die er nicht kannte. Auch hier, im Innenbereich, waren Teile der Mauer von den wilden Rosenbüschen und Efeuranken befallen, die sich unaufhörlich einen Weg nach oben suchten. Inmitten dieses Gartens stand ein kleiner, weißer Pavillon, umgeben von Blumenbeeten und zwei Wegen aus weißem Kies, die ihn wie eine kleine Insel umrundeten und links und rechts spitz aufeinander zuliefen. Einige Ranken wanden sich die schmalen Säulen hinauf. Die Beete und Ranken schienen allesamt sehr kraftvoll und gut gepflegt, soweit Dwarosch das beurteilen konnte. Die Baronin von Rodaschquell saß in dem Pavillon und blickte etwas versonnen in den azurblauen Himmel. Dann hob sie ihren Kopf und schloss die Augen.
„Oberst Dwarosch ist hier, Euer Hochgeboren“, sagte die Zofe, knickste kurz und drehte sich dann um, während die Elfe ihrem Gast einen gut gelaunten Blick zuwarf, der einladend und neugierig zugleich schien. „Bitte“, sagte sie dann in ihrer leisen, melodiösen Stimme und wies mit ihrer Hand auf den leeren Stuhl an dem runden Tisch. Eine langsame, anmutige Geste. „Nehmt Platz, Oberst“.
„Eure Hochgeboren.“ Dwarosch neigte kurz das Haupt. „Ich muss mich erneut für diese Einladung bedanken - diese Ehre wird jemandem wie mir nicht oft gewährt. Die meisten eurer Standesgenossen sind…,“ der Oberst schmunzelte und legte den Kopf leicht schief, „nun ja - entweder verschlossen oder eher engstirnig. Was das nun aber wirklich bedeutet überlasse ich eurer Phantasie, ist mein Volk doch nicht unbedingt für seine Offenherzigkeit bekannt.“
Die Baronin beantwortete dies zunächst mit einem ehrlichen, von Herzen kommenden Lachen und bedachte Dwarosch mit einem freundlichen Blick. Sie wartete einen Augenblick und sagte dann in einem offenen, heiteren Plauderton: „Ich lebe nun schon eine ganze Weile in diesen Landen und glaube, nur zu gut zu wissen, was Ihr meint, Herr Oberst. Nun habe ich bislang nur wenig Kontakt zu den Angehörigen Eures Volkes gehabt. Aber von den Herausforderungen, die eine Unterredung mit so manchem meiner ... Standesgenossen, wie Ihr sagtet, mit sich bringt, weiß ich durchaus zu berichten.“
Sie lehnte sich etwas nach vorne, wie um ihren Worten etwas mehr Gewicht zu verleiten und sagte durchaus mit einem gewisen Ernst: „Seid versichert, dass es mir Freude bereitet, Gäste auf der Rodaschblick willkommen zu heißen.“
Dwarosch nahm Platz und achtete dei darauf der höfischen Etikette möglichst gerecht zu werden. Ein wenig steif wirkte er auf die Baronin, dies mochte aber tatsächlich daran liegen, dass dem Oberst die Routine fehlte im höfischen Zeremoniell.
Die Tür öffnete sich, und einige Bedienstete trugen mehrere Platten mit verschiedenen Speisen auf und platzierten Teller aus hellblauem Steinzeug sowie Bestecke und gläserne Pokale vor Dwarosch und Liana. „Ich nehme an, Ihr teilt die Vorliebe Eures Volkes für jenen Gerstentrunk, den die Menschen Bier nennen? Ich selbst vertrage ihn nicht und könnte ihn auch nicht genießen. Aber natürlich haben wir immer welches da. Ich glaube, es kommt direkt aus Xorlosch.“
„Ihr verwöhnt mich. Seit vorsichtig, am Ende komme ich regelmäßig nach Rodaschquell.“ Die Miene des Zwergen zeigte ehrliche Freude aber auch, dass er scherzte. „Der menschliche Geschmack ist ‚empfindlich‘ was unser Bier betrifft. Gerade jenes aus Isnatosch mag und verträgt nicht jeder“, erklärte Dwarosch amüsiert. „Ich jedoch schätze es wie viele meiner Brüder und Schwestern aus dem Eisenwald.“ Er nickte. „Xorloscher‘ hingegen wird auch in Oberrodasch gern von den Bergbewohnern getrunken.“
„Wenn mir das die Freude Eurer Gesellschaft sichert, werde ich dafür Sorge tragen lassen, dass Ihr stets ein Fass vorfinden werdet, Oberst Dwarosch“, antwortete die Elfe mit einem geradezu herausfordernden Unterton.
Eine Bemerkung, die der der Angroschim mit einem Lächeln in Richtung der Baronin quittierte, welches nicht verbarg, dass er sich geschmeichelt fühlte.
Ein Bediensteter trug als Vorspeise zunächst eine einfache Gemüsebrühe auf. Danach gab es verschiedene Soßen und Salate mit Brot, Weintrauben mit Käse, eine Pastete mit Blumenkohl und etwas Geflügel. Kein deftiges Essen, aber durchaus gut zubereitet und ansprechend angerichtet. Die Herrin des Hauses selbst trank Wasser. Sie aß nur wenig und zudem sehr langsam, wie Dwarosch feststellte. Stattdessen brachte sie das Gespräch in Gang und er achtete darauf, ebenfalls langsam zu essen. Nicht so wie bei dem Schmaus im Gasthof in der Stadt, wo er ordentlich zugelangt hatte.
„Verzeiht, dass Euch nicht in der Halle bewirte. Der Abend zu schön, als dass ich ihn in der Burg beginnen will. Ich hoffe, der Garten gefällt Euch.“
„Ich habe die Stollen und Hallen Isnatoschs am Tag meiner Feuertaufe verlassen“, antwortete Dwarosch nach einem tiefen Schluck Bier, bei dem er penibelst drauf achtetete, dass sich kein Schaum in seinem Bart festsetzte.
„Ich schlafe unter freiem Himmel ebenso tief und fest wie unter den Bergen meiner Heimat. Mehr als hundert Jahre bin ich über den ganzen Kontinent gezogen und habe dabei den hohen Norden gesehen, ebenso die Lande der Tulamiden, die Khom, wie auch die Dschungel des tiefen Südens. Der Himmel, unter dem wir wandeln, ändert sich nur geringfügig. Es sind lediglich andere Sterne, die man des Nachts sieht.“
Kurz blickte er sich um, betrachtete das allgegenwärtige Grün, dann blickte er wieder zur Elfe. „Sicher seht ihr all das hier mit anderen Augen, denn ihr versteht das Wirken der Natur besser als ich – als wir oder die Menschen, denn ihr seid ein Teil davon, während wir nur in ihr, mit ihr leben. Doch die tiefen, dunklen Wälder des Isenhag, die Berge, die Gletscher, das bedeutet Heimat für mich und ich schätze mich glücklich, wenn ich die Zeit habe wandern zu gehen, um mich an all dem genannten zu erfreuen. Also ja - es gefällt mir.“
Die Baronin betrachtete ihn nun interessiert und mit einer unverholenen Neugier und wartete erneut eine Weile, ehe sie ihm Antwort gab: „Damit habt Ihr wahrlich schon viel von dieser Welt gesehen! Ich selbst kenne den Norden recht gut. Donnerbach, die Salamandersteine, das Bornland … im tiefen Süden jedoch war ich noch nie. Von der Wüste hörte ich vieles. Dass sie in gewisser Weise der endlosen weißen Weite im hohen Norden ähnlich sei - und doch ihr komplettes Gegenstück. Auch von den dampfenden Dschungeln, die noch viel weiter im Süden liegen. Aber der Isenhag ist nun schon mehr als zwei Jahrzehnte meine Heimat. Seine Berge, seine Wiesen und Wälder...“ sie hielt wieder kurz inne und blickte fast etwas gedankenverloren in den Garten und in den Himmel. „Ich weiß nicht, ob ich sein Wirken wahrlich besser verstehe als Ihr oder die Eurigen, Oberst Dwarosch. Oder ob ich ihn wirklich mit anderen Augen sehe. Aber ich weiß, dass er mir teuer geworden ist. Mit all seinen Eigenheiten ...“
„Dann ist dies meines Erachtens nach eine nicht zu verkennende Gemeinsamkeit, auf der wir aufbauen können. Der Schutz und der Erhalt des Isenhag, so wie er ist, so wie ihr und ich ihn kennen, liegt mir sehr am Herzen.
Konflikte oder gar Krieg war uns ist allgegenwärtig um uns herum. Allein die Nordmarken sind lange davon verschont geblieben. Kaum ein Aggressor konnte und kann es wagen, seinen Fuß auf unser Territorium zu setzen.
Auf dem vergangenen Heereszug waren wir es, die von den Provinzen des Reiches das größte Aufgebot gestellt haben. Diese Stärke ist Grundlage des Friedens in unserer Heimat.
Ja, ich mag ein Mann der Waffe sein. Doch Frieden und sein Erhalt ist mein größter Antrieb.“
Obwohl sie bislang stets den Eindruck erweckt hatte, um Worte nicht verlegen zu sein, musste die Elfe diesmal eine Weile überlegen, um die Rede des Angroscho erwidern zu können.
„Die Nordmarken sind recht geübt darin, Stärke und Macht zu demonstrieren. Doch sehnen wir uns letzten Endes nicht alle nach Frieden? Sagt mir, Oberst Dwarosch, ist es der richtige Weg, den Frieden zu erhalten, indem wir anderen unsere Stärke zeigen? Eine Stärke, die sie wohl von Begehrlichkeiten abhalten soll? Mir käme das nicht wie ein wirklicher Frieden vor. Sondern eher wie ein… einander Abhalten. Eine Art Drohung, sich fernzuhalten. Nicht wirklich Friede. Doch bin ich keine Dame des Krieges und verstehe davon nicht so viel Ihr, auch wenn auch ich so manchen Zwist erleben musste... einst, in vergangenen Tagen.“
Es klang kein Vorwurf in ihrer Stimme mit. Einfach bloß der Wunsch, ihn zu verstehen. Ihre letzten Worte klangen sehr seltsam. Fast ein wenig schwermütig. Überhaupt hatte Dwarosch den Eindruck, dass Liana sich nicht einmal ansatzweise bemühte, Gedankengänge vor ihm zu verbergen. So, wie er das von vielen anderen Adligen in den Nordmarken eigentlich gewohnt war.
„Treffend analysiert“, gestand Dwarosch. „Das bunte Staaten- Konstrukt des ‚Neuen Reiches‘, zu dem auch die Reiche meines Volkes und natürlich der Isenhag gehören, besitzt derzeit nicht die Stabilität, die es haben sollte. Wir haben bereits in besseren, vermeintlich ruhigeren Zeiten große, herausfordernde Krisen meistern müssen. Die Menschen sind spontan, impulsiv, streitlustig- nicht immer logisch.
Ja, Demonstration von Stärke zur Abschreckung ist das passende Werkzeug in diesen Zeiten.“ Innere Überzeugung lag in den Worten des Oberst.
„Ich hoffe, Herr von Sturmfels hat Euch alles zeigen können, was Ihr zu sehen wünschtet“, sagte sie dann.
Dwarosch nickte. „Das hat er. Ihr dürft euch glücklich schätzen einen solchen Gefolgsmann zu haben.“
Ein kurzes Lächeln huschte erneut über ihre Züge. „Das tue ich. Er ist mein Schwert und Schild. Ein treuer Freund. Und ich bin dankbar für seine Treue.“
Dwarosch nickte lächelnd, doch seine Augen verrieten, dass ihn die Worte der Elfe nachdenklich gemacht hatten.
Der Blick in des Zwergen Augen entging den feinen Sinnen der Gastgeberin nicht. Doch mochte sie ihn nicht so recht zu deuten. Und sie hielt es nicht für ziemlich, ihn direkt daraufhin anzusprechen.
Unter den Ihrigen wäre es ihr ein Leichtes gewesen, zu ergründen, was in ihrem Gegenüber vor sich ging. Und mit Selbstverständlichkeit hätte sie sich intuitiv ihres Mandras bedient, um zu verstehen. Wissend, dass Worte oft nicht genügten, wirklich zu sagen, was man sagen wollte.
Unter den Ihrigen…
Gewiss nicht bei den Menschen oder gar einem Zwerg. Sie verbargen ihre wahren Gedanken oft tief in ihrem Inneren. Und wünschten es nicht, dass man sie mit – wie sie sagen würden „magischer Macht“ - ans Tageslicht rief. Es hatte Jahre gedauert, bis Liana das erkannt hatte. Obwohl sie es nicht verstand.
Sie erwiderte Dwaroschs Blick eine Weile und ließ ihn mit sich und seinen Gedanken allein.
Und was ist Euer Eindruck von der Rodaschblick“, fragte Liana schließlich in die Stille hinein.
Der Oberst kniff kurz die Lippen aufeinander. Seine Miene verriet, dass er sich schwer mit einem Urteil tat. „Nun“, begann er nach kurzer Bedenkzeit. „Das ist nicht in ein paar einfachen Sätzen gesagt. Meine Bewertung der Wehranlagen wird ausführlich sein und anhand von Skizzen verdeutlichen, wie ich zu den Schlüssen gekommen bin, die der Bericht enthalten wird.
Bitte Eure Hochgeboren, gebt euch zunächst mit der Aussage zufrieden, dass die Grundsubstanz gut ist, sie aber an einigen Stellen dringend vervollständigt werden muss, um den ursprünglichen Sinn der Rodaschblick wiederherzustellen – der Wehr dieser Lande.
Verlasst Euch aber darauf, dass ich nichts Unmögliches vorschlagen werde“, schränkte Dwarosch sofort ein. „Ich werden abwarten, inwiefern meine Vorschläge Euren Gefallen finden, und dann wird sich alles Weitere über die Jahre geben. Ich habe ebenso wie ihr viel Zeit meine Ziele zu verfolgen und meine bisherigen einhundertsechzig Jahre haben mich gelehrt, dass Geduld eine Tugend ist.“
Sie hörte ihm schweigend und aufmerksam zu. Dann ließ sie ihren Blick schweifen, betrachtete den Garten, die Rosenbüsche und Efeuranken. „Diese Mauern sind alt. Soweit ich weiß, waren es einst die Zwerge, die vor vielen Jahrhunderten ihren Bau so nahe an Xorlosch erlaubten und sogar mithalfen, sie aufzurichten. Ja, die Rodaschblick ist alt. Und doch ist so viel Leben in ihr. Ich bin gerne hier. Und ohne all dies könnte ich nur schwerlich hier leben.“
Sie deutete mit der Hand rundherum.
„Eine dunkle, klobige Festung mag ich nicht mein Zuhause nennen, sei sie noch so sicher. Ich verstehe Euer Ansinnen, Herr Oberst. Ihr Zwerge seid weithin gerühmt, uneinnehmbare Bollwerke zu bauen. Doch lasst mich Euch fragen: Glaubt ihr wirklich, dass die Rodaschblick so leicht angreifbar ist? Herr Korninger und Herr Darian versicherten mir ein ums andere Mal, dass die Kernburg und der Bergfried durchaus stattlich seien. Sie ist in den vergangenen Jahren an einigen Stellen erneuert worden. Meine Ritter sähen überdies so wie auch Ihr gern die äußeren Mauern wiederhergestellt. Sie würden alle Wurzeln herausreißen und nackten Stein aufrichten. Herr Korninger indes warnt unablässig vor den hohen Kosten, die solch ein Projekt verursachte. Wir sprachen auf seinen Wunsch noch einmal darüber, und ich bin geneigt, ihm zu glauben.“ Sie senkte kurz ihr Haupt, dann hob sie es wieder und blickte zur Seite. Fast wirkte es, als wolle sie vermeiden, Dwarosch direkt anzusehen. „Vielleicht auch, weil ich nicht will, dass die alten Rosenstöcke herausgerissen werden.“ Sie sah ihn wieder an. „Und ganz gewiss will ich auch nicht, dass Rodaschquell unter der Last einer viel zu großen Burganlage ächzen muss. Ich muss meinem Vogt hierin vertrauen. Versteht Ihr das?“
„Das verstehe ich, selbstverständlich“, versicherte der Oberst sofort. „Deswegen habe ich Euch bereits zugesichert, dass meine Pläne auch von der Finanzierbarkeit her durchdacht seien werden und ich mir dafür fachkundige Hilfe holen werde.
Euer Vogt wird hoffentlich erst nach gründlicher Prüfung meines Berichtes sein eigenes Urteil fällen und Euch zu dem einen oder anderen raten. Ich bitte Euch um Unvoreingenommenheit, was das betrifft.
Eines möchte ich Euch aber noch mit auf den Weg geben. Ja, die Kernburg und der Bergfried sind intakt, doch wie viele Männer, Frauen und Kinder kann sie aufnehmen, wenn ein Aggressor vor diesen Mauern steht. Könnt ihr all Eure Untertanen schützen?
Glaubt mir, nichts ist schmerzhafter, als die Erfahrung, die Tore vor Wehrlosen schließen zu müssen und sie damit unweigerlich dem Feind auszuliefern.“
Sie dachte eine Weile nach. Dwarosch konnte spüren, dass eine gewisse Unruhe sie ergriffen hatte. Ihre Anwort war gleichermaßen privat, wie sie auch ausweichend war: „So, wie Ihr es sagt, glaube ich, dass Ihr solch ein Übel selbst erfahren musstet ...“
Dwarosch seufzte und es lag ein gewisser Schwermut darin.
„Ich habe meinen Lebensweg nicht immer selbst bestimmt. Der Mantikor begleitet mich seit jüngsten Tagen, auch gegen meinen Willen. Ich tue, was getan werden muss, was er von mir verlangt, doch akzeptieren werde ich seine Methoden nie.
Alle bisherig gesammelten Erfahrungen, gute wie natürlich auch die schlechten, die schmerzhaften- die die einen an allem zweifeln lassen, haben mich zu dem gemacht der nun vor euch sitzt. Und ja, ich glaube, dass ich sie sammeln musste, um meine Ziele mit der Leidenschaft, mit der Vehemenz zu verfolgen, wie ich es tue.“
„Gegen Euren Willen? Was er von Euch verlangt?“ In ihrer Stimme lagen Zweifel und auch eine gewisse Bekümmertheit. „Der Mantikor ist eine seltsame Bestie, dem Wirken verwirrter Magier entsprungen nach allem, was ich weiß. Oft genauso konfus wie seine Erschaffer, wie man mir sagte. Ganz ähnlich jenen beklagenswerten Furien im Finsterkamm und im Koschgebirge, die von den Menschen Harpyen geheißen werden. Ich verstehe nicht, wie eine solche Bestie einen ehrenhaften Angroscho, als den ich Euch erachte, als Mentor dienen kann.“
„Mit ‚Mantikor‘ meinte ich in diesem Falle mitnichten eine Chimäre, sondern den Söldnergott Kor“, erklärte der Oberst mit ruhiger Stimme. „Im Glauben meiner Rasse jedoch ist ER mehr als das. Kor ist der Sohn Angroschs und Rondras.“
Die Elfe schwieg dazu. Sie verstand den Unterschied nicht. Und noch weniger, wie ein Gott der Menschen und Zwerge einer grausamen Chimäre nachempfunden sein konnte. Oder vielleicht war es auch andersherum, und die Chimäre war dem Gott nachempfunden? Aber wenn Letzteres stimmte, was würde das für ein Bild auf jenen Kor werfen? Allerdings hatte sie schon oft erlebt, dass es sehr müßig war, solche Gespräche zu führen. Sie verstand es nicht. Und hatte sich längst damit abgefunden. Und es lag ihr fern, Menschen oder Zwerge in dieser Sache überzeugen zu wollen oder gar ihren Gast zu verärgern mit ihren unnachgiebigen und rücksichtslos offenen Fragen. Es war schließlich nicht ihre Sache. Sie musste niemanden zu ihrer Meinung ‚bekehren‘. Es war ihr einerlei. Wozu auch? Wenn es sie alle glücklich machte, dann war es gut. Sie wollte es verstehen, ja, das schon. Begreifen. Nachvollziehen. Aber in all den Jahren unter den Menschen war ihr längst klar geworden, dass die Menschen – und auch Zwerge – etwas besaßen, das ihr fehlte. Das zu erlangen sie aber nicht für erstrebenswert hielt. Im Gegenteil. Ihr eigenes Volk hatte das längst hinter sich gelassen, und sie kannte die alten Geschichten nur zu gut. Längst hatte sie einen gewissen Gleichmut erlangt in der langen Zeit, die sie nun schon unter den Menschen weilte.
