Tiergefährten - Kapitel 5

Der Weg ins Ulmental

Kapitel 5 der Briefspielgeschichte Tiergefährten

Die große Hecke

(Aslan, Maya, Corax, Rosan)
Beschwingt lief Maya ihren Gefährten hinterher. Sie hatte bei dem Tempo, mit welchem die Heldengruppe die Treppen hinunter lief, genug Zeit, um sich der äußerst praktischen Erfindung dieser Menschen gewahr zu werden. ‘Schon gut, so eine Treppe’, dachte Maya und war erstaunt, wie einfach man damit hinauf und herab kam. Dann blieb die Bienenfrau stehen; der Aufbruch ins Abenteuer hatte sie in eine übermütige Stimmung versetzt. Beidbeinig hüpfte sie die nächste Treppenstufe herab. ‘Klappt ja gut…’, dachte sie und sprang eine weitere Stufe hinunter. ‘Macht auch Spaß, aber schneller geht es sicher, wenn man mehrere Treppenstufen gleichzeitig herunterspringt.’ Sie setzte an, um zwei Stufen herab zu springen. ‘Hui’, dachte Maya und landete mit einem gekonnten Satz sicher auf der Treppe. ‘Jetzt drei Stufen…’, sie peilte die dritte Stufe an und sprang, flog gekonnt durch die Luft, spürte, wie die dritte Treppenstufe an ihrem Hacken vorbei glitt, sie das Gleichgewicht verlor und etwas härter auf der fünften Stufe landete. Unelegant versuchte sie, die Kontrolle wieder zu erlangen und stolperte die kommenden Stufen hinunter. Zunächst überholte sie dabei Aslan, dann Corax und erreichte schließlich das Ende der Treppe als erste. Unsanft klatschte sie auf; ihre Fühler, Unterarme und Knie schmerzten. Eilig sprang sie auf, als ob alles halb so wild war und hob beruhigend die Hände. “Alles gut, mir geht es gut. Kein Problem”, erklärte sie eilig mit aufgeregter Stimme.

Mit einem Knarren öffnete sich eine Tür, die direkt gegenüber des Treppenendes lag. Ein frischer Wind wehte in den Raum und brachte den Geruch von frischem Gras hinein. Wie von Zauberhand stand plötzlich die Rosendryade Rosan neben der geöffneten Tür. “Oh, eine von der schnellen Sorte.” Sie lächelte die Bienenfrau an und deutete dann nach draußen. “Kommt. Die Große Hecke. Dahinter ist das Ulmental.” Der Blick nach draußen offenbarte einen spektakulären Anblick. Eine Hecke, ein gigantischer Wall aus Blätterwerk erstreckte sich von links nach rechts, ohne ein Ende in Sicht. Blickte man in die Höhe, so schoss diese viele Meilen in den sternlosen Himmel. Ein konstantes Rascheln und Knacken war zu hören und die Blätter waren oft in Bewegung. Aslan, der sich etwas zurückgehalten hatte, bleckte seine Zähne und hätte er in dieser Gestalt seinen beeindruckenden Schweif, würde er nun nervös damit zucken. Abermals roch er an Rosan, ihr Geruch schien dem Kater zu gefallen. “Und wie kommen wir da durch?”, fragte er in etwas abwesendem Ton in die Runde.

Maya überlegte angestrengt. ‘Darüber hinweg kommen wir nicht… seitlich auch nicht… hmmmhh...’ Die Bienenfrau kombinierte und kam zu der Feststellung: ‘Dann also nur darunter oder… mitten hindurch.’ Sie hielt ihre Überlegungen für recht gerissen und schmunzelte schlau in sich hinein: “Wir müssen hindurch! Rosan, gibt es eine Möglichkeit, dass wir eine Öffnung schaffen, eine Art Loch in der Hecke?”

Die hübsche Rosendryade nickte. “Wenn ihr genau hinschaut, ist da oben in der Mitte ein Durchgang. Doch müsst ihr klettern. Ich kann da leider keinen von euch mitnehmen”, sagte sie und verwandelte sich vor den Augen aller in einen Rosenbusch.

Aslan seufzte beim Anblick des Loches in der Hecke und wie es schien war er wohl auch der einzige, der weder fliegen, noch sich in einen Busch verwandeln konnte. Er musste durch das Strauchwerk klettern und in dieser Form hatte er empfindliche Menschenhaut. Abermals seufzte der Kater, es nutzte nichts … je schneller er es anging umso schneller war es auch wieder vorbei.

Es fiel ihm nicht schwer Halt in der Hecke zu finden, doch zerrte und kratzte das Geäst an seinen Haaren und der Haut. Höhenangst kannte er nicht, weshalb sein Missmut lediglich aus seiner Unwilligkeit herrührte klettern zu müssen. Sichtlich zerkratzt, geschunden und nur mäßig gut gelaunt kam der Kater jedoch wenig später beim Durchgang an.

‘Kein Problem, da kommen wir ja problemlos durch’, dachte Maya. Obwohl die Bienenfrau bereits festgestellt hatte, dass ihre Flügel sie nicht nach oben tragen würden, so war sie eine hervorragende Kletterin. Als Mauerbiene konnte sie problemlos Wände senkrecht empor laufen. Wie sonst auch setzte die unbekleidete junge Frau ihre Hände und Füße an die Pflanzen und bewegte sich dem Loch entgegen… Aber irgendwie hatte sie gar keinen Halt.
‘Das ist ja doof; dieser Körper ist ja gar nicht mal so praktisch’, stellte sie fest. Sie schaute zu Aslan herüber, welcher sich bereits mühsam abrackerte und sie meinte ein gelegentliches Wort der Missgunst von ihm zu vernehmen.
Maya seufzte leicht und machte es ihm nach. Das Gestrüpp war sehr unangenehm und sie fragte sich, warum die zwei großen Fettpolster an ihrem Oberkörper das Klettern noch zusätzlich erschweren mussten.
Noch schwieriger als das unangenehme Geäst empfand Maya den Kraftaufwand, mit dem sie sich hochziehen musste. Immer wieder stützte sie sich ab, blieb im Geäst hängen und sammelte erneut ihre Kräfte, um hinauf zu kommen. Wenige Schritt über sich sah sie, wie Aslan gerade das Loch erreichte. Völlig erschöpft und hilferingend rief sie zu ihm hoch: “Aslan, ich kann nicht mehr. Ich habe einfach keine Kraft mehr in den Armen…”

