Tiergefährten - Kapitel 7

Tiergefährten

Kapitel 7 der Briefspielgeschichte Tiergefährten

Unter gespannten Blicken der Gefährten, wanderte das Übel sichtbar, als wandelnder braun-fauliger Fleck, unter der Haut Elvruns. Hin und her zuckte es und bahnte sich langsam und widerwillig den Weg über ihren Hals bis zu ihrem Mund. Dann bebte ihr zierlicher Körper kurz auf und unter einem Keuchen, verließ das Grauen die Greisin durch ihren Mund. Das Wesen schoß in die Höhe und kam kurz schwebend zur Ruhe. Hoch genug, dass niemand es erreichen konnte. Nun konnte jeder es sehen: es war faustgroß, von orange-braunfauliger Farbe und änderte rastlos seine Form. Gequälte, menschliche Gesichter waren zu erkennen, im Wechsel mit denen von Gänsen. Auch bildete es immer wieder Gänsefüße, die wild hin und her zappelten. Ein disharmonisches Schnattern gab es von sich und wirbelte dann im Kreis. Es schien, dass das Übel einen neuen Körper suchte. Ein jeder fühlte sich von dem Blick gestreift, bis es anscheinend jemanden gefunden hatte. Wie auf ein stilles Kommando hin, schoß es genau auf sein Opfer zu.

Die Heilung

Kaum hatte der Fluch den Körper der Traviageweihten verlassen, begann diese sichtlich weiter zu zerfallen. “OH nein, Schätzchen. Ulmaceae läßt dich jetzt nicht gegen. Onyx, jetzt müssen wir alles geben!”, grollte die Ulmendryade dem Krötenmann zu. Ulmaceae schloß ihre Augen und ließ ihre Hände auf dem Körper der Frau. Ein Rascheln und Knarzen ging durch den gewaltigen Baum, als sie ihre Kräfte fokussierte. Und sieh da! Die Haut Elvruns wurde rosig und wie es schien, schmiss sie das Last des Alterns langsam von sich ab.
Onyx hatte erschrocken beobachtet und in seinem Tun innegehalten, als dieses grausliche Etwas aus der Frau entwich. Die Worte der Dryade rissen ihn in die Gegenwart zurück. Er löste sich aus seiner Starre und eine selten gekannte Wut brodelte in ihm. Er setzte seine Kraft hier ein und der Feind wollte nicht verschwinden, der Körper folgte nicht. So sollte das nicht weitergehen! Er schwitzte und die wenigen Haare klebten wirr auf seinem Kopf. Es gelang Onyx, das Umfeld auszublenden und sich auf die Heilung zu konzentrieren. Elvrun schien zu reagieren, aber er traute dem Frieden noch nicht.

Seelenreise

Der rastlose Fluch verließ den Körper Elvruns und die Raben schlossen die Augen. Augenblicklich ging ein schwindelndes Gefühl durch den Rund der Menschen und alle fanden sich an einem anderen Ort wieder. Eine gewaltige Halle, erbaut aus kühlem Marmor und getragen von mächtigen Säulen, war erhellt von orangenem Licht eines flackernden Herdfeuers. Dieser Herd lag nicht weit entfernt und beherbergte einen gewaltigen Kessel. In der Ferne war das Schnattern von Gänsen zu hören. Schattenartige Gestalten wanderten zwischen den Säulen umher und verbargen ihre Gesichter. Am anderen Ende jedoch war ein ätherisch leuchtendes Tor zu erkennen und nicht weit vor dessen Schwelle hockte eine zierliche Frauengestalt: Elvrun!

“Huch! Wo sind wir denn da gelandet?”, gluckste der alte Rabe und riss erstaunt die Augen auf, um besser sehen zu können.

“Ooooh”, staunte Silvagild und bewunderte die majestätischen Säulen der Halle. Nun war die junge Ulmentorerin als Wanderin zwischen den Welten einiges gewohnt gewesen, doch dieser Anblick verschlug auch ihr die Sprache und wie es schien auch die Beherrschung über ihren Körper und ihre Gedanken. So schien es zumindest, denn ihr Schritt hielt inne und anstatt die schmale, sitzende Frau, bewunderte sie lediglich die Örtlichkeit an sich - mit einer seltsam anmutenden Faszination. Silvagilds Augen hatten inzwischen wieder ihre braune Farbe angenommen, was dafür sprach, dass sie sich nicht mehr in der Feenwelt befanden.

Tsalrik an ihrer Seite schien den Fokus nicht zu verlieren. Er sah voll Sorge auf die junge Frau, die sie Elvrun nannten. “Wir sind am Übergang ins Totenreich”, flüsterte er in Relindis und Hardomars Richtung. “Wenn wir wollen, dass sie überlebt, darf sie dieses Tor nicht durchschreiten.” Der Jüngling wies auf das leuchtende Tor. “Das Reich der Gänsegöttin.”