Die Borniertheit und Unvernunft, die aus den gläubigen Menschen sprach – sie hatte beides oft erleben müssen, oh ja. Nur zu gut erinnerte sie sich an jenen schlimmen Tag, als sie auf der Tribüne der Herzogenturnei zu Elenvina saß, nicht unweit seiner Hoheit Jast Gorsam selbst. Ja, sie war noch immer eine Fremde in den Reihen des Adels, obwohl sie nun schon seit drei Jahrzehnten die Herrin von Rodaschquell war. Sie würde wohl immer eine Außenseiterin bleiben in diesen Landen. Und doch: Man umgab man sich gerne mit ihr. Schmückte sich mit ihrer Anwesenheit. Verhalf Festen zu mehr Glanz, indem man sie einlud. Und so hatte der alte Herzog, der Großvater Hagrobalds vom Großen Fluss, dafür Sorge tragen lassen, dass die schöne Exotin nicht allzu weit von ihm entfernt saß an jenem Festtag. Ein Turnier, das sie um des alten Jast willen besucht hatte, obwohl sie diesen Wettstreits nur wenig abgewinnen konnte. Jener Tag, an dem der Herzog Opfer eines feigen Anschlags geworden war, initiiert von seinem eigenen Sohn Hartuwal, wie sich später herausstellen sollte. Sie hätte ihn retten können, dessen war sie sich gewiss. Sie hätte ihr Mandra fließen lassen und das Leben im Herzen des alten Herzogs halten können. Doch noch bevor sie zu ihm gelangen konnte, hatte man sich ihr in den Weg gestellt. Ihr und Biora Tagan, der damaligen Baronin von Rickenhausen. Liana war keine Anführerin. Niemand, der seine Stimme erhob. Sie führte nicht. Genauso wenig, wie sie folgte. Sie war damals verwundert gewesen, erstaunt, irritiert. Wie dieser alte Handelsmagnat, der sich ihr in den Weg zu stellen wagte, so verbohrt sein konnte, dass er nicht dulden wollte, dass sie sich des Herzogs annahm. Weil sie ‚praiosungefällige Zauberei‘ verwenden würde. Als die Rickenhausenerin ihm klar machte, mit wem er es zu tun habe, und dass er aus dem Weg gehen solle, war es schon zu spät gewesen. Einige wenige Augenblicke und Worte bloß: Sie hatten genügt, um das Wirken von Magie zu verhindern. Um den Preis eines Lebens ...
Für einen kleinen Augenblick huschte eine Verärgerung über ihr schönes Antlitz, die Dwarosch irritierte, weil er sie nicht einzuordnen wusste. Sie schwieg. Ihr nachdenkliches Schweigen und eine gewisse Melancholie, die sich in ihren Augen widerspiegelte, waren jedoch nur allzu beredt – für all jene, die diese Sprache zu deuten wussten …
Sie beobachtete den Oberst eine Weile beim Essen und lenkte das Gespräch dann in eine andere Richtung. „Ich denke, dass es Euch nicht überraschen wird, dass es mich überaus erstaunt hat, einen Angroscho in meiner Halle willkommen zu heißen, der sich so trefflich auf die Sprache meines Volkes versteht.“ Sie sagte sie mit einer gewissen Amüsiertheit in ihrer Stimme, die aber nicht herablassend, sondern eher neugierig wirkte.
Nun war es an Dwarosch zu lachen. Abwehrend hob er beide Hände „Das ist zu viel des Lobs. Ich verstehe viel, aber mir fehlt die Übung. Ich würde meinen Vortrag holprig nennen und mein Lehrer hätte vermutlich amüsiert gespottet über die Art und Weise, wie ich euch begrüßt habe.“
Die Augen des Oberst huschten kurz angestrengt hin und her, bevor er in Isdira anfügte. „Er sagte immer, dass Sprache der Weg sei, einander zu verstehen. Lange hat es gedauert, bis ich die Bedeutung dahinter wirklich begriffen habe.“
„Ich glaube nicht, dass dein Lehrer über dich spotten würde“, antwortete sie sanft in Isdira. „Ganz im Gegenteil. Du würdest ihm zur Freude gereichen. Weil du nicht nur die Sprache erlernt hast, sondern auch den Grund, warum man sie erlernt, verinnerlicht hast.“
Sie wechselte wieder ins Garethi, dass sofort unweigerlich wieder etwas förmlich und steif klang. „Ich selbst verstehe nur wenig Eurer Sprache und hatte bisher nie die Muße, mich ihr zu widmen, obwohl so viele Zwerge hier leben. Sie“ … Liana zögerte etwas … „sie fällt mir einfach schwer.“
„GAROSCHEM“, sagte sie dann laut und betont hart, und musste über sich selbst lachen.
Die offene und ehrliche Art, die ihm die elfische Baronin bis zu diesem Zeitpunkt entgegengebracht hatte, ließ nach und nach auch die Reserviertheit des Oberst bröckeln. Hatte er sich bisher zurückgehalten und lediglich hin und wieder mit überschaubaren Scherzen versucht die Konversation aufzulockern, so erlag er in diesem Moment schlicht der Situation und viel mit dem tiefen Bass seiner Stimme in ihr Lachen ein.
Eine der beiden Türen öffnete sich erneut, und Eduina betrat den kleinen Garten, gefolgt von dem schwer atmenden Haushofmeister Welzelin. Sie knickste wie gewohnt kurz und ergriff, nach einem kurzen Warten, selbst das Wort, da dies dem Haushofmeister offenkundig schwerfiel, der mit einem Taschentuch an seiner Stirn herumtupfte.
„Euer Hochgeboren ...“ – sie wirkte etwas angespannt, doch der Haushofmeister neben ihr war geradezu völlig aufgelöst, wie Dwarosch und seine Gastgeberin schnell bemerkten.
„ … bitte verzeiht und die Störung, doch …“ Sie schien nach den richtig Worten zu suchen, und der Oberst war ein wenig überrascht: hatte er die Zofe bislang doch als eine sehr spitzzüngige und wortgewandte Dame kennengelernt.
„ … es gibt … besondere Komplikationen am Burgtor, die Eurer Aufmerksamkeit bedürfen, wenn es Euch beliebt. Wir haben weitere Gäste, und ...“ sie blickte kurz zu Dwarosch, dann wieder zur Baronin „Ihr wisst schon …. machen einige Schwierigkeiten.“
Der Haushofmeister – noch immer völlig aus der Fassung – sank halb auf die Knie. „Schwierigkeiten? Sie haben, sie haben …“ Er vermochte aber nicht weiterzusprechen, seufzte einmal schwer und brachte dann nur ein: „Ich bin am Ende meiner Kräfte, Euer Hochgeboren. Ich weiß nicht mehr weiter in der Angelegenheit.“ Dass ein Haushofmeister sich zu derartigen Gefühlsausbrüchen hinreißen ließ, schien Dwarosch doch recht ungewöhnlich. Und er hatte auf seinen Reisen so manche Herren kennengelernt, der ihre Dienstleute dafür streng gerügt hätten.
Liana warte kurz, bis die beiden etwas zur Ruhe kamen, erhob sich, und wandte sich dann ihrem zwergischen Gast zu.
„Bitte erlaubt mir, mich kurz dieser Angelegenheit anzunehmen. Ich bedauere, dass wir so jäh unterbrochen werden.“
Dwarosch erhob sich ebenfalls. "Hochgeboren. Erlaubt mir, Euch zu begleiten. Vielleicht kann ich behilflich sein."
An den Haushofmeister gewandt ergänzte er. "Haltet meinen Spieß und meine Wehr bereit. Nur für den Fall, dass die Situation eskalieren sollte."
Als der Zwerg von seiner Bewaffnung sprach, quollen die Augen des Haushofmeisters hervor und er sah fast panisch in Richtung seiner Herrin.
Die Baronin bedachte ihren Gast mit einem Lächeln voller Überraschung und ehrlicher Freude. Zwar überragte sie den Oberst um ein ganzes Stück, doch wirkte sie neben ihm einmal mehr so zart und biegsam wie ein junger Ast im Wind neben einem alten, knorrigen Baum, der jedem Sturm trotzt.
Sie sprach in Isdira zu ihm. „Erst seit so kurzer Zeit kennst du mich, und doch würdest du so bereitwillig neben mir streiten?“
Sie machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr. „Ich bin sicher, dass es nicht nötig, dich zu bewaffnen. Wahrscheinlich wäre das sogar eher wenig hilfreich. Vertraue mir. Doch dein Angebot, mich zu begleiten, das will ich gerne annehmen. Vermutlich ist es ohnehin das Beste so.“
Der Oberst deutete ein knappes Nicken an und erwiderte das Lächeln. Er würde seiner Gastgeberin nicht wiedersprechen. Sein Angebot war nicht nur der Höflichkeit geschuldet, sondern entsprach schlicht Dwaroschs Naturell.
Die Zofe lächelte nun ebenfalls ein wenig, während Meister Welzelin weiter dreinblickte wie ein betrunkenes Kamel. Nun, zumindest SIE würde das Isdira vermutlich beherrschen, glaubte Dwarosch …
Gemeinsam verließen die Elfe und der Zwerg den kleinen Garten, schritten durch die Halle und dann quer über den großen Innenhof zum Vorhof – immer dicht gefolgt von Eduina und Meister Welzelin.
„Euer Hochgeboren von Rodaschquell,
gerne komme ich auf die Einladung zurück, welche Ihr mir gegenüber von einigen Monden ausgesprochen habt, Euch in Eurem, wie mir gesagt wurde, malerischen Lehen besuchen zu kommen.
Nach aktueller Planung wäre der Praios 1041 ein Zeitraum, den ich von anderen Verpflichtungen freihalten könnte. Ich erwarte freudig Euren Boten mit einem positiven Bescheid.
Hochachtungsvoll,
Thalissa di Triavus,
Baronin von Rickenhausen“

~*~

Der Turmbereich in Lianas Gemach bot einen herrlichen Blick auf den Wasserfall des Rodasch, der sich in unmittelbarer Nähe der Burg in den kleinen See stürzte. Liana liebte diesen See und den Wasserfall. Sie beide erinnerten sie so sehr an Ihre Heimat Donnerbach. Einige Vorhänge aus leichten Stoff wehten vor den weit geöffneten Fenstern, auf dass der Wind und das ewige Rauschen des Wassers Einzug halten konnten in die Gemächer der Elfe.
Das runde Zimmer lag im nordöstlichen Turm, unmittelbar neben dem Gemach der Baronin. Gemeinsam mit dem Gemach bildete er einen einzigen großen Raum, insgesamt sicher sieben mal sieben Schritt groß, nur lag der Erker einige Stufen höher. Die wilden Rosen, die schon bald die ganze Burg zu übernehmen drohten, hatten auch bereits einen gehörigen Teil der Außenmauer des Turmes erobert und erfüllten die Luft mit ihrem Duft. Liana hatte nur wenig an dem großen Raum geändert, als sie damals zur Baronin Rodaschquells berufen worden war. Doch ein fähiger Zimmermann und ein Steinmetz hatten das kleine, alte Fenster sowie Teile der Mauer herausbrechen müssen, um rundherum in dem kreisrunden Turmzimmer deutlich größere Fenster einzusetzen und eine kleine Balustrade hinzuzufügen. Liana hatte auf nichts bestanden, als sie die Burg bezog – mit Ausnahme ihres Gemachs.
Sie schloss ihre Augen, lauschte dem Rauschen des Wassers und genoss den Duft der Rosen. Sie legte den Brief, den sie soeben gelesen hatte, auf den Schreibtisch. Ein Hauch von Schwermut überkam sie, da sie an die Vorgängerin Thalissa di Triavus' dachte, Biora Tagan. Jene kluge Hesindegeweihte, die so gar nicht zum Bild der büchervernarrten, verbohrten und etwas verschrobenen Gelehrten passen wollte, das Liana von so manchem Geweihten gewonnen hatte. Sie war mehr wie Melisande, die Hesindegeweihte hier auf Burg Rodaschblick. Liana entsann sich, wie sie einst mit Biora Tagan darüber gesprochen hatte. Eine Hesindegeweihte, die durchaus Freude an Festen gezeigt und damit Lianas Interesse geweckt und gleichermaßen Erstaunen in ihr hervorgerufen hatte. Es war ein Fest im Lieblichen Feld gewesen, in Grangor, wenn ihr Gedächtnis sie nicht täuschte. Sie war damals mit dem Baron und der Baronin von Rabenstein und Biora Tagan dorthin gereist. Während Shanija und Lucrann von Rabenstein sich nach Mitternacht zurückgezogen hatten, hatte die Hesindegeweihte seinerzeit keine Anstalten gemacht, es ihnen gleich zu tun.
„Schaut, die Rabensteiner verlassen das Fest bereits“, hatte die an Musik und Tanz stets interessierte Elfe ihrer Tischnachbarin damals zugerufen. „Ihr habt gut reden, immerhin ist es bereits weit nach Mitternacht“, war Bioras amüsierte Antwort gewesen. „Euch jedenfalls scheint das nicht viel auszumachen“, hatte Liana mit einem leicht erstaunten Unterton gesagt, der wiederum der Geweihten nicht entgangen war. „Das scheint Euch zu überraschen?“ „Nun, ich kenne nur wenige Priesterinnen der Hesinde, und ...“. Gutmütig lächelnd hatte Biora sie ermutigt, fortzufahren, während sie den Satz beendete „und Ihr dachtet, Feste zu feiern sei nichts für die Anhänger der Wissenden Mutter“. „Die meisten jedenfalls scheinen sich nicht viel daraus zu machen.“ „Sagtet Ihr nicht, dass Ihr nur wenige kennt?“, hatte Biora erwidert, begleitet von einem breiten Lächeln ….
Auch Liana musste lächeln, als sie sich daran erinnerte. So viele Jahre war das nun schon her. Was wohl aus Biora geworden sein mochte? Dem Rabensteiner hatte sie einige Sätze hierzu entlocken können, aber es war dennoch nicht genug, um ihre Neugier zu stillen.
Und zugleich erfüllte sie eine Neugier auf die neue Herrin von Rickenhausen. „Wer weiß, welche Geschichten sich mit Bioras Nachfolgerin ergeben“, dachte sie heiter, um sogleich einen Antwortbrief aufzusetzen …

~*~

Am frühen Abend tauchte endlich die Burg Rodaschblick in der Ferne auf. Das Wetter war angenehm, zumindest jetzt gegen Abend auch nicht mehr zu warm, und trocken, eine laue Brise wehte aus Westen. Doch der Weg hierher war durchaus recht beschwerlich gewesen, zumindest für jemanden wie Thalissa di Triavus, die aus dem lieblichen Feld eine bessere „Infrastruktur“, wie es die Gelehrten dort nannten, gewohnt war. Ein Stück weit hatte die kleine Reisegruppe aus Rickenhausen dem Halwartsstieg nach Süden folgen können, doch in Schneidgrasweiler musste sie nach Osten abbiegen, auf eine der Auskunft der Ortsansässigen nach zwar wichtige Straße, die aber dennoch für Thalissas Geschmack nicht mehr als ein besserer Trampelpfad war. Nicht genug damit mussten sie auch diesen Weg in der Baronie Gräflich Paggenau nach Süden verlassen und von dort auf Pfaden reisen, die im lieblichen Feld zur Not als Waldwanderweg, und zwar der eher beschwerlichen Sorte, durchgegangen wären.
Vielleicht hätte sie doch nicht einen der heimischen Jäger fragen sollen, als sie die Reiseroute ausgearbeitet hatte. Ein Punkt mehr, auf den in Zukunft zu achten war.
Die Baronin hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, auf ihren Reisen den ehemaligen Leibwächter ihrer Vorgängerin, Tar‘anam sin Corsacca, mitzunehmen, einerseits, um in den für ihre Verhältnisse wilden nordmärker Landen nicht ungeschützt reisen zu müssen, und andererseits, um vielleicht irgendwann durch nicht häufiges, aber hartnäckiges Nachfragen mehr über das Schicksal ihrer Tante 2. Grades Biora Tagan zu erfahren, denn dass Tar‘anam mehr wusste, als er, der Schweigsame, zuzugeben bereit war, war offensichtlich für sie. Doch bisher hatte sich der alte Krieger mit den fingerkurz geschorenen weißen Haaren, der zwar die Gewohnheit, einen maraskanischen Hartholzharnisch zu tragen, aufgegeben hatte, nicht aber dieselbe, sein Tuzakmesser bei sich zu führen und damit auch regelmäßige frühmorgendliche Schattenkämpfe auszufechten, als zu harter Brocken selbst für Thalissas subtilste Verhörmethoden erwiesen. Aber noch war nicht aller Tage Abend, wie sie sich sagte, jeden Tag aufs Neue.
Die Dritte im Bunde der kleinen Gesellschaft war die Zofe Melisande della Yaborim, jung an Jahren, mit mittellangen, glatten, dunklen Haaren, leicht bräunlichem Teint und ausdrucksvollen braunen Augen, welche Thalissa nach Ernennung zur Baronin von Rickenhausen auf Drängen und Vermittlung ihres Bruders Uridor zu sich genommen hatte. Die junge Frau hatte sich in der kurzen Zeit seit Dienstantritt als ruhig, fähig und effektiv erwiesen, so dass Thalissa diese Entscheidung bisher nicht bereut hatte und dankbar war, dass ihr jemand bei den alltäglichen Verrichtungen zur Hand ging. Obwohl Melisande selbst von Stand war, hatte sie ein besonderes Händchen beim Verhandeln mit dem einfachen Volk, was sich auf einer solchen Reise mehr als einmal als vorteilhaft erwiesen hatte.
Die mit ihren 25 Jahren ebenfalls noch sehr junge Neu-Baronin seufzte erleichtert in Erwartung eines erfrischenden Bades, welche Liana von Rodaschquell ihr sicher würde bereiten lassen, wenn sie denn endlich die Burg erreichten. Noch zwei Stunden, teilte ihr Melisande auf Nachfrage ihre Einschätzung mit. Tar‘anam nickte nur bestätigend, die Gegend wie immer aufmerksam im Blick behaltend.
Der Weg, der nach Kelnen führte, war zwar einfach, schien aber dennoch vergleichsweise gut besucht. Ab und an kam der kleinen Reisegruppe ein Karren entgegen. Meistens waren es Bauern, die ihre Ernte einfuhren. Thalissa und ihre beiden Begleiter passierten einen ummauerten Wehrturm, der erst vor einigen Jahren erneuert worden sein musste, wie einige helle Stellen verrieten, an denen die alte Mauer offensichtlich ausgebessert worden war. Oft ging es durch Wäldchen, hinter denen ganz plötzlich Weiden und Felder auftauchten, jedoch bei weitem nicht so groß wie jene in Rickenhausen. Es war warm, und das Gezwitscher zahlreicher Vögel erfüllte die Luft.
Überhaupt gab es in Rodaschquell eher viele Hügel mit kleinen Weilern. Holzfäller und Viehbauern waren hier ein häufiger Anblick. Schafe und Kühe grasten auf den Weiden, und natürlich waren die Ausläufer der Ingrakuppen stets präsent, die aus der Ferne schon selbst wie eine gewaltige Burg mit etlichen Zacken und Kronen wirkten. Einer dieser Ausläufer bot der Rodaschblick ihren Sitz, hinter der die Berge aufragten. So, als wollten sie der vor ihrem Schatten klein wirkenden Burg ihren Schutz gewähren.
Thalissa dachte darüber nach, was sie über Rodaschquell wusste. Es war eine kleine Baronie. Zwar gab es kleinere, ja, aber andere in den Nordmarken waren dreimal so groß. Früher war das anders, da war die Baronie größer gewesen. Allerdings hatte der alte Herzog Jast einen nicht unerheblichen Teil aufgrund eines komplizierten Erbrechts der herzöglichen Baronie Brüllenbösen zugeschlagen und damit seine Macht vermehrt. Rodaschquell war eine kaiserliche Baronie, und die Baronin hatte ihr Lehen noch durch Hal selbst erhalten. Das Schicksal der vormaligen Besitzer war verflochten mit einer sehr tragischen Geschichte: Der alte Baron und sein Sohn waren in der Schlacht der 1000 Oger gefallen. Die Tochter hatte sich – so munkelte man – daraufhin vom Turm gestürzt, und die arme Mutter hauchte binnen eines Jahres vor Kummer und Gram ebenfalls ihr Leben aus. Als Hal die Elfe zur neuen Baronin ernannte, war das Gerede groß gewesen. Die Adligen im neuen Reich mit elfischem Blut konnte man an einer Hand abzählen, und Baronin Morgenrot war – nach allem, was man hörte – eine sehr sonderbare Dame. Es hatte sie auch nicht gekümmert, dass der Herzog sich ein Drittel ihrer Baronie einverleibt hatte. Der alte Reichsrat Pelion Eorcaidos von Aimar-Gor soll sie damals gedrängt haben, stärker gegen das Ansinnen des Herzogs vorzugehen. „Warum sollte es mir etwas ausmachen? Das Land bleibt das Land und kümmert sich ja auch nicht darum. Und wenn es den Herzog glücklich macht, es sein eigen zu nennen …“, soll sie ihm auf einem kaiserlichen Empfang lächelnd zur Antwort gegeben haben.