Corax blickte nach oben und rückte seine Augengläser zurecht, während er seufzte. So etwas hatte er schon kommen sehen. Wortwörtlich sogar. Trotzdem hatte er gehofft einen anderen Pfad des Schicksals nehmen zu können. Ja, er hätte es besser wissen müssen. Offenbar war dies ein Knoten und musste stattfinden. Dabei gab es doch so eine gute Gelegenheit einen anderen Weg zu gehen. Die Königin wollte feiern und wurde traurig, als alle gehen wollten. Da aber das ganze Feenreich von den Emotionen der Königin beeinflusst wurde, war es wichtig sie bei Laune zu halten und er wäre den restlichen Weg auch alleine gegangen. Aber die jungen Leute wollten ja nicht. Er lächelte, als er daran dachte, wie er in deren Alter war. Damals ließ er sich auch nichts von den Alten sagen und wollte seinen eigenen Weg gehen. Und so manches Mal hatte es ihn teures Lehrgeld gekostet. So, wie bei der jungen Biene gerade. Nun ja, ein Privileg des Alters ist es alles in Ruhe betrachten zu dürfen. Er breitete seine Schwingen aus, schlug ein paar Mal kräftig und hob vom Boden ab. "Könnt Ihr die Hecke bitten einen kräftigen Zweig unter ihren Krallen wachsen zu lassen, Prinzessin Rosan? Ich versuche sie zu greifen, bin aber vielleicht zu schwach." Mit den Füßen voran näherte er sich Maya. Dann fiel ihm auf, dass er nicht in seiner Rabengestalt hier war und die Hände benutzen musste, die er als Rabe nicht hatte.

'Oh oh oh', der eitle Kater war gerade damit beschäftigt gewesen die Spuren seiner Kletterpartie vom Leib zu entfernen, als er bemerkte, dass Maya Probleme bekam. Bienen empfand er in seiner natürlichen Gestalt stets als nervig - die Brummer musste man ständig verscheuchen weil sie einem beim wohlverdienten Schlaf störten. Maya jedoch hatte er inzwischen etwas ins Herz geschlossen, auch wenn Aslan es niemals zugeben würde. Auch der Rabenmann schien Probleme zu haben, sodass er sich dazu entschloss, den beiden entgegen zu kommen. "Nimm meine Pfote Maya", wies Aslan sie an, hielt sich mit der Rechten fest und streckte ihr die Linke entgegen. "Zu dritt schaffen wir das." Auf Rosan wollt er nicht warten, wusste Aslan doch gar nicht wo der Rosenbusch hin war.

Maya blickte hilfesuchend zu Corax. Sie erkannte, dass er sie nicht greifen konnte. Die Bienenfrau war sich einigermaßen sicher, dass, wenn sie mit ihren Flügeln so stark es nur ging schlagen würde, sie zumindest nicht wie ein Stein herunterfallen würde. So beschloss sie, mit einem waghalsigen Manöver dem Raben entgegen zu springen. Ihr war bewusst, dass er sie nicht beide mit seiner Flügelkraft tragen konnte, doch würde sie ihn mit ihren zarten Flügeln unterstützen und gemeinsam könnten sie es schaffen. Oder sie würde Corax mit in die Tiefe reißen... Maya machte sich zum Sprung bereit, als sie von oben die Worte Aslans hörte. Sie blickte hinauf und sah die rettende Hand. Mit letzter Kraft versuchte sie sich noch einmal weiter nach oben zu ziehen und es gelang ihr, die Hand des Katers zu ergreifen und sich mit seiner Hilfe nach oben zu ziehen. Motiviert durch die Unterstützung ihrer Freunde erreichte sie das Loch der Hecke. Ob Corax zusätzlich von hinten schob, konnte die Biene nicht genau beurteilen. Erschöpft fiel sie auf den Rücken und erblickte ihre beiden Gefährten. “Danke! Ihr seid die besten Freunde, die man sich wünschen kann”, seufzte sie und ließ ihren Kopf völlig erschöpft mit einem lauten Stöhnen nach hinten sinken.

Aslan blickte derweil eher unsicher auf das Bienenmädchen. So etwas wie Freundschaft kannte der Kater nicht - Angehörige seiner Spezies waren zumeist Einzelgänger und wenn ihn Alina nicht per magischem Band an sich gebunden hatte, würde er wohl auch der Hexe keine Loyalität darbringen, oder gar schulden. Katzen waren nun einmal Katzen - sie taten was sie wollen. Und dennoch war er seiner Gefährtin gerade ohne zu zögern zu Hilfe gekommen. Warum also fühlte er sich nun gerade dermaßen unsicher? Aslan verdrängte seine Gedanken, nickte in Mayas Richtung und musterte dann auch Corax: “Seid ihr beide in Ordnung? Wir sollten Rosan suchen.”

