Tannenfelser Hochzeit - Kapitel 2

Die verspätete Braut - II

Kapitel 2 der Briefspielgeschichte "Tannenfelser Hochzeit"

Fast ein halbes Wassermas war Elvrun von Altenberg, die Braut, zu spät. Besser gesagt: Sie war bis jetzt nicht erschienen. Während sich im Tempel die Gemüter und Meinungen beruhigten, so versammelten sich einige Leute vor den Toren des Tempels. Auf der einen Seite stand die Gauklerin Doratrava, die mit ihrem freizügigen Tanz die Gemüter der Geweihten und Gäste zum Kochen gebracht hatte, was mit einem Rausschmiss geendet hatte. Ihre Freundin Gelda, Base der Braut, versuchte ihr ein Lächeln abzugewinnen, während die hagere Traviageweihte Lichthild versuchte ebenfalls aufmunternd auf sie einzuwirken. Auf der anderen Seite stand eine weitere Gruppe besorgter Gäste, die um die Perainegeweihte Lioba standen. Doch ihre Sorge galt weniger dem Auftritt der Tänzerin, sondern dem Verbleib der Braut.

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“Also, ich fand deinen Tanz sehr schön. Vielleicht ein wenig zu … al´anfanisch? Wahrscheinlich ist es dieses Kleid”, lächelte die sechzehnjährige Gelda und richtete der Gauklerin das Haar. Still nickte Schwester Lichthild. Die sonst recht ernst wirkende Geweihte wirkte aussergewöhnlich fröhlich. “Nimm es dir nicht all zu sehr zu Herzen. Das Paar ist alt und hat keinen Sinn für die Künste der Schönen Göttin. Und immerhin hat Regintrud dich ja zum Tanzen aufgefordert. Ganz Herzogenfurt kennt ja deine Tänze. An deiner Stelle würde ich mich auch nicht entschuldigen wollen.” Nun lächelte sie. Ein kleiner pummeliger Junge kam aus dem Tempel und blieb vor den Frauen stehen. Bohrend in der Nase, mit wenig Aussicht auf schnellem Erfolg, starrte er Doratrava an. Eindeutig ein Kegel der Schwartenfleck.

“Al’anfanisch?” knirschte Doratrava, immer noch um Beherrschung bemüht. Doch war es nun weniger Wut, die in ihr brodelte, sondern eher das Gefühl der Kränkung, dass man ihre Kunst nicht zu schätzen wusste da drinnen. Ihr Verstand sagte ihr, wie er es auch vorher schon getan hatte, dass sie nichts anderes hatte erwarten dürfen und dass sie doch ihr Ziel erreicht hatte, Nivard ein wenig Zeit zu verschaffen. Ihr Verstand sagte ihr auch, dass es gekränkte Eitelkeit war, die an ihr nagte. Dass die “einfache Gauklerin” so langsam eingebildet und ein wenig arrogant wurde. Oder zumindest zu werden drohte. Aber ihr Verstand sagte viel, wenn der Tag lang war, und in den seltensten Fällen hörte sie auf ihn.
“Ich habe ja keinen Tanz der Sieben Schleier aufgeführt. Vielleicht sollte ich das einmal anbieten”, sprach sie mürrisch weiter, aber dann bemühte sie sich um einen freundlicheren Gesichtsausdruck. “Hab’ Dank, Gelda, aber es reicht, wenn ich mir die Hochzeit von Nivard und Elvrun versaut habe. Ich will nicht auch noch daran Schuld sein, dass du sie versäumst, also geh’ lieber wieder hinein, bevor du noch der unsittlichen Konspiration oder etwas ähnlichem bezichtigt wirst.” Nun grinste Doratrava schon wieder. “Und auch Euch danke ich, Schwester Lichthild, für Eure freundlichen Worte, doch glaube ich, Euer Platz ist auch eher im Tempel als davor bei diesem Anlass.”
Dann warf sie dem pummeligen Bengel einen Blick zu, der sie so frech anstarrte. Zumindest war das ihr Eindruck. “Und was ist mir dir? Hat man dich wegen Nasebohren des Tempels verwiesen?” Gleich darauf schalt sie sich für diese Bemerkung, die zu nichts anderem diente, als einen Teil ihrer schlechten Stimmung an dem (vermutlich) unschuldigen Jungen abzuleiten.

Dieser schenkte der Gauklerin nur einen Augenschlag, während er den nun gefundenen Schatz in der Nase in seinem Mund versteckte. “Ich wollte nur schauen, wie ein Flittchen aussieht”, war seine (ehrliche) antwort. Nun war es an Gelda ihre Fassung zu verlieren. “Was fällt dir ein, du Frechdachs. Dir sollte man den Hosenboden langziehen. Nun aber rein mit dir, sonst werd ich deine Mutter holen!” Der Junge verzog sein Gesicht, streckte die Zunge raus und rannte wieder in den Tempel. “O je. Mach dir nichts draus, Doratrava. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. So sagte meine Großmutter immer.” Nun lachte Schwester Lichthild. Doch abrupt verschwand ihr Lächeln, als die Geweihte wieder zum Tempel blickte. Direkt aus dem Tempeleingang kam der untersetzte Vater Winrich mit einer dampfenden Schüssel in der Hand und strebte direkt die Frauen an.

