Ges Sonderbarer Gast

Ein sonderbarer Gast

Von Gerne Bruch und Von Dohlenfelde


(Burg Gernebruch, Praios 41.n Hal)
«Wie Du darfst mit niemandem darüber reden? », fragte Dara entrüstet.
«Aber ich erzähl Dir doch auch immer alles! », die Magd blickte neugierig. «Was ist das denn nun für einer im Turmzimmer? Und was macht ihr da immer so lange? »

Bosper genoß Daras Neugier sichtlich. «Du erzählst mir also immer alles? », fragte er ironisch grinsend. «Ich weiß gar nicht so genau, wer er ist. Er ist bestimmt schon 70 Götterläufe alt, aber…», Bosper fuhr erst nach einer kurzen nachdenklichen Pause fort: «irgendwie merkt man einfach, dass er schon jemand Wichtiges ist. Er hat so eine respekteinflößende, energische Art…aber auch sehr freundlich irgendwie. »
«Wichtig wie ein Baron oder so, meinst du? »
«Jein, irgendwie anders…, vielleicht liegt es auch einfach an seiner Größe und der hageren Gestalt. » Bosper überlegte noch einen Moment: «Er kann sehr gut rechnen und kennt sich aus in Aventurien.. Er erzählt manchmal Geschichten von Handelszügen und großen Reisen. » Bosper machte eine Pause und lehnte seinen Kopf an Daras Schulter. «Jedenfalls prüfen wir Rechnungsbücher, Steuerrollen usw. Ich verstehe zwar nicht so viel davon, aber eher umso mehr. Also lauter langweilige Sachen», er lächelte Dara an und kuschelte sich noch fester an sie.
«Und warum ist er dann hier?“, schob sie nach. «Und wie heißt er überhaupt? »

«Hmm, ich weiß nicht, Perval weicht da immer aus. Er habe hier eine neue Heimat gefunden. Was auch immer das heißt. Jedenfalls kennt er unsere Herrin wohl recht gut, die beiden essen häufiger zu Abend. »
«Aber Sie ist doch viel viel jünger als er?“, Dara schaute fragend. Bosper lachte: „Was du immer denkst. » Dann zog er sie noch näher an sich heran und verhinderte nachdrücklich, dass sie weitere Fragen stellen
konnte.

(Stadt Gernebruch, Travia 41.n Hal)

Ranarias Dradenstedt saß in seinem Arbeitszimmer in seinem Kontor. Der einflussreiche Kaufmann und Oberhaupt der Familie Dradenstedt hatte die Stirn in Zornesfalten gelegt. Ihm gegenüber am Tisch saß sein Bruder Ludger, Braumeister einer der beiden wichtigsten Brauereien in der Stadt. Ranarias hatte ihn einbestellt. Seit er gekommen war, hatte die beiden Brüder kein Wort gewechselt, es lag eine bedrohliche Stille im Raum. Schließlich räusperte sich der Braumeister: «Du warst auf der Burg, habe ich gehört.»

Ranarias erwiderte ruhig, aber mit giftigem Unterton: «Ich wurde eingeladen, liebster Bruder. Und damit mir auch nichts passiert, wurde mir auch gleich eine Eskorte gestellt.» Ludger erstarrte und richtete einen fragenden Blick auf seinen Bruder. «Was ist denn in die Baronin gefahren?» Der Kaufmann spie seinen Bruder beinahe an: «Es ging um die Größe unserer Braubottiche!» Jetzt wurde sein Bruder kreidebleich: «Du meinst Sie ahnen, dass…»

«Sie ahnen nicht, sie wissen.» Er warf seinem Bruder einige Papiere über den Tisch. «Da! Alles fein säuberlich ausgerechnet, was wir an Biersteuer zu wenig gezahlt haben. » Er deutet ärgerlich auf ein weiteres Papier «Und was wir nachzahlen müssen inklusive Strafe steht hier.» Ungläubig starrte Ludger auf die Zahlen. Woher wussten die, von den adligen Dummköpfen konnte doch keiner rechnen…völlig unmöglich, dass...er blickte auf. «Das muss die Konku…», aber weiter kam er nicht. «Deine dreizehnmal verfluchte Idee hätte mich beinahe den Kopf gekostet. Und Deiner hätte bestimmt gut dazu gepasst.»