Ohne sich auch nur im Ansatz zu regen, seufzte Maya mit erschöpfter Stimme: “Ganz toll. Mir geht es gut, danke Aslan…” Die Biene glaubte, nie wieder ihre Arme benutzen zu können. Eine solche Erschöpfung war der jungen Bienenfrau bisher unbekannt gewesen. Am liebsten würde sie hier liegen bleiben bis… ‘Nein!’, dachte Maya. ‘Ich darf doch nicht schlapp machen. Wir sind eine Gruppe und niemand lässt den anderen im Stich und keiner gibt auf.’ Maya versuchte sich aufzurichten; umgehend taten ihr sämtliche Muskeln in ihren Armen weh - und ihre Arme waren nicht gerade muskulös. ‘Autsch… oje… dumme Idee, aufstehen zu wollen.’ Die Bienenfrau verzog das Gesicht: ‘Nicht aufgeben… die anderen zählen auf mich.’ Sie murmelte nun zu sich selbst: “Steh auf Maya, steh auf!”
Die pummelige Bienenfrau schaffte es; mühsam rappelte sie sich hoch. Erstmal stehend erfasste sie neuer Mut. Sie zwinkerte Aslan und Corax aufmunternd zu: “Also los, schauen wir uns das andere Ende des Lochs an. Bestimmt ist Rosan auf der anderen Seite der Wand.”

Als die Drei oben ankamen, begrüßte sie ein großes Loch in der Blätterwand und offenbarte einen langen, düsteren Tunnel. Auch dieser bestand nur aus dem Blätterwerk der Hecke und war in stetiger Bewegung. Es raschelte und pfiff und ein Ende war nicht ersichtlich. Doch nach einigen Augenblicken sahen sie eine Rose, und dann eine Zweite und eine Dritte. Rosan hatte anscheinend eine Spur hinterlassen, um den Weg zu weisen.

Der Kater blickte sich immer wieder nach seinen Gefährten um, ging jedoch voran. Aslan hatte gute Augen und eine gute Nase, wiewohl es ihnen Rosan nicht allzu schwer gemacht hatte und den Weg wies.

Auch Maya folgte freudestrahlend der hinterlassenen Spur. Sie war es als Mauerbiene gewohnt, in dunklen Löchern zu verweilen. Sie war in einem solchen geboren worden und hatte später auch ihre eigenen Eier in einem schönen hölzernen Loch abgelegt. Aber das war schon lang, lang her… Zumindest aus Sicht einer gewöhnlichen Biene. Neugierig und fröhlich schritt Maya hinter Aslan tiefer in das Loch hinein.

Corax blieb noch ein wenig am Eingang stehen. Sterne tanzten vor seinen Augen und er bekam kaum Luft. War da nicht ein Knacken in seiner Brust. Zudem schmerzte der linke menschliche Flügel. Er lehnte sich gegen die Blätterwand und nahm ein paar tiefe Atemzüge, bis er das Gefühl hatte wieder Luft in seinen Lungen zu haben. Dann folgte er den anderen.

Der Tunnel schien ewig und noch war kein Ende in Sicht, als ein wütendes Grollen ertönte und dicke Wassertropfen von oben herab rieselten.

Der, der die Menschenbrut vergiftet und ihre Schwärme stört,
hat den Kristall der Gemeinschaft von Wasser, Land, Fels und Licht zerbrochen.
Die Wächterin ist ohne Wacht, bis alle Teile wiedergefunden sind. Nur zwei sind geblieben.
Doch was tun sie? Haben sie ihre Pflicht vergessen? Haben sie denn die Warnung nicht verstanden?

Aslan runzelte seine Stirn. “Menschenbrut vergiften ... Kristall der Gemeinschaft … Wächterin ohne Wacht …”, wiederholte der junge Mann und wandte sich dann zu seinen beiden Begleitern um. “Wisst ihr was das bedeuten soll?”

“Warnung? Schwärme stören?” murmelte Maya mit zitternder Stimme, mehr zu sich selbst als zu den anderen. Nun war sie doch verunsichert. Wer oder was auch immer diese unheimliche Stimme war, Maya fühlte sich unbehaglich. ‘Warnung’, hallte es erneut im Kopf der jungen Frau nach. ‘Was soll das alles bedeuten?’ Ängstlich schaute sie zu dem schlauen Aslan und dem weisen Corax. “Was ist denn das für eine unheimliche Stimme?” Am liebsten wollte sie die Hand eines ihrer beiden Gefährten ergreifen.

"Die Stimme gehört dem Alten. Er ist kein Mensch oder Tier. Ob er eine Fee ist oder etwas anderes, weiß ich nicht. Meine Vertraute hat ihn schon oft gesehen, in ihren Träumen und in der Kugel. Sie sagt, er war schon da, als es hier nur die kleinen Felsmenschen gab. Der Vergifter ist vermutlich der, der in der Dunkelheit gefesselt ist. Von einer Wächterin und einem zerbrochenen Kristall weiß ich nichts. Oder es fällt mir nicht mehr ein." Gedankenverloren mümmelte er wieder einen Augenblick lang vor sich hin. "Nein. Ich erinnere mich nicht."

Aslan bleckte seine Zähne und kratzte seine Schläfe. Er konnte dem Raben nicht folgen und wollte sein fehlendes Verständnis für die Worte auch nicht durch eine Nachfrage entblößen. “Ähm … ja, vielleicht erfahren wir es ja noch. Aber erst müssen wir aus diesem Ding hier rausfinden.”

“Bestimmt”, fügte Maya hinzu, ohne auch nur eines der vielen schwierigen Worte verstanden zu haben, ganz zu schweigen von dem Kontext. Sie war so dankbar, dass Corax bei ihr war und wanderte langsam und nachdenklich neben ihm her.

Endlich öffnete der Tunnel sich und ein warmes Licht begrüßte die Drei. Auf einer grünen Wiese stand die schöne Rosendryade und klatschte in die Hände. “Der Liebholden sei dank, ihr habt es geschafft! Der Alte ist ja ziemlich wütend und hat die Hecke ordentlich durchgeschüttelt. Ich hatte schon ein wenig Sorge!” Eilig lief sie auf sie zu und umarmte einen jeden zärtlich. “Jetzt ist es nicht mehr weit, dort drüben ist das Ulmental!”