Das Städtchen Kelnen genoss den Ruf, einige hervorragende Edelsteinsteinschleifer hervorgebracht zu haben und regen Handel mit den Zwergen zu treiben. Deswegen war der Ort größer, als man es in einer solchen Baronie erwartet hätte. Auch wurde in Rodaschquell ein gutes Rosenöl gewonnen, so dass die wirtschaftliche Lage der Baronie – nach allem, was Thalissa wusste – zumindest nicht so schlecht war wie jene der kleinen Baronien in Nordgratenfels, wo es außer Stein und Sumpf nicht viel gab. Die Bauern, die ihnen entgegen kamen, wirkten freundlich. Sie zogen den Hut vor der jungen Adligen und konnten sich sogar ein Lächeln abringen – was in den Nordmarken, wie die Baronin von Rickenhausen längst hatte feststellen müssen, keine Selbstverständlichkeit war.
Da es mitten im Hochsommer war, herrschte noch Tageslicht, als die Reisegruppe Kelnen erreichte. Da Thalissa sich angekündigt hatte, machte sie sich gemeinsam mit ihrer Zofe und ihrem Wächter gleich auf den Weg zur Rodaschblick und nahm die Serpentine. Die malerische Kulisse war tatsächlich so schön, wie man sie ihr beschrieben hatte: Nicht weit vom Felsen, auf dem die Burg stand, erhoben sich die größeren Berge, und dazwischen schlängelte sich der Rodasch und stürzte sich unweit der Burg rund fünfzig Schritt in die Tiefe in einen im Sonnenlicht glitzernden See. Es dauerte nicht lange, und Thalissa gewöhnte sich an das permanente, leise Rauschen, das die warme Luft erfüllte.
Als die Reisegruppe das zerfallene alte Tor passierte – es waren nur noch einige wenige Mauerreste der beiden Türme zu sehen, die hier einst Wacht gehalten haben mussten –, stand eine junge Frau vor dem Tor, dem Anschein nach eine Wache. „Travia mit Euch, Ihr guten Leute. Wer begehrt Einlass in die Rodaschblick?“
Ein kurzer Seitenblick auf Tar‘anam zeigte Thalissa, dass dessen Blick zwischen der Wache und dem maroden Gemäuer hin- und herwanderte. Sie kannte ihn noch nicht gut genug, um jede seiner Regungen deuten zu können, doch bildete sie sich ein, ein gewisses Missfallen aus seiner nahezu unbewegten Miene herauslesen zu können.
Wie auch immer, die Frau begehrte eine Auskunft, welche Thalissa ihr nicht zu verweigern gedachte. „Thalissa di Triavius mein Name, Baronin von Rickenhausen, mit Begleitung. Ihre Hochgeboren von Rodaschquell erwartet meine Ankunft.“
Das einzige, was zumindest offensichtlich auf adlige Zugehörigkeit der Gruppe hindeutete, waren die Satteldecken der Pferde, welche an den Ecken einheitlich mit dem Rickenhausener Wappen bestickt waren. Ansonsten hätte man der Reisegruppe nicht unbedingt angesehen, dass es sich um eine Hochadlige samt Begleitung handelte: Thalissa trug wie meistens ein weißes Rüschenhemd, dazu eine schwarze Lederhose und schwarze Reitstiefel, graue Handschuhe schützten ihre Hände. Den lindgrünen Reisemantel hatte sie samt Federhut ob der sommerlichen Temperaturen hinten auf den Sattel geschnallt. Rapier und Linkhand hingen offen an ihrem Gürtel. Wer genauer hinsah, konnte die hochwertige Machart von Kleidung und Ausrüstung nicht übersehen, Thalissa war aber im Zweifel, was die Urteilskraft einer einfachen Wache in der nordmärkischen Wildnis anging.
Tar‘anam war mit seinem über den Rücken geschnallten Tuzakmesser, dessen Griff über seiner linken Schulter emporragte, und seiner angespannt-aufmerksamen Haltung eindeutig als Mann des Kampfes zu erkennen, zumal er trotz der Witterung einen Gambeson trug, allerdings ohne Wappenrock darüber. Er hatte mittlerweile die Begutachtung der Architektur abgeschlossen und richtete seinen Blick, dem etwas latent Forderndes innewohnte, auf die Wächterin.
Melisande führte das Packpferd am Zügel, hätte ihrer Kleidung nach aber als einfache Reisende durchgehen können, passend zu ihren Haaren so ganz in Braun mit kurzem Wams, Hose und Stiefeln, wobei sie ihren ebenfalls braunen Mantel ebenfalls hinter sich verstaut hatte. Allerdings trug sie eine einfache silberne Halskette sowie ebenso silberne Ohrringe, welche jeweils mit einer einzelnen kleinen Perle verziert waren, ganz im Gegensatz zu ihrer Herrin, welche keinerlei sichtbaren Schmuck an sich hatte, dafür aber keine sichtbaren Waffen. Hatte sie bisher einige Schritt Abstand zu den beiden vor ihr Reitenden gehalten, schloss sie nun zu ihnen auf und nickte der Frau am Tor freundlich zu.
Die Büttelin verneigte sich. „Seid willkommen, Euer Hochgeboren. Bitte folgt mir.“ Sie führte Gesellschaft in einen sehr kleinen Innenhof, der zur Linken eine Schmiede und zur Rechten die Mauern des imposanten Bergfrieds zeigte. Eine weitere Mauer trennte den kleinen Hof vom eigentlich Innenbereich der Burg. Es befand sich ein steinerner Bogengang darin. Die Büttelin hielt kurz inne. „Wenn Ihr so freundlich wäret, hier einen Augenblick zu warten, damit ich den Herrn Haushofmeister benachrichtigen kann? Ich hoffe, Ihr mögt Eure Waffen in der Schmiede ablegen?“ Es war sehr höflich und wie eine Frage formuliert, klang jedoch eher wie eine Feststellung. Etwas kleinlauter, als sie den Blick des Leibwächters der Baronin sah, fügte sie hinzu: „Das ist Sitte in diesen Mauern.“
Tar‘anam sagte kein Wort, verzog auch keine Miene, doch bohrte sich der Blick seiner Augen tief in die der Büttelin, die daraufhin sichtlich nervös wurde. Da winkte Thalissa ab. „Als Gäste wollen wir die hiesigen Sitten natürlich achten“, sprach sie mit freundlicher, beschwichtigender Stimme, in der aber auch ein wenig Neugier mitschwang. „Obwohl mir solche Sitten hierzulande tatsächlich noch nicht untergekommen sind beim Besuch anderer Adliger. Sagt, fürchtet sich die Baronin von Rodaschquell vor Attentätern aus den Reihen ihrer Standesgenossen?“ Das mochte eine scherzhafte Bemerkung sein, aber vielleicht auch nicht. Unsicher versuchte die Büttelin, im Gesicht der Baronin zu lesen, doch dieses zeigte lediglich ein verbindliches, freundliches Lächeln.
Tar‘anam hatte sich derweilen entspannt und sah sich die Umgebung an, scheinbar nicht mehr interessiert an den gewechselten Worten, während Melisande durchaus Interesse zeigte, wie dieser kleine Schlagabtausch wohl ausgehen mochte und ihren Blick nicht vom Gesicht der Büttelin nahm.
Die junge Frau, der das ganze sichtlich unangenehm war, wirkte anfangs etwas verlegen, fand dann aber schnell ihre Stimme wieder: „Verzeiht, doch es steht mir nicht zu, die Wünsche Ihrer Hochgeboren oder seiner Wohlgeboren, dem Vogt, infrage zu stellen oder zu erläutern. Vielleicht wollt Ihr dies ja mit dem Haushofmeister oder gar Frau Baronin selbst besprechen?“, erwiderte sie freundlich.
„Nun,“ erwiderte Thalissa weiterhin freundlich, „ da der Herr Haushofmeister ja gleich kommen wird, werden wir ihn fragen, was es damit auf sich hat.“
Erneut verbeugte sich die Büttelin artig. „Bitte wartet einen Augenblick. Ich sehe sofort nach dem Haushofmeister.“
Thalissa und ihre beiden Begleiter schauten sich derweil etwas um. Bis auf eine kleine, offene Schmiede war dieser Vorhof leer. Der Bergfried ragte zur Rechten massiv in die Höhe. Ein durchaus imposanter Vertreter seiner Art. Überhaupt machte das ganze Gemäuer den Eindruck, einst eine ausgesprochen stattliche Anlage gewesen zu sein. Einst, vor wohl sehr langer Zeit.
Allerdings kannte sich Thalissa nicht besonders mit Wehranlagen aus, so schenkte sie dem Gemäuer wenig Beachtung, sondern widmete sich lieber ihrer Kleidung, die von der Reise ein wenig staubig und derangiert war. Melisande kam ihr sofort zu Hilfe und richtete geschickt, was ohne Hilfsmittel zu richten war, während Tar‘anam dafür sorgte, dass die Pferde sich nicht selbstständig machten.
Es dauerte nicht lange, und man hörte eine etwas gehetzt wirkende hohe Männerstimme. „Weitere Gäste auf der Rodaschblick! Dazu noch eine Baronin. So hochgestellte Personen an einem Tag!“
Ein ausgesprochen feister Mann um die 50 Lenze eilte in den Vorhof. Offenbar sprach er – zwischendurch immer wieder einmal nach Atem ringend – mehr zu sich selbst als zur jungen Frau an seiner Seite, die die kleine Gesellschaft am Tor empfangen hatte. Kaum angekommen, verneigte sich der Mann vor Thalissa. „Hochgeschätze Baronin von Rickenhausen, Euer Hochgeboren! Es ist mir …“, er schnappte erneut etwas Luft und wischte sich etwas Schweiß von der Stirn, „es ist mir eine große Freude, Euch auf der Rodaschblick willkommen zu heißen im Namen ihrer Hochgeboren, der Baronin Liana Alyandéra Morgenrot von Rodaschquell.“ Er hielt – etwas erschöpft wirkend – inne.
„Und mir ist es eine große Freude, auf Einladung Ihrer Hochgewohren von Rodaschquell hier sein zu dürfen, Herr … ?“ antwortete Thalissa freundlich lächelnd, dabei ignorierte sie geflissentlich den penetranten Schweißgeruch, welchen der fette Dienstmann von sich gab.
„Ja … gewiss, bitte verzeiht. Ich bin Ulfried Welzelin, der Haushofmeister ihrer Hochgeboren Morgenrot.“ Erneut machte er eine ob seiner Leibesfülle seltsame Verbegung, die aber nicht ungeübt wirkte, wie Thalissa gleichermaßen erstaunt wie amüsiert feststellte.
„Ich werde Euch gern Euer Gemach zeigen, Euer Hochgeboren. Eure Dienerschaft bringen wir natürlich gern im Gesindetrakt unter … es sei denn, Ihr wünscht, dass sie in Eurer Nähe weilt, Euer Hochgeboren“, fügte er mit einem etwas nervösen Blick auf den Krieger hinzu. „Eure Pferde wird Larona gleich in die Stallungen führen, wo man sich ihrer annehmen wird. Ich werde ihre Hochgeboren umgehen von Eurem Eintreffen unterrichten. Wenn Ihr alsweilen geneigt seid, uns Euer Gepäck anzuvertrauen? Eure Waffen mögt Ihr gern in der Schmiede ablegen.“ Er versuchte, den letzten Satz beiläufig klingen zu lassen, doch eine gewisse Nervosität war dem Haushofmeister durchaus anzumerken.
Thalissa wartete einen kurzen Moment, ob der hastige Redeschwall des Haushofmeisters tatsächlich zu Ende war, dann hub sie betont bedächtig zu sprechen an: „Also, guter Mann, meine Zofe, Signora Melisande della Yaborim, ist selbst von Stand, außerdem hätte ich sie sowieso gerne in meiner Nähe. Und mein treuer Begleiter,“ sie deutete auf den noch immer betont unbeteiligt die Pferde haltenden alten Krieger, „ist seine Wohlgeboren Tar‘anam sin Corsacca, Edler von Hottenbusch, und auch für ihn wünsche ich nach Möglichkeit eine standesgemäße Unterbringung.“ Thalissa hielt kurz inne, um zu sehen, ob der schwitzende Mann ihr folgen konnte, dann fuhr sie fort: „Für die Versorgung der Pferde und unseres Gepäcks wäre ich Euch sehr dankbar. Was aber die Waffen angeht: wie ich der Büttelin schon sagte, bin ich durchaus bereit, mich den hiesigen Sitten zu unterwerfen, doch genügt es nicht, wenn wir die Waffen einfach in unseren Gastgemächern verstauen? Oder gibt es etwas, das wir wissen sollten?“ Ihre Stimme hatte beim letzten Thema eher einschmeichelnd als fordernd geklungen, mit einem unschuldig-harmlosen Augenaufschlag blickte Thalissa dem Haushofmeister abwartend ins Gesicht
Hastig hob Welzelin beide Hände und nahm eine etwas geduckt-unterwürfige Haltung ein. In der einen Hand hielt er einen Heroldsstab, die andere hielt er flach wie einen Schild vor sich und schüttelte sie hin und her.
„Neinnein, alles ist in bester Ordnung, das versichere ich Euch!“ Er versuchte, sich eine gewisse Panik in seiner Stimme nicht anmerken zu lassen und Thalissa hatte den Eindruck, dass er recht geübt darin war. Nun, nicht geübt genug für sie.
„Es … es ist halt Brauch auf der Rodaschblick. Frau... Frau Baronin ist keine Frau, die das Waffenhandwerk schätzt. Sie macht sich nichts daraus, also macht sie sich auch nichts aus Waffen, Ihr versteht?“
Er wartete die Anwort gar nicht erst ab und verneigte sich schnell kurz vor Melisande und Tar'anam, dankbar, auf ein andere Thema lenken zu können.
„Signora della Yaborim, Wohlgeboren sin Corsacca, seid ebenfalls herzlich willkommengeheißen auf der Rodaschblick. Eines der Gästezimmer ist schon belegt, und wir haben nicht viele auf der Burg, aber wir werden es einzurichten wissen.“
In diesem Moment rutsche Tar'anam der Waffengurt vom Leib und krachte scheppernd auf den Boden.
Welzelin kniff das ganze Gesicht zusammen.
„Oh! Na, das.. das kann ja mal passieren“, sagte er dann bemüht beiläufig. Ebenfalls offenkundig recht geübt, wie Thalissa bemerkte, während der Krieger in einer Bewegung, die seinem Alter Hohn zu sprechen schien, aus dem Stand zur Seite hechtete, dabei das Tuzakmesser in einer fließenden Bewegung aus dem am Boden liegenden Waffengehänge zog und sich über die Schulter abrollte, um dann in hockender Stellung abwehrbereit und sich nach allen Seiten alarmiert umsehend zur Ruhe zu kommen.
Melisande wich erschrocken zurück, während die Baronin die Augen misstrauisch zusammenkniff und den den Haushofmeister streng in den Blick nahm. „Nein,“ erhob sie ihre Stimme ganz leicht, nun gar nicht mehr schmeichelnd, sondern die zarte Schärfe eines gut geschliffenen Skalpells sanft anklingen lassend, „das kann nicht ‚mal passieren‘, schon gar nicht dem besten Waffenmeister, den ich kenne. Aber möglicherweise ...“ Sichtlich bemüht, sich zu beherrschen, brach Thalissa ab und schüttelte den Kopf. „Ich habe nur eine einfache Frage gestellt, die Ihr nur sehr unzureichend beantwortet habt. Aber gut, wie ich schon sagte, ich beuge mich den hiesigen Sitten – und hoffe, dafür während unseres Aufenthalts von weiteren Dingen, die ‚mal passieren‘, verschont zu bleiben … ?“ Der schwitzende und schwer atmende Welzelin hatte irgendwie den untrüglichen Eindruck, dass hier eine Schlange ein Kaninchen belauerte – und er war nicht die Schlange.
Der Haushofmeister schien nun ehrlich betroffen und auch ein wenig verärgert. Er richtete sich auf, seine kleinen Augen weiteten sich und er sah die Baronin mit einem gewissen Stolz und Trotz an, während er seine Antwort mit bebender Stimme und sich teils überschlagender Stimme vorbrachte.
„Unzureichend geantwortet, sagt Ihr? Was soll denn das heißen, Euer Hochgeboren, mit Verlaub? Glaubt Ihr denn etwa, ICH hätte etwas damit...“
Er kam nicht viel weiter. Vor irgendwo hinter ihm – man konnte es nicht sehen – unterbrach ihn eine andere Stimme.
„Jetz werd' hier mal nicht unwirsch und lass unser Dickerchen in Ruhe! Und du da drüben, du Windbeutel mit dem überlangen Brotmesser! Glaub' mal ja nicht, dass wir dich damit hier herumfuchteln lassen!“ Die Stimme klang seltsam blechern und undefinierbar. Wie die eines alten Weibes, oder eines alten Mannes mit einer hohen Stimme. Listig und launisch, amüsiert und provozierend zugleich. Doch man sah niemanden. Und es war auch nicht klar, von wo überhaupt gesprochen wurde. Eine zweite Stimme mischte sich ein. Dunkel, polternd, grummelnd. Ein lautes „Genau!“ war allerdings alles, was von ihr zu vernehmen war.
Welzelin konnte sich nicht mehr halten. Sein Gesicht zerfiel wie ein in der Sonne schmelzender Käse und nahm einen gar furchtbar bedauernswerten Zustand an. So, als habe man ihm gerade berichtet, die Trollpforte sei gefallen und das Reich ginge unter. Er kniff Mund und Augen zusammen und sackte wieder in sich. „Nein....“, war alles, was der bedauernswerte Haushofmeister schicksalsergeben und sacht den Kopf schüttelnd noch hervorzubringen vermochte.
Thalissa sah sich verwundert um und konnte jedoch noch immer nirgends sehen, wer da gesprochen hatte. Ihr Leibwächter, noch immer in geduckter, kampfbereiter Stellung, hielt das Tuzakmesser wie einen Schild vor sich und positionierte sich in unmittelbarer Nähe zu seiner Herrin, während Melisande sich ebenfalls überrascht umsah.
Thalissa fasste sich recht schnell ob der Unverschämtheiten, die sie gehört hatte.
„Wenn Ihr mich schon belehren wollt und überdies meine Begleitung zu beleidigen gedenkt, solltet Ihr zumindest den Anstand besitzen, uns dies ins Gesicht zu sagen“, sagte sie.
„Dein Anstandsgefühl kümmert uns aber nicht“, antwortete die erste Stimme lauernd, amüsiert, gehässig. „Dich und den Schlächter dort mit diesem Mordwerkzeug kümmert ja auch nicht, dass man dir dreimal gesagt hat, die Waffen abzulegen. Musstest ja immer weiter Widerworte geben.“ Ein kurzes, meckerndes Lachen erfüllte den Hof.
So bizarr die Situation auch anmutete, war sich Thalissa doch irgendwie sicher, dass sie und ihre Begleiter doch wohl kaum in der Burg der Elfenbaronin zu Schaden kommen würden. Also gab sie Tar‘anam einen Wink, was diesen allerdings erst nach einem für seine Verhältnisse langen Zögern dazu veranlasste, die Waffe zu senken und eine entspanntere Haltung einzunehmen, während Melisande sich immer noch etwas gehetzt erscheinend mühte, die Schatten im Hof mit Blicken zu durchdringen, um vielleicht die seltsamen Sprecher ausfindig zu machen, doch ohne Erfolg.
Andererseits – Thalissa fasste den Haushofmeister erneut fest ins Auge, mangels eines anderen Ansprechpartners. „Erstens haben wir keine Widerworte gegeben, sondern lediglich höflich nach dem Grund dieses in den hiesigen Gefilden doch eher unüblichen Brauches gefragt – und keine Antwort bekommen. Und zweitens: kann es sein, dass Ihr nicht Herr im eigenen Hause seid?“ Bei diesen Worten löste die Baronin betont langsam die Scheide mit dem Rapier von ihrem Gürtel und hielt Welzelin die Waffe mit dem Griff voraus hin. Etwas versöhnlicher fuhr sie fort: „Es tut mir leid, wenn wir Euch in Verlegenheit gebracht haben sollten, doch mich deucht, eine einfache Antwort auf eine einfache Frage hätte dies verhindert. Ansonsten, und das betone ich hiermit nochmals ausdrücklich, bin ich natürlich bereit, mich den hiesigen Sitten zu beugen – auch wenn sie auf derart unverschämte Weise durchgesetzt werden.“ Beim letzten Satz entließ Thalissa den schwitzenden Haushofmeister aus ihrem Blick, indem sie die Augen schloss und auch so verharrte, nachdem ihre letzten Worte verklungen waren.
Hinter dem Rücken des Haushofmeisters, der kein mehr Wort herausbrachte, traten plötzlich zwei Gestalten hervor. Thalissa war sich sicher, dass sie vorher nicht dort gewesen waren. Aber allein ihr Anblick genügt, um ihr klar zu machen, womit sie es hier zu tun hatte.
Es ware zwei kleine „Männer“, beide keinen Schritt hoch. Beide hatten eine ledrige, graue Haut. Der eine war dürr und ausgemergelt. Er hatte eine sehr lange, dünne, spitze und nach unten gebogene Nase. Seine spitzen Ohren standen seltsam seitlich ab, und ein langer Spitzbart unterstrich noch den Eindruck des länglichen Gesichts. Er trug ein geknöpftes Wams, und seine staksigen Beine stecken in einfachen Hosen und umgeschlagenen Stiefeln, alles in dunklem Braun und Grün. Auf dem seltsamen Kopf stecke ein komischer, hochgezogener Hut – wie ein umgestülpter Pfifferling. Eine lange, weiße Gänsefeder lugte dort hervor. Alles in allem wirkte er wie eine Parodie auf einen Jäger oder Waldmann. Wachsame Augen blickten Thalissa an, und ein listiges Grinsen huschte über das Gesicht.
