Die Flucht

Kapitel 2: Die Flucht

Haus des Gouverneurs, Yar´Dasham 30. Rahja 1045 BF

Der Ausflug an den Strand hatte sich die junge Mittelreicherin anders vorgestellt. Kaum hatte sie sich mit einem Obstkorb, einer Flasche Wein und einer Decke bequem gemacht, zog der Sturm auf. Verwundert über dieses Schauspiel, blieb sie eine Weile sitzen, bis der Wind dies nicht mehr zuließ. Die drohenden dunklen Wolken boten ein beeindruckendes Schauspiel, doch nun machte sich ein unbehagliches Gefühl in ihrer Magengegend breit. Das, was da sich zusammenbraute, war nichts Gutes. Ifirnia schaute sich um und suchte das Haus des Gouverneurs. Es war Zeit zurückzukehren. Sie griff den Korb und die Decke und machte sich auf den Weg. In nicht allzu weiter Ferne war der Waldrand des Dschungels. Plötzlich hatte sie das Gefühl dass jemand sie beobachtete. War das dort drüben, zwischen den Blättern eine Gestalt? Sie wollte los laufen, rennen, womöglich dann siegten ihre Neugier und ihr Trotz. Unwillkürlich fasste sie den Korb fester, blieb stehen, schaute genauer hin. Ifirnia war sich nun sicher. Dort stand jemand im Dickicht. Nein, nicht allein. Nun zählte sie 3 Gestalten. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit.

‘Ganz ruhig!’, befahl sie sich. Sie drehte sich kurz in die andere Richtung, als schaue sie nach dem Sturm aus, dann setzte sie sich wieder in Bewegung, schneller diesmal, weg vom Waldrand, in Richtung des Gouverneurshauses. ‘Noch nicht rennen’, befahl sie sich, beschleunigte aber weiter ihre Schritte. Da kam ihr jemand entgegen gerannt. Kurz darauf musste sie blinzeln und erkannte dann Lechdan, den jungen Halbbruder ihrer Mutter. “Ifirnia, komm schnell, wir müssen uns in Sicherheit bringen.” Lechdan japste und hielt sich die Seite. Der Lauf war anstrengender gewesen, als gedacht und er hatte den Atem-Rhythmus verloren. Nun plagten ihn Seitenstiche. “Ugdalf… sagt… wir haben einen Keller.”

'Jetzt', dachte Ifirnia, raffte ihr Kleid und rannte los. Ein wenig war sie aus der Übung, aber Läufe hatten sie mehr als genug absolvieren müssen auf der Elenviner Kriegerakademie. Sie rannte an Lechdan vorbei, er war sicher schneller als sie. In ihrer Vorstellung war er ein Mitkadett älteren Jahrgangs, ganz sicher nicht ihr 'Halbonkel'. Nun sah auch der Knappe die menschlichen Schatten, die sich nun aus dem Schutz des Dickichts bewegten. Drei Menschen bekleidet mit einfachen Ledenschutz. In den Händen hielten sie rostige Säbel. Doch ihre Gesichter …. waren verzerrte Fratzen und wirkten kaum menschlich.

"Scheiße, was ist das?", wimmerte der Baronet und nahm die Beine in die Hand. "LAUF, IFIRNIA, LAUF!", schrie er dann aus vollem Halse. Er wollte einfach nur weg von diesen Gestalten. Ifirnia ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie versuchte noch schneller zu rennen, aber Sand und Gestrüpp behinderten sie. Keuchend wandte sie kurz den Kopf. Kam Lechdan mit? Kameraden ließ man nicht zurück … Es war nicht leicht, doch die Angst beflügelte ihn. Lechdan schaffte es, sich über das ungewohnte Terrain vorzukämpfen und auf Ifirnia aufzuschließen. Der Himmel war nun dunkel und der Wind zerrte an der Kleidung der jungen Leute. Beide rannten und das Haus des Gouverneurs kam immer näher. Ein Blick nach hinten verriet beiden, dass die Kreaturen ihnen folgten. Ifirnia und Lechdan schätzten, dass es noch gute 100 Schritt waren, um das Haus zu erreichen. Die Eingangstür wurde aufgerissen und beide sahen Gouverneur Ugdalf und Ulinai von Schwertleihe mit gezückten Waffen heraus treten.