“Totenreich?”, wisperte der Ritter auf Tsalriks Hinweis andächtig. Dass dieser Ausflug so verlaufen würde, hätte sich Hardomar in seinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Eben waren sie noch in einer herrlichen Märchenwelt gewesen und nun standen sie zwischen den Welten am Tor zum Totenreich der Travia.
Sich in Gedanken versuchen umschauend schritt er ähnlich wie Silvagild umher. Das ätherisch leuchtende Tor löste trotz seiner Fremdartigkeit und seltsamen Aura eine Faszination bei Hardomar aus. Er hatte die Warnung Tsalriks vernommen, doch wollte er sich dieses ein wenig näher anschauen und beobachtete die Schatten, welche sich zwischen den Säulen zu bewegen schienen. ‘Bei den Göttern… Dies ist wirklich ein Tor zur anderen Welt’, staunte er und spürte ein zunehmend beklemmendes Gefühl in seinem Brustkorb. Respektvoll ging er nun wieder ein paar Schritte rückwärts und schaute sich zu seinen Gefährten um.
Er sah, wie Tsalrik und Relindis die kauernde Elvrun gerade erreichten und wandte sich diesen zu.

Auch Relindis verharrte für einige Momente wie erstarrt und ließ sich von den Eindrücken der Pforte zum Reiche Travias überwältigen. Denn dass sie dort waren, stand für sie außer Zweifel. So nah an der Herrlichkeit ihrer Göttin. Nur wenige Schritte bis zum himmlischen Herdfeuer, bis zur Heimkehr zur göttlichen Familie, zum ewigen Mahl an der Tafel der gütigen Mutter. So nah an immerwährendem Glück und Frieden! Was würde sie darum geben, hinter das leuchtende Tor zu blicken. Hand in Hand mit Elvrun durch dieses zu gehen, mit allen unter ihnen, die dies wollten. Schlafwandlerisch anmutend schwebte sie nahezu ein, zwei Schritte auf ihre Schwägerin in spe und auf das Leuchten zu. Ihr Blick blieb nun an ihrer Schwester im Glauben hängen. Elvrun, Nivards Verlobte. Tsadoros Mutter. Die Gedanken an den Säugling und ihren Bruder stürzten jäh auf sie ein, riefen ihr in Erinnerung, weswegen sie hier waren. Wie konnten sie und Elvrun nur daran denken, jetzt schon den Frieden der Mutter finden zu wollen. Sie hatten diesen beide längst noch nicht verdient. Sie wurden doch noch gebraucht! Tsadoro sollte nicht als Waisenkind aufwachsen müssen, und Nivard nicht um seine Braut trauern müssen, am Tage seiner Hochzeit! Und auch sie selbst hatte zuerst auf Dere das Werk ihrer Göttin zu verrichten, bevor es endgültig heim ging. Wenn es so weit war, würde Travia selbst sie rufen, und sie diesen Ruf hören. Heute jedoch konnte sie diesen nicht vernehmen.
In diesem Moment drangen die Worte Tsalriks an ihr Ohr. Sie hielt inne und nickte diesem mit ernstem Blick zu. "Ja. Es ist wunderschön, nicht wahr?" Ein seliges und zugleich trauriges Lächeln ging über ihr Gesicht, als sie ihre Gefährten reihum ansah. "Aber noch ist nicht die Zeit. Weder für Elvrun, noch für uns. Lasst sie uns zurückholen."
Gemessenen Schrittes ging Relindis auf Elvrun zu. Dabei zog es ihren Blick immer wieder zu dem Übergang, und sie sog die Eindrücke dieses himmlischen Glanzes tief in sich auf. Dereinst würde sie mit Freuden darauf zu und hindurchgehen. Doch noch nicht heute. "Elvrun!" rief sie, hockte sich vor dieser hin und berührte sie ganz sachte am Oberarm, während sie mit behutsamer Stimme zu dieser durchzudringen versuchte: "Endlich haben wir Dich gefunden!"

Doch bevor die Geweihte eine Reaktion Elvruns abwarten konnte, traten einige der herumlaufenden Gestalten aus den Schatten. Den Mann mit dem traurigen Blick erkannte sie sofort: Es war ihr verschollener Vater! “Relindis, meine Tochter. Bist du endlich zu mir gekommen!”