Ah, da war sie ja wieder. Aslan nahm erst einmal eine tiefe Nase vom Duft ihrer Begleiterin. Lieblich! “Der Alte …”, grübelte der Katermann nachdenklich, “... war er es, dessen Stimme wir im Tunnel gehört haben? Irgendwas vom Vergiften der Menschenbrut, Wächterinnen ohne Wacht und so Zeug? Was hat das denn zu bedeuten?” Sein Blick ging hinunter in das Tal. Er seufzte. “Und wo finden wir nun die Frau und diese Ulma … cecer ...?”

Maya war überglücklich, Rosan zu sehen; sie rannte ihr entgegen und ließ sich zärtlich drücken. Der Schreck saß noch immer tief und der Bienenfrau kamen fast die Tränen, als sie sich in der Gegenwart der Rosendryade wieder in Sicherheit glaubte. “Ich bin ja so froh, dich zu sehen”, sagte sie und wischte sich die geröteten Augen. Sie atmete einmal ganz tief ein und wieder aus, um so ihre Aufregung zu senken und unter Kontrolle zu bekommen. Dabei ließ sie sich von dem bezaubernden Rosenduft umhüllen und beruhigen. Sie wollte eigentlich gar nicht mehr an die grässliche Stimme zurückdenken und lieber so schnell wie möglich weiterziehen. “Genau”, bestätigte sie Aslans letzte Frage an Rosan, “... bringst du uns jetzt zu diesem Ulmadings?”

"Ulmaceae. Die Heilerin heißt Ulmaceae." Der Rabe musste lächeln. In den letzten Jahren hatte er mehr vergessen, als die beiden zusammen je ihren Leben gelernt hatten und doch hatten diese Schwierigkeiten sich einen simplen Feennamen zu merken.

Rosan lächelte.” Folgt mir!”

Der Fluss des Alten

(Relindis, Akka, Onyx, Simunius, Mafaldo)
Die Gondel mit den Reisenden fuhr langsam über den See, bis die Insel mit der rauschenden Fontäne nicht mehr zu sehen war. Der weißhaarige Simunius saß am Bug und spielte sanft mit seinen Fingern im Wasser. Dann nahm das Gefährt an Fahrt auf und nur Momente später war ein Rauschen zu hören. Mit jedem Augenblick wurde es lauter, bis es klar wurde, das der See in einen Fluss mündete. Dieser war von einem tiefen Blau und teilte den regenbogenfarbenden Schimmer des Seewassers nicht. “So, meine Lieben, das ist der Fluss des Alten. Am anderen Ufer ist das Ulmental. Jetzt müssen wir irgendwie da rüber kommen.” Mit einer gehobenen Augenbraue schaute er seine Begleiter an. Nun war es an Mafaldo aufgebracht aufzustehen. “Seit wann ist den der Fluß so reißend? So kommen wir aber nicht darüber.”, stellte er fest. “In letzter Zeit ist der Alte sehr wütend. Ich weiß aber auch nicht, was seine Dämme zum Brechen gebracht hat.” Kaum ausgesprochen fing die Gondel an heftig zu schaukeln.

Erschrocken schnellte Relindis' eine Hand zur Reling, mit der anderen drückte sie Tsadoro noch fester an sich. Sogleich vergewisserte sie sich dass auch alle anderen noch an Bord der schlingernden Gondel waren und stellte zu ihrer Beruhigung fest, dass es wahrscheinlich ihr Mageninhalt war, der gerade die größte Gefahr lief, in die Fluten zu stürzen. "Wer oder was ist denn... dieser Alte? Ist das.. jemand wie der Flussvater?" presste sie in Richtung Mafaldos und Simunius’, die in dieser Welt zu Hause waren.

Akka sah derweil hinüber zu dem Ufer, zu dem sie wollten. Wenn sie doch nur fliegen könnte. Oder wenigstens so gut paddeln wie in ihrem Gänsekörper. Ihre Augen schnellten hin und her. Das war noch immer befremdlich für sie: dass sie die ganze Zeit ihren Kopf oder gar sich selbst drehen musste, wenn sie einen Rundumblick haben wollte. War der Fluss schon die ganze Zeit so reißend gewesen, oder war er erst aufgeschäumt, als sie gemeinsam angekommen waren? Aufmerksam starrte sie weiter in die brodelnden Wogen. "Meint ihr, der Alte ist wegen uns so aufgebraust, nur wegen uns, jaja, uns?"

Onyx blieb stoisch in der Gondel sitzen und hob nur träge seine Lider. Wenn es zu wild werden sollte, würde er schwimmen. Zur Not mit dem Jungen. Geschichten von einem alten Vater interessierten ihn wenig, es würde sich schon fügen und bald wäre er wieder bei seiner Herrin.

Simunius winkte ab.”Der ist schon eine Weile so, schon vor eurer Ankunft. Hmmm, aber wer weiß, vielleicht haben ihn die Menschen erzürnt?” Es war Mafaldo der sie unterbrach. “Dieser Alte hier gehört zum Gefolge des Flussvaters. So nennt ihr Menschen ihn zumindest. Doch haben wir jetzt keine Zeit. Binde mir das Kind an den Körper, ich kann es rüber bringen. Ihr allerdings, müsst selbst zusehen, wie ihr da heil ans Ufer kommt.” Melancholisch schaute der Rabenmann die Geweihte an.