“Beeilt euch!”, rief Ugdalf den beiden Fliehenden entgegen. Dann ließ er seinen Blick über die Umgebung schweifen, um etwaige weitere Angreifer auszumachen, die ihnen vielleicht in die Flanke fallen oder gar den Rückweg abschneiden könnten. “In meinem Haus sind wir sicherer und können uns dort auch besser verteidigen!” "Ja, Herr", rief Lechdan. Dann fiel ihm noch was ein: "Ist Mokko bei Euch?"

“Nein. Und ich weiß auch nicht, wo er gerade steckt. Und nun beeilt euch, wir können ihn später, wenn das alles hier vorbei ist, suchen. Jetzt ist wohl kaum der rechte Augenblick dafür.” Ifirnia blieb keuchend bei ihrer Mutter stehen. “Drei! Da waren drei! Von denen da …” Sie wandte sich um, wo die Verfolger gleich ankommen mußten. “Was sind das?!” Die Sichtweite war durch den Sturm und den aufwirbelnden Sand geschwächt, doch die Verfolger waren als Schemen zu erkennen. Alle drei waren stehen geblieben und schienen in die Richtung der Verfolgten zu schauen. Ulinai legte ihre linke Hand auf die Schulter ihrer Tochter. “Geht ins Haus.”, sagte sie sicher und schenkte dem Gouverneur einen fragenden Blick. Fragend schaute Lechdan seinen Schwertvater an.

Dieser nickte stumm und fügte dann hinzu: “Sorge dafür, dass alle Zugänge gesichert sind und niemand außer uns hineinkommt; wir stoßen baldmöglichst zu Dir. Sollten wir andere Flüchtlinge, etwa Mokko, finden, nehmen wir sie natürlich mit. Und nun geh´!” Der Knappe schlug mit der Faust gegen seine Brust und rannte ins Haus, um Fenster und Türen zu verriegeln, nicht jedoch ohne sein Knappenschwert, dass er unterwegs aufnahm. Unten im Keller müsste er vielleicht die letzte Bastion sein. “Und was machen wir jetzt?”, fragte Ulinai und griff ihr Schwert fester. “Nun, wir wissen nicht, wieviele Angreifer es sind, wir haben hier draußen keine Deckung und zudem zieht auch noch ein Sturm auf. Ich halte es für das Klügste, wenn wir uns in meine Residenz zurückziehen. Da sind wir sicherer und können uns auch besser verteidigen. Zuvor sollten wir uns noch kurz umschauen, ob wir irgendwelche Dörfler in der Nähe erspähen können und sie dann mit uns nehmen. Viel Zeit sollten wir darauf allerdings nicht verwenden”, schloss Ugdalf mit Blick auf die allmählich vorrückenden Angreifer.

Als er hinab zur Siedlung schaute, sah er auf halben weg eine Gruppe, die auf dem Weg zum Gouverneurshaus war und gegen den Wind ankämpfte. “Da!”, rief der Gouverneur seiner Begleiterin zu und zeigte auf die Gruppe. “Wir sollten dafür sorgen, dass sie wohlbehalten zu meiner Residenz gelangen und dann selbst dort Schutz suchen!”

In den Gassen der Stadt, Yar´Dasham 30. Rahja 1045 BF

Chaos war in den Gassen der Siedlung Yar´Dasham ausgebrochen. Der Wind peitschte um sich und das vorankommen war mühsam, immer wieder flogen Gegenstände, von Palmenblättern, Holzläden und alltäglichen Gebrauchsgegenständen durch die Luft und die Holzhütten der Bewohner machten nicht den Eindruck, lange dem Sturm zu widerstehen. Der Himmel war dunkel geworden und der Wind übertönte jedes Geräusch. Immer wieder sah man Schatten von einzelnen Bewohnern, die nun die Flucht zum Waldesrand antraten. Über allem thronte auf einer Anhöhe das Anwesen des Gouverneurs, das zwar dem Sturm trotzte, doch auch Dachschindel und Fensterläden verlor. Kaum hatte die kleine Gruppe, angeführt von Baldos von Paggenfeld, den Rand der Siedlung erreicht hatten, fiel ihnen eine große Blutlache auf, die vor dem Haus eines Fischers lag.

