Tiergefährten - Kapitel 4

Spurensuche

Kapitel 4 der Briefspielgeschichte Tiergefährten

Bedächtig nickte Mafaldo. “Es gibt einen Wächter, der das Tor zu unserer und dieser Welt bewacht. Sein Name ist Salgar und er gehört zu den Dryaden. Ich vermute, er ist derjenige, der die Menschenfrau mit dem Kind und eure Gefährtin”, damit blickte er auf Akka,” mitgenommen hat. Zu meiner Enttäuschung sehe ich ihn hier nicht. Ich kann von Glück sagen, dass ihr zahlreich meinem Hilferuf gefolgt seid, so könnte die Suche schneller gehen.” Dann wanderte sein Blick zu den anderen Rabenmännern. “Es gibt nur drei Orte wo er sein kann: Bei Hofe der Lilienkönigin, bei der Schmiede der Biestinger oder am See des Lebens. Ich schlage vor, wir bilden Gruppen und versuchen eine Spur oder die Vermissten zu finden. Ich werde zum See des Lebens gehen und dort jemanden um Rat fragen. Corax, du gehst zur Königin und du, Caligo, zur Schmiede.” Dann wandte er sich wieder zu den anderen. “Wem möchtet ihr euch anschließen?”

Das junge Mädchen, das ihre Aufregung nicht verbergen konnte, tänzelte und wippte auf der Stelle, ihr Kopf mit den weit aufgerissenen Augen wandte sich ruckartig und nacheinander jedem der drei Raben zu. Alle drei Orte klangen so aufregend, so interessant! Sie konnte nur zu dem einen gehen. Als sich die Gänsefrau und der Krötenmann Mafaldo anschloss, reduzierte Tharga ihre Auswahl, doch ihre Aufregung wurde deswegen nicht geringer. Biestinger? Lilienkönigin? Biestinger? Lilienkönigin? Sie verspürte einen unbändigen Bewegungsdrang, um den Stress, den ihr diese Entscheidung abnötigte, abzubauen. Noch immer ruckte ihr Kopf unentschlossen zwischen Corax und Caligo hin und her.

Dem wortkargen Rotlöckchen stand nicht der Sinn nach allzu viel Gesellschaft, weshalb der Hof dieser Lilienkönigin ihn nicht wirklich reizte. Ja, er kannte diese sogenannten ´Höfe´ - immer voll mit Zweibeinern und immer musste er für Frenya seine acht Augen offen halten. Meist saß er dabei in einem dunklen Winkel, oder an der Decke, während sie mit anderen Zweibeinern sprach, für die sie nichts als Verachtung übrig hatte. Jetzt, da Rotlöckchen selbst als Zweibeiner ausharren musste, würde er die Gelegenheit nutzen und jenen Ort wählen, der am unscheinbarsten war. Eine Schmiede … hm … wenigstens war es dort warm.

Aslan war dabei aus einem anderen Holz geschnitzt. Er war zwar keine dieser jämmerlich verweichlichten Hauskatzen, doch störte er sich an der Gesellschaft anderer nicht. Außer sie machten ihm seine Beute streitig … oder störten seinen Schlaf, wie diese schnatternden Gänse zuvor. Nun da er aber schon einmal in dieser Welt war, konnte er sich ja auch amüsieren. Und wo ginge das besser als am Hofe einer Königin. Dass es eigentlich darum ging diesen Hüter Salgar zu finden, um auf die Spur der Zweibeiner-Frau mit dem Welpen zu gelangen, schien der selbstsüchtige Kater bereits ausgeblendet zu haben.

Ein leichtes Zucken der Hand Akkas in der ihren verriet Relindis, wohin es die menschgewordene junge Gans sofort zog. An welchen Ort unter den drei genannten würde eine wohlmeinende Kreatur, die sich der Neuankömmlinge in ihrer Welt annahm, eine Menschenfrau mit ihrem Küken und eine Gans wohl eher führen als an einen See, der sich See des Lebens nannte. In diesem Namen schwang soviel Verheißung, dass sich Akka versprach, dort auch die Verschwundenen wiederzufinden. Oder wenigstens eine Spur zu diesen.

Auch Relindis lockte bereits der Klang dieses Ortes. Da sie darüber hinaus keine Anhaltspunkte dafür sah, dass einer der anderen Ort vielversprechender wäre, und sie ohnehin so viele waren, dass sie sich aufteilen und an allen der genannten Orte nachsehen konnten, ließ sich die junge Geweihte bereitwillig von Akka, die ihr unter all den fremden Tieren nicht nur am vertrautesten war, sondern wie ein Fingerzeig ihrer Göttin erschien, in Richtung Mafaldos ziehen.
So menschenähnlich die Gestalt Akkas auch geworden war, so watschelnd war - nicht nur den Schwimmhäuten zwischen ihren Zehen geschuldet - noch immer ihr Gang, bei dem ihr ganzes Hinterteil geradezu aufreizend hin und her wackelte. Was viele Menschen sicherlich belustigt hätte, kam Relindis in diesem Augenblick und in dieser fremdartigen Welt aber ganz selbstverständlich und natürlich vor.
Sie machte sich eher Gedanken, was es mit jenem Kinde auf sich hatte, das sie so gar nicht einordnen konnte. Wahrscheinlich war es in Not oder gar Gefahr gewesen, und die herzensgute Elvrun hatte sich seiner, selbstlos wie sie war, angenommen. Und jetzt würden sie alle ihr helfen.
“Wir kommen mit Dir.” sprach Relindis Mafaldo an. Während sie kurz darauf warteten, wer sich ihnen noch anschließen würde, drängte bereits die erste Frage aus ihr an den Rabenmann heran: “Weißt Du, was geschehen ist, dass sich dieses Tor hierher geöffnet hat?”

“Der Wächter. Salgar, er kann es öffnen oder schließen.”, sagte er mit traurigen Blick.

So fremdartig ihr der Rabenmann auch erschien konnte Relindis doch den Schmerz in seinen Augen wahrnehmen. Was mochte nur geschehen sein? "Und weißt Du, warum Salgar das Tor geöffnet haben könnte?" fragte sie daher, ganz leise und behutsam nach. "Hat es etwas mit dem Kind zu tun, dessen sich meine Schwester im Glauben angenommen hat?"

“Sie war traurig. Das konnte ich spüren. Dryaden sind sehr anfällig für Emotionen und können nicht anders, als ihren Launen zu folgen. Nur er kann uns sagen, warum er das Tor geöffnet hat.”

"Traurig..." wiederholte Relindis nachdenklich, ihren Blick in die Ferne schweifend. "Sicher des Kindes wegen. Was mag diesem nur zugestoßen sein?" fragte sie mehr sich selbst als den Rabenmann. Elvruns mitfühlendes Wesen war in der Tat nicht zu übertreffen - wenn das Leid eines Kindes selbst am Tage ihrer eigenen Hochzeit solch starke Empfindungen bei ihr auslösen konnte...
Sie merkte auf, als der glubschäugig-warzige Onyx, der so eigentümlich duftete, angewatschelt kam.
Akka hatte derweil bereits registriert, dass der Schwarm sich in drei saubere Rotten geordnet hatte. "Wollen wir? Wollen wir? Wo lang? Wo lang?" schnatterte sie in Menschenzunge vor sich hin, ihre Augen auffordernd auf den Leitvogel gerichtet.

“Lilienkönigin, Lilienkönigin!” posaunte Maya prompt heraus und meldete sich eifrig. “Ich will zur Lilienkönigin!” bekräftigte sie noch mal und ihre Flügel vibrierten aufgeregt. “Ich bin dabei!” Schließlich waren Lilien wunderschöne Blumen mit leckeren Pollen, dachte Maya. Und von einer Königin hatte sie ja auch schonmal etwas mitbekommen. Diese Honigbienen und auch die Hummeln waren immer ganz verrückt nach dieser Königin, auch wenn Maya diese noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Kurz überlegte sie, ob das vielleicht sogar ein und dieselbe Königin sein könnte, oder gab es mehr als nur eine? So viele faszinierende Fragen...
Gespannt überlegte Maya, was sie wohl von der Königin halten würde, wenn sie dieser tatsächlich begegnete. Ob sie genauso begeistert sein würde wie diese Honigbienen immer erzählten?

Die noch immer unentschlossene Tharga sah sich durch Mayas Entscheidung vor vollendete Tatsachen gestellt - zu ihrer Erleichterung, da sie selbst nicht wirklich entscheidungsfreudig war. Ihre Intelligenz ließ sie erkennen, dass eines der Rudel - jenes, das zu den Biestingern ging - kleiner war als die anderen. Gerne hätte sie die Lilienkönigin gesehen und ihren Hof, ihre neue Freundin Maya begleitet, doch nun waren es wohl die Biestinger, zu denen ihr Weg sie führte.
Nun, Biestinger, das klang gefährlich. Vielleicht würden ihr Kampfesmut, ihre scharfen Zähne dort dringender gebraucht werden!

Gerne hätte Onyx Maya begleitet. Mit unergründlich nichtssagendem Blick schob er seine Zunge im Mund hin und her. Er hatte Hunger und Wasser war behaglich. “Ich komme auch zum See mit.” Wie sehr vermisste er seine Herrin. Sie war ein einfaches Bauernmädchen und verstand ihn einfach. Dieser Trupp war entweder zu hektisch, zu eingebildet oder beides. Bedächtig wankte Onyx zu Mafaldo.