Der zweite war deutlich stämmiger. Sein Kopf war fast doppelt so breit wie der seines Kompagnons, und aus seinem Doppelkinn ragten links und rechts einige Barthaare hervor, die eher an die Borsten eines Stachelschweins erinnerten. Auch er hatte spitze Ohren, doch trug er ein gelb-schwarzes, gestreiftes Wams in der Art, wie es Höflinge tragen, dazu ein „passendes“ Barrett. Nur war das Gelb in Verbindung mit den giftgrünen Schuhen derart grell, dass es in den Augen fast schmerzte. Die Kleidung wirkte wie die eines einfachen Höflings, der nicht weiß, was man bei Hofe trägt.
Der Dürre mit dem komischen Hut fixierte Thalissa regelrecht und sagte: „Oh, man hat dir sehr wohl Antworten gegeben. Die haben dir aber nicht gepasst! Erst hat man dir gesagt, dass das hier Sitte ist. Hat dir nicht gereicht. Dem schwer gerüsteten Zwergen heute morgen hat das so genügt, und bei dem war ich davon ausgegangen, dass gerade DER uns Ärger macht. Naja, so kann man sich irren …
Dann hat man dir gesagt, dass die Baronin Waffen in ihren Hallen nicht schätzt. Hat dir auch nicht gereicht als Antwort.“ Er wurde etwas lauter und ungehaltener. „Also erzähl' mir nix von wegen „keine Antwort bekommen“. Manchmal bekommt man eben Antworten, die einem nicht gefallen. Als Gast ist man Gast und hat keine Waffen in die Halle des Gastgebers zu schleppen oder ihm mit naseweisen Widerworten auf die Nerven zu gehen!“ Er hob belehrend seinen Zeigefinger, während der Kobold in dem ulkigen Pagenkostüm die Arme vor der Brust verschränkte und ein polterndes „Genau!“ hinterhergrunzte. Vom armen Haushofmeister war nur noch ein entsetztes Keuchen zu vernehmen. „Eu... Euer Hochgeboren, bi... bitte.... verzeiht..., wir können da nur wenig....“
„Jetzt sieh nur, was du mit dem armen Welzelin gemacht hast!“, warf der Dürre entrüstet und ungeniert ein und wies auf das voluminöse Häufchen Elend neben ihm, während sein stämmiger Kompagnon eine Art Grummeln vernehmen ließ. Der Dürre salzte nach: „Der hätte dir eh nicht mehr sagen können, dafür haben wir gesorgt“ – „Genau! He, he, he!“ – „Du bringst hier alles durcheinander! Wenn du so weiter machst, das sage ich dir, dann ...“
Thalissa schloss die Augen erneut und zählte langsam bis Drei. Sie war bis zum heutigen Tage noch nie leibhaftigen Kobolden begegnet, doch waren ihr schon ein paar mehr oder weniger bizarre Geschichten über solcherart Wesen zu Ohren gekommen, die nicht dazu geeignet waren, ihren Sympathie zu wecken. Allerdings besaßen Kobolde wohl auch erhebliche magische Macht, und einige Exemplare neigten dazu, die Späße auf Kosten ihrer Opfer bis zu Schaden an Leib oder gar Leben zu übertreiben, so dass die Situation möglicherweise nicht ganz ungefährlich war. Dennoch dachte die Baronin gar nicht daran, sich einfach so abkanzeln und sich die Worte im Munde verdrehen zu lassen. Sie öffnete die Augen und holte eben tief Luft, als ihr jemand zuvorkam.
„DAS DARF DOCH WOHL NICHT WAHR SEIN!“
Von der Brüstung über dem Innentor schaute ein stattlicher Kämpe in den 30ern in den Innenhof. Sein Bariton hallte im Burghof wider. „Ratz, Rübe! Hört sofort auf damit und lasst unsere Gäste in Frieden!
Die beiden Kobolde drehten sich abrupt um und zeterten dann nach oben.
„Was heißt hier in Frieden lassen? DIE stänkern doch hier herum! Und überhaupt: Du hast uns gar nichts zu sagen, du aufgeblasener Muskelprotz!“ – „Genau! Wir waren schon lange vor dir auf der Burg!“, warf der zweite ein – „Und wir haben dir schon oft genug gesagt, dass du uns nicht so nennen sollst! Wir mögen diese Namen nicht!“
„Eure richtigen Namen kenne ich ja nicht, also gebe ich euch die, die ihr verdient. Wahrscheinlich kennt ihr sie ja nicht einmal selber, ihr torfnasigen Grumpfmumpler“ Der Kämpe grinste übers ganze Gesicht.
„Du grantgnarziger Gnarfknorzel!“, warf der Dürre nach oben.
„Ihr schmeißfliegigen Knöteriche, schert euch nach Brabak!“
„Du blähboldige brackbucklige Bierbremse, geh, und schau, ob die Brombeeren schon blüh'n!“
Bei der letzten Beleidigung musste der junge Mann laut lachen und winkte ab. „Brackbucklige ... irgendwas ...Bierbremse... der Punkt geht an euch! Aber jetzt seid so gut und macht Frieden mit unseren Gästen. Ihr wisst, dass Liana es nicht mag, wenn ihr sie ärgert.“
Fast schien die Situation entspannt, doch mit dem letzten Halbsatz hatte der Kämpe offenbar das Feuer wieder entfacht.
„ÄRGERN? WIR waren artig! Wir passen hier bloß auf, dass die keine Scherereien machen. DIE geben doch ihre Waffen nicht ab und keine Ruhe, und bohren ständig nach...“
Welzelin hatte derweil unter verzweifeltem Gemurmel „die Baronin, ich muss zur Baronin“ die Flucht ergriffen und hechtete durch das Innentor.
Während dieses mehr als befremdlichen Austausches ausgesuchter (und ihr größtenteils unbekannter) Beleidigungen hatte Thalissa den Arm mit dem dargebotenen Rapier, welchen weder der Haushofmeister noch diese Kobolde bislang zur Kenntnis genommen hatten, langsam sinken lassen. Ein kurzer Seitenblick zeigte ihr, dass Melisande offenbar Mühe hatte, sich das Grinsen zu verbeißen, während Tar‘anam immer noch wie unbeteiligt mit locker herunterhängendem Tuzakmesser dastand, als ginge ihn das alles hier gar nichts an. Nun, immerhin waren sie vermutlich nicht gänzlich der Willkür dieser frechen Gnome ausgeliefert, was Thalissa darin bestärkte, nicht sogleich klein beizugeben. Also wandte sie sich nun mit einem zuckersüßen Lächeln den beiden gestaltgewordenen Ärgernissen zu: „Bin ich euer Gast – oder vielmehr der Gast von Baronin Liana Alyandéra Morgenrot von Rodaschquell?“
„Du bist nicht unser Gast. Wir haben dich nicht eingeladen! Aber WIR haben hier das Sagen, merk' dir das!“ – „ Genau!“
„Und fuchtle nicht mit diesem Ding da vor meiner Nase herum!“, sagte der Dürre, während er die Baronin missmutig und lauernd ansah. „Wir mögen diese Mordwerkzeuge nicht! Wir fassen sie nicht an. Leg es einfach auf den Boden oder noch besser: Wirf' es einfach weg! Und der Große dort, der soll seines auch wegwerfen!“
„Ich denke nicht, dass das nötig sein wird. Sie haben doch schon ihren guten Willen gezeigt und sind bereit, sie abzulegen. Wir werden sie wie immer in der Schmiede aufbewahren. Und niemand wird dort die Möglichkeit haben, sie anzurühren, weil ihr sie sorgsam bewacht, richtig?“
Der hochgewachsene Krieger von der Brüstung war zwischenzeitlich hinuntergeeilt und durch das Tor gekommen. Er wartete die Antwort der Kobolde gar nicht erst ab sondern ging strammen Schrittes geradewegs auf die Baronin zu. Mit einer weit ausholenden Armbewegung verneigte er sich sehr galant vor ihr.
„Ich bin Darian von Sturmfels, Ritter zu Rodaschquell. Ich bedauere im Namen meiner Herrin die Unannehmlichkeiten, die Euch widerfahren sind und hoffe, dass Ihr mir glaubt, wenn ich Euch versichere, dass Ihr, meine Dame, und Eure Begleitung hier höchst willkommen seid. Wollt Ihr mir sagen, wen unser unglückseliger Haushofmeister, der sich in die Flucht hat schlagen lassen, Baronin Morgenrot gerade ankündigt?“
Er beugte sich vor, sah Thalissa von unten in die Augen und schenkte ihr ein charmantes, fast ein wenig keckes Lächeln, während er vorsichtig seine Hand in Ihre Richtung hielt, um sie mit einem formellen Handkuss zu begrüßen.
Die Baronin war drauf und dran, den Kobolden eine geharnischte Antwort entgegen zu schleudern, als der Krieger sich so unvermittelt zwischen sie und die beiden impertinenten Gnome stellte. Fast unwillig entgegnete Thalissas den Blick des entwaffnend freundlichen jungen Mannes. Mühsam schüttelte sie den Ärger ab und zwang sich zu einem verbindlichen Lächeln, während sie ihre Hand zum Handkuss reichte.
„Ich bin Thalissa di Triavus, Baronin von Rickenhausen, in Begleitung meines Leibwächters Tar‘anam sin Corsacca, Edler von Hottenbusch, sowie meiner Zofe Signora Melisande della Yaborim. Baronin Liana von Rodaschquell hat mich eingeladen – dachte ich zumindest? Laut der eben getätigten Aussage der beiden Wurzelzwerge da hinten bestimmt ja keineswegs die Baronin die Geschicke dieser Burg?“ Der Tonfall Thalissas wechselte während dieser wenigen Worte von angestrengt-ärgerlich über anerkennend-freundlich zu schnippisch-lauernd, was dem menschenkundigen Zuhörer möglicherweise einen kleinen Einblick in ihre erschütterte Stimmungslage geben konnte.
Die beiden „Wurzelzwerge“ richteten sich auf und schnaubten.
„Schön, dass du erkannt hast, wer hier das Sagen hat! Dann solltest du uns auch besser mit Respekt begegnen. Kluge Leute machen das, und nur die dummen fordern uns heraus.“ – „Genau!“ „Und: Wie hast du uns gerade genannt, du sumpfsaure Senfsuppensuse?“ Der hagere Kobold grinste geradezu verschwörerisch, lauernd, abwartend.
Irgendwie fühlte sich Thalissa so wenig Frau der Lage wie sonst kaum einmal in ihrem erwachsenen Leben, aber irgendetwas, ein unheimlicher innerer Drang, trieb sie in den nächsten Kreis der Verdammnis, bevor sie ihr Mundwerk unter Kontrolle bringen konnte. „Eure Beobachtungsgabe und euer Wissensstand lässt deutlich zu wünschen übrig, wie mir scheint. Während ihr erstens klein wie Zwerge und zweitens knorrig wie Wurzeln seid, heiße ich nicht Suse, habe keine saure Senfsuppe bei mir und komme nicht aus dem Sumpf. Und wo kommt ihr überhaupt her? Oder seid ihr schon immer hier auf der Burg gewesen? Ist Liana dann eure Zofe wie die gute Melisande die meine, da ihr doch ‚das Sagen‘ habt – was ich nicht umhin kann, überaus deutlich und eindrücklich zur Kenntnis zu nehmen.“
Aus den Augenwinkeln sah Thalissa, wie sich Melisande wie unter Schmerzen krümmte und verzweifelt mit der Hand versuchte, ungebührliche Geräusche am Verlassen ihres Mundes zu hindern, während Tar‘anam sich mit weiterhin ausdrucksloser Miene kaum merklich anspannte, dass Tuzakmesser noch immer locker und zu Boden gerichtet in der Hand haltend. Er war besorgt, soweit kannte sie ihn inzwischen.
Die Kobolde schienen nicht beeindruckt. Demonstativ gähnte der hagere der beiden und hielt sich gekünstelt die Hand vor den Mund. „Jetzt wird sie auch noch geradezu wissenschaftlich, eh? Dabei weißt DU ja NOCH weniger als wir und hast NOCH weniger Beobachtungsgabe! Kennst ja nicht einmal den Unterschied zwischen Bolden und Zwergen!“ Er äffte nun Thalissas Tonfall nach und stellte sich in einer affektierten Pose vor ihr hin, die Arme angewinkelt und die Hüfte etwas zurückgelegt: „Während du erstens so sauer daher kommst wie sumpfige Senfsuppe, sind wir zweitens keine Zwerge, wie jeder sehen kann, und ...“
„ … und drittens ist die Dame Morgenrot ganz gewiss nicht ihre Zofe“, warf Darian laut und durchaus mit einer gewissen Bestimmtheit ein. Der Ritter straffte sich. Sein Lächeln war verschwunden. Die beiden Kobolde wandten sich abrupt ihm zu und der redselige mit dem Waidmannshut bedachte ihn mit einem miesmutigen Blick, da er ihn so jäh unterbrochen hatte. „Genau!“, brummelte der andere Kobold. „Wir sind ihre Wächter!“
Thalissa hatte mehrfach zu einer Erwiderung angesetzt, doch es sollte nicht sein. Ein deutlich vernehmbares Räuspern lenkte die Aufmerksamkeit der versammelten Streithähne auf einen breitschultrigen Zwerg mit auf dem Rücken verschränkten Armen, neben dem eine Elfe hinzutrat. Und es war eben nicht irgendeine Vertreterin des Auelfen- Volkes. Nein, es war die Baronin, auf deren Anwesenheit der Angroscho so dezent hingewiesen hatte.
Durch den Torbogen schritten der Zwerg und seine elfische Gastgeberin, gefolgt von Eduina und dem verdatterten Haushofmeister Welzelin. Mit der Ankunft der kleinen Gruppe waren die Karten neu gemischt worden, und die Blicke der Anwesenden wanderten unweigerlich in Richtung der Neuankömmlinge.
„Willkommen auf der Rodaschblick, Euer Hochgeboren“, sagte die Elfe in ihrer leisen, melodiösen Stimme und bedachte Thalissa mit einem freundlichen Nicken. Ein leichter Wind spielte mit Lianas Haar und ihrem leuchtend roten Kleid. „Ich freue mich, dass Ihr den Weg auf Euch genommen habt, mich zu besuchen. Bevor wir hineingehen und ich meine volle Aufmerksamkeit widmen kann, erlaubt mir bitte, meinen Wächtern zu danken, dass sie das Tor so brav verteidigt haben.“ Sie strahlte übers ganze Gesicht.
„Habt Dank, Euer Hochgeboren“, antwortete die Baronin von Rickenhausen und wich mit einer angemessenen Verbeugung und einer einladenden Geste zur Seite aus, damit Liana sich ihren „Wächtern“ widmen konnte, mehr als nur leicht befremdet über die offensichtlich von der Elfe zur Schau gestellte Freude. Und ein Zwerg, ein echter diesmal, weilte ebenfalls auf der Burg. Das wurde ja immer seltsamer, doch verschob sie alle neugierigen Fragen auf später, wenn sie endlich hoffentlich endgültig den Fängen der Kobolde entkommen war.
Der hagere Kobold reckte seine mickrige Brust hervor – was reichlich seltsam aussah mit dem Hohlkreuz, das sich nun zeigte – und strich selbstzufrieden über sein Wams. „Das war doch gar nichts! Die hätten ruhig mal versuchen sollen, Ärger zu machen. Vor allem der da drüben mit dem langen Brotmesser! Hätte ja gedacht, dass der Herr Zwerg hier uns Scherereien macht, aber der hat sich von Anfang an benommen! Nichts für Ungut, Herr Zwerg!“ Er nickte zufrieden in Richtung des Oberst. Der dickliche der beiden Hutzelmänner zeigte derweil auf Melisande. „Die da mag ich.“
Indessen hatte Tar‘anam sein „Brotmesser“ wieder in der Rückenscheide verschwinden lassen und war gerade dabei, diese abzuschnallen, nachdem die unmittelbare Gefahr durch den Auftritt der Hausherrin gebannt war. Melisande hingegen bemühte sich noch immer und nur mit mäßigem Erfolg um eine ernste Miene und schaffte es gerade noch, einen halbwegs adäquaten Knicks vor der Elfe zu vollführen.
„Ich bin sicher, dass auch unsere neuen Gäste keine „Scherereien“ im Sinne hatten. Sie kennen nur eure kleinen … Regeln nicht, nach denen ihr die Burg so tapfer verteidigt. Sie sind mir willkommen, und wir freuen uns über ihren Besuch und möchten, dass sie sich wohlfühlen, nicht wahr?“ „Hmpf“, grunzte der Dürre und verneigte sich plötzlich ziemlich hastig vor Liana. In der Art, wie er es tat, wirkte es weniger wie eine Höflichkeit als vielmehr wie eine seltsame Art von Trotz.
„Aber dafür musst du uns nachher ein Lied singen!“
„Zwei“, sagte der Dicke.
Die Rickenhausenerin schüttelte innerlich den Kopf … Scherereien … Regeln … ts. Und überhaupt, die Baronin musste den Wurzelzwergen, zumindest in Gedanken blieb Thalissa mit heimlicher Schadenfreude bei diesem Begriff, zur Belohnung Lieder singen? Nun ja, billiger als der Sold für eine angemessene Zahl von Wachleuten war das allemal. Wie auch immer, Thalissa beschloss, nun erst einmal still abzuwarten, ob die Elfe und die Kobolde diese „Verhandlung“ noch fortführen wollten, wobei sie die Gesichter des Zwergen und des Ritters studierte, um ihre Reaktion auf das Geschehen einschätzen zu können.
Der bullige Angroscho, dem eine Kettenrüstung sicher besser zu Gesicht gestanden hätte, als der feine Zwirn, den er zur Schau trug, zeigte einen Anflug von Überraschung was die Kobolde betraf. Des Weiteren meinte Thalissa in seiner Mimik zu erkennen, dass der ‚Herr Zwerg‘ im Lichte des Vernommenen einige Geschehnisse für sich ins richtige Licht rückte.
Der Ritter schien ein wenig ungeduldig und zudem missmutig gestimmt. Er blickte abwartend und kühl in die Runde. Thalissa vermutete, dass ihre kleine, in der Hitze des Wortgefechts mit diesen vermaledeiten Kobolden gestellte Frage, ob denn die Baronin die Zofe der Kobolde sei, die Ursache für die Verstimmung des Kämpen sein musste. War er zuvor doch sehr freundlich und geradezu charmant gewesen. Interessant und gut zu wissen. In einer unbewusst wirkenden, doch lange und gut einstudierten Bewegung nestelte Thalissa am Kragen ihres Rüschenhemdes, so dass der Ausschnitt noch ein wenig besser zur Geltung kam und veränderte ihre Pose ein winziges Bisschen auf eine Weise, von der sie wusste, dass die meisten Männer sich angesprochen fühlten. Es war immer von Vorteil, zu wissen, wie man seine Mitmenschen einzuschätzen hatte.
„Bevor wir eintreten, möchte ich Euch noch einander bekannt machen.“ Die Elfe wies zunächt auf den Zwergen: „Dies ist der ehrwürdige Dwarosch, Sohn des Dwalin, aus der Sippe des Mogmarog von Isnatosch, Oberst des Bergköniglich Isenhager Garderegimentes Ingerimms Hammer.“
Offenbar gedachte die Elfenbaronin nicht, sich weiter mit den Kobolden einzulassen. Nun, umso besser. Thalissa neigte den Kopf in Richtung des Zwergen. „Es ist mir eine Freude, Eure Bekanntschaft zu machen. Wie darf ich Euch titulieren?“
Der Oberst hob eine Braue und schmunzelte ein wenig amüsiert.
„Dwarosch oder schlicht Oberst. Ich bin ein gemeiner“, und habe für solch Gehabe wie Titulierungen wenig übrig, konnten die Anwesenden den Satz im Geiste vervollständigen. Die Betonung der Antwort des Angroschos ließ da wenig Zweifel. Er war ein Soldat.
„Ganz wie Ihr wünscht, Herr Oberst“, antwortete Thalissa mit einem feinen, aber nicht unfreundlichen Lächeln.
„Den streitbaren Herrn von Sturmfels habt Ihr ja bereits kennengelernt“, fuhr die Elfe fort, „ und ebenso Herrn Welzelin. Und die Dame an meiner Seite ist die ehrenwerte Eduina Malganahr.“ Thalissa bedachte jeden der Angesprochenen mit einem angemessenen Kopfnicken, darauf bedacht, die eben überstandene unerquickliche Szene nicht in die Art der Ehrenbezeugung einfließen zu lassen.Die Zofe der Baronin von Rodaschquell vollführte einen formvollendeten Knicks und warf den beiden Kobolden dann kurz einen seltsamen Seitenblick zu.