Heimkehr (Herzogenstadt Twergenhausen, Boron 1035 BF)

Eisig kalt wehte der Herbstwind feinste Regentropfen durch das Tal des Großen Flusses, als am Nachmittag des 30. Boron, dem Tage der Heiligen Noiona, ein hühnenhafter, vollbärtiger Greis als erster Wanderer seit fast einer Stunde durch das Tor der Ambosszunft treten wollte. Der abgemagerte Mann strahlte eine eigentümliche Würde aus, die ihm auch sein erbärmliches Äußeres nicht nehmen konnte.

Die junge Schmiedegesellin, die an diesem Tag die Torwache befehligte, trat schlecht gelaunt auf den ärmlich gekleideten, nur einen Brotbeutel und einen Wanderstab mit sich führenden alten Mann zu, begutachtete ihn misstrauisch. Dann zischte sie herablassend: «Woher kommst Du, alter Mann, und wohin des Weges?» Der Mann mit dem lichten weißen Haarkranz und dem weißen Vollbart antwortete mit fester Stimme und überraschend höflich: «Die Zwölfe mit Euch, Frau Schmiedin, ich bin ein Patrizier aus dieser Stadt und begehre Einlass.»

Ein Schmiedelehrling, der zur Wache gehörte, und ein Stadtgardist mussten laut loslachen, als sie das hörten. Die Schmiedegesellin verpasste dem Greis eine schallende Ohrfeige und fragte erneut: «Woher kommst Du, und wohin des Weges?» Der alte Mann antwortete, sich die linke Wange halten, stoisch: «Ich bin ein Twergenhäuser Patrizier und begehre Einlass.»

Ein Fausthieb der Schmiedin traf den Unbekannten, der keine Anstalten machte, der Attacke auszuweichen, in die Magengrube. Er sank schmerzgekrümmt zusammen. Grinsend packte die Gesellin den alten Mann, der sie um einige Halbfinger überragte, und half ihm grob zupackend auf die Beine zurück: «Du alter Sack, scher‘ Dich nach Brabak und geh‘ dort betteln!» Der Greis mit seinen eingefallenen Wangen schaute der Schmiedegesellin mit einem selbstsicheren Lächeln in die Augen und sprach ebenso routiniert wie gelangweilt: «Ich weiß, ich weiß, Addendum II zum Twergenhäuser Kirchenzuchterlass anno 1017, der Paragraph wider das zwielichtige, vom Herrn Praios verachtete Bettelvolk. Ich weiß, ich weiß, morgens früh aufstehen und ehrlich arbeiten oder verrecken soll das Pack...»

Die Schmiedin starrte den Mann mit offenem Mund an. Da trat ob des Trubels ein Korporal der Stadtwache aus dem Torwachraum, mit zwei schnellen Schritten war er an dem rätselhaften weißhaarigen Unbekannten heran, zog seinen Mantel aus, legte diesen dem Greis um die Schultern, und sprach unterwürfig, sich andeutungsweise verbeugend: «Efferd zum Gruße, Geehrtester Herr Bürgermeister!» Im Vorbeigehen, den alten Mann vorsichtig stützend, fuhr er die immer noch mit offenem Mund dastehende Schmiedegesellin, die die letzten sieben Jahre auf der Walz gewesen war, voller Zorn an: «Du dummes, dummes Ding, erkennst Du unseren alten Bürgermeister Perval Gliependiek nicht! Ich hoffe, dass dieser Zwischenfall nicht uns alle an den Galgen bringen wird!»

Als der Korporal und der ehemalige Bürgermeister, der vor mehr als zwei Jahren entführt worden war und dessen Sohn nun die Stadt beherrschte, außer Hörweite war, stammelte die nun ganz blasse Schmiedegesellin: «Aber der alte Herr Bürgermeister, der trug doch immer Brokat und Pelz, der war doch kräftig wie ein Stier, und mehr Haare hatte er auch, aber dafür keinen Bart...»