“Wann gehts los, wann gehts los?”, wandte sich die noch immer auf der Stelle wippende Tharga mit begeistertem Gesicht an den alten Albino.

“Hihihi”, kicherte der Alte und tätschelte die Stirn des ungeduldigen Mädchens. So hatte er es des öfteren bei den Menschen gesehen. “Aber, aber nur nicht so ungeduldig. Zunächst einmal musst Du die richtige Gruppe finden”, er deutete auf den Rabenmann mit den breiten Schultern und den grünlich schillernden Federn, “dort steht Dein Begleiter. Ich werde mit Aslan und Maya zur Königin gehen. Caligo dort geht mit Dir und dem Geheimniskrämer zu den Biestingern. Aber ich habe eine Aufgabe für Dich. Möchtest Du eine Aufgabe haben?”

Tharga nickte eifrig, geradezu enthusiastisch.

“Vielleicht gelingt es Dir ja dem stummen Knaben seinen Namen zu entlocken. Es ist schon ziemlich unhöflich, sich nicht vorzustellen, findest Du nicht?”

Kaum waren die Worte des Alten verklungen, lief Tharga - viel zu schnell - auf den jungen Mann mit der rotlockigen Mähne zu und kam vor ihm zu stehen. Sie stubste ihn mit einem Finger an die Schultern. “Hallo! Du, wie heißt Du? Ich heiße Tharga. Und Du?” Wieder wippte das Mädchen ungeduldig von Fersen auf Fußballen, wechselte die Position und lief vor dem jungen Mann auf und ab, ständig in Bewegung.

Ohne eine Regung auf seinem Gesicht musterte der junge Mann das aufgekratzte Mädchen. Erst wollte er diese Begegnung lediglich stumm aussitzen, doch würde sie das wohl nicht auf sich sitzen lassen. “Rotlöckchen nennt mich meine Gefährtin”, meinte der Rotgelockte deshalb knapp. “Du kommst auch mit zur Schmiede?” Insgeheim hoffte er auf eine Verneinung, erhielt jedoch ein enthusiastisches Nicken zur Antwort.

Dann drehte sich Tharga zu Corax um und rief über die ganze Wiese hinweg: “Er heißt Rotlöckchen! Geht’s jetzt los?”

Die schwarzen Augen des Rothaarigen lagen auf dem Mädchen. Wäre er nicht kalt und gefühllos, wie Spinnen nun einmal waren, es wäre ihm ein Seufzen entkommen. So nahm er die Präsenz dieses Energiebündels lediglich stoisch hin.

“Ja, Tharga, jetzt geht´s los”, nickte der Alte, breitete seine Flügel aus, um sie auszuschütteln und bot Maya seinen Arm an: “Herr Aslan, Frau Maya, hier geht´s lang.” Nach ein paar Schritten blieb er dann stehen, blinzelte und meinte: “Dummerchen! Das ist doch der Weg zum See. Wir müssen dort lang.” Er wechselte die Richtung und führte die beiden auf den Pfad zum Hof der Lilienkönigin.

Caligo betrachtete derweil den hübschen, aber auch langweiligen Knaben und das hyperaktive Mädchen. Man konnte deutlich das `Warum ich?` sehen, das durch seinen Kopf raste. Mit einem leisen Seufzen drehte er sich um und sagte, ohne sich zu den beiden umzudrehen: “Zur Schmiede geht´s hier lang.” Dann ging er los, ohne abzuwarten, ob die beiden ihm folgen würden.

“Na dann … keine Müdigkeit vorschützen …”, Aslan grinste zufrieden, “... lassen wir die Lilienkönigin nicht warten.” Ja, das gefiel dem geltungssüchtigen Kater. Der Hof einer Königin war für ihn angemessen, wie er befand. Hoffentlich gab es dort auch was anständiges zu essen.

Rotlöckchen hingegen wirkte eher weniger begeistert, wenn man aus seinem Antlitz überhaupt etwas abzulesen vermochte. Er beschränkte sich auf ein knappes Nicken und folgte dann Caligo.

Es dauerte nicht lange, da hatte Tharga ebenfalls zum Raben aufgeschlossen und wurde nicht müde, ihm Fragen zu stellen, gleich darauf vorauszueilen, um den Weg zu erkunden, und dann wieder zurückzukehren um die nächste Auskunft einzuholen. Es war unübersehbar, dass das Mädchen sich auf die Aufgabe freute, die ihr gestellt worden war, aber gleichzeitig viele Gedanken dazu anstellte, die sie zum Leidwesen ihrer Begleiter sogleich mit diesen teilte. Als die Antworten, die sie erhielt, immer einsilbiger wurden, begann sie ihrerseits aus ihrem Leben zu berichten, das ganz offensichtlich bisher nur sehr kurz gewesen und sehr insignifikant verlaufen war.

‘Nun gut, es geht wirklich los’, dachte Maya und spürte, wie ihr Herz aufgeregt zu pochen begann. Mit einem freudigen Lächeln winkte sie Tharga zum Abschied. “Wir sehen uns sicher bald wieder, liebe Tharga!”, rief sie ihrer Freundin hinterher.
Dann drehte sie sich um, streckte den Arm in Richtung des ihr unbekannten Ziels aus und verkündete lauthals: “Lilienkönigin voraus!” Mit eiligem Schritt, welcher durchaus einige Hüpfer beinhaltete, begann sie Corax und Aslan zu folgen. Ohne dass sie es bewusst wahrnahm, summte sie wieder eine kleine Melodie vor sich hin...

Am Hofe der Lilienkönigin

(Corax, Aslan, Maya)

Der alte Rabenmann mußte nur den Harfenklängen im Wind folgen, um die Burg der Lilienkönigin zu finden. Der Weg dorthin war kein langer und schon nach einigen Augenblicken war hinter einigen Hügeln, die über und über mit Lilien bedeckt waren, der Burgberg zu sehen. Ein Serpentinenweg führte zu einem verschnörkelten Prachtbau, die den menschlichen Burgen auf Dere in nichts nach stand. Schon im Hof sah man viele feiernde Eber-Biestinger, aufrecht gehende Schweine in leichter Rüstung, die mit schweren Holzkrügen anstießen und grunzende Sauflieder sangen. Es dauerte nicht lange und ein aufrecht gehender Eber in der Tracht eines Majordomus kam auf sie zu. Ganze 180 Halbfinger war er groß, hatte einen massigen Körper und grau-schwarzes, borstiges Fell. Grunzhold, der Hofzeremonienmeister, schaute die neuen Gäste abschätzig an.

"Kraaa! Sei mir gegrüßt, Grunzhold", steif verneigte sich der Rabenmann, soweit es sein alter Rücken zuließ, "hihihi, du erkennst mich wohl nicht mehr. War lange nicht mehr hier. Ich bin es, Corax. Diener des Schicksals, Gefährte von Madalberta. Dies sind Herr Aslan vom Volk der Katzen und Frau Maya vom Volk der Bienen. Kraa. Wir möchten um Audienz bei ihrer Majestät bitten. Weil… mmmmh, warum noch gleich… es war was wichtiges, nur was… ach ja, weil ein Mensch hier ist. Mit seinem Küken."

Maya hörte ganz aufmerksam dem zu, was Corax dem gut aussehenden Grunzhold zu sagen hatte. Besonders gefiel ihr das grau-schwarze borstige Fell des Zeremonienmeisters. ‘Wie sich das wohl anfühlt?’ überlegte Maya und sprach ihn nun direkt an: “Sei auf das freundlichste gegrüßt, lieber Grunzhold”, während ihre Flügel ab und zu ein wenig zuckten. “Kannst du uns auf der Suche nach den zweibeinigen Glatthäuten weiterhelfen?”

´Glatthäute?´ Aslan wandte sich dem Bienenmädchen zu. Er wusste, dass die Schwarzpelze Menschen auf diese Art und Weise benannten, doch ließ diese kurze Irritation seine Vorfreude nicht erlöschen. “Wo ist sie denn, die Königin?”, fragte der Kater. Der Aufenthaltsort und das Schicksal der beiden Zweibeiner hatten für ihn bloß untergeordnete Bedeutung. Er wollte die Königin sehen und kennenlernen.

Der Majordomus ließ ein lautes Quieken von sich. “Väterchen Corax, welch Überraschung!” Dann ließ er den Blick auf die beiden anderen schweifen. “Seid willkommen am Hof der Lilienkönigin!” Dann verbeugte er sich kurz. Nun folgt mir.” Damit drehte sich der Schweinemann um und stelzte auf saftigen Haxen voran. Nur kurze Zeit später betraten sie einen Thronsaal, der mit lebendigen Lilien übersät war. Viele Hofleute waren zugegen, Schweinebiestinger in Rüstung, Bachenbiestingerinnen in höfischen Kleidern. Bienen und Vögel umschwärmten den wundersamen Ort, in dessen Mitte drei wunderschöne Gestalten saßen und schwatzten. Die Dryaden, zwei Frauen und ein Mann, hatten eine braun-grünliche Haut und ihr Haar hing ihnen, wie bei den Weiden, lang und grün, herunter. Doch noch weiter höher, saß die schönste Gestalt von allen: die Lilienkönigin! Diese hatte Haut wie Alabaster und auch ihr langes Haar war seidig und blütenweiß. Ihr Kleid bestand aus weißen Lilien, doch betonten sie sehr ihre weiblichen Rundungen. Nur ihre Augen hatten den Hauch von zartem Rosa. Kaum war die Gruppe eingetreten, drehte sich Grunzhold wieder zu ihnen um. “Ihr müßt wissen, wir feiern heute eine Hochzeit. Der Ritter Davirn hatte um die Hand des Fräulein Nurvel angehalten. Doch die Braut ist noch nicht hier.” Damit deutete er auf einen äußerst nervös wirkenden Eber-Biestinger, dem gerade von einer Rosendryade die Hand gehalten wurde.