Liana machte eine einladende Geste, ihr durchs Burgtor zu folgen. Die beiden Kobolde schwiegen und beobachteten die vorbeiziehenden Neuankömmlinge weiter mit Argusaugen. Offenbar erwarteten sie keine Antwort auf ihre Forderung, die ohnehin mehr wie eine Feststellung geklungen hatte.
Melisande drehte sich noch einmal zu ihnen um und zwinkerte ihnen zu, dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Herrin, gerade rechtzeitig, um ihren Wink zu bemerken. Gerade noch so hatte sie sehen können, wie der dickliche Kobold in der Pagenuniform seine Hand hob.
„Melisande, sei bitte so freundlich und bringe unsere Waffen in die Schmiede, bevor sich noch weitere diplomatische Verwicklungen ergeben.“ Die Zofe knickste und beeilte sich, der Anweisung zu folgen. Tar‘anam überließ ihr das Tuzakmesser merklich widerwillig, wenn er auch versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
Im ersten Moment war Thalissa noch versucht, die Grenzen auszutesten und die Waffen einfach mitzunehmen, hatte die Baronin von Rodaschquell diese doch nicht weiter erwähnt. Doch strahlte diese eine so tiefgehende, fast greifbare Friedfertigkeit und stille Freundlichkeit aus, dass jeder trotzige Gedanke, die eigene Ehre gegen die Kobolde und vor Augen der Burgbewohner verteidigen zu müssen, schmolz wie Schnee vor Praios‘ Antlitz.
Haushofmeister Welzelin, der von allen Anwesenden zweifellos am meisten gelitten haben musste, wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. Sein verkniffenes Gesicht hatte er noch nicht ablegen können, doch schien sich nun ein Hauch von Erleichterung dazugesellt zu haben. Während indes die blondhaarige Dame, die etwas versetzt hinter der Baronin her schritt, ein feines, amüsiertes und wissendes Lächeln zeigte. Liana nickte ihr einmal beiläufig und kaum merklich zu, woraufhin die Zofe in einer einzigen fließenden Bewegung anmutig das Nicken erwiderte, knickste und von der Gruppe weg in Richtung eines der Nebengebäude eilte.
Die Baronin führte den übrigen Trupp in das Herrenhaus und in die große Halle. Hier hielt sie kurz inne. Eine Dienerin und ein Diener huschten quer durch die Halle an ihr vorbei zur anderen Seite und verschwanden durch eine Tür. „Oberst Dwarosch und ich hatten gerade im Garten Platz genommen. Ich lade Euch gerne ein, Euch hinzuzugesellen. Unsere Küche wird sicherlich auch noch etwas bereitstellen können. Doch sicher möchtet Ihr zunächst ablegen und Euch erfrischen?“
„Dafür wären wir überaus dankbar, Euer Hochgeboren“, erwiderte Thalissa. „Die Reise durch Eure Ländereien war zwar durchaus reizvoll, vor allem bei diesem herrlichen Wetter, aber wie alle Reisen mit Staub und einer gewissen Anstrengung verbunden, so dass wir Euer Angebot gerne annehmen.“ Das Reisen auf den Rodaschqueller Trampelpfaden hatte ihr sogar mehr als nur „gewisse Anstrengung“ abverlangt, aber das würde sie niemandem auf die Nase binden.
„Dann nehmt Euch die Zeit, die Ihr benötigt. Die Rodaschblick sei ganz die Eure, Hochgeboren. Der Abend ist lau und noch jung. Der Oberst und ich werden Euch dann im Pavillon im Garten erwarten. Es sei denn, Ihr möchtet Euch zurückziehen, Herr Oberst“, fügte sie hinzu und wandte sich dem Zwergen zu.
Dieser schüttelte leicht den Kopf und zeigte ein warmes Lächeln. „Mit Nichten Hochgeboren. Ich würde die angenehme Konversation mit euch gerne fortführen, bis eure Gäste uns mit ihrer Anwesenheit erfreuen.“
„Ich hatte gehofft, dass Ihr das sagen würdet“, erwiderte Liana mit ehrlicher Freude in ihrer Stimme.
„Nun denn Hochgeboren, erweist mir die Ehre“, sprach Dwarosch und bot der Baronin galant den Arm, um sich einzuhaken.

RekkiThorkarson (Diskussion)*RekkiThorkarson (Diskussion)

Hinter einer Säule trat Eduina wieder hervor, die von derselben Seite wie die beiden Diener hinzugestoßen sein musste. Sie knickste erneut. „Wenn Euer Hochgeboren mir folgen möchten?“ Mit einem knappen Nicken in Richtung der Gastgeberin und des Zwergen bedeutete Thalissa Tar‘anam und Melisande, mit ihr zu kommen, als sie sich Eduinas Führung anvertraute. Die Zofe schritt vorweg auf eine der Türen zu und führte die kleine Gruppe durch die große, doppelflüglige Tür und in das Treppenhaus. Derweil wurde sie zugleich etwas redseliger. „Eines der Gästezimmer ist schon belegt. Aber wir hatten ja mit Eurer Ankunft gerechnet, Euer Hochgeboren. Ich hoffe, Eure Reise war nicht allzu unbequem. Ich habe selbstverständlich unser bestes Gemach für Euch reserviert! Eure Zofe und Eurer stattlicher Begleiter erhalten die beiden übrigen Zimmer in unserem Gästetrakt; sie liegen alle auf demselben Gang.“
„Nun, die Straßen von Vinsalt sind sicherlich bequemer,“ bemerkte die Rickenhausenerin in einem Tonfall, dem man nicht ohne weiteres anhören konnte, ob sie das nun als Scherz gemeint hatte oder nicht. Nach einer kurzen Pause setzte sie ernst hinzu: „Aber zuweilen auch gefährlicher.“
„Gefährlich? Die Straßen von Vinsalt? Ihr beliebt zu scherzen, Euer Hochgeboren, mit Verlaub! Das Liebliche Feld ist doch dermaßen kultiviert und dicht besiedelt, dass man dort so sicher reist wie nirgends sonst, möchte man meinen. Ich war selbst einige Male in diesem Land und muss sagen, dass ich mich dort ausgesprochen wohl gefühlt habe. Vor allem in Grangor. Wobei man diese Stadt am besten nur dann besucht, wenn sie dort ihren Karneval feiern. Ansonsten sind die Grangorer, auch nach allem, was ich hörte, doch recht unleidig.“
„Nein, ich scherze nicht, was das angeht“, erwiderte Thalissa immer noch ernst. „Vinsalt ist eine große Stadt, und wo viele Leute auf einem Haufen leben, ist das Verbrechen nicht weit. Selbst in Elenvina, das deutlich kleiner als Vinsalt ist, würdet Ihr doch sicher manche Viertel eher ungern betreten, habe ich nicht recht?“
Die Zofe schien einen kurzen Augenblick irritiert, fand ihre Zunge jedoch schnell wieder. „Nun, es liegt mir natürlich fern, Euch zu widersprechen, Euer Hochgeboren. Da Frau von Rodaschquell sich für gewöhnlich nicht in solchen Gebieten aufhält, vermag ich in Ermangelung entsprechender Erfahrungen nicht zu sagen, wie sicher oder unsicher gewisse Teile Vinsalts und Elenvinas dieser Tage sein mögen. Die Straßen, die wir in diesen Städten benutzt haben, machten auf mich indes stets einen belebten und von der Wache auch durchaus beschützen Eindruck. Ich kenne allerdings einige Städte im Bornland, und die Städte des Horasreiches erscheinen mir nach allem, was ich dort bisher gesehen habe, da im Vergleich erheblich sicherer. So sicher eben, wie es man es von der Kapitale des Horasreich erwarten darf.“
„Nun, in einem habt Ihr recht“, gab die Baronin lächelnd zu. „Wenn Ihr vermeidet, ‚solche Gebiete‘ aufzusuchen, dann könnt Ihr Euch in Vinsalt tatsächlich so sicher fühlen wie kaum irgendwo sonst in einer Stadt, die ich kenne. Im Bornland war ich noch nicht, da fehlt mir natürlich der Vergleich, wenn man von Hörensagen absieht.“
Sie stiegen die Stufen hinauf, und Eduina schritt durch die Galerie im ersten Geschoss durch eine Tür hindurch in einen von mehreren Kerzenleuchtern beleuchteten Gang. Die Kandelaber waren etwa anderthalb Schritt hoch und trugen jeweils drei Kerzen. Eduina öffnete eine der seitlichen Türen, knickste erneut und wies mit ihrem ausgestreckten Arm in den Raum.
Ein großes Himmelbett war das erste, das den Eintretenden ins Auge fiel. Die vier kunstvoll gedrechselten, in sich gedrehten Beine trugen ein blau-silbernes Dach. An den Wänden hingen einige Bilder sowie ein Gobelìn, der ein Einhorn an einer Tränke zeigte. Ein großer Schrank und eine Truhe – beides aus dunklem, leuchtendem Kirschholz – standen an der Wand und am Kopfende des Bettes, außerdem gab es einen Kamin, einen schweren Ledersessel davor sowie eine kleine Sitzgruppe, die sich um einen Tisch scharte. In einer Schale auf dem Tisch lag etwas Beerenobst. Das Licht der langsam untergehenden Sonne brach sich in einer doppelflügligen Tür aus hellen Butzenglasscheiben. Darüber hinaus erhellte ein Fenster den Raum. Zwei Kandelaber in der Art, wie sie im Gang standen, hielten in zwei Ecken Wacht, allerdings waren sie nicht beleuchtet. Neben dem Bett befand sich eine kleine Kommode mit einer Schale, einem Krug mit Wasser und sauberen Tüchern.
Eduina schritt beherzt auf die große Tür zu und öffnete sie. Dahinter kam eine kleine Balustrade zum Vorschein, die – über die Mauer hinweg – einen wundervollen Blick auf den Wasserfall bot. Das Rauschen des fernen Wassers erfüllte den Raum.
„Frau Baronin hat diesen Raum vor vielen Jahren etwas umgestalten lassen. Anstelle der doppelten Glastür gab es damals nur ein kleines Fenster und eine schwere Eichentür. Sie hielt das für unpassend und wenig einladend und sagte damals, das würde dem Raum nicht gerecht.“
Sehr angetan und durchaus beeindruckt sah sich Thalissa in dem Raum um. In Vinsalt hatte sie im Zuge ihrer Arbeit schon einigen Prunk erlebt, aber das konnte man nicht vergleichen. Hier wollte niemand mit seinem vielen Geld angeben, sondern hatte einfach im Rahmen seiner Möglichkeiten einen erlesenen Geschmack ausgelebt, etwas, das Thalissa irgendwie berührte. Rickenhausen war auch nicht arm für nordmärker Verhältnisse, aber dem kleinen Schloss, welches den Baronen dort als Residenz diente, sah man an, dass die letzte Bewohnerin andere Dinge im Kopf gehabt hatte, als sich um stilvolle Einrichtung zu bemühen.
Und dann diese Aussicht! Thalissa trat hinaus auf die Balustrade und stützte sich mit den Armen auf, ließ das Bild auf sich wirken. Nun, das hier konnte man sich nicht mit noch so viel Geld kaufen, wie sie neidlos eingestand. Sie drehte sich zu Eduina herum und nickte dieser lächelnd zu. „Eure Herrin hat Recht daran getan, diesen Raum ‚ein wenig umzugestalten‘. Richtet ihr meinen Dank aus für diese vorzügliche Unterkunft. Sobald ihr meinen Begleitern ihre Zimmer gezeigt habt, werden wir uns ein wenig frisch machen – und vielleicht auch noch ein wenig die Aussicht genießen.“ Thalissa lächelte ein wenig versonnen. „Aber dann würde ich mich durchaus noch gerne zu der Baronin und dem Herrn Oberst in den Garten gesellen. Was haltet Ihr denn von ihm … ach nein, ich mache mir nachher einfach selbst ein Bild.“
Eduina antwortete nicht sofort, sondern zeigte kurz ein wissendes Lächeln. Ihr war sehr wohl bewusst, dass die junge Baronin versuchte, sie ein wenig auszuhorchen. Und mit ihrem lächelnden Blick wiederum ließ sie ihrerseits die Baronin wissen, dass ihr dies bewusst war.
„Soweit ich das beurteilen kann, Euer Hochgeboren, ist der streitbare Herr ein stattlicher Kämpe. Er bereist den Isenhag, um sich ein Bild vom Zustand der Wehr zu machen und ist überaus freundlich.“ Thalissa nahm das Lächeln Eduinas sehr wohl zur Kenntnis und auch die Antwort, nach der sie gar nicht verlangt hatte. Nun war es an ihr, wissend zu lächeln, aber sie verzichtete auf eine Erwiderung. Fast beiläufig lenkte Eduina das Thema wieder um. „Am Ende des Gangs befindet sich sein Gemach. Ich bin sicher, dass es Ihre Hochgeboren erfreuen wird, zu hören, dass Euch das Eurige gefällt, Euer Hochgeboren. Wenn Ihr irgendetwas benötigt, lasst es mich bitte wissen. Ich lasse weiteres Wasser und frische Bienenwachskerzen in Euer Gemach bringen, und wenn Ihr wünscht, können wir Euch jederzeit ein Bad bereiten. Die anstehenden hauswirtschaftlichen Belange bespreche ich selbstverständlich gerne mit Eurer Zofe, wenn es Euer Hochgeboren beliebt.“
„Habt vielen Dank. Ja, Melisande steht Euch zur Verfügung.“ Thalissa gab ihr einen Wink, und diese knickste dienstbeflissen. „Wie gesagt, um Ihre Hochgeboren nicht zu lange warten zu lassen, mache ich mich nur ein wenig frisch. Aber wenn später ein wenig Zeit wäre, vielleicht nach dem Abendmahl, könntet Ihr mich mit einem Bad sehr erfreuen.“ Sie wandte sich ihrem Leibwächter zu. „Tar‘anam, ich denke nicht, dass ich heute noch beschützt werden muss, du kannst eigentlich gleich baden, wenn es keine Umstände macht?“ Der letzte Halbsatz war wieder an Eduina gerichtet. Tar‘anam nickte knapp, aber die Zofe hatte den unbestimmten Eindruck, der Recke wäre nicht ganz einverstanden mit Thalissas Entscheidung.
Die für eine Zofe überaus kecke Dame ließ es sich nicht nehmen, die Reaktion des Wächters mit einem spitzen Lächeln zu kommentieren, während sie kurz zu ihm hinüberblickte. „Durchaus nicht, Euer Hochgeboren, ich bitte Euch! Ich werde sogleich den Burschen losschicken, damit er alles richtet. Sobald Ihr Euch dann ein wenig habt erfrischen können, mögt Ihr jederzeit gerne in den Garten gehen. Einfach durch die Halle hindurch und dann durch eine der beiden großen Türen. Die Küche wird Euch dann noch etwas bringen, wenn Ihr möchtet. Und vielleicht mögen ja auch meine Herrin und der Herr Oberst dann noch etwas zu sich nehmen. Derweil würde ich Eure Zofe mit der Burg vertraut machen, damit sie sich in der Zeit Eures Aufenthaltes gut zurecht findet. Aber selbstverständlich ist auch sie ein geehrter Gast auf der Rodaschblick, und wir werden unser Bestes geben, damit auch sie und Euer stattlicher Kämpe sich hier wohlfühlen. Letzterer …“ - ihr Blick und das spitze Lächeln wanderten erneut zu Tar'anam - „... darf darüberhinaus versichert sein, dass der Dame Morgenrot die Sicherheit und das Wohlbefinden ihrer Gäste ganz besonders am Herzen liegen.“
Tar‘anam warf der Zofe einen undeutbaren Blick zu, verzog aber sonst keine Miene.
Eduina ließ es sich nicht nehmen, dem rüstigen Krieger ein geradezu entwaffnendes und dennoch amüsiertes Lächeln zu schenken. Offenbar ein Haudegen, wie man ihn sich nur vorstellen kann, dachte sie bei sich. Pflichtbewusst, loyal bis ins Mark, und ...absolut humorlos. Sie stellte sich vor, wie der alte Kämpe wohl reagieren würde, wenn er auf ein ähnliches charmantes Wesen träfe – zum Beispiel den Herrn Vogt. Es kostete sie einige Anstrengung, sich zu beherrschen und nicht zu kichern. Sei's drum. Irgendwie fand sie Gefallen an dem rüstigen, in die Jahre gekommenen Krieger. Und sie hatte schon ganz andere bärbeißige Gesellen gezähmt. Sie knickste wieder vor der Baronin.
„Mit Eurer Erlaubnis würde ich mich nun sputen, alles herzurichten. Annik wird Euch gleich eine Schüssel mit frischem Wasser bringen, alles Weitere dürftet Ihr bereits in dem Gemach finden – sie deutete auf die Kommode. Lorrek steht Eurem Wächter zur Verfügung. Ihr werdet vermutlich ohne Eure Begleiter im Garten speisen, daher würde ich ihnen in der Halle noch etwas servieren lassen. Vor oder nach dem Bade?“
„Nach dem Bad“, ließ der Leibwächter der Baronin sich nun doch zu einer Bemerkung hinreißen. Da damit alles gesagt war, ließ er es aber dabei bewenden.
Was für eine rüde Antwort!, dachte die Zofe bei sich. Um nicht zu sagen: bar jeglicher Manieren. Sie war nicht gewillt, dem Kämpen das durchgehen zu lassen, zumal sie nicht mit ihm, sondern mit der Baronin gesprochen hatte. Als hätte sie ihn nicht gehört, richtete sie ihren Blick wieder fest auf Thalissa, abwartend, lächelnd. „Euer Hochgeboren?“
Diese warf Tar‘anam einen leicht befremdeten, mahnenden Blick zu, bevor sie der Zofe antwortete. „Ich denke, nach der langen Reise unter dem Schein der Praiosscheibe wäre ein Bad eine ganz ausgezeichnete Idee für den Edlen von Hottenbusch, bevor er ein Mahl zu sich nimmt. Für Signora della Yaborim übrigens auch, falls sich Zeit dafür findet, aber das macht Ihr am besten selbst mit ihr aus, während Ihr sie einweist.“ Nur kurz zeigte sich der Hauch eines zuckersüßen Lächelns auf dem Gesicht der Baronin. „Wäre es das für den Moment?“
Tar‘anam war dem Austausch mit weiterhin undurchdringlicher Miene gefolgt. Es war nicht zu erkennen, ob der den mahnenden Ausdruck im Blick der Baronin bemerkt oder zur Kenntnis genommen hatte.
Dem Lächeln der Zofe vermochte ein Kenner eine gewisse zufriedene Süffisanz zu entnehmen.
Ein Edler sogar?, dachte Eduina bei sich. Welcher Edle würde als einfacher Leibwächter dienen, und dazu noch mit solch ungehobelten Manieren? Dem Verhalten nach höchstens einer aus Nostria, Andergast oder Weiden. Aber dafür ist der Name denn doch etwas zu exotisch.
Sie nahm sich vor, hier Genaueres herauszufinden und ließ es vorab dabei bewenden. Sie neigte kurz ihr Haupt und antwortete Thalissa: „Durchaus, Euer Hochgeboren. Wenn seine Wohlgeboren und Signora mir folgen möchten?“
Nachdem Thalissa ihre staubige Reisekleidung durch frische Sachen ersetzt und mit dem bereitgestellten Wasser den bestmöglichen Effekt erzielt hatte, suchte sie allein den Weg in den Garten. Sie war schon neugierig auf die elfische Baronin – und auch den zwergischen Oberst, der hier so unerwartet zugegen war, um den ‚Zustand der Wehr‘ zu prüfen.

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Derweil waren Liana und ihr zwergischer Gast bereits wieder im Garten, nachdem Liana noch einige Worte mit dem Haushofmeister gewechselt hatte. Die beiden nahmen Platz, und die Baronin betrachtete Dwarosch eine Weile mit einem heiteren Blick aus ihren leuchtenden Augen. „Nun, so habt Ihr auch die beiden sicherlich sonderbarsten Bewohner der Rodaschblick kennengelernt, einer Burg, der es an sonderbaren Bewohnern sicherlich nicht mangelt.“
Der Oberst nickte und lachte kurz auf. Die Komik der vergangenen Begegnung mit den Kobolden war auch an ihm nicht vorbei gegangen.
„In der Tat. Die beiden scheinen mir sowas wie Eure Schlossgespenster zu sein.“ Normals lachte Dwarosch, diesmal jedoch über seinen Vergleich. Die Elfe fiel mit einem ausgelassenen, heiteren, perlenden Lachen mit ein. „Das solltet Ihr sie aber besser nicht hören lassen...“
„Zumindest sorgen sie dafür, dass kein Bewaffneter Euch zu nahekommt. Ihre Dienste könnten aber sicher auch in anderer Hinsicht von Nutzen sein, doch ihre Natur, ihre wilde, unzähmbare Art macht sie wohl auch unkalkulierbar wie mir scheint.