Relindis wurde mulmig angesichts des Gedankens, ohne Boot und Brücke über dieses Toben setzen zu müssen, wenn es ihnen schon auf der Gondel nicht gelingen wollte. Sie konnte selbst kaum schwimmen - in einem Waldsee paddeln mochte gehen, aber durch so einen Fluss? Doch hatten sie eine andere Wahl, wenn sie rechtzeitig da sein und Elvrun zur Hilfe kommen wollten?
Ja, es war wirklich das Beste, wenn ein anderer, der im Wasser mehr als sie selbst oder sogar noch in der Luft zu Hause war, Tsadoro nach drüben brächte, dann ginge wenigstens der kleine Junge heil aus der Sache hervor. Ob der Rabenmann besser schwimmen konnte als sie? Schlechter wohl kaum... Oder vermochte e er auch in dieser Gestalt zu fliegen? Dankbar erwiderte die Geweihte daher Mafaldos Blick und nickte zur Bestätigung. Rasch drückte sie ihren Schützling zum hoffentlich nur kurzen Abschied an sich und gab ihm einen Kuss auf die Stirn - möge die Gütige - so fern diese Welt auch sein mochte - ihre schützende Hand über den Rabenmann und Tsadoro halten. "Willst Du fliegen oder Schwimmen? Und wohin soll ich dir den kleinen Mann binden? Auf den Rücken oder vor die Brust?"

“Binde ihn mir vor die Brust, ich fliege rüber”, antwortete Mafaldo.

Während sie noch ein Tuch aus ihrer Gewandung nestelte, wäre sie beinahe selbst über Bord gegangen, als die Gondel jäh in ein tiefes Wellental gerissen wurde. Im letzten Moment konnte sie sich noch ins Boot werfen. Dies war Relindis Mahnung genug. In aller Windeseile band sie Tsadoro an Mafaldos Leib und schickte beide mit einem "Bis gleich, drüben!" los, bei dem sie versuchte, sicherer und zuversichtlicher zu klingen, als sie tatsächlich war. Dann streifte Relindis ihr Obergewand aus, so dass sie nur noch das weniger hinderliche Unterkleid am Leibe hatte, und rollte jenes eng zusammen, um es an ihrer kleinen Gürtelkordel festzumachen.

Sollte sie wirklich? Ja, sie würde Elvrun nicht im Stich lassen. Mit dem Mut der Verzweiflung sprang Relindis in die Fluten, wo sie erst einmal nach unten gerissen und abgetrieben wurde. Wild strampelnd versuchte sie wieder nach oben zukommen, doch schien der Alte bereits in der Kürze ihrer Begegnung Gefallen an ihr gefunden zu haben und sie in sein Reich ziehen zu wollen, denn die Strömung zerrte sie unvermindert und mit aller Kraft nach unten. "Hilfe!" gurgelte Relindis mehr als sie schreien konnte. Sie hatte geahnt, dass es schwer werden würde. Aber so schlimm? Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen.

Auch Akka war ins Wasser gesprungen, noch kurz vor Relindis. Sie hatte zunächst gleichsam Schwierigkeiten, mit den Fluten zurechtzukommen, konnte sich aber weit besser über Wasser behaupten als die Traviageweihte und fand auch bald Mittel, sich trotz der Strömung langsam auf das andere Ufer zuzubewegen. Gans war eben doch Gans. Wenn sie jetzt auch noch fliegen könnte...
Die Schreie von Relindis ließen sie sofort herumfahren. Eine aus ihrem Schwarm war in Gefahr. So schnell sie konnte paddelte Akka auf Relindis zu und bekam gerade noch die in diesem Moment wieder auftauchende Hand Relindis zu fassen. "Komm hoch, komm hoch! Halt Dich an mir fest!"

Das brauchte sie der Geweihten der Gütigen Mutter nicht zweimal zu sagen. Hustend und sprotzend fiel diese um den Hals der Gänsefrau und versuchte dort wieder zu Atem zu kommen. “Dich…” [hust] “Dich schickt die gütige Mutter!”

Akka spürte das Gewicht Relindis - alleine würde sie das nicht schaffen, nicht gegen diese Strömung, die sie inzwischen bereits ein ganzes Stück abgetrieben hatte, ohne dass sie dem anderen Ufer spürbar näher gekommen wären.
“Onyx! Onyx!!”! rief sie daher halb, halb schnatterte sie in Richtung Gondel, in deren Nähe sie den Krötenmann erwartete. “Schnell, ich brauche Deine Hilfe, bittebittebitte, schnellschnell!"

Mit einem grazilen Platscher tauchte Onyx ins Wasser ein und seiner Körperfülle zum Trotz erreichte er fast anmutig und rasch Akka und Relindis. “Ich halte sie fest!” Fast hätte er Relindis unter Wasser gedrückt, als Onyx sie erstaunlich kräftig packte. Der Kopf soll besser oben bleiben- Menschen schätzten unfreiwillige Tauchgänge nicht, so besann sich der Kröterich und achtete penibel darauf, dass die Geweihte immer genug Luft bekam. Onyx gefiel es im Wasser, er zögerte auf dem Weg zum Ufer und ließ sich noch etwas treiben. “Sollen wir auf das Vögelchen warten?”

Jetzt, da Onyx mithalf, ging es eigentlich ganz gut. Trotzdem war Akka die schäumende Flut nicht ganz geheuer. Kein Gewässer, auf dem sie sich in ihrer wahren Gestalt niederlassen, geschweige denn freiwillig verweilen würde. Unschlüssig wendete sie ihren Blick zu Relindis.

Die spuckte gerade einen weiteren Schwall Wasser aus, den sie zwischenzeitig wieder ins Gesicht bekommen hatte, und versuchte prustend zu Atem zu kommen. "Nein!" schnappte sie nach Luft. "Bitte nicht. So schnell wie möglich..." Die Traviageweihte hielt rasch den Atem an und ließ mit rasch geschlossenen Augen eine weitere Woge über sich hereinbrechen. "Schnell ans andere Ufer! Bitte!" bat sie danach japsend ihre beiden Begleiter.