Aslan war angetan von der Lilienkönigin. Am liebsten wäre er mit erhobenem Schweif durch ihre alerbasterfarbenen Beine gestrichen, doch kam derlei gebaren als Zweibeiner nicht wirklich gut an. Außer bei Alina, sie mochte das. Nachdem der Kater es dann in einer schieren Kraftanstrengung geschafft hatte, seinen Blick von der Lilienkönigin abzuwenden. “Äh ja … das ist ein Zufall. Wir suchen ja eigentlich auch eine Frau …”, meinte Aslan immer noch etwas abwesend, “... meinst du wir könnten die äh … Königin fragen?”

Corax ging ein paar Schritte auf die Königin zu, neigte das Haupt und glitt am Lilienstab hinab. Offenbar wollte er auf ein Knie herunter, aber mitten in der Bewegung hielt er inne. Der Körper zitterte und die Hand ging an den Rücken. Der Lilienstab bekam ein Gesicht knapp unter der Blüte. An den Seiten entsprangen zwei grüne Ärmchen, die Blattähnliche Finger an den Enden bekamen. Der Stab verbeugte sich galant, bevor er versuchte den alten Raben wieder gerade zu biegen. Ächzend kam dieser wieder zum Stehen: “Verzeiht mir, Majestät, doch die Last des Alters drückt auf meine Knochen, so dass ich Euch nicht gebührend huldigen kann. Eines aber kann ich noch”, er rückte den Zwicker zurecht, “Eure unvergängliche Schönheit preisen. Der frischeste Schnee erscheint in tristem Grau neben Euch und kein Rosenquarz wäre geeignet den samtenen Glanz Eurer Augen wiederzugeben.”

Der stolze Kater weigerte sich unterdessen das Knie zu beugen und die Schwafelei des Alten rang ihm ein Lächeln ab. Gerne hätte er an der Königin gerochen, aber das war wohl ebenfalls nicht schicklich.

Maya fing erregt an mit den Flügeln zu schlagen, so schnell, dass diese zu einem aufgeregten Brummen aufheulten. ‘Das ist sie‘, dachte Maya ‘das ist die Lilienkönigin! Wunderschön! Was für ein großartiges Kleid.‘ Die junge Frau streckte ihre Fühler neugierig in Richtung der Königin aus und witterte, ob der Duft von Blütenstaub die Königin umgab. Tatsächlich nahm Maya den feinen Duft von Lilien wahr, vermischt mit einem weiteren bezaubernden Aroma, das ihr unbekannt war. Völlig verzückt wandte sie sich zu den hohen Herrschaften und fiel mit einer tiefen Verbeugung vor der Königin auf die Knie.
“Es freut mich, dich kennenzulernen, liebe Lilienkönigin“, begann die Bienenfrau mit einer artigen Stimme. „Ich bin Maya und wir sind auf der Suche nach einer...“ sie überlegte kurz “…Menschenfrau und einem Kind. Die Frau heißt Elvrun.“

Der Hofzeremonienmeister machte einen Schritt zurück. Als Corax sprach, kam erst keine Regung von der Königin, aber als dann die Bienenfrau auf die Knie ging, drehte sie sich zu den Neuankömmlingen. Ein Wind kam auf und Klänge einer Harfe waren zu hören. “Oh, wen hast du mir denn da mitgebracht, alter Rabe? Es gefällt mir!” Nun lächelte sie und ihre rosafarbenen Augen nahmen an Farbe zu. “Du meinst sicher das sterbende Ding. Ich habe befohlen, es aus meinen Augen zu entfernen. Es war krank”, sagte diese kühl.

Verwirrt von der Rede der Lilienkönigin runzelte Maya die Stirn. ‘Sollen doch erstmal die Schlauen der Gruppe was dazu sagen...’, dachte sie und hielt diesen Gedanken insgeheim für recht gerissen. Schweigend schmunzelte sie ihn sich hinein.

“Sterbendes Ding”, wiederholte Aslan daraufhin mit eher mäßiger Begeisterung. Es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren. “Das Kleine, oder die Mutter? Wohin hat man sie denn gebracht?”

“Dies sind Frau Maya, eine Imme von der Wiese und Herr Aslan, ein Kater, der schon weit gereist ist, Euer Majestät. Und wenn Ihr genau hinseht, dann erkennt Ihr, dass auch wir Sterbende sind. Insbesondere meine Wenigkeit. Habe ich doch schon mehr als zwei Leben gelebt. Ich vermute sogar, dass dies mein letzter Besuch sein wird. Der Mensch und sein Küken wurden von Salgar hierher gelockt. Wir sind hier, sie zurück zu führen, wenn Ihr erlaubt.”

Maya war jetzt richtig stolz, mit so erfahrenen Gefährten dieses Abenteuer zu bestreiten. Sie hatte sich mit ihrem langen Leben einer Wildbiene schon für recht weise gehalten, doch übertraf wohl die Erfahrung ihrer Gefährten ihre kühnsten Vorstellungen. Ganz gespannt wartete Maya auf die Antwort der Lilienkönigin, während sie sich mit großen Augen im Thronsaal umschaute und alles ganz genau in sich aufnahm.

Die Königin rollte mit den Augen. “Ja, da war dieses störende Balg, das hat mit seinem Gezeter unsere ganze Stimmung ruiniert. Ich habe Salgar empfohlen, es los zu werden… das Balg. Der Wächter macht mir immer nur Kummer.” Dann seufzte sie und ihr Blick wanderte kurz zu den drei Dryaden. “Da er aber unbedingt das Ding retten wollte, hab ich ihn zur Heilerin Ulmaceae ins Ulmental geschickt.” Dann schaute sie wieder zu der Bienenfrau. “Ihr könnt sie gerne haben… das welkende Ding. Doch ich glaube kaum, dass sie noch zu retten ist. Allerdings könnt Ihr auch hier bleiben und mit uns feiern, welche wie Euch hatte ich noch nie am Hofe!” Das Lächeln galt nun Maya und Aslan.

‘Oh’, dachte Maya, während in erster Linie die Worte ‘hier bleiben’ und ‘feiern’ in ihrem Kopf Nachklang fanden. Dann antwortete Maya begeistert: “Das ist ja wirklich nett von Euch, liebe Lilienkönigin! Wir müssen allerdings erst die beiden...”, Maya überlegte kurz, wie das Ding nochmal hieß, dann fiel es ihr wieder ein und stolz verkündete sie: “…Menschen retten.” Sie lächelte überglücklich die Lilienkönigin an, schaute nun zu Aslan und war ganz gespannt, wie dieser reagieren würde.

“Ooooh, ich danke Euch für die Einladung, Majestät …”, das Angebot gefiel dem Kater Aslan. Auch in ihm tobte nun ein innerer Kampf, den man dem sonst so stolzen und stoischen Wesen deutlich ansehen konnte. Als er sich dessen gewahr wurde, dass das Bienenmädchen Maya ihn so erwartungsvoll von der Seite ansah, seufzte er. “Ja … wir müssen die Zweibeiner zurück in unsere Welt führen. Wenn Eure Einladung dann noch gilt, kommen wir sehr gerne darauf zurück.”

Ein wenig traurig war Corax schon, dass er im Herzen der Königin keinen Platz mehr fand. Aber sie hatte sich an Regeln zu halten, genau wie er auch. Ihr Reich war das Leben, die Freude, der Sommer und er, er fühlte bereits die Kälte des nahen Winters. Sein Herbst war fast zu Ende. Er wandte sich seinen jugendlichen Begleitern zu: “Hihi, ihr dummen Jungspunde. Die Königin möchte mit euch feiern. Bleibt, genießt das Leben und erfreut ihre Majestät. Ich gehe ins Ulmental.”

Der Vorschlag von Corax klang wie Musik in Mayas Fühlern. Sie dachte an den herrlichen Duft und Blütenstaub der Lilienkönigin. Das lockte sie förmlich und sie brummte erregt mit ihren durchscheinenden Flügeln, weil sie befand, dass die Lilienkönigin um Längen besser war als die Blumenwiese in ihrem Lilienpark. Sie schaute zu dem alten Rabenmann und schluckte. Nein, das durfte sie nicht, konnte sie nicht. Sie waren doch auf einem gemeinsamen Abenteuer. Verunsichert und mit einem schuldbewussten Blick schaute sie traurig zu dem weisen Aslan: “Das können wir doch nicht, oder?” Leise murmelnd brummte sie vor sich hin und traf, bevor der Kater antworten konnte, ihre Entscheidung. Maya blickte zum Raben und streckte ihm frech die Zunge raus. “Könnt Ihr vergessen, das Abenteuer alleine lösen zu wollen. Freunde helfen einander!” verkündete sie stolz. Mit mutiger Stimme rief die Bienenfrau: “Wir kommen mit!”, dann zögerte sie erneut und unschlüssig. “Oder, Aslan?” Sie tänzelte in seine Richtung mit einem Hüftschwung, den sie als Biene noch als sogenannten ‘Schwänzeltanz’ kannte und versuchte ihm kess einen Hüftstoß zu geben.

