Der Letzte aller Tage

Kapitel 4: Der Letzte aller Tage

An Bord der Thalukke “Kaiserin”, Südmeer, 5. Namenloser Tag

Der stechende Geruch von faulem Fisch, abgestandenes Wasser und das Knarren von Holz ließen den Ritter Baldos, den Entdecker Wando, die Wirtin Rizella, der Leibdiener Mokko, sowie die Söldnerin Ulinai und ihre Tochter Ifirnia schreckhaft erwachen. Ihre Körper fühlten sich an, als ob sie ein Turnier, gar eine Schlägerei hinter sich hatten und ein dumpfer Schmerz lag über ihren Köpfen. Was war nur geschehen? Letzte Erinnerungen lagen wie ein Traum vor ihnen. Ein Sturm in Yar´Dasham. Eine Flucht in den Keller des Gouverneurs … doch dann? Keine weitere Erinnerung war zu finden. Als sie sich umschauten, waren sie sicher, in einer Matrosenkajüte eines Schiffes zu sein. Eine Öllampe spendete etwas Licht. Sie alle lagen in Hängematten.

Mit einem leisen Stöhnen richtete sich Wando auf. Zuerst und zu allem Überfluss gesellte sich zum Schwanken der Welt nun auch noch ein schnelles Rotieren, das sich aber wieder legte, noch ehe sein Magen sich vollends verkrampfen konnte. So musste er nur einen kleinen säuerlichen Schwall wieder herunterschlucken. Wie sich sein Kopf anfühlte, musste es eine wilde Nacht, nein, mehrere wild durchzechte Nächte gewesen sein. Eigentlich konnte er ja so einiges wegstecken. Was war also geschehen? Wando versuchte sich zurückzuerinnern, doch blickte er nur in ein dunkles Nichts. Merkwürdig - wie ausgelöscht waren alle Erinnerungen. So etwas war ihm seit Jugendtagen nicht mehr passiert. Sein Blick fiel auf Rizella. Ein Erinnerungsfetzen kehrte zurück. Hatten er... und der bestrafte Ritter... Baldos hieß er... hatten sie beide sich nicht bei der Wirtin mit Rum eingedeckt? Um sich die Sturmnacht schön zu saufen? "Wo hast Du Deinen Rum her, Rizella?" war daher seine erste Frage, als er erkannte, dass sie die Augen ebenfalls aufgeschlagen hatte. "So einen Schädel hatte ich noch nie! Wie kommen wir auf dieses Schiff... was für ein Schiff ist es denn überhaupt? Und wohin geht die Fahrt?"

Die üppige Rizella erhob sich und strich sich über einige Blessuren, die allerdings schon am verheilen warn. “Der Rum … den mache ich selbst.” Auch Mokko hatte sich erhoben und ließ nun seine Beine baumeln.” Das wirkt wie ein großes Schiff. Wo … Wo ist Nihi und Lechdan?”, fragte er. "Keine Ahnung. Lechdan war der Knappe des Gouverneurs, richtig?" Den Jungen vor sich hatte Wando auch schon gesehen... das war doch der Diener... sei's drum. Viel wichtiger war: was machte er selbst auf diesem Schiff? Eigentlich war er doch nach Yar'Dasham gekommen, um sich nach neuen lukrativen Objekten in den mittelreichisch beherrschten Dschungeln umzusehen, für die eine Expedition lohnte. Und nicht, um volltrunken das nächstbeste Schiff zu nehmen. Schwerfällig schwang sich der Gehrheimer aus seiner Hängematte in den Stand. Nachdem er den aufsteigenden Schwindel niedergekämpft hatte, schwankte er zur Tür, um Gerechtigkeit hereinzulassen und einen Blick hinauszuwerfen. Auf dem Weg dorthin entdeckte er Baldos. "Na, auch hier?" begrüßte er den einstigen Ritter. "Und genauso in die Bewusstlosigkeit gezecht wie meinereiner, deucht mir. Oder wisst Ihr, was wir hier machen?" Baldos lag noch im Halbschlaf und hatte bisher noch nicht mitbekommen, wo er sich befand. Angesprochen schreckte er auf und versuchte, aufzustehen. Doch der Rand der Hängematte gab unter seinem Gewicht nach, die Matte drehte sich und entließ den gefallenen Ritter unsanft auf die harten Planken poltern, wobei sich sein linkes Bein in den Seilen des Schlafplatzes verhedderte. So hing er halb, halb lag er laut fluchend auf dem Boden. „Verdammter Orkendreck! Ich werde mich wohl nie an diese Dinger gewöhnen!“ Dann schaute er sich um. „Wo sind wir? Und wie kommen wir hierher?“

Dann fiel Baldos Blick auf eine Kiste, die im Schatten stand. Es war ´seine´ Kiste mit den Steuereinnahmen. “Hoher Herr, lasst mich Euch aufhelfen.”, sagte der Diener Mokko, der nun neben ihm stand und seine Hand hilfreich ihm entgegen streckte. “Ich glaube … wir sind an Bord der Kaiserin.”, sagte Ulinai die ihrer Tochter die Schulter rieb. “Die Kajüte kommt mir hier bekannt vor. Ich erinnere mich daran, zum Gouverneur geflüchtet zu sein. In den Keller. Doch dann?” Nun rieb sie sich die Stirn, als ob ihr das Nachdenken schwer fallen würde. “Sagt bloß, Ihr könnt Euch auch an nichts erinnern, was seither geschehen ist?” fragte Wando erstaunt nach. Merkwürdig! Dass er und vielleicht auch der zu Hause in Ungnade gefallene Paggenfelder Ritter viel zu viel gesoffen hatten, war bereits verwunderlich. Aber dass offenbar allen hier dieser Fehler unterlaufen war, erschien ihm mehr als unwahrscheinlich. “Was ist mit Euch, junge Dame?” wollte er von Ifirnia wissen. “Und was mit Dir, Junge?” Auch der Waldmenschendiener schien völlig desorientiert. “Danke, Mama”, murmelte Ifirnia. Verwirrt schaute sie den Entdecker an. “Hab ich so lange geschlafen?”, fragte sie. Wieso lag sie in einer Hängematte? Warum schwang alles hin und her? Warum hatte sie so ein Kopfweh? ‘Doch die Pilze’, ging ihr durch den Sinn. Sie legte eine Hand über ihre Augen. “Einen Moment noch”, sagte sie leise.