Familienbande (Herzogenstadt Twergenhausen, am Abend der Rückkehr Perval Gliependieks)

Krachend flog der schwere Bierkrug an die holzgetäfelte Wand im Festsaal der Villa Gliependiek, hinterließ dort einen spannlangen Riss in der Verkleidung und zersprang zugleich in tausend Stücke: «Beim efferdverfluchten Krakenmolch, Vater lebt noch! Hätten ihn seine Entführer doch nur eingesperrt, bis er von den Ratten gefressen wird!» Auf der Stirn des wohlrasierten, bulligen, in feinstes Brokat gewandeten Bürgermeisters Throndwig war deutlich die kräftige pulsende Zornesader zu sehen, die er von seinem Vater, dem er in vielem so ähnlich war, geerbt hatte. Der Sohn Perval Gliependieks packte den riesigen, schweren Eichentisch und schaffte es, zur Verwunderung seiner eilig versammelten Familienmitglieder und engsten Vertrauten, diesen am Kopfende einige Halbfinger anzuheben, bevor er ihn auf den Boden krachen ließ. Dabei stieß Throndwig einen Wutschrei aus, der seine Familie erzittern ließ und wohl in der halben Stadt zu hören war.

Seine Hochwürden Efferdan Gliependiek, Bewahrer des Flusses der Sankta-Bethana-Sakrale und damit ranghöchster Efferdgeweihter zwischen Elenvina und Albenhus, war freudig angetan davon, wie sehr sein Neffe Throndwig seinen Gemütsregungen freien Lauf lassen konnte. Aus ihm wäre sicherlich auch ein guter Geweihter in der Bruderschaft von Wind und Wogen geworden!

Als der Bürgermeister sich ein wenig beruhigt hatte, ergriff sein erzzwergischer Justiziar Farrosch Sohn des Fanderom das Wort: «Geehrtester Herr Gliependiek, es wäre niemandem gedient, wenn ihr nun vor Wut an einem Boronschlag sterben würdet, zu allerletzt Euren eigenen Ambitionen. Ihr habt Euren Herrn Vater gehört. Er fordert nicht sein Bürgermeisteramt zurück. Er fordert nicht die ihm zustehende Rolle als Familienoberhaupt. Er fordert einzig, ihn seinen Weg gehen zu lassen. Er wird die Abtei bis zu seinem Tode nicht mehr verlassen. Jeden, der in der Stadt von der Rückkehr Eures Vaters weiß, haben wir ausreichend bezahlt, um das Stillschweigen sicherzustellen.»

Throndwig sagte mit vor Wut zitternder Stimme: «Mein Herr Vater möchte in dieses vermaledeite Badilakanerkloster der Kesslers eintreten! Als einfacher Akoluth! Er hat in seiner Gefangenschaft einfach jedes Maß, jeden Anstand, jede Würde verloren! Er ist ein Patrizier aus dem Hause Gliependiek! Wir sind Kaufleute, wir sind Politiker, wir sind Offiziere, wir sind Baumeister, wir sind Geweihte des Herrn Efferd!» Beim Wort «Geweihte» packte Throndwig einen schweren Ledersessel – denjenigen, auf dem sein Vater bevorzugt gesessen hatte: «Aber wir sind, bei allen zwölfmalverfluchten widerlichen Geschöpfen der nachtblauen Tiefen, keine Akoluthen, und schon gar keine efferdverdammten Herdfeuerhüterakoluthen im Dienste dieser elendigen Kesslers!» Mit einem mächtigen Schwung schleuderte der bullige Bürgermeister Twergenhausens den Sessel hinaus aus einem der sündhaft teuren, zwei Schritt hohen Glasfenster, dessen Scherben in den Garten der Villa schepperten. Throndwigs Onkel, der Efferdhochgeweihte, nickte anerkennend.

Wenig später, der Wutanfall hatte Throndwigs Gedanken geklärt, nun war der Bürgermeister wieder ganz der strategisch denkende Politiker, setzte sich die Patrizierfamilie Gliependiek einträchtig bei einem mehrgängigen Abendessen zusammen. Bei Ferdoker und bestem horasischem sowie sündhaft teurem aranischen Wein wurde bis in den frühen Morgen beraten, wie sicherzustellen sei, dass dem seit Jahrhunderten konkurrierenden Patrizierhause Kessler, der ältesten Familie der Stadt, aus der überraschenden Rückkehr Pervals und dessen geistesverwirrtem Treiben kein Vorteil entstünde. Sollte es alles nichts nützen, würde man den Greis wohl von den Noioniten abholen und bis zu dessen Lebensende wegsperren lassen müssen. An der Schwachsinnigkeit des ehemaligen Bürgermeisters bestand jedenfalls kein Zweifel, darin waren sich alle Mitglieder des Hauses einig.