"Vater?! Bist Du es?" Konnte es sein? Relindis blickte ihren Vater Herne einige Momente wie vom Donner gerührt an - er sah noch genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte, an jenem Tage vor mehr als acht Götterläufen, den sie nie vergessen würde. Jenem Tage, an dem er sie am Fuße ihres Wehrturms ein letztes Mal zu sich in den Sattel hochgezogen und in den Arm genommen hatte, ‘seiner Großen’ den Segen der großen und gütigen Mutter gewünscht und sie zum Abschied auf die Stirn geküsst hatte, bevor er davon ritt, in die Wälder, aus denen er nie zurückgekehrt war. Tränen schossen der inzwischen zur jungen Frau gereiften in die Augen, und bebend brach das 12jährige Kind von damals - noch immer voll Trauer - in ihr sich Bahn. Mit einem Aufschluchzen rannte sie die letzten Schritte auf ihren Vater zu und fiel diesem um den Hals. "Oh Vater, halt mich, bitte!" versuchte sie den festzufassen, den das Schicksal ihr entrissen hatte. “Ich habe Dich so vermisst!”

“Oh, Relindis. Nichts soll uns mehr trennen. Zusammen werden wir den Schmerz nun ein Ende setzen.” Dann nahm er sie an die Hand. “Lass uns an der Tafel der himmlischen Familie Platz nehmen.” Er deutete auf das Tor.

"Vater, oh Vater!" Relindis blieb stehen und legte ihre zweite Hand um diejenige ihres Vater, die ihre erste hielt. Die Tränen strömten ihr über beide Wangen und sie musste schniefend schlucken, ehe sie wieder sprechen konnte. "Am liebsten würde ich Dich nie mehr loslassen, jetzt nachdem ich Dich endlich wiedergefunden habe!" Sie stockte, um ein weiteres Mal laut zu schniefen. "Aber ich muss. Und Du musst mich loslassen. Vater, ich bitte Dich, verharre nicht mehr in diesem Zwischenreich, warte nicht mehr auf mich und die anderen, die Du liebst. Geh voraus, und finde Frieden und Seligkeit am Tisch der gütigen Mutter. Dich dort zu wissen wird mein Herz wärmen und endlich die Wunde verheilen lassen, die Dein Verschwinden in meine Seele gerissen hat. Denn ab jetzt darf ich mich mein Leben lang darauf freuen, dich hier wieder zu sehen... wenn dereinst meine Zeit gekommen ist..." Relindis holte tief Luft, um wieder Bestimmtheit und Fassung zu finden, was ihr aber immer noch mehr als schwer fiel und ihre Tränen nicht im mindesten beeindruckte. Sie seufzte kurz, dann aber fuhr sie mit lauterer Stimme fort, denn sie wollte, dass auch Elvrun das Gesprochene vernahm: "... aber noch ist sie es nicht! Ich glaube, ich werde noch auf Deren gebraucht, noch habe ich die ewige Rast nicht verdient. Genauso wie meine Schwester im Glauben hier.” Relindis deutete zu der Kranken . “Elvrun ist ihr Name. Wir sind hier, sie zurückzuholen nach Dere. Stell Dir vor: Heute wollte sie Nivard, Deinen Sohn Nivard, heiraten, der sie sicher längst sehnsüchtig und voll Liebe im Tempel der gütigen Mutter erwartet. Und es gibt da noch einen Menschen, der sie braucht, ein kleines unschuldiges Kind, das Travia sicher in ihrem Armen behütet sehen möchte. Auch auf Elvruns Heimkehr in den Kreis der himmlischen Familie wird sich Travia dereinst freuen - aber noch ist es nicht so weit."

Doch Relindis war nicht die einzige, die jemanden erkannte. Zwei verletzte Ritter, Gernot von Hagenbrünn-Ulmentor und Wolfmar von Hadingen, sowie die Greisin Madalberta und der junge Höfling Marborad von Dachswies standen nun vor ihnen.

Caligo erschrak und machte einen gewaltigen Satz rückwärts. Dabei entfuhr ihm ein schrilles Kraaaa, während er die Augen aufriss und hektisch anfing sich zu untersuchen.

Corax indes verfiel wieder in sein typisches Kichern und tippte sich an die Nase: “Na, wenn das mal keine Prüfung ist. Was will sie wohl von uns, die Herdmutter, mmmmh?” Er ging auf Madalberta zu.

“Vater?”, stieß Hardomar intuitiv heraus. War dies tatsächlich der Geist seines verstorbenen Vaters? Konnte er wirklich mit ihm sprechen? “Vater, bist Du es wirklich? Ich habe Dich so vermisst!”, rief er mit merklich ergriffener Stimme und merkte, wie plötzlich ein Kloß in seinem Hals saß und er nur schwer die Tränen unterdrücken konnte.
Er ging einen Schritt auf ihn und die anderen Neuankömmlinge zu und erkannte auch Gernot von Hagenbrünn-Ulmentor wieder, den er vor Jahren einmal gesehen hatte. Doch Marborad? Er schaute diesen verwirrt an. ‘Er war doch vorgestern noch unter den Lebenden gewesen… Oder war auch er hier, um Elvrun zu helfen?’, wunderte sich der Ritter flüchtig, doch wandte er dann seinen Blick wieder seinem geliebten Vater zu.