Waren sie schon hier, als ihr die Burg bezogen habt, oder wie gerieten sie in Euren… ‚Dienst‘?“
Liana sog die Luft ein und blickt kurz zu Boden. Sie suchte nach den richtigen Gedanken. Und dann nach den richtigen Worten.
„Nun... ich war vor ihnen auf der Rodaschblick“, sagte sie langsam. „Und … Ihr solltet Sie nicht als Diener oder Wächter im eigentlichen Sinne sehen. Das sind sie nicht. Und es würde sie verärgern, wenn man sie so behandelte, auch wenn sie sich selbst tatsächlich die Wächter der Rodaschblick nennen.“
Dwarosch spürte, dass noch längst nicht alles gesagt war, es seiner Gastgeberin aber aus irgendeinem Grund schwer zu fallen schien, darüber zu sprechen. Sie wirkte aber nicht verlegen oder verschlossen. Eher nachdenklich.
Liana blickte wieder in den Garten. Ein wenig melancholisch, in sich gekehrt. Als denke sie voller Sehnsucht an etwas sehr Fernes, Unerreichbares.
„Es mag für viele einfacher sein, anzunehmen, sie seien in meinen Diensten. Doch sie sind viel eher... wie soll ich es sagen?.... Verbündete. Kobolde haben nicht wirklich einen Herren oder eine Herrin. Und so sollte es auch sein. Doch es gibt durchaus Wesen, denen sie … wohlgesonnen sind.“ Wohlgesonnen war offenbar nicht falsch, denn bisher schien die Baronin ihm gegenüber immer sehr offen und ehrlich gewesen zu sein. Doch der Oberst bemerkte durchaus, dass Liana sich eine Weile Zeit mit dem Wort gelassen und vermutlich erst etwas anderes im Sinn gehabt hatte.
„Ich lernte sie vor vielen, vielen Jahren kennen, als ich von einer Reise zurückkehrte in ein Land, das den meisten Menschen, Zwergen ... und auch Elfen meistens verschlossen ist.“
Dwarosch nickte bedächtig, doch dies nur, weil ihn die letzte Anspielung der Baronin beschäftigte. Die Antwort auf seine Frage hingegen war wie erwartet ausgefallen. Seine Einschätzung der Natur der Kobolde und der Verbindung zu Liana war richtig gewesen.
Etwas neugierig hakte er nach. „Verratet ihr mir von welchem Land ihr sprecht? Ich kenne nahezu den gesamten Kontinent.“
Liana blickte erneut zu Boden und neigte ihr Haupt. Dann hob sie es langsam wieder, während sie ihn unentwegt mit ihren seltsamen Augen ansah. Dwarosch war erstaunt – so hatte er sie noch nicht erlebt. Es lag etwas geradezu Herausforderndes und dabei Entrücktes in ihrem Blick, als sei sie nicht wirklich und ganz bei ihm. Der Stein in ihrem Diadem leuchtete in einem irrisierenden Orange auf, und die leichte Brise, die gelegentlich durch den Garten huschte, verwandelte sich kurz in einen ordentlichen Windstoß. Doch sie kam nicht dazu, ihm zu antworten ...
Ein der beiden Türen, die zum Garten führten, öffnete sich. Die Baronin von Rickenhausen schritt lächelnd hindurch. Sie hatte nach der kurzen Wäsche wiederum eine schwarze Lederhose und ein opulent mit Rüschen verziertes, blütenweißes Hemd angezogen und die Reitstiefel gegen eine bequemere Variante eingetauscht. Die Hose wurde von einem breiten Gürtel, in welchen mit Silberdraht florale Motive eingelegt waren, gehalten. Kein Schmuck war an ihr zu erkennen bis auf den Baronsring. Einen kleinen Moment sah sie sich um. Der Garten war nicht groß und bestand im Kern aus dem Pavillon in der Mitte, der von zwei schmalen Wegen aus hellem Kies gesäumt war. Vom Palas führten zwei kurze Wege zu einem dieser beiden Hauptwege, und hinter der anderen Seite des Hauptgebäudes schien dieser Weg um die Ecke noch weiterzuführen, doch konnte man das von hier nicht einsehen. Es wuchsen erstaunlich viele verschiedene Pflanzen hier, Blumen und Büsche in vielen verschiedenen Größen und Farben. Irgendetwas irritierte Thalissa, und sie musste kurz darüber nachdenken, was es war. Die Pflanzen wirkten gepflegt, doch gleichzeitig auch irgendwie … ungeordnet. Dieser Garten hatte nur wenig gemein mit den Ziergärten so mancher Lustschlösser mit ihren symmetrisch angelegten Beeten und den kunstvoll geschnittenen Hecken. Diese Pflanzen hier wuchsen einfach. Aber zugleich auch nicht wirklich wild und wuchernd, gegenseitig um den Platz konkurrierend, sondern jede für sich. Es gab zudem keine abgestorbenen Äste oder vertrocknete Stellen, was für eine umsichtige Pflege sprach. Die Mauer der Kernburg, die den Garten umschloss, war hier an sehr vielen Stellen von Efeu und Wildrosen bedeckt.
Die Baronin und Dwarosch sahen zu Thalissa hinüber. Die Gastgeberin hob ihre Hand und machte eine einladende Geste, sich hinzuzugesellen.
„Euer Hochgebohren, Oberst“, nickte Thalissa den beiden hinzu. „Falls Eure Zofe noch nicht dazu kam, es auszurichten: die Unterbringung ist vorzüglich. Aber ich wollte Euch nicht unterbrechen.“
Der Oberst erhob sich bis Thalissa bei ihnen war und Platz genommen hatte. Dann setzte auch er sich wieder.
Liana schloss die Augen, der Wind wurde wieder zu einer sanften Sommerbrise, und die Elfenbaronin schien sich innerlich zu sammeln. So, als erwachte sie aus einem Traum. Dann sah zu dem neu hinzugekommenen Gast auf.
„Euer Hochgeboren … wie schön, dass Ihr zufrieden seid mit Eurem Gemach“, sagte sie sanft. „Bitte, nehmt Platz.“
„Ah, das tut gut nach dem langen Ritt“, seufzte Thalissa erleichtert, als sie in dem weich gepolsterten Stuhl saß. Dann sah sie die Gastgeberin und den Zwergen erwartungsvoll an. Von welchem Land hatten sie wohl gesprochen?
„Der Oberst und ich unterhielten uns gerade über die beiden... besonderen Bewohner dieser Burg, die Ihr ja ebenfalls kennengelernt habt“, sagte Liana. „Ich hoffe, dass sie Euch nicht zu sehr irritiert oder gar verärgert haben.“ Sie sagte es mit einem freundlichen und dabei abwartend-neugierigen Ton. Die Farbe des Steines in dem mondsilbernen Diadem wechselte langsam von dem strahlenden Orange in ein helles Violett, ganz ähnlich der Farbe ihrer schönen Augen.
‚Ob er auf irgendeine verworrene Art und Weise mit ihren Gefühlsregungen… verbunden war‘, überlegte Dwarosch indes betreffend des Steines und nutzte fortan die Gelegenheit diesen unauffällig zu beobachten. Die beiden Baroninnen zu unterbrechen wäre ohnehin ein Bruch der Etikette gewesen, und so widmete er sich genüsslich Pfeife und Bier.
Auch Thalissa fiel der seltsame Farbwechsel des Steins im Diadem der Elfe sogleich auf, da sie aber eben erst dazugekommen war, dachte sie sich im ersten Moment nichts dabei, außer, dass es sich um ein schönes, möglicherweise sogar magisches Schmuckstück handelte. Laut erwiderte sie, mit einer gewissen Anspannung, welche sie nicht ganz unterdrücken konnte: „Nun, um ganz ehrlich zu sein, diese beiden Käuze haben mich in der Tat irritiert und verärgert. Immerhin hatte ich nur eine einfache Frage an Euren Haushofmeister gestellt. Ich entschuldige mich übrigens, wenn ich ihm ungebührliches Ungemach bereitet habe, aber von der meiner Meinung nach überzogenen Reaktion Eurer ‚Hausgäste‘ ließ ich mich zu unbedachten Äußerungen hinreißen. Mein Fehler.“ Thalissa machte eine Pause, um Luft zu holen, bevor sie fortfuhr: „‘Zu sehr‘ erlaube ich diesen Irritationen aber nicht zu sein, denn sonst müsste ich ja darauf verzichten, Euch näher kennenzulernen, und dazu bin ich zu neugierig auf die berühmte Elfenbaronin, welche meine Tante gut gekannt und einiges mit ihr erlebt hat.“ Jetzt lächelte Thalissa offen und herzlich, die Anspannung war aus ihrer Stimme gewichen.
Liana hörte ihr aufmerksam zu und wartete, bis die Baronin von Rickenhausen etwas zur Ruhe gekommen war.
„Berühmte Elfenbaronin? Nach mehr als zwei Jahrzehnten in dieser Baronie bin ich also noch immer eine solche Berühmtheit?“ Sie lachte kurz, sah einen Augenblick auch Dwarosch an und winkte dann ab. „Nein, sagt bitte nichts. Ich weiß schon, was Ihr darauf antworten würdet. Und noch immer frage ich mich, ob es mir schmeichelt, oder ob ich mich einfach mit dem Gedanken abfinden muss, in den Marken als „Berühmtheit“ oder vielleicht auch als „Besonderheit“ angesehen zu werden. Und das in einer Provinz, die sicherlich generell nicht arm ist an … besonderen Bewohnern.“ Sie zog den letzten Satz ein wenig in die Länge.
„Was die „besonderen Bewohner“ dieser Burg anbelangt, nun so bitte ich Euch: Grämt Euch nicht. Die beiden beurteilen manche Dinge etwas anders, als es die Menschen meistens gewohnt sind. Und Ihr wäret nicht die Erste, die sich auf ein schnelles Wortgefecht mit ihnen einließ. Letzten Endes bereitet es ihnen auch eine gewisse Freude, wenn man sich auf ihre Wortspiele einlässt. Es liegt in ihrer Natur. Doch sie schaden niemandem, auch wenn dies den Kobolden oft nachgesagt wird. Und oft fälschlicherweise. Im Gegenteil, sie wollen Schaden von dieser Burg fernhalten und nehmen ihre Aufgabe sehr ernst. Wie ich dem Oberst gerade sagte, habe ich die beiden vor vielen Jahren kennengelernt. Nach meiner Reise in ein Land …“ sie sah nun Dwarosch an „ … das Ihr auf keiner Karte finden werdet.“
Sie blickte wieder zu Thalissa.
„Ich freue mich, an diesem Tag gleich zwei gehrte Gäste auf der Rodaschblick begrüßen zu können und hoffe, dass Ihr Euch hier wohlfühlen werdet.“
Wissend nickte der Oberst, auf diese Eröffnung hin. Die Welten der Feen, zu denen nicht zuletzt auch die Reiche unter den Wassern des Großen Flusses gehörten, dem Refugium des Flussvaters, waren jedem Bewohner des westlichen Kontinents ein Begriff, auch wenn die sich um sie rankenden Geschichten in der Augen der Angroschim eher weniger Märchen denn Schauergeschichten waren.
Die Tür ging abermals auf, und zwei Diener brachten erneut einige Speisen und Getränke.
Thalissa hatte abgewartet, bis die Bediensteten wieder verschwunden waren, nun füllte sie zunächst einen Kelch. Ein unbestimmbares Lächeln hatte die ganze Zeit um ihre Mundwinkel gelegen, als teilte sie ein Geheimnis mit der Elfe, was aber wohl kaum sein konnte, da sie sich eben das erste Mal trafen. Dann endlich antwortete sie auf Lianas letzte Bemerkung. „Wenn man von den Kobolden absieht – die ich jetzt das letzte Mal erwähne, keine Sorge – fühle ich mich jetzt schon sehr wohl, habt vielen Dank für die freundlichen Worte. Und wie ich schon sagte, ich wollte Euer Gespräch“, dabei sah sie von Liana zu Dwarosch, „keinesfalls unterbrechen. Wir werden sicher noch Zeit finden, über dies und das zu plaudern.“ Einem guten Menschenkenner würde auffallen, dass die Baronin von Rickenhausen keineswegs den Eindruck machte, lediglich an seichter Plauderei Interesse zu haben. Sie lehnte sich zurück und nahm einen Schluck aus dem Kelch.
Liana schwenkte kurz das mit Zitrone und Minze versetzte Wasser, das sie so gern mochte, in Ihrem gläsernen Pokal und hielt ihre feine Nase an den Glasrand. Für einen Zuschauer, der Wein zu schätzen wusste, entbehrte dies für einen Augenblick nicht einer gewissen Komik, da sie das Glas so hielt, als sei es mit feinstem Arivorer gefüllt. Aber Elfen tranken nun einmal keinen Wein. Oder Bier. Und doch wussten auch sie Aromen zu schätzen ...
„Ich freue mich, dass Ihr Euch willkommen fühlt“, sagte Gastgeberin nach einer Weile – und mit einer Betonung, die keinen Zweifel aufkommen ließ, dass sie dies auch so meinte.
„Nun... ich sprach just in dem Moment, als Ihr eintratet, Euer Hochgeboren, mit dem Oberst über genau jenes Thema, welches Ihr nicht mehr erwähnen wollt.“ Die Baronin gab sich keinerlei Mühe, auch nur ansatzweise zu verhehlen, dass sie dies amüsierte, und warf Dwarosch einen geradezu verschwörerischen Blick zu.
Thalissa sah aus, als würde sie die Augen verdrehen wollen, hatte sich aber gut genug im Griff, das zu unterlassen.
Das abrupte Schweigen des Zwergen entging Liana ebensowenig wie der Eindruck, den die Baronin von Rickenhausen hinterließ. Menschen waren, was Gespräche anbelangte, bisweilen kompliziert. Sie behielten oft für sich, was sie wirklich wollten oder dachten, um sich, wie sie es nannten, „keine Blöße“ zu geben. Nach all den Jahren hier in Rodaschquell hatte sie diese Lektion längst gelernt, allerdings nicht verinnerlicht – was sie auch nicht wollte. Und Zwerge schienen den Menschen in dieser Hinsicht ähnlich zu sein. Das machte Gespräche oft etwas anstrengend. Man erwartete offenbar von ihr als Gastgeberin, das Gespräch zu führen und das Schweigen zu brechen. Sie seufzte innerlich. Dass es immer so komplizeit sein musste ...
„Meistens bekommt man die beiden Schelme gar nicht zu Gesicht, und Gäste schon gar nicht. Doch wenn es dann doch einmal geschieht, erwartet man natürlich Antworten von mir. Ich verstehe das sehr gut. Seid versichert, dass mir dies nichts ausmacht. Im Gegenteil, ich schätze offene Worte. So, wie Eure Tante.“ Sie warf Thalissa einen vielsagenden Blick zu.
Da der Oberst es vorzog zu schweigen, ergriff nun doch wieder die Baronin das Wort. Nun gut, wenn die Elfe es so wollte. Was Biora Tagan gewollt hätte, konnte sie nicht gut beurteilen, hatte sie ihre entfernte Tante doch kaum gekannt. Allerdings war sie als äußerst wissbegierige Dame bekannt (gewesen?), insofern handelte die neue Baronin von Rickenhausen doch sicher in ihrem Sinn, wenn sie dieses Angebot Lianas annahm. „Nun, wenn es Euch nichts ausmacht, über diese Thema zu sprechen und dazu Fragen gestellt zu bekommen, dann wollen wir Euch nicht enttäuschen“, erwiderte Thalissa mit leicht gequältem, aber auch neugierigem Lächeln. „Wie ist es denn dazu gekommen, dass Ihr so … ungewöhnliche Wächter auf Eurer Burg beherbergt?“ Da Thalissa den Anfang des Gesprächs zwischen der Elfe und dem Zwerg nicht mitbekommen hatte, war sie sich nicht bewusst, dass die beiden darüber bereits gesprochen hatten.
„Nun... die beiden sind keine Wächter im eigentlichen Sinne oder so, wie Ihr es vielleicht versteht, Euer Hochgeboren. Sie sind, wie ich schon dem Oberst sagte, eher … Verbündete. Sie sind mir wohlgesinnt und nun schon seit vielen Jahren auf der Burg. Sie suchten mich auf, als ich einst …“, sie zögerte wieder etwas, und neigte mit geschlossenen Augen ihren Kopf zu Seite, ehe sie weitersprach: „ ... Aus einem sehr weit entfernten Reich zurückkehrte, das diesem hier sehr fremd ist.“
Unmerklich hatte sich der Stein des Diadems, das sie trug, vom satten Violett langsam in ein blasses Orange verwandelt. Erneut wirkte die Elfe, als sei sie nicht ganz bei ihren Gästen, und als falle es ihr nicht leicht, darüber zu sprechen, auch wenn sie zuvor etwas anderes gesagt hatte. Ein Moment des Schweigens trat ein.
Dwarosch räusperte sich in die erneut einkehrende Stille und hatte sofort die Aufmerksamkeit der beiden Baroninnen.
„Meine Damen“, eröffnete der Oberst im sehr ruhigen Ton, in dem Neugierde mitschwang, „dürfte ich erfahren, woher sich Biora Tagan und Ihr kanntet Hochgeboren?“
Mit einem bedauernden Blick in Richtung Thalissas ergänzte er: „Ich nehme Anteil an Eurem Verlust. Ich habe viele Freunde sterben sehen an der Tersalschlaufe.“
Plötzlich merkte Liana wieder auf, und deutlich war zu sehen, dass sich die Farbe des Steins vom blassen Orange in ein opalisierendes Blauweiß verwandelte.
„Es war mehr als nur die üblichen Empfänge, auf denen Barone der Nordmarken sich treffen und einander austauschen“, sagte Liana dann. „Ich habe die Baronin als einen klugen und wachen Geist kennengelernt, doch nahezu frei von jenem Eifer, der so manchem Gelehrten zu eigen ist. Sie ging den Dingen gerne auf den Grund, und ihr reger Verstand war stets auf der Suche nach neuem Wissen, neuen wissenschaftlichen Herausforderungen und Geheimnissen, die es zu erforschen gilt.
Wir waren einige Male gemeinsam auf Reisen, zum Beispiel in das Reich des Horas, und lernten einander kennen und schätzen. Sie hat mich auch das ein oder andere Mal hier besucht. Aus Freundlichkeit, und sicher auch aus Neugier ob der „Elfenbaronin“ Ihre Mine hellte sich auf. „Wusstet Ihr, dass es auf der Rodaschblick eine kleine Kapelle der Hesinde gibt?
Thalissa verfolgte fasziniert das Farbspiel im Stein des Diadems der Elfe, während sie über die Frage des Zwergen nachsann und der Antwort Lianas lauschte. Als diese geendet hatte, hob sie selbst ihre Stimme: „Nein, tatsächlich wusste ich das nicht. Und obwohl ich Hesinde nicht mehr als die anderen Elfe achte, würde ich diesen Schrein gerne besuchen, allein um des Andenkens willen.“ Die Baronin machte eine kurze, nachdenkliche Pause, um dann fortzufahren: „Ihr müsst wissen, dass ich Biora Tagan kaum gekannt habe. Als ich noch klein war, kam sie ein paarmal zu Besuch. Mir sind nur ihre langen, roten Haare in Erinnerung geblieben, und dass sie trotz ihres Alters, sie muss das letzte Mal, als ich sie sah, in den Vierzigern gewesen sein, sehr gut aussah. Außerdem hat sie uns Kinder immer mit unmöglichen Rätseln traktiert und nicht lockergelassen, bis wir sie gelöst hatten, was aber ohne ein paar hilfreiche Hinweise nicht möglich war.“ Versonnen schaute Thalissa in die Ferne, um dann Dwarosch anzublicken. „Habt Dank für Euer Mitgefühl, doch ist meine Tante nur verschwunden und nicht sicher tot. Ich kenne zwei Herren, welche mehr darüber zu sagen wüssten, doch sie schweigen eisern. Bei einem davon verwundert es mich nicht: es ist der Herr von Rabenstein.“ Thalissa blickte den Oberst an, um zu sehen, ob dieser Namen Erkennen bei ihm auslöste, fuhr aber gleich darauf fort: „Und der andere … ist Tar‘anam sin Corsacca.“ Nun klang eine gewisse Bitterkeit in ihrer Stimme mit. „Die Treue in Person. Untadeliger Leibwächter, ein Mann der Ehre, der zu seinem Wort steht bis in den Tod. Und sein Wort gab er offenbar jemand anderem, kein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen, was wohl geschehen sein mag an jenem Tag an der Tesralschlaufe ...“ Nun trat Zorn in die Augen der jungen Baronin, ihre Stimme nahm einen Klang an wie singender Stahl, niemand, der sie zum ersten oder auch zweiten oder dritten Mal sah und sprach, traute ihr eine solche Härte zu. „Doch ich werde nicht ruhen, bis ich herausgefunden habe, was damals passiert ist – und ob meine Tante noch lebt. Ich kannte sie nicht, doch ich will sie kennenlernen!“
Der Oberst lauschte interessiert den Ausführungen der beiden Damen. Und ja, die Miene des Zwergen verriet, dass er den Rabensteiner kannte. Ein mildes, fast schon leicht spöttisches Lächeln huschte über seine Züge, bei der Nennung des Namens.