Als sie ungefähr die Mitte des Flusses erreicht hatten, schlugen die Wellen am Höchsten. Simunius, der Halbdryade, hatte ebenfalls arge Schwierigkeiten beim Schwimmen, doch immer wieder erschien der weiße Haarschopf an der Oberfläche. Ein scharfes Fauchen zog über das Wasser, gefolgt von einer grollenden Stimme:

Der, der die Menschenbrut vergiftet und ihre Schwärme stört,
hat den Kristall der Gemeinschaft von Wasser, Land, Fels und Licht zerbrochen.
Die Wächterin ist ohne Wacht, bis alle Teile wiedergefunden sind. Nur zwei sind geblieben.
Doch was tun sie? Haben sie ihre Pflicht vergessen? Haben sie denn die Warnung nicht verstanden?

Relindis erstarrte für einen Moment, fing jedoch sofort wieder an, nach Kräften mitzuhelfen, als sie spürte, dass sie es Onyx und Akka so nur schwerer machte. Sie hatte von den Warnungen der Flussfeen vernommen, waren diese doch in aller und gerade auch ihrer Familie Munde. Dass ihr Hall bis in diese Welt getragen wurde! - Waren die Feenreiche etwa eins und zusammenhängend...? Relindis hatte in den wogenden Wellen keine Zeit, diesen Gedanken nachzuhängen, doch brannten sich ihr die Worte tief in ihr Gedächtnis.
"Oh Alter des Flusses!" versuchte die Geweihte gegen das Tosen anzuschreien. "Wir..." Wieder spuckte sie hustend aus und schnappte nach Luft. "Wir haben Deine erneute Warnung ver..." [hust] "... Deine Warnung vernommen! Wir werden sie zurück in unsere Welt mitnehmen und dort verkünden!" Eine weitere Woge schlug über ihr zusammen. "In der gütigen Mutter Name, jetzt sei bitte nicht so aufgebracht! Lass uns gehen, bitte!"

Das war Onyx nicht geheuer. Er bevorzugte doch ruhigeres Gewässer, am liebsten seinen Teich, dort war er die dickste Kröte und es gab keine seltsamen, sinistren Stimmen. Er grunzte mürrisch, packte Relindis fester und steuerte nun zielstrebig auf das Ufer zu.

Auch Akka hielt nichts mehr im Wasser. Instinktiv hatte sie versucht, sich mit ihren Armen rudernd in die Lüfte zu erheben, musste aber sofort begreifen, dass sie hier nur schwimmend hinüberkamen. "Schnell!" feuerte sie sich selbst und Onyx lauthals an.
“Ich glaube, Simunius ist in Not!” erkannte sie da auf einmal das Haupt des Feenmannes, der sie kurz zuvor noch so freundlich empfangen hatte, gerade aber keinesfalls fröhlich wirkte. “Wir müssen ihm helfen!”

Onyx wabbeliger Kopf tauchte kurz aus dem schäumenden Wasser auf und er prustete ausgiebig. „Ich schwimme mit deinem Mensch ans Ufer. Schaffst du es, dem Anderen zu helfen?“

`Dein Mensch...` Das klang so seltsam, zugleich aber keineswegs falsch. Die Menschenfrau hatte wirklich etwas, das sich anfühlte, als sei sie ein Mitglied ihres Schwarms, ja mehr noch, wie eine Gelegeschwester... und Freundin. Doch hatte Akka keine Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen, denn einer der ihren schwebte in Gefahr.

"Geh!... ich meine schwimm, Akka!" schickte Relindis, die das kurze Zögern der Gänsefrau spürte, diese zum in den Fluten kämpfenden Halbdryaden. "Onyx wird es mit mir auch alleine schaffen. Aber Simunius braucht Hilfe."
Akka nickte ausladend, dann hielt sie geradewegs auf Simunius zu. Vor ihr lag der Stromstrich, da würde es sicher noch einmal ruppig...

Relindis dagegen ließ sich von Onyx bereitwillig weiter durch den Fluss helfen.

Noch einmal schäumte das Wasser auf, doch dann beruhigte sich der Fluss. Simunius schaute in Richtung der Gänsefrau und schwamm auf sie zu.

Die menschgewordene Gans wunderte sich, was jetzt auf einmal los war. Sie hatte sich bereits auf das heftigste eingestellt, doch nun... Hatte Relindis etwa den Alten mit ihren gerufenen Worten beruhigt? War es das, um was es ihm gegangen war? Sie alle zu zwingen, ihm zuzuhören? Jedenfalls wollte Akka die Gelegenheit beim Schopfe packen und den Fluss so rasch wie möglich queren, ihn hinter sich lassen, ehe der Alte es sich anders überlegte. Vielleicht machte er ja auch nur eine kurze Pause. "Ko-o-omm, ich he-elfe Dir." schnatterte sie Simunius entgegen, den sie bald erreichte. "Halt Dich an mir fest, ich ziehe Dich vollends rüber." In den beruhigten Wassern würde dies sicher besser gehen als vorhin mit Relindis, während der Fluss noch so tobte.

Kaum war Akka an dem Mann heran, ergriff er ihre helfenden Hände. “Habt dank, Schönste. Zusammen schaffen wir das”, sagte er und auch sie konnte nun seine Erschöpfung hören.

Pitschnass erreichten die Drei endlich das rettende Ufer, während Mafalda ihnen besorgten entgegen sah. Im Arm hielt er den Knaben, der schlafend seinen Köpfchen auf die Brust des Rabenmann gelegt hatte. “Geht es allen gut? Wir müssen noch über diesen Hügel, dann sind wir im Ulmental.”

"Mir geht es gut! Ich danke Euch so sehr, dass ihr Euch beide meiner erbarmt und mir über diesen übellaunigen Fluss geholfen habt!” kam Relindis von Herzen. “Aber ist denn Simunius auch unbeschadet angekommen?" Relindis Brust hob und senkte sich immer noch wie wild. Ihr Ornat lag klatschnass auf ihrem Leib, und das Wasser rann in zahllosen nasskalten Rinnsalen ihre Arme und Beine hinab. Was würde sie jetzt um ein warmes Feuer geben! Einerseits hätte sie Tsadoro gerne zurück erbeten, andererseits konnte sie, triefend wie sie war, schlecht ein Kind tragen, zumal sich der kleine Junge bei Mafaldo sehr wohl zu fühlen schien.
Am allerliebsten aber hätte sie sich für einige Augenblicke zu Boden sinken lassen, doch mussten sie so schnell wie möglich Elvrun finden.