Doratrava riss die Augen auf, welche eine violette Farbe angenommen hatten und wurde blass, was man nicht sehen konnte. Soviel zum Thema “unschuldiger Junge”. Aber bevor sie noch reagieren konnte, war der schon wieder im Tempel verschwunden, zu seinem Glück. Sie wusste nicht, was sonst hätte passieren können. Ihr Verstand flüsterte ihr derweil zu, dass sie nun wusste, wie man drinnen im Tempel über sie tuschelte. Wenigstens hielt Gelda weiter zu ihr, sie warf ihrer Freundin einen dankbaren Blick zu.
Bevor die Gauklerin weiter darüber nachdenken konnte, sah sie Vater Winrich auf sie zukommen. Sie runzelte die Stirn, als sie die dampfende Schüssel sah. Leitete man hier Standpauken mit einem Teller Suppe ein?

“Ah, Frau Doratrava, gut das ihr noch hier seid. Ich habe eine Suppe für euch, glaubt mir, sie wirkt beruhigend.” Dann nahm sein Gesicht eine leichte Röte an. “Bei der gütigen Mutter Travia, ich möchte euch sagen, dass ich nicht … das gesehen habe, was Mutter Regintrud hat. Nun, die Gute ist immer noch sehr aufgebracht. Wenn ihr also …” Weiter kam der Hochgeweihte nicht, denn Schwester Lichthild nahm ihm die Suppe ab und reichte sie der Gauklerin. “Ihr könnt der Mutter sagen, dass Doratrava einsehen hat und sich bei mir im Namen der Gütigen entschuldigt hat. Sozusagen in Travias Ohren”, log sie. Gelda runzelte kurz ihre Stirn, sagte jedoch nichts. “Travia sei dank, da fällt mir aber ein Stein vom Herzen!” Sichtlich erleichtert strahlte der Alte. “Nun, ich möchte euch sagen, dass ich eure Darbietung bei der Brautschau sehr genossen hatte und freue mich auch auf weitere. Nun, vielleicht nicht im Gänsetempel. Aber ich verstehe, ihr wolltet nur helfen.” Väterlich strich er ihr über die Schulter.

Doppelt überrumpelt vergaß Doratrava, bei Winrichs Berührung zusammenzuzucken, runzelte die Stirn und schaute hin und her, während sie geistesabwesend die Suppe nahm, obwohl sie gerade gar keinen Hunger hatte. Vater Winrich hätte sie so eine Geste gar nicht zugetraut. Aber mehr noch verwirrte sie Lichthild. Die Geweihte kannte sie doch gar nicht. Wieso setzte sie sich so für sie ein, wieso log sie sogar für sie? Doratrava brachte es nicht über sich, ihr in den Rücken zu fallen und die Lüge offenbar werden zu lassen, also entschloss sie sich kurzerhand, diese nachträglich zumindest halb wahr zu machen, obwohl sie eigentlich nicht vorgehabt hatte, sich zu entschuldigen. “Vater Winrich, es tut mir wirklich leid, dass mein Auftritt manche Gemüter über Gebühr erregt hat, aber ich wollte Nivard nur helfen. Sagt das Mutter Regintrud bitte, ich kann ja jetzt schlecht wieder hineingehen.” Dann lächelte die Gauklerin andeutungsweise. “Es freut mich aber zu hören, dass meine Darbietungen Euch ansonsten gefallen. Ich hoffe sehr, Euch an anderer Stelle noch mehr davon bieten zu können.” Ihr Blick streifte Lichthild, aus der sie noch immer nicht recht schlau wurde, und traf dann Gelda, der gegenüber sie ein Schulterzucken andeutete mit einer unmerklichen Kopfbewegung in Lichthilds Richtung. Doratrava war Geldas Befremden nicht entgangen bei Lichthilds Lüge.

“Das freut mich zu hören. Ich werde das natürlich weitertragen, wie in einer Familie können wir uns wieder vertragen.” Dann wanderte sein Blick über Doratravas Schulter und seine Augen weiteten sich. “Bei Travia, da ist sie ja! Elvrun! Die Braut kommt!” Aufgeregt schaute er zu Gelda. “Gelda, Kind, komm, lass uns den anderen die Ankunft antragen.” Dann ging er zurück in den Tempel. Gelda stammelte nur, “Oh, sicher Oheim”, und schaute ihre Freundin entschuldigend an. Dann folgte sie. Zurück blieben Lichthild und die Gauklerin. “Siehst du, es herrscht wieder Frieden. Doch ich warne dich. Mutter Regintrud ist nachtragend.”