Wando, der sich gerade noch überraschend geschmeidig unter einer in Kopfhöhe über ihn hinweg fliegenden Dachlatte hindurch geduckt hatte, ging vor der Blutlache in die Hocke und kratzte sich gedankenverloren seinen inzwischen sandigen Hinterkopf. Offensichtlich war die Lache noch frisch. Sofort blickte er zu den anderen, seinen Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Kein Wort! Falls sich hier noch ein Angreifer verstecken sollte, wollte er es diesem wenigstens nicht zu einfach machen. Leise übergab er die Rumflasche in seiner Rechten zur zweiten in der anderen Hand und zog seinen Rapier. Dann sah er sich fieberhaft auf dem Boden um, in der Hoffnung, dass der Sturmwind noch nicht alle Spuren verweht hatte, und versuchte auszumachen, in welche Richtung Täter und Leib des blutenden Wesens sich wohl von hier davongemacht hatten.

Auch Baldos blickte besorgt auf den Blutfleck. Doch hielt er es nicht für notwendig, sich ebenfalls niederzuknien. Stattdessen zog er langsam sein Schwert und suchte mit den Augen die Umgebung ab. Die Blutspur führte ins Haus, dessen Tür im Wind hin und her schlug. Von weitem hörte Baldos Geschreie von Menschen, die immer wieder vom heulenden Sturm verschluckt wurden. „Habt Ihr auch die Schreie gehört? Wir sollten dort hin, um nachzusehen, wer da in Gefahr ist.“ Baldos machte sich jedoch auf den Weg zu dem Haus. Sollten sich noch immer Angreifer im Haus versteckt halten, hoffte Baldos, würden Sie vielleicht auf den Trick hereinfallen. Baldos drehte sich dann jedoch noch einmal um, um auf Wando zu warten, in der Hoffnung, dass dieser ihm folgen würde. Rizella schaute ängstlich. “Sollten wir nicht lieber Schutz suchen … vielleicht hatte die Geweihte ja doch recht.”

“Das Schreien scheint von dort hinten, vom Waldrand zu kommen. Wir sollten in der Tat dort nachsehen!” Wando ging wenige Schritt in diese Richtung, bis er in einem hinreichend spitzen Winkel zur Tür der Hütte stand. Dort hielt er inne und drehte sich zu den anderen, diesen mit dem Zeigefinger auf den Lippen wieder zu deuten, sich still zu verhalten. Dann nickte er Baldos entschieden zu und deutete mit Blicken auf die Tür. Rasch wurden die Rumflaschen wegrollsicher in den Sand gebettet, ehe Wando sich mit gezücktem Rapier daran machte, sich von der Seite an die Hütte anzuschleichen, grimmige Entschlossenheit auf den Zügen. Er wollte wissen, was hier vor sich ging. Baldos wartete ab, bis Wando seitlich der Hütte war, dann zog auch er sein Schwert. Die Rumflaschen hatte er vorher wortlos Rizella in die Hand gedrückt. Als er lange genug gewartet hatte, dass sich Wando strategisch günstig postieren konnte, stieß er die Tür, die gerade wieder im Wind leicht aufschwang, schwungvoll vollends auf und trat ein. Durch die Dunkelheit, die die Wolken auch draußen verbreiteten, dauerte es nicht lange, bis sich seine Augen an das dämmrige Licht in der Hütte gewöhnt hatten, und der Paggenfelder Ritter schaute sich um, das Schwert zum Schlag bereit.