„Der Eine ist der Ehre verpflichtet wie die Leuin sie lehrt, der andere ist von Natur aus schweigsam wie ein Grab.“ Dwarosch schmunzelte. „Da ist wohl nichts zu machen.
Ich wünsche euch, dass sich eure Hoffnungen irgendwann erfüllen und sie lebend heimkehrt.“
Der Oberst senkte die Stimme, was auf die Brisanz seiner Worte hindeutete. „Sagt, wisst ihr ob sie an Kommandoaktionen abseits der Schlachtreihen beteiligt gewesen ist? Es sind ja noch mehr Leute ‚verschwunden‘.“
Liana war froh, dass Dwarosch den Faden aufgegriffen und es ihr somit erspart hatte, der zornigen jungen Dame zu antworten.
Sie selbst war in der Zwickmühle. Ja, sie hatte gehört, dass Biora Tagan, Baronin von Rickenhausen, „verschwunden“ sei, vielleicht gar tot, wie es hieß. Und Letzteres war falsch, wenn das, was sie aus offenbar gut informiertem Munde vernommen hatte, der Wahrheit entsprach, woran sie jedoch nicht zweifelte.
Denn es war der Baron von Rabenstein selbst gewesen, der ihr über das Schicksal der Hesindegeweihten berichtet hatte.
Es schien ihr nicht richtig, dass die neue Baronin nichts über den Verbleib ihrer Tante wusste. Dass niemand es ihr sagte. Warum sollte man ihr dies verschweigen? Warum war das wichtig?
Und doch … der Wunsch, dies geheim zu halten, war Biora Tagan offenbar von Bedeutung gewesen, wenn weder ihr Leibwächter noch der Baron von Rabenstein ein Wort darüber verloren. Liana war sich nicht mehr sicher, ob sie nicht vielleicht auf die ihr eigene Weise den Baron unbewusst beeinflusst hatte, ihr zu sagen, was sie wissen wollte, weil es ihr so wichtig war. Sie haderte mit sich selbst bei diesem Gedanken und hoffte inständig, dass es nicht der Fall war. Doch andererseits: Warum sonst hätte der Rabensteiner ihr davon erzählen sollen? Sie wusste es nicht.
Die schöne Elfe blickte betreten zu Boden und war nicht unglücklich darüber, dass Dwarosch und Thalissa sie im Augenblick nicht ansahen. So bemerkten sie auch nicht sofort, dass der Stein in ihrem Diadem nun ein sattes Türkis zeigte …
„Ja, ja das war es.“ Thalissas Augen sprühten immer noch vor Ärger. „Niemand wollte mir Näheres erzählen, aber es gab wohl einen Grund, wieso die Götter mir bestimmten, Ermittlerin in Vinsalt zu werden, bevor ich zur Baronin von Rickenhausen berufen wurde. Biora Tagan hat gemäß meinen bisherigen Nachforschungen zusammen mit ihrem Leibwächter Tar‘anam, dem Herrn von Rabenstein, dem Baron von Hlûtharswacht, Loriann von Reussenstein und Otgar von Salmfang ein Kommandounternehmen im Vorfeld der Schlacht an der Tesralschlaufe im Mendena-Feldzug durchgeführt. Es kamen alle zurück, bis auf meine Tante.“ Nun verengten sich die Augen der Baronin, als sie Dwarosch mit neuem Interesse musterte. „Sagt, Herr Oberst, Ihr wisst nicht rein zufällig irgend etwas über die damaligen Geschehnisse? Wo wart Ihr denn bei der Schlacht an der Tesralschlaufe? Ich nehme doch richtig an, dass Ihr dabei wart?“ Aus den Augenwinkeln bemerkte Thalissa die Betroffenheit der Elfe und den erneuten Farbwechsel ihres Diadems, doch sie wollte die Miene des Zwergen bei seiner Antwort genau im Auge behalten und konnte sich deshalb jetzt nicht Liana widmen.
Bedächtig nickte der Oberst. "Ich war dort." Schwer seufzend atmete er einmal ein und aus.
"Mein Amtsvorgänger starb an jenem Tag, der mein Leben dadurch maßgeblich änderte."
Dwarosch senkte die Stimme. "Vertraulich gesprochen. Einer der von euch vorgebrachten Namen hat einen in diesem Zusammenhang vielleicht aussagekräftigen Klang. Reussenstein, ihr kennt ihre vermeintliche Missetat, für die sie in Abwesenheit verurteilt wurde, nehme ich an. Ich zweifle daran, dass die Öffentlichkeit die ganze Geschichte kennt.
Mir gegenüber wurden stets Ausflüchte vorgebracht, wenn ich nach jener Unternehmung fragte. Wenn mir nicht von Untergebenen gemeldet worden wäre, dass jene Personen ver-schwunden und später wieder ins Feldlager zurückgekehrt wären, ich hätte den Braten wohl nicht gerochen."
Dwarosch kratzte sich den Bart. "Wenn ich eine Vermutung aufstellen sollte, so würde ich Euch raten, den Reichsgroßgeheimrat in dieser Sache zu befragen. Ich denke, es war ein kaiserliches Unterfangen. Aber“, Dwaroschs Augen fixierten sein Gegenüber. "Das habt ihr nicht von mir.“
Die Rodaschquellerin schwieg zu alledem. Fast hätte sie Thalissa gebeten, ihren Zorn nicht an einem der Gäste Rodaschquells auszulassen, doch der Boroborinoi ließ sich offenbar nicht aus der Ruhe bringen und gab Thalissa sogar noch einen Rat. Ja, sie würde ihr auch „raten“ können. Doch sie könnte ihr auch einfach sagen, was sie, Liana, selber wusste. Aber dies hieße, die Wünsche anderer zu übergehen. Sich ihres Vertrauens als unwürdig zu erweisen. Ach, dass bei den Menschen immer alles so kompliziert sein musste! Sie lebte nun schon lange genug hier, um dies zu wissen. Doch war sie immer davon ausgegangen, sich diesem Spiel entziehen zu können. Nun... meistens zumindest.
Der Gedanken der Elfe nicht gewahr, konzentrierte sich Thalissa weiter auf den zwergischen Oberst. Mit zusammengezogenen Brauen hatte sie seinen Ausführungen gelauscht, um jetzt darauf einzugehen: „Ja, ich habe flüchtig vom Verrat der Dame von Reussenstein gehört, aber keine Einzelheiten. Wie ist denn da der Stand der Dinge? - Und was den Reichsgroßgeheimrat angeht,“ die Baronin lachte freudlos auf, „nun, wenn ich je zu ihm vorgelassen würde, meint Ihr, er gäbe auf eine einfache Frage eine einfache Antwort?“ Nach kurzem Zögern beantwortete sie ihre Frage gleich selbst: „Vermutlich schon, so etwas wie ‚Nein!‘ oder ‚Das hat Euch nicht zu interessieren!‘“ Thalissa lächelte bitter. „Aber ich fürchte, wenn wir dieses Thema weiterverfolgen, werden wir die schöne Stimmung noch vollends zerstören, und das war eigentlich nicht meine Absicht … wobei ich für alle Hinweise in dieser Angelegenheit durchaus dankbar bin.“ Sie warf einen prüfenden Blick auf die in sich gekehrte Baronin von Rodaschquell. Erneut sah sie, wie die Elfe nachdenklich in den Garten blickte und keinerlei anstalten machte, sich in dieses Gespräch zu mischen. Doch eine gewisse Betroffenheit war ihr mehr als deutlich anzumerken. Doch es dauerte nicht lange, und der Oberst antwortete Thalissa.
„Da muss ich euch leider zustimmen, in beiden Punkten. Nur eins noch. Das Urteil, welches in Abwesenheit über sie verhängt wurde ist das letzte, was mir in der Sache Reussenstein bekannt ist. Aber ich bin mir zugleich ziemlich sicher, dass es nicht das Ende ist.“
Der Oberst nahm einen großen Schluck Bier und sah danach wieder zu seiner Gastgeberin herüber.
„Mit welchen Lehnsherrn des Herzogtums seid ihr näher bekannt, gestattet mir die Frage? Die ehemalige Baronin von Rickenhausen wird ja nicht die einzige gewesen sein“, welchselte Dwarosch damit endgültig das Thema. „Ich habe ja nun einige von ihnen kennengelernt auf meinen Reisen, zumindest was den Isenhag betrifft.“
Trotz ihrer Aussage von gerade eben musste Thalissa sich nun tatsächlich absichtlich zurücknehmen, denn ihre aufgewühlte Stimmung verlangte nach einer ausführlicheren Diskussion. Doch ihr Verstand blieb diesmal Sieger, also lehnte auch sie sich zurück und nahm einen Schluck aus dem Kelch, nachdem sie sich etwas Wein nachgegossen hatte. Auf dem Tisch standen ein schwerer Krug mit Bier für den Angroscho, sowie eine Karaffe mit einem fruchtigen almadaner Sommerwein. Die Gastgeberin selbst hielt sich an eine weitere Karaffe: Klares Wasser, dass mit Orangenscheiben versetzt war.
Es dauerte eine Weile, ehe die Elfe sich soweit gesammelt hatte, um Antworten zu können. Eine gewisse Aufgewühltheit war ihr noch immer anzusehen. „Ich... ich bin nun schon so viele Jahre die Dame von Rodaschquell, dass mir die meisten Barone und Edle der Nordmarken bekannt sind, einige davon sind mir auch recht vertraut. Besonders gut war das Verhältnis stets zu Wolfsstein und Trappenfurten, auch zu Shanija von Rabenstein.“ In gewisser Weise hatte sie den Eindruck, dass sie der Rickenhausenerin noch etwas hätte antworten sollen. Doch die Einwürfe des Oberst waren ihr nach wie vor willkommen. Vielleicht hatte er ja ihr Unbehagen bemerkt ...
Dwarosch zögerte. Es war den beiden Frauen, als habe er schon eine Erwiderung auf der Zunge gehabt, sie dann aber aus irgendeinem Grund nicht vorgetragen.
Der Blick des Angroschos wechselte kurz zu Thalissa hinüber, nur um dann wieder bei der elfischen Baronin zu verharren. Seine Augen verengten sich einen Deut weit. Ein Zeichen davon das er angeregt nachdachte.
Thalissa ordnete ihre eigenen Gedanken, während sie der seltsam zögerlichen Antwort ihrer elfischen Standesgenossin lauschte. Sie beschloss, ihre persönliche Befindlichkeit für den Moment hintan zu stellen. Immerhin versprach es spannend zu werden, wenn die altgediente Baronin über ihre Beziehungen zu näheren und ferneren Nachbarn sprach, gerade für Thalissa, die sich immer noch nicht so recht in die nordmärker Adelsgesellschaft eingefunden hatte.
Als Liana abermals eine Pause machte, wollte die Baronin von Rickenhausen gerade erneut das Wort ergreifen, als der Oberst ihr mit einer interessanten Frage zuvorkam.
Kurz darauf räusperte sich der Oberst. „Hochgeboren. Ich kam nicht umhin zu bemerken, dass Euch etwas beschäftigt. War es eine meiner Fragen, die euch so nachdenklich gemacht hat, oder ist es etwas anderes?“
Innerlich seufzte die Gastgeberin. Insgeheim hatte sie gehofft, dieser Kelch würde an ihr vorübergehen. Doch dieser Boroborinoi fragte bemerkenswert ungeniert – etwas, das ihr in ihren langen Jahren in diesen Landen nur gelegentlich widerfahren war und ihr in gewisser Weise eine willkommene und durchaus amüsante Abwechslung war, wäre doch das Thema ein angenehmeres gewesen …
Und natürlich entging Liana nicht, dass auch die junge Baronin neben ihr sie im Augenblick sehr aufmerksam beobachtete. Nun, diese Art des Versteckspiels behagte ihr ohnehin nicht, und sie sah kurz zur jugen Baronin hinüber, ehe sie sich an den Angroscho wandte.
„Es war vielmehr Eure Antwort auf die Frage, die Euch Ihre Hochgeboren gestellt hat. Und Ihre … Aufgewühltheit ob des Schicksals Ihrer Tante, über das sie so wenig weiß, obwohl doch gerade sie als Erbin mehr darüber wissen sollte ...“ Sie zögerte wieder kurz. „Ich schätze es nicht, mich zu verstellen. Euer beider Worte über Biora Tagan haben mich sehr bewegt. Und sie haben mich in einen schweren Konflikt geführt.“ Sie blickte nun Thalissa ernst und tief an. „Zwar weiß ich nur wenig, was ich Euch sagen könnte. Aber wenn ich das tue und Euch dieses Wenige mitteile, breche das Vertrauen, das man mir entgegengebracht hat, indem man mir davon berichtete.“ Sie blickte wieder melancholisch, fast ein wenig entrückt zur Seite, und ihre innere Zerrissenheit war offenkundig. Fast war es, als sei sie mit ihren Gedanken an einem fernen Ort. Dann sah sie wieder eindringlich Thalissa an, und ihre magischen Augen schienen geradezu zu leuchten. „Ich bin der Ansicht, dass Ihr, gerade Ihr, wissen solltet, was sich zugetragen hat. Es ist nicht meine Art, Euch dies zu verheimlichen. Doch es ist auch nicht meine Art, Vertrauen zu brechen ohne Not. Daher kann ich Euch das mir Anvertraute nicht so einfach sagen.“
Sie sah nun traurig und nachdenklich zugleich aus.
„Wenn Ihr mir deswegen gram wäret, so hättet Ihr allen Grund dazu, und ich würde es Euch nicht verübeln. Doch ich habe versprochen, niemandem etwas zu sagen, und ich fühle mich an diesen Eid gebunden. Nicht einmal wer es Euch sagen könnte, dürfte ich Euch sagen, nicht einmal das. Alles, was ich Euch anbieten kann, ist, mit der Person zu sprechen, um sie in Eurem Namen davon zu überzeugen, dass Ihr ein Anrecht auf dieses Wissen habt, ja, mehr noch, dass Ihr es wissen solltet!“
Also hatte Thalissa sich nicht getäuscht, irgendwie hatte sie geahnt, dass Lianas … Unbehagen? - etwas mit ihren Fragen zu tun gehabt hatte. Sie zog die Augenbrauen zusammen und war drauf und dran, die Gelegenheit zu nutzen. Sie sah die Lücken in der Verteidigung der Elfe und spürte, dass nur wenig mehr Druck vonnöten war, diese zusammenbrechen zu lassen.
Doch dann rief die junge Baronin sich ins Gedächtnis, dass sie hier vor wahrscheinlich einer der wenigen Personen saß, denen Biora freundschaftlich verbunden gewesen war. Hätte ihre Tante es gutgeheißen, hätte sie gewusst, dass Thalissa eine gute Freundin gewaltsam bedrängte? Vermutlich nicht. Sie atmete tief ein und lehnte sich wieder zurück, als ihr klar wurde, dass sie beide Hände auf die Lehnen des Stuhls gestützt und sich vorgebeugt hatte. Erst dann fühlte sie sich zu einer Antwort in der Lage. „Eure Hochgeboren, ich will Euch nicht zu etwas zwingen, dass Euch vor anderen oder vor Euch selbst in Schwierigkeiten bringt.“ Thalissas Stimme klang gepresst, man merkte ihr die Anspannung deutlich an. Sie kniff den Mund fest zusammen, bevor sie weitersprach: „Ich danke Euch aber für das Angebot und nehme es mit Freuden an.“ Sie sah jetzt zwar eher grimmig als erfreut aus, wie auch Dwarosch nicht umhin kam zu bemerken, aber dennoch konnte man ihr eine gewisse Befriedigung anmerken. Sie hatte etwas erreicht! Zum ersten Mal hatte sie Hoffnung, dass sie in dieser Angelegenheit Fortschritte machen könnte. Für einen Moment schloss sie die Augen, dann nahm die junge Baronin einen tiefen Zug aus dem Kelch.
Mit gespannter Miene lauschte der Oberst den Worten der Elfe. Die Offenbarung, dass sie mehr über den Verbleit, das Schicksal Biora Tagans wusste überraschte ihn. Wer hätte dies auch ahnen können?
Ein wohlwollendes Nicken am Ende des Wortwechsels der Baroninnen deutete beiden an, dass Dwarosch über den Verlauf des Gesprächs hoch erfreut war. Dies drückten auch seine darauffolgenden Worte aus, die er in Richtung Lianas tat. „Ich bin mir sicher, dass selbst die Gesuchte eure hehren Absichten darin erkennen wird.“
Der Oberst lächelte nach diesen Worten und legte dann den Kopf leicht schief. „Welcher der Götter uns drei wohl hier zusammengeführt hat und für diesen ‚Fingerzeig‘ verantwortlich ist?“ Amüsiert blickte er erneut zu Liana. „Am Ende ist es Orima, die über das Schicksal entscheidet oder?“
Als sie den Namen der alten elfischen Schicksalsgöttin hörte, merkte Liana auf.
„Ihr schmeichelt mir mit Eurem Wissen über mein Volk. Doch ist es wirklich Orima, die festlegt, was unsere Bestimmung ist? Vielleicht mögen einige das noch denken, für die meisten von unserem Volk gilt dies aber nicht. Die alten elfischen Götter haben keine Bedeutung mehr für uns, sie haben sie schon vor langer Zeit verloren.“
Sie antwortete in einem Ton, der keinesfalls so ernst klang, wie es der Inhalt ihrer Worte vermuten ließ. So, wie auch Dwaroschs Bemerkung wohl nur als ein harmloser Themenwechsel gedacht war. Nachdem sie den Angroscho kurz freundlich angeblickt hatte, um ihren Worten die Schwere zu nehmen, sah sie wieder in den Himmel, wobei ihre Augen nun von einer leisen Melancholie sprachen. Ein wenig verträumt fuhr sie fort. Fast so, als spräche sie mehr zu sich selbst.
„Außer, dass ihre Namen uns an eine vergangene Zeit gemahnen, die gleichermaßen schillernd wie auch dunkel war, und die wir längst hinter uns gelassen haben. Und auch Orima selbst ist nicht frei von einem dunklen Schleier, den sie über uns Fey gewoben hat. Vielleicht, ohne es zu wollen oder zu wissen. Wer weiß das schon? Und vielleicht war sie lediglich eine Schicksalsgöttin, nicht weil sie eines jeden einzelnen Schicksal bestimmte, sondern weil sie gleich das Sein aller Fey verändert hat.“
Sie schloss für eine Weile ihre Augen. So, als sammle sie sich und wolle diese melancholischen Gedanken abstreifen. Ein kurzer Wind huschte durch den Garten und ließ das Laub in den Bäumen rascheln. Und er schien die Nebel, die einen Moment das Gemüt der Gastgeberin getrübt hatten, mit sich zu nehmen. Sie neigte langsam wieder ihren Kopf hinab und sah aufmunternd abwechselnd den Angroscho und die Baronin von Rickenhausen an. Irgendwo zwischen den Büschen, zu einem der wenigen Bäume huschend, hielt kurz ein Eichhörnchen auf dem Stamm inne und glotzte neugierig in den Pavillon.
„Aber in diesen Tagen wissen nur noch sehr wenige von uns ein wenig darüber. Und vielleicht ist dies auch besser so. Orima jedenfalls ist kein Name, an den ich mit Freude denken kann. Und ich will Euch nicht mit meinen schweren Gedanken behelligen.“
Dwarosch seufzte leise bei den letzten Worten und die Elfe spürte eine plötzliche Schwermut in dem Zwergen, der sie überraschte. Der Oberst jedoch verhehlte seine Gefühle nicht.
„Wann immer ich in das ebenmäßige Gesicht eines Elfen blicke, ist mein Herz von Trauer erfüllt. Der Grund hierfür ist vermutlich ein anderer als ihr vielleicht denken mögt. Wegen dieses Schmerzes jedenfalls war der Gang nach Rodaschquell der schwerste für mich und ich habe ihn mir vermutlich auch deswegen im Unterbewusstsein bis zum Schluss aufgehoben.“
Nur langsam fanden Thalissas aufgewühlte Gedanken zurück in die Wirklichkeit, so dass sie dem Gespräch wieder folgen konnte. Dennoch brauchte sie ein wenig, um auch den Sinn des Gesagten würdigen zu können, zumal sie sich mit elfischer Kultur bisher höchstens am Rande beschäftigt hatte. Ja, Orima sagte ihr etwas, war in ihrer Gedankenwelt aber nurmehr ein abstrakter Begriff. Aber die Baronin war aufgeschlossen und neugierig, und die Reaktion des Zwergen versprach eine interessante Wendung, also schob sie ihre eigenen Grübeleien in den Hintergrund ihres Geistes und hörte aufmerksam zu.