Silvagilds Gesicht hellte sich sogleich auf. “Vater!”, wie ein kleines Mädchen lief sie auf den Geist ihres Vaters zu, den sie viel zu früh verloren hatte und dessen Ableben sie viel zu früh in eine viel zu große Verantwortung trug. Erst kurz bevor sie dem Geist in die Arme gesprungen wäre, schien sie sich dessen zu besinnen und hielt inne. “Ich … äh … wie geht es dir? Tsalrik ist auch hier.” Sie wies auf ihren Bruder.

“Hallo Vater”, meinte dieser etwas reservierter. Wenn schon Silvagild das Gefühl hatte zu früh ins kalte Wasser der Verantwortung geworfen zu werden, wie ging es wohl dem Jüngling Tsalrik, der bereits im Knabenalter seine Aufgabe hatte antreten müssen. Und diese befand sich nicht einmal auf dem Dererund sondern in einer anderen Welt. “Wir sind hier um eine Freundin zu holen”, erklärte der junge Ulmentorer weiter und wies auf die sitzende Elvrun.

Die Väter nickten beide zufrieden. “Endlich hat der Schmerz ein Ende; an der Tafel der himmlischen Familie werden wir unseren Frieden finden. Lasst uns gehen”, sagte Gernot. “So ist es, mein Sohn. Deine Mutter erwartet dich schon sehnsüchtig”, sagte Wolfmar zu Hardomar.

In Silvagilds Kopf schien es nun zu dämmern. Sie sah kurz hinüber zu ihrem Bruder und es schien so als schüttelte sie kurz ihr Haupt. Irgendetwas stimmte hier doch nicht. “Vater, dir ist bewusst, dass unsere Zeit noch nicht gekommen ist?”, fragte sie zögerlich. “Wir holen eine Freundin zurück, denn ein Fluch hat sie hierher geführt. Ihre Zeit ist ebenso noch nicht gekommen.”

Die Antwort seines Vaters fühlte sich für Hardomar nicht so vertraut und herzlich an, wie er es vielleicht erwartet hätte. ‘Sollte nicht auch Silvagilds Vater eher in Rondras Hallen eingekehrt sein?’, wunderte er sich. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Irgendetwas stimmte nicht. Erneut fragte er sich, ob dies vor ihm tatsächlich der Geist seines Vaters war. Hardomar sah zu den beiden Ulmentorer Geschwistern herüber und beobachtete, dass diese auch eher verhalten auf ihren Vater reagierten. So sehr er auch seine Mutter wiedersehen und seinen Vater in die Arme schließen und begleiten würde, so stimmte er Silvagild zu. “Die wohlgeborene Dame hat recht, Vater”, antwortete er vorsichtig. “Wir sind nur hier, um die Geweihte dort drüben zurückzuholen.”

Die alte Dachswiesnerin nahm ihren Corax in die Arme. “Müde, so müde. Es ist Zeit zu gehen, findest du nicht? Lass uns in den ewigen Schlaf gehen, mein lieber Corax”, flüsterte sie ihm zu.

Ganz anders begrüßte Marborad seinen Caligo. Mit traurigem Blick schaute er zum ätherischen Tor. “Sie haben recht, die Schwestern. Wir werden nie die Anerkennung bekommen, die uns gebührt. Die Göttin bevorzugt nun mal die Frauen. Das beste ist, wir gehen… in Frieden.”

“Ich weiß, alte Freundin”, versuchte der Albino die Greisin zu trösten, “aber es warten noch Aufgaben auf Dich. Ein entfernter Verwandter muss noch begrüßt werden, die Federkrone braucht noch eine Weissagung und Licht muss auf dunkle Kristalle fallen. Erst danach dürfen wir den großen Raben begrüßen und endlich, endlich ruhen. Ein paar Wochen noch. Das schaffen wir schon.”

“Pah! Aufgeben?! Jetzt?!” Caligo legte den Kopf schief und hüpfte um den Dachswieser herum. “Du bist nicht der, den ich kenne”, murmelte er. Dann sprang er plötzlich zweimal rückwärts und flatterte dabei mit seinen Armen. “LUG. BETRUG. KRAAAAAAAAA, KRAAA!”, rief er und versuchte die anderen zu warnen. “Glaubt ihnen nicht!”