Dann fiel ihr Blick zum Ufer und sah den weißhaarigen Mann, der sich sein Haar am Ufer des Flusses auswrung.

Akka versuchte, die Nässe loszuwerden, in dem sie sich kräftig schüttelte, doch erwies sich ihr fremder Leib als viel zu grobschlächtig, als dass dies auch nur den Hauch einer Erfolgsaussicht gehabt hätte. Wie konnten die Menschen nur so leben?

Auch Onyx versuchte vergeblich, sich an die nassen Klamotten zu gewöhnen. Wie unpraktisch das doch war, ein Hindernis beim schwimmen und danach ein klebriger Batzen am Körper. Er besann sich und griff Relindis unterstützen unter die Arme. „Na, na,na, Frau, nicht doch.“ Er grinste breit. „Ihr seid jetzt unter meiner Obhut, da passiert nichts.“

Dankbar ließ sich Relindis von dem Kröterich helfen und stützen, bis der Moment der Schwäche vorüber war und ihre Knie an Festigkeit gewonnen hatten. Sie musste sich selbst eingestehen, dass sie sich mit Onyx schwerer tat als mit Akka - vielleicht lag es daran, dass er ein Wesen war, das normalerweise alleine lebte und dem die Kälte und das Nass viel näher waren als die Gemeinschaft und die wärmende Obhut, sei es eines wärmenden Nests, eines im kalten Wind kuschelnden Schwarms oder einer behaglich von einem prasselnden Herdfeuer erleuchteten Stube. Doch so träge und kühl er auch wirkte, zeigte er hier durch sein Helfen seinen Gemeinsinn. Beurteile andere nicht nach dem ersten Eindruck, sondern erst, nachdem Du ihr Herz erkannt hast, Relindis, schalt sie sich selbst. Dann lächelte sie Onyx an, und dieses Lächeln kam von Herzen.

Der Berg

(Rotlöckchen, Caligo, Tharga, Romadrah)
Es dauerte eine Weile bis die Suchenden zwischen unzähligen Sandhügeln eine steinige Landschaft erreichten. Hier blieb der Eselmann kurz stehen und deutet auf den größten Berg.

“IH-HA. Der Berg!” Ganz so, als ob er eine große Offenbarung ausgesprochen hatte, ließ Romadrah seine Worte in der Stille wirken. Als kein erstauntes ´Oh´ oder ´Ah´ ertönte, legte er die Ohren schief und schaute die Leute mit großen Augen an. “Hmm.”, schnaubte er aus. “Da müssen wir hoch und rüber. Dahinter ist das Ulmental.” Dann drehte er sich um und ging weiter voran. Der Berg war wirklich hoch, steil und von wenigen Bäumen in bunten Farben bewachsen. Ab und an war ein Grollen zu hören, gefolgt von polternden und fallenden Steinen.

Rotlöckchen beäugte den Berg missgünstig, sofern man ihm diesen Ausdruck überhaupt ansehen konnte. Klettern war für ihn kein Problem, Kälte jedoch schon. Die Lande, in welche ihn Frenya mitgenommen hatte, waren zur kalten Zeit schon im Netz seiner Gefährtin schlimm genug - solch einen hohen Berg zu überqueren würde ihn wahrscheinlich vor ernste Probleme stellen. “Ist es sehr kalt da oben?”, fragte der Spinnerich monoton und deutete beiläufig auf den Berg.

“Nein.”, war die knappe Antwort. Geschickt und schnell kletterte der Eselmann äußerst geschickt mit seinen behuften Füßen. “Ich warte da oben auf euch bei der Brücke!”, rief er noch und kletterte von dannen.

Missmutig blickte Caligo den Berg hinauf. Als Rabe würde er einfach darüber fliegen, aber so? Er blickte auf die Dinger, die mal seine Flügel waren. Die Menschen nannten es Arme. Und obwohl er dort noch Federn hatte, wusste er instinktiv, dass er damit nicht fliegen konnte. Er beneidete Corax, der Arme und Flügel in dieser Welt hatte. "Kraaa", klagte er. Und machte sich daran dem Eselmann zu folgen. Er wusste, dass Menschen diese Arme so benutzten, wie Raben ihre Krallen und Schnäbel. Mit den Krallen klettern konnte er, aber wie genau er das mit den Armen machen sollte? Er bewegte die diese merkwürdig weichen Krallen an den Enden seiner Arme. Wie sollte er damit nur halt finden? Konnte er sich damit in den Ritzen der Felsen festkrallen? Er suchte sich einen Spalt und bohrte probehalber eine dieser weichen Krallen hinein. Nein. "Kraa! Verdammt." Der Finger schmerzte und blutete etwas, da er sich an einer scharfen Kante geschnitten hatte. Er steckte sich den Finger in den Mund und überlegte. Offenbar benutzten die Menschen ihre Krallen eher so wie Schnäbel. Mehr festhalten, als festkrallen. Er sah sich den Berg nochmal an und suchte nach einer Stelle, die aussah, als ob man dort leicht klettern konnte. Dann griff er beherzt zu und zog sich hoch. Mit den Vogelkrallen kletterte er, wie sonst auch, was etwas komisch anmutete. Die Krallen im Berg, der Hintern weit nach hinten gestreckt und den Oberkörper beinahe auf den Beinen aufliegend, damit die Arme noch an den Berg reichten, um sich festzuhalten. Er war jung und kräftig, aber er musste sich was anderes ausdenken, denn so würde er nicht lange durchhalten.