Es fiel der Gastgeberin nicht leicht, etwas auf diese sehr persönlichen Gedanken zu erwidern, die der Oberst mit der kleinen Runde geteilt hatte. Seine ehrliche Offenheit und seine Trauer berührten sie gleichermaßen. Ein Angroscho, der so frei über das sprach, was ihn im Innersten bewegte: Schon allein dies weckte ihr Interesse – und der Schwermut in seinen Worten darüber hinaus ihre Anteilnahme. Doch stand es ihr nach ihrem Empfinden nicht zu, ihn danach zu fragen. Bei Menschen und Angroschim verhielt es sich schließlich anders als bei ihrem eigenen Volk. Auch wenn sie nicht leugnen konnte, dass sie gerne wüsste, was diesen Kämpen so quälte, zumal es mit den Elfen zusammenhing. Es schien etwas zu sein, das für Dwarosch so schwer wog, dass ein jeder Elf, eine jede Elfe Trauer in dem Oberst hervorrief. Es bekümmerte sie – nicht zuletzt, weil es sie ja auch selbst betraf.
Menschen, das hatte sie oft genug erlebt, sagten in ähnlichen Situationen Dinge, die zugleich Trost spenden und Hilfsbereitschaft verdeutlichen sollten. Man könne sich jederzeit anvertrauen und darüber sprechen oder dergleichen Worte. So, als sei es eine Art Last, die der Zuhörer auf sich zu nehmen gewillt war. Oder als sei es eine Gefälligkeit, die man gewährte. Eine Gefälligkeit, die so ungeheuer kostbar schien, dass das Gegenüber gar nicht wagen durfte, danach zu fragen, sondern darauf hoffen musste, dass man ihm dieses Angebot von sich aus bereitwillig machte. Sich über derlei auszutauschen war bei den Menschen ohnehin oft verpönt. So manch einer erachtete es als Schwäche, wenn man solche Gedanken teilte, ja, sein Innerstes offen preisgab. Liana wusste nur wenig über das Volk unter dem Berg. Aber bislang schien ihr, dass Zwerge noch weniger Bereitschaft zeigten als die Menschen, zu sagen, was sie bewegte.
Nein, sie würde diese Worte der vermeintlichen Gefälligkeit nicht aussprechen, um Dwarosch nicht in gewisser Weise zu bedrängen, mehr preiszugeben. Sie würde ihm sagen, was in ihr selbst vor sich ging. Er musste von sich aus spüren oder wissen, dass …
In ihren Gedanken hielt sie inne. Ein neuer formte sich: Hätte er nicht ohnehin schon ein wenig Vertrauen gefasst, so hätte er wohl kaum offenbart, was in ihm vorging …
Schließlich sagte sie freundlich: „Ich weiß nichts über die Trauer, die Euer Herz umweht. Und deswegen denke ich auch nicht darüber nach, was die Gründe dafür sein könnten. Es bleibt mir nur die Hoffnung, dass Ihr diese Trauer einst vielleicht überwinden könnt und dann mit Freuden die Rodaschblick besucht. Ohne, dass es Euch schwerfällt. Vielleicht habt Ihr diesen ersten Schritt dazu ja schon getan. Denn Ihr habt diesen Gang hinter Euch gebracht und seid hierher zu mir gekommen. Und so sehr mich Eure Trauer bekümmert, so sehr freue ich mich darüber, dass Ihr trotz Alledem hier seid.“
„Nein“, entgegnete der Oberst nach einer Weile in das unangenehm um sich greifende Schweigen hinein. Ein Kloß löste sich hörbar bei diesem einzelnen, energisch vorgebrachten Wort und die Elfe spürte fast körperlich, dass es für Dwarosch kein zurück mehr gab. Der Bär in dem Zwergen vor ihr war auf die Hinterbeine gestiegen und würde keinen Schritt weichen. Er wollte jenen dunklen Schatten abschütteln, der auf ihm lag.
„Ich weiß nicht wann und ob überhaupt ich das nächste Mal die Gelegenheit bekomme, mich mit einem Vertreter eurer Rasse auszutauschen“, erklärte sich der Oberst mit langsam fester werdender Stimme.
„Ihr sollt hören, was oder vielmehr wer es war, der mich so tief in meinem Inneren berührte, von dem der mich eure Sprache lehrte und noch mehr als das.“
Dwarosch holte Luft und sammelte sich.
„Es war während des Beginns des dritten Orkensturms, da ich Liuthrasiel Luchsohr kennenlernte. Er kam aus der großen Steppe, in denen seiner Aussage nach viele eurer Rasse leben. Gemeinsam mit seiner Gefährtin Oryathme schwimmt wie ein Otter war er auf dem Weg zu den Auen im Westen, wie er es ausdrückte. Ich entnahm seinen weiteren Ausführungen, dass er das Delta des Großen Flusses meinte. Dort soll es ja auch Feen geben.“
Dwaroschs Gesicht verhärtete sich und er kam unvermittelt zur traurigen Wendung in seiner Geschichte. „Die Orks töten Oryathme vor seinen Augen, schnitten ihr aber zuvor bei lebendigem Leibe die Ohren ab, um sie als Schmuck zu benutzen. Er selbst war wohl als Opfergabe für einen der Götzenpriester der Orks bestimmt, jedenfalls ließ ihn der kleine Stoßtrupp der Schwarzpelte, der sie des Nachts überfiel am Leben.
Meine Soldaten und ich stellten die Horde kurz darauf bei der Annäherung an unser Feldlager. Wir ließen keinen entkommen. Liuthrasiel, den wir verängstigt, gefesselt und geknebelt an einen Pflock gebunden vorfanden, den wohl zwei Orks über die Schultern getragen hatten, schenkten wir die Freiheit.“
Der Oberst seufzte. „Doch die Freiheit hatte für Liuthrasiel keinerlei Bedeutung mehr. Sein Lied, so sagte er mir damals, wäre mit dem von Oryathme derart verbunden gewesen, das seines nun ebenfalls im Begriff sei zu erlöschen.“
Immer noch ungläubig ob der damaligen Ereignisse schüttelte Dwarosch gedankenverloren den Kopf, dann fuhr er fort. „Er bat mich sich uns anschließen zu dürfen.
Ich hielt dies anfangs für einen Scherz, doch Liuthrasiel war es ernst, todernst. Und so wurde er mein Späher. Ob ihr es glaubt oder nicht, fast drei Jahre lang teilten wir Essen, den Platz am Feuer und irgendwann auch unsere Gedanken- Vertrauen erwuchs, ebenso das Verständnis für den anderen. Das war nicht bei allen meinen Brüdern und Schwestern so, wie ihr euch denken könnt. Wir waren damals kaum zwanzig in meiner Einheit, einem Halbbanner Elitekämpfer, die nahe dem Feind operierte und Komandoaktionen durchführte, Nadelstiche setzte.
Unsere Erfolge jedoch, ermöglicht auch durch Liuthrasiel Können, die Informationen über die Bewegungen der Orks, die er uns lieferte und die heilenden Gesänge, die er im Laufe der Zeit für viele meiner Kameraden sag, flochten ein Band zwischen ihm und uns.
Er lehrte mich die Grundzüge eurer Sprache, eurer Kultur, eurer Geschichte, vermittelte mir Wissen um die Natur, Pflanzen und Kräuter. Gab mir ein…“, der Oberst rang nach den richtigen Worten… „ein besseres Verständnis von der Welt, in der ich lebe, von Einklang und Geborgenheit in und mit der Natur.“
Erneut seufzte Dwarosch. Diesmal zeigte sich dabei aber ein flüchtiges Lächeln auf seinen Zügen.
„Er rettete mir das Leben. Es war nahe Greifenfurt- zum Ende des Orkensturm, da mich ein Kriegsoger fast getötet hätte. Geschwächt und verletzt durch den Kampf mit einem Trupp Tordochai, orkischen Elitekämpfern und ihren tollwütigen Hunden, wäre ich dem stinkendem Fleischberg erlegen, hätten seine Pfeile ihn nicht gefällt.“
Ohne Vorwarnung ließ Dwarosch den Kopf sinken und schlug die Augen nieder. Erneut stand eine traurige Wendung der Geschichte bevor. Eine einzelne, schwere Träne rann an Dwaroschs Wange herab und verfing sich in seinem Bart.
„Ich vermochte es nicht ihn zu retten. Er starb zu der Zeit da wir den Belagerungsring um Greifenfurt berannten. Er deckte unseren Vorstoß, sollte uns warnen, falls man uns in den Rücken fallen wollte.“
Der Oberst schluckte schwer, seine Stimme brach. Unendlich mühselig schien es ihm sich zusammenzureißen, um weitersprechen zu können.
„Liuthrasiel- mein Gefährte, mein Freund starb in meinen Armen. Sie haben ihn einfach schwer verwundet liegen gelassen. Nie werde ich jene letzten Momente vergessen, die wir teilten, nie diesen verstörenden Frieden in seinem Gesicht und seinen letzten Worten: “Mein Lied wird in deinem aufgehen und solange erklingen wie du lebst Dwarosch, der mit Donnergrollen spricht. Teile dies Lied mit jemanden meiner Rasse, auf das mein Name und der meiner Gefährtin weitergetragen wird und zurückfinden kann in das Salasandra.“
Dwaroschs Stimme brach endgültig ab, alles war gesagt, seine Schuld endlich beglichen.
Thalissa spürte, dass dies eine Angelegenheit war, die sie eigentlich nichts anging. Sie nippte an ihrem Wein und hörte weiterhin zu, ohne sich einzumischen. Wie kaum anders zu erwarten war sie nicht die Einzige, welche Lasten aus der Vergangenheit zu tragen hatte. Dabei war sie sich bewusst, dass sie im Vergleich zu der Elfe oder dem Zwergen noch ein Kind war, bedachte man die Anzahl Lebensjahre, welche die beiden vermutlich schon hinter sich gebracht hatten – und jedes einzelne hatte wahrscheinlich seine Spuren hinterlassen, im Körper, aber mehr noch im Geist.
Nach den schweren Worten des Angroscho, die auszusprechen ihn einiges an Überwindung und Kraft gekostet haben musste, herrschte erneut ein bedrückender Moment der Stille. Eine Stille, die das Rauschen des nicht allzu weit entfernten Wasserfalls einmal mehr in den Vordergrund treten ließ, dessen Wassermassen unaufhaltsam in die Tiefe und den glitzernden See zu Füßen des Berges stürzten. Noch immer hockte im Burggarten das Eichhörnchen keck auf den Baumstamm, die kleinen Pfoten in die Rinde gekrallt, und beobachtete die Gruppe im Pavillon. Nachdem es endlich genug gesehen hatte, huschte es mit einigen putzigen Hüpfern den Baum hinauf und ins Geäst, um dort im Blattwerk unsichtbar zu werden.
„Ihr seid wahrlich ein Feyiama, Dwarosch“, sagte die Elfe dann sanft und mit einem Ausdruck, aus dem gleichermaßen Güte wie auch ehrliche Freude sprachen. So, wie sie es aussprach, klang es wie selbstverständlich und fast ein wenig beiläufig. Und doch hatte die Gastgeberin ein Wort gebraucht, das nur selten über die Lippen eines Angehörigen ihres Volkes kam: Feyiama – Elfenfreund.
„Oryathme schwimmt wie ein Otter und Liuthrasiel Luchsohr haben etwas geteilt, das sie für immer eng aneinanderband. Es ist weit mehr als nur eine „Seelenverwandtschaft“, wie Menschen es manchmal nennen. Es ist vergleichbar einem Schwur, der so tief reicht, dass diejenigen, die ihn singen, wahrlich eins miteinander werden und alles miteinander teilen. Jede Freude. Und jeden Schmerz.“
Sie schloss kurz für einen Moment die Augen und machte eine kleine Pause, ehe sie fortfuhr.
„Nach dem furchtbaren, plötzlichen Ende seiner Gefährtin hätte auch Liuthrasiel sein Leben ausgehaucht, wenn er nicht neue Kraft gefunden hätte. Ihr habt ihm diese Kraft gegeben, Dwarosch. Durch Eure Freundschaft. Sie muss ungeheuer groß sein, da ihr dies gelang.“
Sie lehnte sich anmutig etwas vor, blickte den Oberst mitfühlend, doch auch mit voller Bestimmtheit in die Augen und legte vorsichtig ihre zarte Hand auf seinen massigen Arm. Wie ein kleiner Vogel, der sich an einem knorrigen, sicheren Ast niederlässt.
„Dank Euch hat er seinen Lebensfunken wiedergefunden und ein neues Band geknüpft. Und in seinen letzten Zügen hat er Euch gebeten, dieses Lied weiterzutragen. Weil er Euch vertraut hat. Und das habt Ihr nun getan. Ihr seid ihm ein wahrer Freund, auch über seinen Tod hinaus. Und es ehrt mich, dass Ihr all dies mit mir teilt.“
Sie lehnte sich wieder zurück, und eine Spur von Bedauern klang in ihrer Stimme. „Ich kann das Lied Liuthrasiels und Oryathmes nicht singen, denn es ist einmalig, und die Stimmen der beiden sind verklungen.“
Ihre folgenden Worte jedoch klangen voller Hoffnung, und sie sagte sie in Isdira, der Sprache Ihres Volkes: „Aber ich kann das alte Lied in einem neuen aufgehen lassen, das von deiner Freundschaft kündet, Dwarosch. Ich kann es für dich erneuern und Liuthrasiels Wunsch erfüllen. Und so die Schwere von dir nehmen, die auf dir lastet… Feyiama.“
Leise, zaghaft, ja fast gebrechlich wirkte die Stimme des bulligen Zwergen und wollte daher so gar nicht zu ihm passen. Dwarosch aber war von seinen Gefühlen endgültig übermannt, seine massigen Schultern bebten und er schien dem nichts mehr entgegenzusetzen zu haben. Heiße Tränen rannen ihm aus den Winkeln seiner fast schwarzen Augen und verfingen sich im Ansatz seines prachtvollen Bartes, als er sprach:
„So bitte tut dies, Liana.“
Die Abendsonne tauchte den Pavillon in ein stetes Wechselspiel aus Licht und Schatten. Die goldorangenen Strahlen fanden ihren Weg durch die Blätter der Büsche und Bäume, die in der gelegentlichen wehenden leichten Brise hin und her wogten und das Licht in immer wieder neue Bahnen lenkten. Vom aromatischen Duft der Wildrosen angezogen, huschten einige Hummeln in den rankenartigen Sträuchern umher und machten sich mit einem zufriedenen Brummen daran, ausgiebig die verlockenden Blüten zu erkunden. Große, bauschige Wolken trieben gemächlich in dem azurblauen Himmel. Es war einer dieser herrlichen, lauen Sommerabende, wie sie nach einer allzu strengen Mittagssonne den Abend umso versöhnlicher machen.
Einen Augenblick lang musterte Liana erneut diesen beeindruckenden Angroscho, der stark, knorrig und verwurzelt wirkte wie eine alte Eiche, doch dessen Inneres ihr zugleich so tief schien wie der Neunaugensee ihrer alten Heimat Donnerbach. Sie fühlte seinen Kummer und gleichermaßen die Erleichterung, die seine ausgesprochenen Worte ihm gaben, spürte seinen Wunsch, diese schwere Bürde abzulegen und seinen Frieden zu finden. Den wichtigsten Schritt dazu hatte er schon längst selbst getan. Nun würde sie das Ihrige tun, ihn auf diesem Weg zu begleiten. Und sie würde es mit all der Macht bewirken, über die sie gebot …
Der Stein in Lianas Diadem änderte nicht bloß seine Farbe, nein, er strahlte nun deutlich sichtbar auf. Ein silberweißes Funkeln ging von ihm aus, ein seltsames Licht. „Denke an deinen Freund“, sagte die Baronin leise und voller Zuversicht in Isdira, während ein zartes Lächeln ihr Antlitz noch schöner werden ließ. „Denke an ihn, erinnere dich an ihn! An all das, was ihr teiltet und all das, was euch noch immer verbindet.“ Fast lag etwas Flehentliches in Ihrer sanften Stimme. „Erinnere dich an den Klang seiner Worte, die Tage und Nächte, die ihr am Feuer verbrachtet. Erinnere dich seiner! Dann kann ich ihn sehen und das Lied spüren, das euch verbindet.“
Ihre mandelförmigen Augen, diese großen, unvergleichlichen, blauvioletten Amethyste, schienen nun ebenfalls aufzuleuchten und blicken unverhohlen, ja, fast ein wenig aufdringlich in die dunklen Augen Dwaroschs, die tief in ihren Höhlen lagen. Sie wob mit ihrem Mandra – ihrer Zauberkraft! – ein kunstvolles Geflecht. Und der alte Angroscho spürte, dass er den Blick nicht abwenden durfte, wenn er wirklich wollte, dass Liana sein Lied fand. Und er dachte intensiv an seinen Freund Liuthrasiel. So sehr es auch schmerzte.
„Bianbhaladaín…“ hauchte die Elfe, und Dwarosch, der das elfische Wort für „Freundschaft“ erkannte, wusste sofort, dass die Rodaschquellerin ihren Zauber wirken ließ. Er schluckte und hielt einen Moment inne, denn wenngleich er auch aufgrund seines Bandes zu Liuthrasiel Magie gegenüber nicht so verschlossen war, wie die meisten anderen Angehörigen seines stolzen Volkes, so war es etwas gänzlich anderes, bewusst zu wissen, selbst verzaubert zu werden. Doch der Impuls währte nur kurz. Denn dann spürte er, wie ein Gefühl der Zuversicht und Freundschaft ihn erfasste, wusste, dass es nichts gab, dass er vor ihr verbergen musste, da niemand auf der Welt ihm in diesem Augenblick so nahe stand wie Liana, die nach seinem Empfinden nichts sehnlicher wünschte, als all seine Erinnerungen an Liuthrasiel mit ihm zu teilen.
In ihrem Schoß hielt Liana nun ihre Laute – ein wunderbares Instrument aus dunklem Kirschholz, das sie liebevoll aus einem kunstvollen Kasten genommen hatte, der an Ihren Stuhl angelehnt war. Sanft glitten ihre Finger über die Saiten und entlockten dem Instrument die ersten warmen, weichen Akkorde. Schon bald wurden sie untermalt von einer Melodie, die schwer und bittersüß erklang: mal traurig und melancholisch, doch dann zu Höhen hinaufstrebend. Und der Bär legte sich zur Ruhe und lauschte dem Lied der Nachtigall …
Ihre Stimme war hoch, rein und klar; sie trieb dahin wie eine Schneeflocke im Wind. Unfassbar zart und schön. Und jedes Wort, jeder Ton, war eine Woge der Erleichterung, der Hoffnung, des Trostes und des Glücks. Auch Thalissia spürte den Frieden, der von ihm ausging, als sie Zeuge dieses Gesangs wurde. Dieses Gefühl, mit sich selbst und der Welt im Reinen zu sein, alle Sorgen, alle schweren Gedanken ablegen zu können. Auch wenn sie – genauso wie Dwarosch – nicht verstand, was die Elfe sang, denn es war in Asdharia, der alten Sprache der Elfen.
Je länger Dwarosch lauschte, desto mehr kamen ihm Erinnerungen an Luithrasiel in den Sinn. Wie sie sich zum ersten Mal begegnet waren. All die Abenteuer, die sie gemeinsam erlebt hatten. Er erinnerte sich an das Lächeln seines Freundes, an seine Worte, an die Art, sich zu bewegen. Er erinnerte sich an all die Geschichten, die sie ausgetauscht hatten, an den Schmerz in den seltenen Momenten, da sein Freund von Oryathme sprach. An das gegenseitige, bedingungslose Vertrauen. Und an die letzten Worte, die der Elf zu ihm gesagt hatte, als er sterbend in Dwaroschs Armen lag: „Teile dies Lied mit jemanden meiner Rasse, auf das mein Name und der meiner Gefährtin weitergetragen wird und zurückfinden kann in das Salasandra.“ Er erinnerte sich an seine eigene Wut, den Liuthrasiels Tod ihm bereitet hatte – ach, wäre er doch eher bei ihm gewesen! –, aber auch an die Hoffnung, die in den Worten gelegen hatte. Ja, er hatte Liuthrasiels Lied weitergetragen! Er hatte es stets in sich bewahrt als etwas unglaublich Kostbares. Etwas, das nun auch Liana in sich trug. Und nun, da er es geteilt hatte, fühlte Dwarosch Erleichterung über sich hinweggleiten. All der Schmerz, der ihn die vielen Jahre gequält hatte, der Schmerz, nicht rechtzeitig bei seinem Freund gewesen zu sein, er verklang zunehmend. Und Dwarosch wurde klar, dass genau dies Liuthrasiels Wunsch gewesen sein musste. Und Freude darüber machte sich in ihm breit, da er dies erkannt hatte ...
Langsam ließ Liana ihr Lied ausklingen, das zugleich auch das Lied Dwaroschs, Liuthrasiels und Oryathmes war. Wie ein Besucher, der sich zum Abschied noch einmal umdreht und die Hand zum Gruß hebt, bevor er sich endgültig auf den Weg macht, zog sie sich langsam zurück aus den Gedanken Dwaroschs und seinen Empfindungen, aus all den Erinnerungen an Liuthrasiel und Oryathme, die nun auch sie kannte.
„Danke, Dwarosch, Sohn des Dwalin, dass du dieses wunderbare Lied mit mir geteilt hast“, sagte sie, während sie ihrer Laute die letzten Klänge entlockte.

Das Gesamtdokument hängt an.