Auch die Dryadenmänner Salgar und Simunius schienen eine Begegnung mit jemanden zu haben, doch auch ihnen fiel auf, das hier etwas nicht stimmte. Es war Mafaldo der nun ein Schritt auf die kniende Elvrun machte. “Caligo hat recht. Das hier ist nicht echt. Wir sind nicht in den Hallen der Geister. Ich glaube wir sind in Elvruns Geist.”, stellte der Rabenmann fest. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, machten die vertrauten Gestalten einen Schritt zurück in die Schatten und verschwanden wieder.

Ja, so war es. Relindis fiel wie Schuppen von den Augen, dass Mafaldo Recht hatte. Sie wusste nicht, ob sie darüber traurig oder froh sein sollte: traurig, weiterhin keine Gewissheit über ihren Vater gefunden zu haben... froh, dass vielleicht doch ein Funken Hoffnung bestand, ihn dereinst noch lebendig wiederzusehen... jetzt aber ging es umso mehr um Elvrun.

Nun drehte sich Elvrun um. Mit tränenumflossendem Gesicht schaute sie alle an. “Ich habe der Mutter gefehlt, ihre Treue versagt, ihren Eid gebrochen und mich der Sittenlosigkeit hingegeben. Es kann doch nur einen Weg zur Erlösung führen. Wollt ihr das nicht auch?”

“TOD!” Die Stimme des alten Raben schnitt kalt durch Raum und Zeit. Die roten Augen glühten kurz auf. Er machte ein paar Schritte auf Elvrun zu. “Doch höre Kind! Es ist nicht an Dir das zu entscheiden. Es ist die Mutter, die über Wohl und Wehe des Kindes befindet und wenn Du wahrhaft bereust, so wird sie Dir vergeben. Ja, Du hast sie enttäuscht, die Mutter, aber hast Du sie verraten? Bist Du in die Arme des Widersachers gelaufen? Ich denke nicht. Es gibt Hoffnung. Es gibt Vergebung. Es gibt Rettung für das Kind. Ein warmer Platz am Feuer. Ein leckeres Mahl. Eine wohlige Umarmung.” Er hockte sich neben die Geweihte und legte einen Flügel um sie. “Aber erst musst Du bereuen. Musst Deinen Fehler wieder gutmachen, nachdem Du der Mutter gebeichtet hast. Dann kann sie Dir vergeben. Wählst Du aber den Weg des Raben, so wirst Du nicht nur die Mutter erzürnen, die Du kennst, sondern auch die Teile, die Du nicht kennst: die Eidechse und die Geierin. Du wirst in Dunkelheit versinken und nie mehr Glück erfahren. Und wenn Du tief in Dich hinein horchst”, er tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Brust, “genau hier, dann suchst Du doch nach Glück und nicht nach Dunkelheit.” Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und wischte ihr eine Träne ab. “Hihi. Siehst Du den jungen Tölpel dort?” Er deutete auf Caligo. “Gerade erst dem Ei entschlüpft und führt sich auf, als wäre er der König der Welt. Laut, Eitel und voller Selbstgefälligkeit stolziert er hier herum. Und doch hat er das Trugbild erkannt. Er muss noch wachsen, genau wie Du. Er wird dabei Fehler machen, genau wie Du. Aber wenn ihr zwei es schafft aus euren Fehlern zu lernen, dann kann Großes aus euch beiden werden.”

“Elvrun, oh Elvrun!” Relindis stürzte ebenfalls zu dieser, kniete sich vor ihr hin und fasste deren Hände. Eindringlich sah sie ihr in die Augen. “Corax hat mit jedem seiner Worte so Recht! Glaubst Du tatsächlich, die gütige Mutter würde Dir nicht verzeihen? Glaubst Du wirklich, Dein selbst gewählter Tod würde die Sache besser machen, gar heilen? Dich Gnade in Travias Augen finden lassen?” Die junge Geweihte schüttelte ihren Kopf. “Oh nein, Elvrun! Ich weiß nicht, was geschehen ist, dass Du Tsadoro das Leben schenktest. Vielleicht hast Du zuvor gefehlt, wie Menschen, selbst Geweihte, es immer wieder tun, vielleicht hast Du Dich sogar an den Geboten der Mutter versündigt. Wenn Du es möchtest, kann ich Dir die Beichte abnehmen… Was geschehen ist, ist jedenfalls geschehen. Dafür musst Du natürlich die Verantwortung tragen. Aber ganz sicher nicht, in dem Du Dich dieser durch den vorzeitigen Tod entziehst… damit vergehst Du Dich sogar noch viel mehr an Travia. Denk an Deinen kleinen Jungen, Tsadoro! Er braucht Dich, mit Haut und Haaren, ist auf Dich und Deine Treue angewiesen! Willst Du ihn im Stich lassen? Und denk an Nivard! Er liebt Dich, und Du hast ihm den Ehebund versprochen! Soll er im Tempel vergebens auf Dich warten?”
Relindis drückte Elvruns Hand noch fester, und neue Tränen strömten ihre Wangen hinab. “Travia liebt Dich, Elvrun! Und sie sieht Deine Reue! Sie hat Dich nie aufgegeben! Deswegen darfst Du Dich auch nicht aufgeben! Sieh Dich nur um: Wir alle hier und all jene, die noch bei Ulmaceae um Dich kämpfen, sind gekommen, Heilung für Dich zu finden und Dich wohlbehalten heimzubringen… Mehr noch: es war eine Wildgans, die sich Deiner hier angenommen hat! Und ihre Schwester hat mich hierher geführt, zu Dir! Spürst Du nicht, dass dies nur eines bedeuten kann: Travia WILL, dass Du zurückkehrst nach Dere, und weiter ihr Werk tust! Die gütige Mutter liebt Dich, und sie ist, glaube ich, dazu bereit, Dir zu verzeihen! Du musst Dich ihr nur anvertrauen.”