Der tote Fischer lag vor ihm auf dem Boden. Das hier ein Kampf stattgefunden hat, war offensichtlich. Die Einrichtungsgegenstände waren umgestoßen worden, Geschirr zerbrochen. Die frischen Wunden deuteten auf eine Klingenwaffe hin. Dem alten Mann fehlten alle Finger seiner Hände. "Wie sieht es aus?" raunte Wando ungeduldig von draußen. Er hatte versucht, durch eine Fensterritze hineinzuspähen, im Dunkel aber nichts ausmachen können. Alleine der Sachverhalt, dass keinerlei Kampfgeräusche wahrzunehmen waren, offenbarte ihm, dass - wer auch immer für die Blutlache draußen verantwortlich war - entweder nicht in dieser Hütte stecken konnte oder sich zumindest noch nicht offenbart hatte. In letzterem Falle hoffte er, durch seine eigene Anwesenheitsbekundung dem unsichtbaren Feind jedweden Gedanken auszutreiben, den Paggenfelder aus dem Hinterhalt meucheln zu können. Baldos schaute sich rasch um, ob sich noch ein Angreifer in der Hütte befand. Als er überzeugt war, mit der Leiche alleine in der Hütte zu sein, rief er Wando zu: ”Wir sind zu spät. Das war ein Gemetzel. Passt auf, dass Rizelle hier nicht eintritt!” Der Ritter bückte sich zu dem toten Fischer, um sich die Wunden genauer anzusehen.

"Du hast den Herrn gehört! Halt hier bitte die Augen offen und gib uns sofort Alarm, wenn Du etwas merkwürdiges siehst." beschied Wando Rizella. "Ich bin gleich wieder bei Dir." Er wollte sich das Grauen in der Hütte mit eigenen Augen ansehen. Vielleicht gab der Anblick ja einen Hinweis, wer für diese Schweinerei verantwortlich war. "Scheiße!" war das erste, das Wando entfuhr, als er strammen Schritts zu Baldos getreten war. "Das war jedenfalls kein gewöhnlicher Angriff oder Überfall." “Nein, wohl kaum!” bestätigte auch Baldos. “Seht, er muss versucht haben, sich mit bloßen Händen vor dem Angriff zu schützen.” Wando hatte schon einiges gesehen und erlebt, der Anblick hier gehörte eindeutig zu den unangenehmeren Erfahrungen. Dennoch zögerte der Gehrheimer nicht, da sich Baldos bereits der Leiche annahm, die Einrichtung näher in Augenschein zu nehmen. Er wollte wissen, ob hier jemand etwas bestimmtes gesucht hat oder nur aus Raserei das Mobiliar zertrümmert hatte. Schnell war klar, dass hier nichts gesucht wurde … außer das Leben des Fischers.

“Braucht ihr da noch lange?”, kam es ängstlich von draußen. “Ich höre Hilferufe." Rizella wagte es nicht, die Hütte zu betreten. “Ich glaube, wir sind hier fertig. Hier können wir nichts mehr tun. Aufräumen müssen wohl die Büttel, wenn sich der Sturm gelegt hat. Wir sollten beim Gouverneur Bescheid geben.” Der Ritter trat aus der Hütte. “Aus welcher Richtung kamen die Hilferufe?” Wando, der inzwischen neben ihn getreten war, deutete zu der Stelle, aus der er die Geräusche zu stammen wähnte. Einen Teil von ihm zog es dorthin - schlimmer als die Gefahr war die Ungewissheit, stärker als die Furcht die Neugier. Doch mahnten ihn die Vernunft und der Blick auf die Blutlache zu Füßen Rizellas zur Vorsicht. "Ihr habt Recht. Auf zum Gouverneur. Vielleicht weiß er, was hier gerade geschieht." Er selbst bezweifelte dies jedoch… Baldos lauschte konzentriert und hörte nun auch die Schreie. “Dann lasst uns schnell aufbrechen, ich denke, die Rufe kommen auch aus jener Richtung. Vielleicht droht die Gefahr sogar an unserem Ziel.” Wando bückte sich gerade noch nach den beiden Rumflaschen, die er vor der Untersuchung der Hütte abgelegt hatte. "Bin bereit." stellte er fest, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. "Dann mal los!"