Der Angesprochene seufzte tief, während sein Blick auf dem Mädchen lag. Eigentlich bliebe er viel lieber hier, doch … wie sah das aus wenn er den alten Raben und die junge Biene alleine ziehen ließ? Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. "Ja, wir gehen alle drei", meinte Aslan dann nicht so überzeugt, wie seine Worte es vielleicht suggerierten.

Ein hallendes “Oh” schallte es durch den Thronsaal. Enttäuschung machte sich auf dem Gesicht der Lilienkönigin breit. “Richtet dem Nichtsnutz Salgar aus, dass er mir alles verdorben hat.” Beleidigt schaute sie weg, während die Harfenklänge in einer traurigen Melodie erklangen. Es dauerte nicht lange und einzelne Hofdamen begannen zu weinen. Der Zug von Traurigkeit ging durch die Reihen.

"Bitte seid nicht traurig, Majestät. Ich schaffe den Gang zu Ulmaceae auch allein." Der Alte wandte sich an seine Gefährten: "Seid doch so gut und bleibt einen Augenblick. Ihr seht doch, wie sehr sich ihre Majestät darüber freut. Ich bin alt und schmerze in ihrem Auge. Ihr seid jung und voller Lebensfreude. Feiert, bis ich zurück bin." Dann trat er ein paar Schritte zurück und schickte sich an seine Flügel auszubreiten, um sich in die Lüfte zu erheben.

Aslans Blick ging zwischen Corax und der weinenden Königin hin und her. Sie war anscheinend genauso emotional wie Alina und aus genau diesem Grund wusste der Kater auch, was zu tun war. "Majestät ...", meinte er schnurrend, "... was sind schon ein paar Stundengläser im Vergleich zu dem rauschenden, ewigen Fest hier auf Eurem Hof? Wir werden Salgars Aufgabe übernehmen und jene in ihre Welt zurückbringen, die nicht hierher gehören. Nur sehr ungern würde ich dem Raben Corax diese Aufgabe alleine aufbürden und zu dritt sind wir bestimmt schneller und effizienter."

Mit weit aufgerissenen Augen sprang Maya mit einem Hechtsprung zu Corax und umklammerte dessen Beine, um ihn am Abheben zu hindern. “Nein!” schrie sie laut. “Du darfst nicht allein gehen, Corax!” Während sie den alten Raben fest in ihrem Griff hielt, beruhigten die Worte Aslans die junge Bienenfrau. Als sie nach ein paar Herzschlägen überzeugt war, dass Corax nicht sofort wegfliegen würde, ließ sie den Raben los und ging zur Lilienkönigin: ”Es tut mir ja so leid, liebe Lilienkönigin, aber wir kommen ganz bald wieder.” Sie schaute zur Königin und ihrem Gefolge. Die Bienenfrau schluckte und ergänzte dann aufrichtig: “Ganz bald!” Maya stiegen Tränen in die Augen. Schluchzend brachte sie heraus: ”Wirklich versprochen, ehrlich!”
In diesem Moment überkamen Maya die Gefühle und sie brach vor dem versammelten Hof der Königin auf den Knien zusammen. Tränen überströmt und laut aufschluchzend versuchte Maya stammelnd der Lilienkönigin zu erklären: “Wir… also...” Maya schniefte laut, wischte sich die Tränen aus den Augen und versuchte den Satz fortzusetzen: “Wir sehen uns dann bald wieder, liebe Lilienkönigin.” Schweren Herzens erhob sich die Bienenfrau schließlich und ging mit gesenktem Haupt, ohne sich noch ein weiteres Mal umzuschauen, zu ihren Gefährten.

Corax breitete die Arme aus und nahm Maya in Empfang. Sanft strich er ihr über den Kopf, wobei er Rücksicht auf die Fühler nahm, und wischte mit der anderen Hand die Tränen aus ihrem Gesicht. “Liebreizende Königin, Schönste und Edelste aller Blumen, können wir irgendetwas tun, um Euch die Wartezeit zu versüßen? Soll Herr Aslan für Euch tanzen? Oder Frau Maya für Euch singen? Oder sollen wir nach der Braut schauen, damit die Hochzeit weiter gehen kann? Ich bitte Euch, sagt uns, wie wir Eure Gunst zurück erlangen können.”

Die Vorstellung, dass der Kater für die Lilienkönigin tanzen könnte, gefiel der jungen Bienenfrau. In den Armen des Raben zauberte der Gedanke, dass sie nach erfolgreichem Abenteuer möglichst bald hierher zurückkehren würden, sie singend und der Kater dazu tanzend, tatsächlich ein Lächeln in Mayas Gesicht.
Sie löste sich aus der Umarmung, wischte sich die letzten Tränen aus ihren feuchten Augen, lächelte freundschaftlich Aslan zu und blickte erwartungsvoll zur Königin, was diese antworten würde.

'Ta … tanzen?', dachte Aslan und warf dem Raben einen kurzen, verärgerten Blick zu. Sah er so aus als würde er das können? Dann wandte sich der Kater wieder der Königin zu.

“Hmmm.” Die Königin schien nachzudenken. “Na gut. Kommt später wieder. Dann tanzen und singen wir!” Nun lächelte sie und mit ihr der Hof. Plötzlich lag der schwache Geruch von Rosen in der Luft, der mit jedem Augenaufschlag stärker wurde. Lieblich und beruhigend, ja leicht berauschend schien er auf das Gemüt zu schlagen. In unmittelbarer Nähe zu den Dreien wuchsen Rosen aus dem Boden und plötzlich löste sich aus ihnen eine Gestalt. Eine junge, schöne Frau stand nun vor ihnen und hatte elfenbeinfarbene und schimmernde Haut. Ein Geflecht aus Rosenblüten bedeckte ihre Brust und ihren Schambereich. Ihre Augen hatten die Farbe von einem zarten Rosa und ihr Haar bestand aus roten Blütenköpfen von Rosen. Neugierig betrachtete sie Rabe, Kater und Biene. “Ich bin Rosan, die Rosenprinzessin. Ich kenne einen Weg ins Ulmental, denn ich glaube, nicht alle von euch können fliegen.” Nun lächelte sie den alten Rabenmann an und schenkte dem Katzenmann ein lasziven Blick.

“Ich kann nicht fliegen …”, meinte Aslan dennoch voll Stolz, “... aber ich bin schnell und ich kann gut klettern.” Er kneifte seine Katzenaugen lächelnd zusammen und roch an der Rosenprinzessin. Solch hohe Gesellschaft hatten sie hier. Einmal war er einer Königin gegenüber gestanden - Oropheïa, die im Wald lebte, in den ihn Alina immer mitnahm. Doch die Eule war alt gewesen und streng. In ihrer Gegenwart war es nicht so aufregend wie in jener der Lilienkönigin und der Rosenprinzessin. Die beiden rochen auch besser.

Maya traute ihren Augen kaum, als die Rosen so schnell aus dem Boden sprossen und sich die Prinzessin daraus formte. Fasziniert nahm sie mit ihren Fühlern den süßen Duft auf und lächelte nun wieder vollends. Sie war so aufgeregt, dass sie kurzzeitig gar nicht so recht zuhörte: “Äh, was... fliegen? Wir sollten gemeinsam laufen!” bestätigte Maya. “Das Fliegen fällt mir in meiner momentanen Gestalt recht schwer, fürchte ich.” Begeistert witterte sie erneut den schweren und betörenden Duft und betrachtete dabei die Gestalt der Rosenprinzessin: “Es freut mich wirklich, dich kennenzulernen. Ich bin Maya. Eine Biene, weißt du”, fügte sie erklärend hinzu und ihre Stimme nahm nun einen fast berauschten Ton an: “Du riechst wirklich sehr gut.” Dabei surrten ein wenig ihre Flügel. Nur mit Mühe lenkte Maya den Blick von der hübschen Gestalt Rosans ab und schenkte ihre Aufmerksamkeit wieder der Lilienkönigin. Ein letztes Mal winkte sie der Königin zum Abschied zu, wandte sich dann an Corax und Aslan, hakte sich bei beiden unter und verkündete: “Lieber Aslan, lieber Corax! Brechen wir auf und machen wir uns auf den Weg! Lasst uns diese Frau und ihr Kind retten.”

Je schneller sie hier weg kamen, desto schneller würden sie auch wieder zurück sein und mit der Königin feiern können. Die Frau und das Kind empfand Aslan eher nur als lästige Pflicht, doch tief in ihm drin wusste er, dass es das richtige war zu helfen. “Gehen wir”, meinte der Kater deshalb voll des Tatendrangs.

Rosan zwinkerte ihnen zu. “Lasst uns gehen!” Dann öffnete sie eine Tür mit einer Wendeltreppe.