Baldos indes versuchte, sich mit Mokkos Hilfe aufzurappeln. “Danke, mein Junge!” sagte er zu ihm mit einem Lächeln auf dem Mund. Doch dann ging er neugierig zu der Steuerkiste. Wie kam die auf einmal hierher? Er hatte sie doch in seinem Zimmer im Gouverneurspalast zurücklassen müssen. Er griff nach dem Schlüssel, den er an einer Kette um seinen Hals trug und versuchte zügig, das Schloss der Kiste zu öffnen, um nachzusehen, dass noch immer alles dort war, was hineingehörte. Fluchs ließ sich diese aufschließen und alle Säckelchen mit den Dukaten waren darin, so wie das Samtene, mit dem besonderen für den Landgrafen. Tief ausatmend löste sich Baldos‘ Angespanntheit. Was auch immer geschehen war, wie auch immer die wieder auf das Schiff gekommen waren, wichtig war für ihn gerade, dass diese Kiste und sein Inhalt wieder vollständig bei ihm war. Nur so konnte er in die Heimat zurückkehren und auf Begnadigung hoffen. Als der Sturm anbrach und sie fliehen mussten, dachte der in Ungnade gefallene Ritter bereits, es gäbe für ihn keine Hoffnung mehr, die Queste abzuschließen, und er müsste den Rest seines Lebens auf der Flucht verbringen. Schnell verstaute er alle Säckchen wieder in der Kiste, schloss den Deckel, drehte den Schlüssel wieder, um das Schloss zu verriegeln, hängte sich den Schlüssel um den Hals und setzte sich auf die Kiste.

Mokko und Rizella schauten sich an. “Ja … nichts.”, sagte Rizella. “Wir alle sind mit dem Gouverneur, dem Jungen Herr Lechdan und meiner Schwester in den Keller geflohen. Es gab einen Angriff und dieser tobende Sturm.”, sagte Mokko nachdenklich. Wando nickte zögerlich... ein Angriff, ja,... da war ein Angriff gewesen. Sie hatten Schutz im Keller gesucht. Und dann waren sie hier, auf diesem Schiff, aufgewacht. Dazwischen… nichts. Der Entdecker begann, sich hektisch auf Stiche abzusuchen. Die lose Punktmusterung sah nach den üblichen Blessuren aus, die man hier, im Süden, davontrug, aber nicht, als ob er in einen Schwarm Borbarad-Moskitos geraten wäre. Außerdem hätte er dann keinen derart trennscharfen Gedächtnisverlust erwartet. "Als ob Magie im Spiel gewesen wäre..." murmelte er sinnierend vor sich hin.

Ifirnia riß sich zusammen. An der Akademie hätte sie sich das kaum leisten können, noch länger liegen zu bleiben. Auf! Auch sie plumpste eher ungelenk aus der Hängematte, schaffte es aber, nicht hinzufallen. Sie schaute sich um. Alle da - außer Lechdan. Und dem Gouverneur. Na gut, der würde kaum in der Mannschaftskajüte schlafen. Warum Kajüte? Warum nicht Bett? Albtraumbilder schossen ihr durch den Kopf und das Gefühl, daß da noch etwas sein müßte … “Was ist los?”, fragte sie niemand Bestimmten.

“Ich verstehe das alles nicht. Wie sind wir nach dem Angriff hierher gekommen? Und wieso? Schaut”, Baldos klopfte gedankenlos gegen die Seite der Kiste, auf der er saß. “Dies hatte ich im Haus unseres Gastgebers abgeladen. Wer auch immer uns hierher gebracht hat, warum sollte er auch …, ähm, unser Gepäck an Bord bringen? Wenn man uns schnell los werden wollte, gäbe es andere Wege.”

Ifirnia streckte sich und ging kurzerhand - mit schwankendem Gang - zur Tür. Offenbar wußte niemand hier, was los war. Irgendwo mußte es aber eine Mannschaft geben, eine Kapitänin, irgendwen … Blick auf einen Hafen, eine Küste … Die Kajütenwände gaben jedenfalls bestimmt keine Antwort. Außerdem mußte sie auf Klo, und sei es wieder der breitrandige Eimer, der das letzte Mal dafür hatte herhalten müssen.

"Darf ich Euch die Tür aufhalten?" erbot sich Wando, der trotz allen Wankens und Grübelns bereits fast bei dieser angelangt war. Beherzt packte er die Klinke und drückte diese nach unten. Just in diesem Moment ließ eine stärkere Woge das Schiff noch stärker tanzen, so dass Wando beinahe nach hinten gekippt wäre, hätte er sich nicht an der Türe festgehalten. Kaum dass er wieder Stand gefunden hatte, deutete er auf die Türöffnung. "Nach Euch!"