"Genau, gehe nicht den Weg des geringsten Widerstands", warf dann auch noch die Knappin Silvagild ein und konnte dabei eine gewisse Strenge in ihrer Stimme nicht verhehlen. Es half nichts die Geweihte hier zu verhätscheln - sie war eine erwachsene Frau und Götterdienerin. "Du hast gesündigt und es tut dir leid?" Sie hob fragend ihre Augenbrauen, ließ jedoch keine Antwort zu. "Dann nutze dein Leben um es besser zu machen. Travia ist barmherzig, kümmere dich um dein Kind und um deinen Mann, sei eine liebende Mutter und mach es einfach besser. Dir das Leben zu nehmen wäre der einfachste Weg … der schwächste. Dich zu deinen Fehlern zu bekennen und daraus zu lernen wird dich hingegen stärker machen."

Tsalrik sah man hingegen an, dass ihm dieses Thema nahe ging und er sich darüber keine Gedanken machen konnte, geschweige denn Elvrun einen Ratschlag zu geben imstande war. So wartete der Jüngling ab und sah, in einer Mischung aus Neugier und Sorge auf Elvrun.

"Hihihi, siehst Du?! Du bist nicht allein. All diese Menschlein werden Dir helfen. Hüben wie drüben. Alles wird wieder gut. Glaube daran", raunte der alte Rabe und strich Elvrun sanft über den Kopf.

Hardomar hatte ein ungutes Gefühl in der Magengrube. Mit was hatte er es gerade zu tun gehabt? Hatte eine Art Dämon die Gestalt seines Vaters angenommen und versucht, ihn ins Verderben zu locken? Sein Herz pochte, als er sich fragte, ob dieses böse Wesen oder was immer es war, noch hier war und in den Schatten lauerte. Doch für den Moment schien die Gefahr gebannt zu sein.
Er wandte sich mit den Ulmentorer Geschwistern zu Elvrun. Als die Knappin davon sprach, dass diese gesündigt hätte, runzelte er die Stirn. ‘War es denn wirklich eine Sünde, dass Elvrun sich unverheiratet den Freuden Rahjas hingegeben und ein Kind geboren hatte?’, ging es ihm durch den Kopf. ‘Denkt Silvagild etwa auch, dass ich gesündigt habe?’
Während seiner Knappschaft war er von seinem Schwertvater Baldos immer wieder darin bestärkt worden, die schönen Dinge des Lebens zu genießen und sich, wenn sich die Gelegenheit bot, auch der Leidenschaft der Schönen Göttin hinzugeben. ‘Dass Mokaschka dann dummerweise in dieser einen Nacht gleich schwanger geworden ist…’ grübelte er düster, versuchte die Erinnerungen aber abzuschütteln und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Der Hadinger Ritter nickte dem alten Raben zustimmend zu und sprach aufmunternd zu der Traviageweihten: “So ist es, wir sind alle Menschen und wir machen Fehler, unser ganzes Leben lang. Niemand ist vollkommen. Das Wichtigste ist, dass die Götter wissen, dass wir uns stets bemühen.” Während er dies sagte, hörten sich seine eigenen Worte für ihn platitüdenhaft und hohl an. Er hatte versucht, das Richtige zu sagen, aber im Grunde hatten das die anderen zuvor bereits getan. Ihm fiel es schwer, nachzuvollziehen, warum die Traviageweihte in den Tod hatte gehen wollen. Konnte ihr Vergehen aus ihrer Sicht wirklich so schlimm gewesen sein? Wobei… Steckte hinter dieser Todessehnsucht dieselbe böse Macht, die ihn und die anderen mit Trugbildern hatte täuschen wollen? Das war ein sehr beunruhigender Gedanke.