Treppen! Und das in seinem Alter! Innerlich stöhnte Corax, sagte aber nichts. Wenigstens lachte die Lilienkönigin wieder. Und die unbekümmerte Maya wollte ihn in ihrer Nähe haben. Trotz der schmerzenden Gelenke, die ihn gleich erwarten würden, lächelte der Alte und ging mit den anderen den Stufen entgegen.

Am See des Lebens

(Mafaldo, Onyx, Relindis, Akka)

Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, während die kleine Gruppe durch die ewigen Felder der Lilien wanderten. Ein Rauschen deutete darauf hin, das sich ein Gewässer in der Nähe befand. Nur Augenblicke später erschien hinter einem Hügel ein regenbogenfarben-schimmernder See in dessen Mitte eine Insel mit einem Turm befand. Aus der Turmspitze hinaus ergoss sich eine Fontäne aus Wasser die rauschend in den See hinab fiel. An dem Ufer des Sees waren einige Gondeln angebracht. Weit und breit war niemand zu sehen.

So traumhaft schön, ja so unendlich schön waren die Lilienfelder. Doch leider eben nicht nur schön, sondern auch so unendlich. Hatte Relindis zu Beginn ihres Weges noch den anmutigen Anblick und den betörenden Duft dieses Meers jener erhaben geformten Blüten genießen können, so war zuletzt ihre Unruhe gewachsen angesichts der Wegstrecke und der Zeit, die sie für diese brauchten. Sie konnte nur beten, dass die Zeit in diesem Reich anders verlief - aber bitte nur etwas anders, sie hatte da auch schon schreckliche Geschichten von jungen Männern gehört, die im Albernischen in den Wald gegangen und anderntags als Greise zurückgekehrt waren - als in Herzogenfurt, sonst würden sie am Ende noch die Hochzeit verpassen - die dann natürlich nicht stattfinden würde - armer Nivard! Unbewusst wurde ihr Schritt schneller, ehe sie diesen wieder bewusst bremste, wollte sie doch den langsamer watschelnden Onyx trotz allem nicht über Gebühr hetzen oder gar abhängen.

Trotz der ungewohnten Art der Fortbewegung konnte Akka spüren, wie sich Relindis’ Schrittrhythmus veränderte, unregelmäßiger wurde. Genau wie bei Bakka, wenn die langsam außer Puste geriet, dann schlug sie auch erst einmal schneller mit ihren Flügeln, ehe sie schließlich doch abreißen lassen musste. Konnte die freundliche Menschenfrau etwa schon jetzt nicht mehr? Seltsam, sie wirkte gar nicht so. Akka beschloss, sich neben diese zu begeben, und ihr zu helfen, den Schwingenschlag… den Schritt zu halten.
Da waren sie endlich am Ziel ihres Weges, vorerst zumindest.

“Ist das der See des Lebens?” erkundigte sich Relindis bei Mafaldo, doch war sie sicher, die Antwort darauf zu kennen, so schön war dieser Ort, so bezaubermd der regenbogenbunte Glanz der Wasseroberfläche, genau wie die große Mutter in ihrem ewigjungen Gewand des Lebens. Alle Eile war für einige Momente vergessen, in denen sie von jeder Sorge losgelöst in den überwältigenden Eindrücken schwelgte. Schließlich kam sie aber doch zu sich selbst und dem Ziel ihrer Suche zurück: “Wollen wir zu dem Turm dort übersetzen?” fragte sie in die Runde.

Für Akka gab es auf diese Frage keine zwei Antworten. Ohne auf Mafaldos Meinung zu warten ging sie auf das Ufer zu, kam aber zunächst gar nicht auf die Idee, eine der Gondeln zu besteigen, sondern watete, wie sie war, in das Wasser hinein. Auffordern sah sie zu den anderen, vor allem Relindis. “Kommt ihr, kommt ihr?”

Onyx war wirklich außer Atem. Es musste für Menschen schrecklich sein, wenn sie solche Wänste mit sich trugen. Am See angekommen naschte er zunächst einen dicken Käfer, den er von einem Blatt pflückte. Dann gab er ein erleichterndes Quaken von sich. Es klang dissonant und seltsam in dieser Gestalt. “Ja, Gänslein, ich komme!” Mit einem anmutigen Sprung stürzte er sich in den See und wirkte gar nicht mehr behäbig und träge. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. “Gänslein, Akka oder Bakka, soll ich dich ein Stück mitnehmen?”

"Bakka ist meine Schwester, Bakka, ich bin Akka, Akka bin ich" stellte diese klar. "Das Wasser ist herrlich.” Mit einem schnatternden Lachen wagte sie sich tiefer in den See hinein und wollte zu Onyx zu schwimmen. Doch war es etwas ganz anderes, mit einem wohlgeformten Vogelleib und einem wasserdichten Federkleid paddelnd über das Wasser zu gleiten, als mit einem viel plumperen menschlichen Körper, der viel tiefer einsank und gar nicht recht vom Fleck wollte. Wild strampelte sie mit ihren Füßen, während sie ihre Arme seitlich anlegte und den Kopf in die Höhe rückte. Alleine ihren Schwimmhäuten und den für einen Zweibeiner sehr leichten Körper verdankte sie es, dass wenigstens ihr Haupt noch mehr schlecht als recht über dem Seespiegel blieb. "Wie machst Du es nur, Onyx, dass Du so schnell vorankommst, -kommst?" gab sie prustend von sich. Sollte sie etwa wie er ihre Flügel, nein Vorderbeine, nein Arme unter Wasser verwenden? Ungelenk spreizte sie ihre Arme ab und begann zunächst mit einem wirren Bewegungsmuster, was zur Folge hatte, dass Onyx kräftig bespritzt wurde. "Ich glaube,... ich lasse mich doch mitnehmen,...ja, ja, lasse ich." ließ die junge Gans ächzend und sehr kleinlaut ertönen, doch war sie innerlich noch nicht wirklich bereit, in einem See auf die Hilfe einer menschlichen Kröte angewiesen zu sein. Und in der Tat merkte sie rasch, wie es besser ging. Wasservogel ist eben doch Wasservogel, alles andere wäre ja gackernd gelacht.

Da reichte Mafaldo ihr eine helfende Hand und zog sie zu sich auf die Gondel. Der Rabenmann hatte sich, zusammen mit der Menschenfrau, auf solche begeben und betrachtete erst die Schwimmversuche der Gänsefrau. “Hiermit wird es schneller gehen.” Das der Krötenmann keine Probleme hatte mit dem schwimmen, wunderte ihn nicht. “Wir müssen zur Insel.” Kaum hatte er es ausgesprochen bewegte die Gondel sich.

Mit einem an Mafaldo gerichteten "DankeDanke!" und nicht wenig konsterniert ließ Akka sich in dem Gefährt nieder. "Wie könnt Ihr Zweibeiner mit so einem Körper überhaupt schwimmen?" wunderte sie sich Relindis gegenüber. Jetzt war ihr auch klar, warum diese sich am liebsten an Land aufhielten. Die junge Gans empfand Mitleid: in die Lüfte erheben konnten die Menschen sich nicht, und für das Wasser waren sie auch nicht geschaffen. Während sie noch darüber nachdachte, fiel ein Laichkraut, das sich in ihrem Gefieder, knapp über ihrem Gesäß verfangen hatte, in ihr Auge, auf dessen Blättlein obendrein ein Schnecklein saß. Instinktiv ging sie mit ihrem Mund zu diesem zweifachen frischen Leckerbissen, doch widersetzte sich ihr ungelenker Rücken, noch ehe sie auch nur in die Nähe der Köstlichkeiten gelangte.

Vorsichtig pflückte Relindis diese ab und reichte sie Akka. "Hier. Du musst das Schwimmen ganz anders angehen." erklärte sie der Gans, die ihr wiederum zunächst ein Stückchen der Beute anbieten wollte, den dargereichten Imbiss aber nach einem Kopfschütteln der jungen Geweihten mit einem "DankeDanke" in den Mund steckte und sogleich herzhaft knackend zerkaute. "Mmh. Leckerlecker." Relindis musste angesichts des Appetits grinsen. "Falls wir noch Zeit haben, zeige ich es Dir gerne."

Die hatten sie zunächst allerdings nicht, denn bereits nach einer kurzen Zeit erreichten sie die Ufer der wundersamen Insel. Doch lange waren sie nicht allein. Ein junger Mann mit elfischen Ohren und mit einer regenbogenfarbenen Tunika bekleidet kam mit geöffneten Armen auf sie zu. “Der Lachenden zum Gruße! Schön wieder Gäste zu haben!” Er war schlank, groß und hatte schneeweißes Haar und strahlend grüne Augen.

"Der Lachenden und der gütigen Mutter zum Gruße." erwiderte Relindis, obgleich sie nicht ganz sicher war, wer mit der Lachenden gemeint war. "Wir sind sehr glücklich, so gastfreundlich aufgenommen zu werden, habt dafür Dank! Mein Name ist Relindis," machte sie sich nur mit dem Vornamen bekannt. "Und ich darf Euch Akka und..." sie deutete zum Ufer, wo der Kröterich gerade anlandete, "... Onyx vorstellen. Den Herrn Mafaldo kennt Ihr, vermute ich, richtig?"

"Und wer bist Du, wer bist Du?" kam ihr Akka neugierig fragend zuvor.