Rotlöckchen hingegen nahm die Kletterpartie stoisch hin. Als Spinne konnte er sogar über Kopf klettern, was in dieser Gestalt freilich nicht funktionierte. Stattdessen ging er auf alle Viere und begann zu klettern. Was ihm an physischem Vermögen in seiner menschlichen Gestalt fehlte, machte er durch sein Wissen weg. Er konnte das Gelände sehr gut lesen und wusste wo man besser nicht hin steigen sollte. Darüber hinaus er er die menschliche Gestalt gewohnt gewesen, sah ihn Frenya doch gerne so. Alles in allem erreichte der rothaarige Mann die Brücke relativ problemlos.

Das junge Hundemädchen empfand wenig körperliche Herausforderung, fand jedoch keinen gangbaren Weg - zumindest nicht sofort. Das schien es jedoch keineswegs zu entmutigen. Im Gegenteil, die Freude am Auskundschaften mehrerer Pfade war Tharga deutlich anzusehen. Beinahe verzettelte sie sich bei ihrer Suche nach dem Weg zur Brücke. Als sie schließlich dort ankam, hatte sie mit Abstand die weiteste Strecke zurückgelegt. Gleichzeitig schien sie mit den Strapazen bestens zurechtzukommen.

Kaum hatten die Drei die Bergspitze erreicht, sahen sie eine Hängebrücke. Diese schwang recht unruhig über einen breiten Klamm und ein pfeifender Wind säuselte aus diesem empor. Am anderen Ende stand der Eselmann und schaute ungeduldig rüber.

Rotlöckchen ließ sich durch dieses Bild nicht wirklich verunsichern. Angst kannte er als Spinne nicht, denn wen sollte er fürchten? Normalerweise war er es, der Furcht säte. Auch nach seinen Begleitern sah er sich nicht um. Schnell machte er sich daran die Brücke hin zum Eselmann zu überqueren.

Caligo hatte Brücken nie verstanden. Wozu brauchte man die denn? Wenn man über den Fluss oder die Klamm wollte, dann flog man einfach darüber. Und es gab auch bessere Plätze um die Umgebung zu beobachten und nach leckeren Mahlzeiten, wie zum Beispiel fetten Spinnen, Ausschau zu halten. Aber jetzt, da er keine richtigen Flügel mehr hatte und sich aufs Laufen beschränken musste, da machten Brücken plötzlich Sinn. Forsch schritt er darauf zu. Dann blieb er stehen, beugte den Oberkörper vor und betrachtete die Brücke etwas genauer. Er drehte den Kopf schief, seufzte genervt, und drehte ihn wieder gerade. Vorsichtig trat er auf die erste Planke, testete, ob sie sein Gewicht halten würde. Dann testete er noch die nächste. Als sie beide standhielten, stolzierte er mit erhobenem Haupt und geschwellter Brust darüber, als hätte er nie etwas anderes gemacht.

Tharga passierte die Brücke als letzte. Sie verlangsamte ihren Schritt, als sie in der Mitte der Brücke ankam, und verlagerte mehrfach, geradezu methodisch ihren Schritt. Dabei blickte sie sehr konzentriert auf die Ergebnisse ihrer Bemühungen. Dann wurde sie ihrer Gefährten gewahr, die am Ende der Brücke warteten, und löste sich von ihren Feldforschungen.

Auf halber Strecke war der Klamm vom Wind und von einem gewaltigen Rauschen erfüllt. Und nun konnte man es gut sehen: am Grund der Klamm war ein tosender Fluss, dessen Fluten wütend aufschäumten. Grollende Worte erreichte die drei Tiergefährten:

Der, der die Menschenbrut vergiftet und ihre Schwärme stört,
hat den Kristall der Gemeinschaft von Wasser, Land, Fels und Licht zerbrochen.
Die Wächterin ist ohne Wacht, bis alle Teile wiedergefunden sind. Nur zwei sind geblieben.
Doch was tun sie? Haben sie ihre Pflicht vergessen? Haben sie den die Warnung nicht verstanden?

Der Rabenmann lauschte den Worten. Er, der er den Flügel am Puls des Schicksals hatte, kannte solche Warnungen. Bei den Worten: Wasser, Land, Fels und Licht zuckten Bilder durch seinen Geist: ein alter Mann mit Dreizack, eine schwangere nackte Frau, ein kleiner alter Mann mit Schürze und Hammer und ein strenger Mann mittleren Alters, dessen Antlitz in einem grellen Licht zu strahlen begann. Der Leuchtende wandte sich ab und die Schwangere verblasste. Übrig blieben Wasser und Fels. Dann huschte eine Ratte durchs Bild. Mit purpurglühenden Augen zischte sie Caligo an. Der Rabe stand mittig auf der stark schaukelnden Brücke und beeilte sich das andere Ende zu erreichen.

Der Vogelspinnerich beachtete diese Worte nicht. Weder beeindruckte ihn das Grollen, noch setzte in ihm ein Nachdenken, oder gar eine Form der Furcht ein. Es scherte ihn schlicht und einfach nicht und dementsprechend unberührt stapfte Rotlöckchen weiter in die Richtung von Romadrah.

Als sie endlich das andere Ende erreicht hatten, stampfte Romadrah mit einer Hufe auf. “IH-HA! Der Alte ist wütend, so habe ich den ja noch nie erlebt!” Dann schüttelte er den Kopf. “So, noch einmal den Berg hinab und wir erreichen das Ulmental!”

Bei Romadrah angekommen wirkte Rotlöckchen immer noch stoisch und teilnahmslos. Sein Blick schweifte über das Tal zu Füßen des großen Bergs. Nicht weil er die schöne Aussicht genoss, für solcherlei Kram hatte er keinen Nerv, sondern um ihr eigentliches Ziel ausmachen zu können. “Ist es noch weit?”, fragte Rotlöckchen den Biestinger. “Wir sollten uns nicht länger aufhalten als unbedingt nötig.”

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