Nun schien es, dass die junge Frau die umherstehenden Leute richtig wahrnahm. “Relindis? Was machst du hier?” Dann schien sie in die Stille hinein zu horchen. “Die strafende Stimme … sie ist weg”, stellte Elvrun fest. Dann richtete sie wieder den Blick auf die andere Traviageweihte. “Seid ihr alle von der heiligen Mutter geschickt worden?” Langsam begann sich das ätherische Tor zu schließen.

"Ja, ich glaube schon..." antwortete Relindis auf Elvruns Frage. Ihr waren in diesem Augenblick die Steine geradezu anzusehen, die laut plumpsend von ihrem Herzen fielen. Elvrun war zurück! Sie wischte sich die alten und neuen Tränen aus den Augen, dann griff sie wieder Elvruns Hand. "Komm mit, lass uns alle nach Hause gehen." Das war, was jetzt zählte. Über die strafende Stimme würden sie noch sprechen müssen… ein andermal.

Das Gesicht des Ritters erhellte sich, als er bemerkte, dass Elvrun auf die umstehenden Personen reagierte. Sie schien auf dem Wege der Besserung zu sein und mit Erleichterung nahm er wahr, wie das ätherische Tor sich zu schließen begann. Dann wandte er sich jedoch verwundert an die Geweihte: “Strafende Stimme? Was meint Ihr damit, Euer Gnaden?”

"Lasst uns erst nach Hause gehen." insistierte Relindis, mit sanfter Stimme, aber dennoch bestimmt. Sie wollte jetzt nicht an den noch so frischen Wunden rühren, noch nicht. Es war gut, dass die Stimme verstummt war. Sie wollte in der jetzigen Situation jede Gefahr vermeiden, diese wieder aufzuwecken.

Zu gerne hätte Hardomar die Antwort auf seine Frage gehört, für den Fall, dass die Gefahr noch nicht vollständig gebannt war. Andererseits, je schneller sie diesen dunklen Ort verließen, desto besser. “Nun gut…”, nickte er Relindis zu und wandte sich mit einem herzlichen Lächeln Elvrun zu. “... es ist an der Zeit, zurückzukehren.”

Statt zu weinen, lächelte Elvrun nun selig. “Wie eine Familie seid ihr alle gekommen. Wir alle werden Frieden finden.” Dann schloss sie ihre Augen und mit ihnen verschwand auch die Halle um die Gefährten.

Die Jagd

Das widerliche Übel schoß grausig schnatternd auf sein nächstes Opfer zu: Maya, die Bienenfrau!

Aslan war sogleich in seinem Element. Der Kater bleckte seine Zähne, als er dieses Ding durch den Raum flitzen sah. Er fühlte die Anspannung und sein Blut geriet in Wallung. Ach, was für ein schönes Gefühl - er hatte schon befürchtet, dies in diesem Körper gar nicht fühlen zu dürfen. Aslan kniff seine gelben Augen zusammen und konzentrierte sich, dann waren es ein-zwei sprunghafte Schritte bevor er sich auf diese seltsame Gans stürzte.

Der Vogelspinnerich dachte für gewöhnlich ein paar Schritte nach vorne, wie es seine Natur war wenn er als Arachnide seine Fallen auslegte. In einer schnellen Bewegung, die man seinesgleichen gar nicht zutraute, packte Rotlöckchen das Bienenmädchen Maya und versuchte sie aus der Reichweite des Geschosses zu bringen.

“AHHHH, HILFE! ASLAN!!” schrie Maya aus vollem Halse, als sie panisch zu fliehen versuchte. Ohne sich umzudrehen, rannte sie, so schnell es ihre Beine ihr erlaubten, doch spürte sie bereits, wie sie von hinten erwischt wurde. ‘Ist jetzt alles vorbei?’, dachte sie und sah die ganzen sechs Monde ihres langen Bienenlebens an sich vorbeiziehen, um dann erleichtert festzustellen, dass Rotlöckchen sie ergriffen hatte. Umgehend versteckte sie sich hinter dem jungen blassen Mann und umklammerte ihn angsterfüllt.

Das deformierte Menschen-Gänse-Wesen schoß haarscharf an Maya vorbei, um dann wieder in die Lüfte zu steigen. Kreisend wirbelte es rum, rastlos suchend nach seinem Ziel.

Rotlöckchen besah das Schauspiel mit regungsloser Miene, dann schien ihm eine Idee zu kommen. Er wob in beeindruckender Geschwindigkeit ein Netz vor dem Ausgang aus dem Zimmer, dann ging sein Blick zurück auf Aslan, der dieser Gans immer noch stupide hinterher jagte. Könnte man Pupillen in seinen tiefschwarzen Augen ausmachen, man würde sehen wie der Vogelspinnerich mit seinen Augen rollte. “Kater, treib das Vieh zur Tür”, wies er ihn an.