“Ich bin Simunius, der Fröhliche. Aber sicherlich kenne ich meinen Rabenfreund hier.” Er machte ein Schritt auf Mafaldo zu und packte ihn an den Schultern. “Stattlich wie eh und je.” Drehte sich dann zu Akka. “Was für eine süße Schnute du hast.” Gab Relindes einen Kuß auf die Wange und strich zum Abschluß über den dicken Bauch des Krötenmannes. “ ´Mein Vater sagt immer, das man einen runden Bauch stets streicheln sollte, das bringt Glück ins Haus!” Mafalda wartete bis der Fröhliche geendet hatte. “Wir suchen Salgar. Hast du ihn gesehen?” fragte er recht emotionslos. Die sanften Augenbrauen Simunius gingen leicht nach oben. “Er ist nicht hier, aber er war hier.” Plötzlich erklang das bitterliche Weinen eines Kindes, das von einem Häuschen am Turm kam.

Relindis hatte grinsen müssen angesichts des fröhlichen, von Simunius entfesslten Begrüßungssturms, während Akka wild grimassierend ihre Schnute zu verziehen begann, jetzt, da sie darauf angesprochen worden war. Wie merkwürdig sich das anfühlte, und wie viele Formen und Öffnungsweiten diese Art von “Nicht-Schnabel” einnehmen konnte… aber sie musste gut darauf aufpassen… ob dieser Simunius wohl gerne Schnuten naschte, wenn er glaubte, dass diese süß seien? Oder hatte er nur gesehen, wie sie die Schnecke verdrückt hatte… Eigentlich wirkte ihr Gastgeber ja ganz harmlos, aber sie nahm sich vor, besser vorsichtig zu bleiben.
Beide fuhren jäh herum in Richtung Turm, als das Schreien erklang, und Relindis Herz krampfte angesichts des bitterlichen Wehklagens. “Elvrun?” rief Relindis in die Richtung und wollte bereits dorthin eilen, konnte sich aber im letzten Moment und nur unter Aufbietung ihrer Willenskraft noch zügeln. Sie waren ihrem Gastgeber eine Erklärung schuldig: “Wir suchen Salgar, weil wahrscheinlich eine Freundin meiner und ein Kind, dessen sie sich angenommen hat, bei ihm sind oder waren. Sind sie noch bei Dir?”

Breit grinsend legte Onyx kurz seinen Arm, waren da Schwimmhäute?, auf Simunius Schulter. „Den dicken Bauch einer Kröte zu streicheln bringt sogar noch mehr Glück. Sag doch, Hübscher, welche Quappe, also Kleines, plärrt denn da? Und dieser Salgar, wo ist der hin?“

Noch immer lächelnd tätschelte Simunius das feuchte Händchen des Krötenmannes. “”Das ist Tsadoro. Obwohl ich überlegt habe ihn Dotsaro zu nennen. Passt irgendwie besser. Nun, Salga kam hier her und hat ihn mir geschenkt. Er wird eines Tages ein guter Wächter des Sees werden.” sagte der Weißhaarige unbedarft und wechselte seine Augenfarbe ins himmelblau. “Salgar ist wieder gegangen. Er meinte, er müßte zu Ulmaceae, da eine Menschenfrau im Sterben liegt.”

"Im Sterben sagst Du?" schrie Relindis geradezu auf und schlug die Hände vor dem Mund zusammen. Ihr Gesicht war schlagartig kreidebleich geworden. "Schnell, ihr müsst uns zu ihr bringen, ich flehe Euch an." Was war nur geschehen? Was hatte das Kind nur bedroht, dass sich die gütige Elvrun für dieses aufgeopfert hatte? Jetzt bereute die junge Geweihte, dass sie vorhin nicht mehr zur Eile gedrängt hatte. Um das Kind würde sie sich später kümmern, dieses schien hier zunächst außer Gefahr, doch war zu dessen Verbleib in diesem Feenreich noch nicht das letzte Wort gesprochen.

Akka, die sich bereits mit watschelnden Schritten in Richtung des Kindes bewegt hatte, hielt inne und drehte ihren Kopf mehrfach hin und her. Als sie das Entsetzen auf Relindis Gesicht sah und spürte, spurtete sie jedoch schlagartig zurück zu den anderen und den Gondeln. "Schnellschnell. Los. Schnellschnellschnell. Schnell!"

Verwundert schaute der Inselwächter Relindis an. “Das Lebenswasser hat nicht mehr geholfen. Sie welkt dahin.” sagte er und strich ihr tröstend über den Arm. Mafalda schaute kurz zur Hütte. “Ich weiß wo wir Ulmaceae finden. Sie ist eine Heilerin. Wenn jemand helfen kann, dann sie. Doch das Kind kann hier nicht bleiben.” Nun wechselte Simunis die Augenfarbe in ein dunkles Violett. “Aber, es gehört mir.” Sein Gesicht verlor jegliche Freundlichkeit.

Dahinwelken? Relindis wurde ganz klamm uns Herz... Was konnte Elvrun nur ihre Lebenskraft rauben? Und was hatte Tsadoro damit zu tun? Jedenfalls wollte die nicht, dass Zwist um den kleinen Menschen ausbrach. Hierher gehörte er aber sicher nicht…
"Mafaldo hat Recht. Simunius," sprach Relindis diesen ganz behutsam und versöhnlich an, "Du willst Dich voll Fürsorge des Kindes, Tsadoros, annehmen, und dafür schulden wir Dir Dank. Doch ist und bleibt er ein Geschöpf unserer Welt, was auch immer ihm dort widerfahren ist. Er hat dort sicher eine Familie, die sich nach ihm vor Sehnsucht und verzehren wird, kehrte er nicht zurück." Jedenfalls hoffte sie, dass es so war.
"Doch jetzt ist das wichtigste, dass wir Elvrun finden. Nach dem was Du gerade über ihren Zustand sagtest, wäre es, glaube ich, gut, wenn Tsadoro mit uns käme. Vielleicht liegt in ihm der Schlüssel zu ihrer Gesundung, nachdem sie sich seiner schon angenommen hat..."
Bittend sah sie Simunius an. "Willst Du den Jungen nicht einfach begleiten und Dich uns anschließen?"

Akka hatte sich derweil dem Wächter von der anderen Seite angenähert und wollte ihn mit der Brust anstupsen, sich mit ihnen in Bewegung zu setzen. Im letzten Moment erinnerte sie sich aber ihrer neuen Gestalt und ergriff stattdessen seine Hand, ihn mit sich zu ziehen. "Aufauf! Zur Schwester!" Sie hielt kurz inne und legte den Kopf schief: "Ist mit dieser eigentlich noch ein Gänslein wie ich gekommen?" Akka hatte sich so von den Sorgen der anderen mitreißen lassen, dass sie unhinterfragt davon ausgegangen war, Bakka bei der Schwester ihrer neuen Freundin zu finden. Doch Simunius hatte gar nicht danach geklungen, als ob dies wirklich so wäre.

Der Mann mit den spitzen Ohren, den weißen Haaren und Haut schaute nun nachdenklich. “Ich bin der Wächter des Sees, ich kann nicht gehen. Erst wenn ich einen Wächter gefunden habe, würde ich auch gerne eure Welt, die Welt meines Vaters, erleben. “Dann drehte er seinen Kopf zur Hütte. “Salgar hat gesagt, das er niemanden mehr hat und es der Wunsch der Mutter war, ihn in Sicherheit aufwachsen zu lassen.” Dann schaute er wieder zu Relindis, Akka, Mafaldo und Onyx. “Könnt ihr diesen Wunsch erfüllen?”

Am liebsten hätte Relindis sofort 'Ja, das können wir.' gerufen. Immerhin gehörte sie der Gemeinschaft der gütigen Mutter an, und in dieser würde Tsadoro zweifelsohne eine neue und gute Familie finden. Doch zögerte sie noch. Sie wusste eigentlich nichts über das Kind. Würde der Knabe hier, in einer fremden Welt, vielleicht doch sicherer aufwachsen als in der, in der er geboren wurde, die die Welt seiner Eltern war, die Welt, in die er tatsächlich gehörte? Eigentlich nein, doch hing es am Ende davon ab, welche Gefahr ihm dort drohte, was genau seine Mutter veranlasst hatte, ihn Elvrun anzuvertrauen und hierher bringen zu lassen. War es das, was Elvrun jetzt die Lebenskraft raubte?
"Ich glaube, ja." begann Relindis daher vorsichtig. "Doch muss ich dich fragen: Hat Elvrun, die Menschenfrau, die Tsadoro brachte und jetzt im Sterben liegt, gesagt, wer seine Mutter ist? Und was diese veranlasst hat, ihn Elvrun anzuvertrauen?"

Für eine Kröte aus einfacher Herkunft war das alles Zuviel. „Ich verstehe das nicht. Ist die Frau verwundet oder vergiftet? Ist das Kind ihres oder ein geraubtes? Wer ist der Vater und warum kann dieser Salgar nicht einfach eine Frau anschleppen, die gerne ein Kind hätte?“ Er kratzte sich an seiner Pobacke und schürzte die Lippen. „Bevor es ein Drama gibt, wird meine Herrin es sicher nehmen.“

"Wenn das Küken keine Eltern hat, kümmert sich erst recht sein Schwarm um es, jajajaja." stand für Akka fest. Aufmunternd sah sie Relindis an.