Obdach (Herzogenstadt Twergenhausen, am Abend der Rückkehr Perval Gliependieks)

Im Badilakanerkloster der Stadt Twergenhausen saß Perval Gliependiek in seinem schlichten Wollkleid vor Traviane Lucarda Yaquiria Kessler, der Mutter der Abtei, und Herdgrimm, der Schwester-Zuchtmeisterin derselben, im Privatgemach der Äbtissin. Die Vorsteherin des Klosters sprach zu dem deutlich älteren Mann, dessen Familie seit vielen Jahrhunderten mit der ihren im Ringen um die Vorherrschaft in Twergenhausen lag: „Da sind wir uns ja schnell einig geworden, mein Sohn Perval. Ihr werdet als einfacher Akoluth in die Abtei eintreten und deren Mauern auf Euren eigenen Wunsch nie mehr verlassen. Ihr werdet Frau Travia mit Hingabe bei der Erfüllung der Aufgaben dienen, die Euch von der Schwester-Zuchtmeisterin zugewiesen werden.“

Die Schwester-Zuchtmeisterin Herdgrimm ergriff nun das Wort, in ihrem gewohnten Unteroffizierstonfall: „Perval, ich werde Euch Euren Befähigungen und Eurem Alter entsprechend bevorzugt als Buchhalter und Kanzlist einsetzen. Werktags zwölf Stunden Arbeit am Tag, sechs Stunden Gebet, Meditation und Tempeldienst, sechs Stunden Ruhe. Kein Müßiggang. So wie es Frau Travias Wunsch ist.“ Der ehemalige Bürgermeister nickte demütig: „Schwester-Zuchmeisterin, wenn ich gnädigst fragen dürfte, ist Euch mein Wunsch für meinen Weihename genehm?“ Herdgrimm antwortete, gleichermaßen herablassend und gelangweilt: „Bei Travia, ja, Ihr dürft Euch Bruder Yulag nennen, nach dem der Legende nach so gastfreundlichen Horaskaiser. Stellt Euch aber auf Strafdienste für Euren Hochmut ein, den Namen eines Kaisers tragen zu wollen. Ihre Hochwürden Traviane und ich werden Euch schon in der morgigen Frühmesse als Bruder Yulag vorstellen, auch wenn Euch dieser Name eigentlich erst nach bestandener Bewährung, also mit Eurer niederen Weihe, zusteht.“

Da ergriff nochmals die Hochgeweihte das Wort: „Schwester Herdgrimm, seid nicht zu streng mit unserem Neuzugang. Unser ehemaliger Bürgermeister hat in seiner Gefangenschaft viel gelitten, er ist nun geläutert und möchte aus tiefstem Herzen der Frau Travia bis zu seinem Tode dienen. Er hat bereits die nötigen Gelübde – Treue, Gehorsam und Armut – vor uns und im Namen Frau Travias geschworen. Ich bin sicher, dass er unserer Abtei von großem Nutzen sein wird. Perval, geht nun, mit Frau Travias Segen, in Eure Zelle. Dort findet Ihr Eure Robe und Euer Gebetsbüchlein.“ Die Schwester-Zuchtmeisterin ergänzte mit erhobenem Zeigefinger: „Aber vergesst nicht, dass Eure erste Nacht im Orden des Heiligen Badilak dem Gebet bestimmt ist, nicht der Ruhe und schon gar nicht dem Schlaf. Frau Travias Segen mit Euch!“

Der weißhaarige, alte Mann erhob sich, verbeugte sich nacheinander vor den beiden Geweihten. Er sprach: „Ich danke Euch, ich danke der Abtei, ich danke dem Orden, ich danke der Kirche, ich danke der so unendlich gnädigen Frau Travia von ganzem Herzen.“ Dann begab sich einer der ehemals reichsten Nordmärker, der langjährige Twergenhäuser Bürgermeister Perval Gliependiek, nun „Bruder Yulag“ genannt, in seine nicht einmal zweimal drei Schritt große Klosterzelle, deren einzige Einrichtungsgenstände eine hölzerne Pritsche mit zwei kratzigen Wolldecken, ein Hocker, ein Nachttopf und eine Öllampe waren. --- Kategorie: Briefspielgeschichte

-- Main.IseWeine - 18 Oct 2012