Der Kater fühlte die Anstrengung der Jagd bereits in seinen Gliedern, wiewohl dieser Körper ausdauernder war als seine vierbeinige Gestalt. Die Krallen und schnellen Bewegungen fehlten ihm jedoch und erschwerten sein Anliegen. Andernfalls hätte er dieses Untier doch bestimmt schon längst erledigt gehabt. Der Anweisung Rotlöckchens entsprach er und versuchte das Ding hin zur Tür zu treiben.

Als das böse Wesen an Maya vorbeigeschossen kam, löste die junge Bienenfrau ihren umklammernden Griff und sprang seitwärts zu Boden, verschränkte die Arme über ihrem Kopf und blieb für einen Moment in Deckung. Dann lugte sie unter ihren schützenden Armen hervor und sah, wie der Spinnenbiestinger wie durch Zauberhand das Netz erschuf. Sie wusste, was ein Spinnennetz war, schließlich hatte sie schon einmal Erfahrung mit einem gemacht und sich nur mit äußerster Mühe wieder daraus befreien können. Nun jedoch war sie erfreut, dass ihr Gefährte ein solches spann. Von Rotlöckchen wanderte ihr Blick zu Aslan. ‘Wie schnell er ist…’, bewunderte sie ihn und dann stand sie, ohne groß nachzudenken, mutig auf und stellte sich direkt neben Rotlöckchen. Sie ergänzte den Ruf des Spinnerichs und rief ebenfalls laut zu Aslan: “Ja, Kater, hierher!”, sie ruderte wild mit den Armen. “Du machst das ganz fantastisch, jage es hierher!”

Der Plan vom Spinnerich und Kater ging auf, denn die Kreatur ließ sich auf Aslan lenken und flog ihm geschwind hinter her. Das grausige Schnattern wurde wilder und immer mehr watschelnde Gänsebeinchen formten sich. Fast hätte es Aslan erreicht, wäre dieser nicht im letzten Augenblick zur Seite gesprungen. Das Übel raste direkt in das Netz der Spinne!

“Web es ein”, japste der Kater schwer atmend an den Spinnerich gewandt, der die Szenerie unberührt wie stets beobachtete. Langsam bewegte er sich auf seine Beute zu und machte sich daran sie unschädlich zu machen.

Und tatsächlich, das Netz hielt. Das Übel schrie und zeterte, doch befreien konnte es sich nicht.

“Ja, dufte!”, schrie Maya jubelnd auf. Mit Respekt beobachtete sie das zeternde Getier. Kurz überlegte die Bienenfrau, ob das Ding noch ausbrechen könnte, doch schien es im Netz von Rotlöckchen für den Moment keine Gefahr mehr darzustellen. Sie wollte unbedingt ihren Beitrag im Kampf gegen das böse Wesen leisten und näherte sich diesem zögerlich. Nervös bewegten sich dabei ihre Fühler in dessen Richtung. Als sie direkt vor der unheimlichen Kreatur stand, kniff sie finster die Augen zusammen, zielte einen Moment und trat dann mit dem Fuß, so gut sie es mit diesem ungewohnten menschlichen Körper konnte, kräftig zu.
Dann drehte sie sich um, sprang in die Luft und riss die Arme hoch. “Wir haben es besiegt!”

“Ja, gut gemacht Spinne”, beschied Aslan und klopfte Rotlöckchen auf die Schulter, der dem Kater dann jedoch lediglich einen finsteren Blick entgegnete. “Aber was machen wir jetzt damit?”

“Mitnehmen”, meinte der Spinnerich daraufhin kühl. “Meine Gefährtin weiß was damit zu tun ist.” Ja, Frenya würde zufrieden sein … jenseitige Wesenheiten interessierten sie und sie war mächtig genug damit umgehen zu können. Er würde das Wesen mitnehmen, notfalls auch in sich aufnehmen - vorläufig, denn Frenya wusste bestimmt, wie sie es aus ihm raus brachte.

“Bitte, nimm sie gerne mit. Maya und ich sind noch bei der Königin eingeladen.” Aslan lächelte und sah zum Bienenmädchen. Der Spaß würde jetzt erst beginnen.

‘Das muss ja eine tolle Gefährtin sein, die mit so einem gefährlichen Ding umzugehen weiß’, staunte Maya naiv. “Das hast Du wirklich großartig gemacht, Herr Spinnerich.” Ihr war bewusst, dass dies nicht viele Bienen sagen würden, aber Maya hatte Rotlöckchen ins Herz geschlossen.

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