Diese schenkte der Gans ein kurzes ernstes Lächeln. “Wenn dem Knaben bei uns keine Gefahr droht, die mit dem zu tun hat, was meine Schwester im Glauben dahinsiechen lässt, dann gehört er in unsre Welt, und ich gelobe, alles zu tun, damit er dort ein sicheres Heim und viel Nestwärme bekommt.”

Simunius dachte kurz nach.” Die Sterbende ist die Mutter. So habe ich das verstanden.” Dann wanderte sein Blick zur Hütte und zuckte dann mit seinen Schultern. “Nun, wenn er in eurer Welt in Sicherheit ist, dann schenke ich ihn euch. Wer will ihn haben?” Sein Blick wanderte zu jedem Einzelnen.

Wenn es die Mutter war, die im Sterben lag, konnte es nicht Elvrun sein... dann ging es Nivards Verlobter vielleicht doch gut, und sie war nur bei ihr. Aber es war nie von zwei Frauen die Rede gewesen, sie selbst hatte ja auch nur Elvrun im Nebel verschwinden sehen... nein, eigentlich eine orange gewandete Frau... vielleicht war es doch nicht ihre baldige Schwägerin gewesen, der sie hierher gefolgt waren. Relindis war verwirrt. Jedenfalls durften sie keine Zeit verlieren, wenn es so schlimm um die Mutter stand, und mussten dieser zur Hilfe eilen, ganz gleich, ob es Elvrun oder eine andere Frau war. Deswegen hatte Travia sie hierher geschickt, ja so musste es sein. "Ich nehme mich Tsadoros an." erklärte Relindis sich, mit feierlichem Ernst in der Stimme bereit. "Ich danke Dir für Dein Geschenk, und dafür dass Du es behütet hast, Simunius." Sie würde ein Zuhause für den Knaben finden, an dem er es gut haben würde. In seiner Welt.

Die Geweihte wollte zu dem geschenkten Kind, doch war Akka schon ganz aufgeregt voraus gewatschelt, das Küken zu holen, und steckte bereits in diesem Moment den Kopf in die Tür des Häuschens, aus dem das Kinderschreien gekommen war.

Onyx war es ganz Recht, dass die Gänsemutter und ihre schnatternden Begleiterinnen die kleine Quappe mit sich nahmen. In ein paar Jahren, dachte er wehmütig, würden seine Herrin und deren Schwestern dem Jungen aber sicher besser gefallen. In seiner Wehmut stellte er sich vor, könnt er uns besuchen. Aus Interesse und Dank. Für die Rettung. Er würde aber auch nach seiner Mutter fragen. Und hätte man gar nichts getan und könne sie ihm nicht mal beschreiben, so wäre das unangenehm und peinlich. „Wir wollen die Frau, die im Sterben liegt, sehen. Euer Haberer und die Frau, die so gut heilen kann werden sichere bald hier sein.“

“Hol das Kind. Ich warte hier.”, sagte Mafaldo. Simunius ging wieder auf Onyx zu und streichelte wieder seinen Bauch. Nun hatten seine Augen die Farbe von einem erdigen Grün angenommen.
“Salgar hatte sie in das Ulmental gebracht. Dort wirst du sie finden. Ich bin mir sicher, dass sie auch deinen Bauch streicheln will.”

Onyx zeigte sein schönstes, menschliches Krötenlächeln. „He, he. Ja, mein Bauch ist was Besonderes. So einen zu bekommen, das ist harte Arbeit. Begleitet mich einer der anderen?“ Besagter Wanst wabbelte lustig mit, während er sprach.

Kaum hatte Akka die Hütte erreicht, hörte auch schon das Geweine auf. Schon durch die offene Tür sah sie einen Knaben, gewickelt in einem orangen Tuch, der sie mit strahlenden grünen Augen, begrüßte. Sein Schopf war voller dunkler Locken und seine Haut war so dunkle und satt wie die von frischer, lehmiger Erde. Als Relindis dazu kam und das Kind ins Gesicht sah, schwante ihr etwas. Der Blick, die Farbe der Augen, erinnerte sie an ihre zukünftige Schwägerin.

Diese Ähnlichkeit! Elvrun... nein, das konnte doch nicht wahr sein... Aber nur so ergab alles einen Sinn... Oh gütige Mutter! Relindis stand zuerst da wie vom Donner gerührt, dann taumelte sie, als ob sie einen Schlag in die Magengrube bekommen hätte. Die junge Geweihte musste sich an die Wand anlehnen, an der herab sie auf die Knie sackte. Was war mit Elvrun geschehen? Woher kam auf einmal das Kind? Nichts schien mehr, wie es heute in der Frühe noch gewesen war. Was bedeutete das für ihre baldige Schwägerin…? Dann war es ja sie, die im Sterben lag! Oh Elvrun! Und Nivard!

Akka hatte sich derweil zu dem Knaben hinabgebeugt und sah ihn mit großen Augen an. "Na, Du kleines Küken! Jaaa, ich freue mich auch, Dich zu finden, ja-jaja-ja! Kommst Du mit Akka mit, dann bringt Akka Dich zu Deinem Schwarm!" Zu ihrer Verwunderung machte der Knabe aber gar keine Anstalten, ihr hinterherwatscheln zu wollen. "Magst Du denn nicht mit Akka kommen?" Als der Knabe sie weiter mit großen, geradezu erwartungsvollen Augen anblickte, sich aber noch immer nicht erheben wollte, kam es ihr: "Ach Du kannst gar nicht, neinneinnein?" War das bei den Zweibeinern normal? Wie bei den Teichrohrsängern und anderen kleinen Vögeln etwa, die immer nur im Nest sitzen und nach Futter schreien konnten? Sie hatte so gar keine Vorstellung, was die Menschenküken direkt nach dem Schlüpfen konnten und was nicht... "Dann nehme ich Dich einfach auf meinen Rücken, jajaja!" beschloss sie, wie es Gänsemütter zuweilen auch mit ihren Küken taten. Sie kauerte sich vor dem Kind nieder, breitete ihre Schwingen... Arme aus und deutete Tsadoro auffordernd, über ihren rechten auf ihren Rücken zu krabbeln. Doch auch diesem Angebot kam der Knabe nicht nach, er gluckste lediglich sichtlich erheitert angesichts des Schauspiels, das Akka vor ihm veranstaltete. Ratlos erhob sich diese wieder. Sie musste ihre neue Freundin fragen - die wusste sicherlich, was man mit so einem Menschenkind am besten anstellt. Etwas unbeholfen nahm sie den Säugling auf den Arm und wollte sich gerade auf den Weg zu den anderen machen, als sie Relindis noch immer um Fassung ringend am Boden antraf. "Relindis, was ist mit Dir? Hast Du gerade Wölfe gesehen? Oder den Adler?"

Die Angesprochene fuhr hoch. "Ich habe eine fürchterliche Ahnung!" Nein, eigentlich spürte sie, dass es mehr als nur eine Ahnung war. Doch weckte der Anblick Akkas und des Knaben ihre kurz geschwundenen Kräfte wieder… es war keine Zeit, verzagt zu sein. "Komm, wir müssen zu Tsadoros Mutter, so rasch wie nur möglich. Wir müssen zu Elvrun, so schnell die Gänse durch die Lüfte ziehen!" Sie streckte Akka, die den Knaben noch immer etwas unbeholfen in den Armen hielt, die ihren entgegen: "Magst Du mir Tsadoro geben?"

Akka nickte dankbar und überreichte Relindis den Jungen.

Diese lächelte ihn mit glasigen Augen an. "Hab keine Angst, Tsadoro!" flüsterte sie ihm sachte zu. "Wir bringen Dich zu Deiner Mama. Und dann nach Hause." Und sie betete zu Travia, dass sie Elvrun mit nach Hause brächten - lebendig! Den mutmaßlichen Sohn ihrer Schwägerin in spe zunächst sanft in den Armen wiegend und dann behutsam an ihrer Brust bergend folgte sie Akka, die bereits zu den anderen eilte. "Auf, auf, zu dieser Ulmaceae, schnellschnell, ganz schnell!" trieb die Gänsefrau alle an.
Nur Tsadoro hörte dies kaum - über den Duft Relindis’ nach Tannenöl und Lindenblüten und die Wärme ihres Körpers hinweg nahm er viel lauter das Pochen ihres aufgewühlten Herzens wahr.

Kaum waren sie wieder alle beisammen, war es Simunius der nachdenklich war. “Ich werde euch begleiten … wenn ihr nichts dagegen habt. “ Mafaldo schaute ihn kurz an und legte den Kopf schief. “Was meinst du, Menschenfrau?”

Simunius hatte sie freundlich empfangen und sich des Kindes ebenso bereitwillig angenommen wie er sich rasch überzeugen lassen hatte, es wieder in die Obhut seiner Heimatwelt zurückzugeben. Wenn er sich ihnen anschließen wollte, würde Relindis sich dem nicht widersetzen - Gemeinschaft zu finden und zu stiften war immer gut, noch dazu an einem fremden Ort, so nah und doch so fern ihrer eigenen Welt. Außerdem konnten sie vielleicht noch jede Unterstützung gut gebrauchen.
Relindis sah von Tsadoro auf und direkt in die Augen Simunius': "Ich freue mich, dass Du Dich uns anschließen willst, und heiße Dich von Herzen willkommen in unserer Such-Gemeinschaft."