Doratrava hob halb die Handfläche, um sich vorläufig von Gelda zu verabschieden, und schenkte dieser auch noch ein Lächeln. Dann wandte sie sich Lichthild zu, in einer Hand immer noch unschlüssig den Suppenteller haltend. “Danke für die Warnung. Nicht, dass das überraschend ist. Aber sagt, was bewegt Euch denn, Partei für mich zu ergreifen? Im Gegensatz zu allen anderen der Travia nahestehenden Leuten scheint Ihr nicht im Mindesten empört zu sein über meinen Auftritt. Was mich einerseits freut, andererseits aber verwundert. Wenn Mutter Regintrud so nachtragend ist, bekommt Ihr dann keinen Ärger, wenn Ihr Euch so offen auf meine Seite stellt?”

Nun lachte sie kurz. “Meine Aufgabe ist es, verlorene Seelen zu ihrer Familie zu führen und nicht zu verstoßen. Ich erkenne dein Herz. Nun lass es mich so sagen: In den meisten Fällen liebt eine Mutter ihr Kind. Auch wäre es eine Lüge zu sagen, dass eine Mutter ihre Kinder alle gleich liebt. Glücklicherweise gibt es da aber auch noch Tanten und Onkel. Ich bin in diesem Fall die Tante.” Dann faltete sie ihre Hände. “Um ehrlich zu sein, Travia ist keine Göttin für dich. Und das beruht wahrscheinlich auch auf Gegenseitigkeit. Aber es gibt ja noch mehr und ich bin mir sicher, dass du bald den Gott finden wirst, der dich so respektiert und liebt, wie es deiner Seele entspricht. Welchen Gott fühlst du dich am nächsten?” Nun war ihr Lächeln verschwunden.

Lichthild war wirklich seltsam. Eine solche Traviageweihte hatte sie noch nie getroffen. Ob denn Travia überhaupt die richtige Gottheit für sie war? Aber das musste die Geweihte selbst wissen. “War das so deutlich, dass ich und Travia ein wenig auf Kriegsfuß stehen?” antwortete die Gauklerin schließlich sarkastisch, um dann aber auch ernst zu werden. “Früher habe ich mir nie Gedanken über die Götter gemacht, und auch heutzutage beschäftige ich mich selten aktiv mit ihnen. Sagt man nicht, fahrendes Volk hätte eine Nähe zu Tsa? Das ist bei mir wohl nicht anders.” Ein Schatten lief kurz über ihr Gesicht, als sie an Glöckchen dachte und an deren Großmutter Ise, die sie nur kurz gekannt hatte und die sich vor nicht einmal einem halben Jahr im Kampf gegen einen Dämon geopfert hatte. “In letzter Zeit scheine ich aber Rahja näherzukommen. - Wieso fragt Ihr?”

Lichthild musterte sie kurz. “Ganz einfach, es ist offensichtlich, dass du verloren wirkst, ganz so als ob du enttäuscht von den Göttern wärst. Dass du dich nicht einmal klar zu einem der Zwölfe zugehörig fühlen kannst, bestätigt das nur. Die Geweihten müssen dich im Stich gelassen haben. Nun, zumindest hast du jetzt eine, die dich zumindest wahrgenommen hat. Ich werde dir helfen, wenn du magst.” Nun blickte sie zu der ankommenden Braut mit ihren Begleitern. “Rahja, sagst du? Glaub mir, sobald die Schönheit verblüht, lassen auch die dich in Stich. Selbst die Geweihte, die sich für dich eingesetzt hat, wird bald merken, dass ihre Göttin keine Aufgabe für sie haben wird. Die Jüngste ist sie nicht mehr.” Nun schweifte sie ab, richtete aber wieder ihren Blick auf die Gauklerin. “Nun ja. Ich bin für dich da, doch für den Moment muß ich wieder hinein. Du kannst deinem Freund gratulieren, wenn sie zum Park nach der Trauung gehen.” Noch immer schlich sich kein Lächeln in ihr Gesicht und wirkte nun so streng, wie man sie kannte.

“Ja dann … vielen Dank”, antwortete Doratrava etwas verunsichert. Die Frau war komisch. Dass Traviageweihte auf die Rahjakirche nicht gut zu sprechen waren, hatte sie ja schon selbst erlebt - mehrfach. Aber diese Lichthild sprach ja schon irgendwie … irgendwie so, als gehöre sie gar nicht “dazu”. Wenn man jetzt böswillig wäre, könnte man ja fast unterstellen … aber das war nun wirklich sicher zu weit hergeholt. “Vielleicht komme ich darauf zurück”, fuhr die Gauklerin trotzdem fort. “Dann … bis irgendwann”, verabschiedete sie sich von der Geweihten und lenkte ihre Schritte tatsächlich zum Park. Immerhin war die Braut nun endlich aufgetaucht, wie sie am Rande mitbekommen hatte. Sie freute sich für Nivard, dass offensichtlich nichts Ernsthaftes mit der Braut passiert war.
Auf ihrem Weg kam Doratrava auch in der Nähe der Dreiergruppe Frauen vorbei, deren einer Bestandteil diese breitschultrige Geweihte war, die auf sie los war, als wolle sie sie gleich handgreiflich aus dem Tempel werfen. Die drei Frauen warfen ihr Blicke zu, das machte sie neugierig, und sie verlangsamte ihre Schritte.

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