"Gutgutgut!" vermeldete Akka von der Seite ihre Zustimmung, um sogleich weiterzudrängen. "Aufauf!"

“Auf auf.” stimmte auch Relindis ein.

Onyx hatte etwas gedöst und beäugte erst skeptisch, dann zufrieden die kleine Quappe, die angeschleppt wurde. Er patschte zu Simunius und Relindis und gähnte. “Dann lasst uns doch keine Zeit verlieren, ich komme auch mit.” Und wenn sie schnell genug waren, wäre der Tag nicht völlig vergeudet.

Simunius lächelte. “Na dann los.” Der Halbdryade bestieg das Boot.

Die Schmiede der Biestinger

(Caligo, Rotlöckchen, Tharga)

Weniger als einen Wasserlauf brauchte die kleine Gruppe, um den Ort zu erreichen, den Mafaldo als die Schmiede der Biestinger bezeichnet hatte. Schon vor einer Weile hörte die weiten Felder der Lilien auf und wichen sandigen Hügeln mit kargem Bewuchs. Eine Gruppe von Wesen zog die Aufmerksamkeit auf sich, gepaart von den Geräuschen von klingenden Metall und wieherartigen Rufen. Vor einer Holzhütte mit einem steinernen Schornstein sah man Esel-Biestinger und wenige Eber-Biestinger. Diese aufrecht stehenden Esel- und Schweinewesen unterhielten sich wild durcheinander. Selbst als Caligo, Rotlöckchen und Tharga in Sichtweite waren, nahm keiner von ihnen Notiz.

Der Rabenmann holte tief Luft und rief laut: "KRAAAA!"

Rotlöckchens Blick strafte den Raben … wiewohl ´strafen´ ein falscher Ausdruck sein mochte. Die pechschwarzen Augen des rothaarigen Mannes waren ausdruckslos wie immer. Dennoch empfand er die Schreierei als eine Zumutung. Wollte Frenya ihn damit strafen? Sie wusste bestimmt in welche Situation sie ihn brachte, als sie ihn in diesen seltsamen Park setzte. Ja, Frenya wusste immer alles. Rotlöckchen näherte sich aufmerksam der Schmiede an, als wäre er auf der Jagd nach Beute.

Tharga hingegen hielt die Eber-Biestinger fixiert. Eine Mischung aus Faszination und Streitlust lag in ihrem Blick. Esel - die mochte sie. Aber die Eber - die rochen nach Beute. Normalerweise. Heute - na, da sahen sie nur aus wie Beute, denn ihre Nase war weniger empfindlich als in ihrer echten Gestalt.

Der größte der Eselmänner drehte sich um und drehte eines seiner grauen, langen Ohren zu Seite. “IH-Ha! Wenn haben wir den da?“, kam es neugierig aus dem großen Maul mit den vorstehenden Zähnen.

Rotlöckchen war kein Mann der vielen Worte. Eigentlich gab er nie auch nur einen Mucks von sich. In diesem Fall musste er jedoch aus sich rausgehen - so schwer es ihm auch fiel. Es war ihm bewusst, dass je schneller sie diese Menschenfrau fanden, umso schneller würde er wieder zurück in seinen richtigen Körper kommen. “Wir suchen jemanden. Eine Menschenfrau und ein frisch geschlüpftes Menschenkind”, antwortete der Spinnerich grußlos.

Verwirrt blickte das Mädchen im Backfisch-Alter mehrfach zwischen Eselmann und Rotlöckchen hin und her. “Aber nein! Wir suchen doch Salgar! Ja, Salgar! Den suchen wir!” Sie stemmte die Arme in die Hüfte und runzelte die Stirn. “Also los, sag schon! Wo ist Salgar?”, fragte sie den Eselmann in bestimmendem Ton.

Warum zum Schmiedl, wenn man gleich zum Schmied kann? Rotlöckchen schüttelte innerlich sein Haupt über das junge Mädchen, schwieg sonst jedoch.

“IH-HA. Das war nicht die Frage. Ich fragte: wer seid ihr?” fragte der Eselmann unbeirrt. Nun drehten sich auch einige der Schweinemenschen in die Richtung.

“Ich bin Caligo und dies sind Rotlöckchen und Tharga. Kraa. Mafaldo schickt uns.”

Warum mussten hier alle so schreien? Rotlöckchen lernte die Tatsache, dass Vogelspinnen über kein Gehör verfügten, mehr und mehr zu schätzen. Das war ja nicht auszuhalten.

Der Eselmann schüttelte den Kopf und zeigte seine ganze Zahnpracht. “IH-HA. Ich bin Romadrah vom Clan der IH-HA-Dingern!” Er verneigte sich. “Salgar ist schon wieder weg. Aber Menschen waren hier nicht.” Dann beleckte er sich, mit seiner Zungenspitze, die vorderste Zahnreihe.

“Und wo ist er hin?”, fragte Rotlöckchen knapp nach.

“Er ist wieder weg.” Dann überlegte er kurz, wobei er nun beide lange Ohren aufstellte. “Er wollte zu Ulmaceae.” Dann kam ein älterer Eselmann aus der Hütte. Dieser hatte eine Schmiedeschürze an. “IH-HA! Schickt er euch den zweiten Ring zu holen?” rief er den Suchenden entgegen.

“Wer ist dieser Ulmaceae? Und welcher Ring?”, setzte der junge rothaarige Mann die Befragung fort.

`Idiot`, schoß es Caligo durch den Kopf und er flatterte aufgeregt mit seinen Armen, während er zwei Hüpfer nach vorn machte, um ihn dann mit schief gelegtem Kopf zu mustern. Er blinzelte mit seiner Nickhaut. “Wir können ihm den Ring bringen, wenn er schon fertig ist.”

Kurz zuckte ein Mundwinkel Rotlöckchens. Der Rabe wusste hoffentlich wo man diesen Kerl hier fand. Sich wissend zu geben und es nicht zu sein, war ein Tanz auf der Rasierklinge.

Aufmerksam folgte Tharga der Unterhaltung. Warum stellten ihre Gefährten immer die falschen Fragen? Wie gut, dass sie dabei war. Die beiden hatten offensichtlich KEINE Ahnung, wie man Personen oder Dinge fand.
“Nein.” Mit Kopfschütteln und nachsichtigem Tadel korrigierte das Hundemädchen ihre Gefährten: “WO ist Ulmaceae? Das wollen wir wissen.” Fordernd blickte sie die Eselmänner an.

Der Schmied schaute Romadrah an. Dieser zuckte mit den Schultern. “IH-HA. Meister Reingani, was sagst du?” Der Angesprochene verdrehte kurz die Augen. “Im Ulmental. Da ist die Heilerin Ulmaceae. Ihr geht da hin? Der Ring ist nämlich fertig.” Dann hielt er einen Ring aus Silber in die Höhe.

“Ulmental? Wo ist das Ulmental?”, entgegnete Tharga neugierig. “Und was ist das für ein Ring?”

Das silberne Funkeln schlug Caligo für einen Augenblick in seinen Bann. Dann schüttelte er seinen Kopf. “Wir bringen Salgar den Ring. Wir gehen auch zur Heilerin, falls Salgar dort ist.”

Reingani schnaubte laut aus. ”Salgar meinte, er braucht Bundringe. Einen hatte er schon mitgenommen.” Dann griff Romadrah den Ring. “Ihr kennt euch hier nicht aus? Nun, ich bringe euch ins Ulmental. IH-HA!” Der Eselmann setzte sich in Bewegung und ließ sich ein Schwert reichen, das er sich um die Hüfte gürtete. “Ich hoffe ihr könnt gut klettern.”

Rotlöckchen kletterte und saß gerne auf Bäumen, deshalb nickte er dem Eselmann knapp zu. Bei seinen Gefährten, den Raben ausgenommen, sah er da eher Probleme. Weder Hunde noch Esel fühlten sich auf Bäumen wohl - zumindest hätte er das noch nie gesehen.

“Nein.”, beantwortete Tharga die Frage nach ihren Kletterkünsten lakonisch, aber unbekümmert. “Warum braucht Salgar Bundringe? Was sind überhaupt Bundringe?”

"Ich kann mich auf Ästen gut halten", antwortete Caligo und fuhr an Tharga gewand fort, "ich glaube, Bundringe sind kleine glitzernde Halsbänder für die Krallen der Menschen, Kraa, damit sie nicht voneinander weglaufen können. Manchmal sind da auch funkelnde Steine dran. Menschen sind komisch. Keine Ahnung, warum sie das machen. Wir Raben brauchen das nicht. Obwohl es ja hübsch aussieht. Kraa." Er legte den Kopf schief und versuchte den Ring besser sehen zu können.

Der Ring funkelte silber, war aber schmucklos. Der Eselmannschmied Reingani gab Caligo den Ring und wartete bis die Gruppe Reingani folgten und kehrte dann in die Schmiede zurück.

Caligo tat etwas, was man in Feenwelten tunlichst lassen sollte. Doch in Ermangelung einer Kordel oder gar einer Hosentasche hielt er es für das Beste sich den Ring auf den linken Zeigefinger zu stecken. Schließlich wollte er ihn nicht verlieren.

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