Schwarze Stunde

Szenen aus dem Wohnzimmer – Alltägliches und Tiefsinniges:
Schwarze Stunde

Ort: das Hospital

Zeit: FIR - Mitte PER 1045 BF

Personen:

Autoren:
(Dario, Circe; mit Dank für Ideen an E. B.)


Die Wintermonate waren recht geschäftig vorübergegangen. Hier eine schwere Erkältung bei einem Reisenden, dort ein gebrochenes Bein, wo jemand auf Eis ausgeglitten war, einmal eine schwere Geburt, bei der Boron und Tsa lange disputierten, wer denn nun Anspruch auf Mutter und Kind haben sollte.

Dazwischen hatte Dario Ausritte unternommen, anfangs mit Jagdwaffen, dann zunehmend ohne. Abends erzählte er Circe, ihrer Scholarin und Nuphara am Kamin von glitzernden Eiszapfen an Fichtenzweigen, sonderbar verschlungenen Mäusefährten, und einmal hatte er einen Luchs erspäht.

Im Winter waren auch Kräuter zu sichten, Teemischungen und Tinkturen anzusetzen, Pulver zu reiben. „Dafür hat man doch Diener!“, rutschte es Elina einmal heraus, als ihr die Hand vom Mörsern weh tat.

Gelegentlich verbrachten Circe und Elina Nachmittage oder Abende auf der Burg. Dario wünschte ihnen dann viel Vergnügen, scheinbar vertieft in ein Buch, in einen Brief, in irgendeine Arbeit, die dringend noch zu erledigen war. Circe merkte wohl, daß er diese kleinen 'Gesellschaften' auf der Burg vermißte, und bot ihm zuweilen an, selber bei ihm zu Hause zu bleiben, was er jedoch stets entschieden ablehnte. Dennoch nahm sie einige Einladungen nicht wahr.

Der Phex kam mit Gartenarbeiten, ersten Saaten und einem schlimmen Unfall auf der Honinger Straße, bei dem nur Nupharas magisches Eingreifen den Tod eines Kindes verhinderte, welche dafür von Circe Anerkennung erntete.

Dann kam der Perainemond mit seinen Saatfeiern, Prozessionen und Tanzfesten. Dario nahm an kaum einer der Festivitäten teil. Die einen waren zu bäuerlich, zu anderen fehlte die Einladung oder sonst ein Anlaß zu erscheinen. Lediglich zu einer formalen Peraine-Feierlichkeit tauchte er auf, als Leiter des St.Theria-Hospitals.

Wenige Tage nach den Saatfeiern brach der Tannwirker Hochzeitszug nach Tommelsbeuge auf, bei dem auch Circe als Leibmaga der Baronin mitzog. Circes Scholarin blieb diesmal zurück, vertiefte sich aber in ihre Arbeiten oder vergnügte sich irgendwo mit Nuphara. Viel hatten sie und Dario einander ohnehin nie zu sagen und gingen sich aus dem Weg, wenn Circe als verbindendes Element fehlte.

Dario nutzte die Zeit, um Dinge zu sichten, Dinge zu ordnen, Dinge zu erledigen: Unterlagen, Aufzeichnungen, Arzneien, Ingredienzen, Verbandsmaterial, Alchymika, alles sorgfältig aufgeteilt nach Hospitalbedarf und eigenen Anschaffungen und Belangen. Hier eine kurze Besprechung mit der Gehilfin, dort eine Anweisung an Dienstleute, von denen die meisten freilich wußten, was sie zu tun hatten. Etliche Gartenarbeiten erledigte er selber oder schaute wenigstens nach ersten Sämlingen. Ein kurzer Ausritt. Seine fast täglichen Übungen in Schattenkampf. Übungen mit seinem Jagdfalken, die er bald abbrach: das Tier spürte, daß er nicht bei der Sache war.

Darios Gedanken wanderten – nicht nach Tommelsbeuge, das kannte er nicht; aber zur Hochzeitsfeier, zur Geselligkeit, zu angeregten Gesprächen, Tanz ... Wen hätte er dort treffen können, den er kannte? Welche neuen Bekanntschaften machen? Mit einer geistreichen Bemerkung brillieren oder selber Vergnügen am Wortwitz anderer finden? Vielleicht ein Austausch unter Kennern – guter Weine, guter Pferde, guter Musik? Oder Neues erfahren, sei es hesindianisches Wissen, sei es ein hübscher kleiner Adelsskandal. Vielleicht den Hinweis auf eine neue lesenswerte Schrift oder auf eine alte Sage, die noch in keiner Gazette erschienen war? Womöglich die Einladung zu einem weiteren Fest. Oder zu einer Jagd ...

„Don Tiljak-Karinor?“ Elina Honak, Circes Scholarin. „Ich bin dann weg. Die Magistra weiß bescheid.“ Dario nickte geistesabwesend. „Viel Vergnügen, Domnita Honak.“ Er gebrauchte gern die almadanische Form der Anrede an Stelle der al'anfanischen, galt er doch den meisten vor Ort als Almadaner, und Circes Scholarin ärgerte sich zuweilen darüber. Wirklich genießen konnte er das an diesem Tag nicht.

Am Tag der Abreise der Hochzeitsgesellschaft hatte er sein Mittagsessen noch am gemeinsamen Tisch eingenommen, allein. Das Abendessen hatte er sich dann schon ins Arbeitszimmer mitgenommen. Jetzt ließ er es ganz ausfallen, gönnte sich dafür etwas mehr Ilmenblatt als gewöhnlich. In eher melancholischer denn rahja-freudiger Stimmung griff er nach seiner Laute, stimmte sie, zupfte einige Akkorde, klimperte eine Melodie. Eine Ballade kam ihm in den Sinn, er versuchte zwei neue Griffe, das Lied klang voller dadurch und noch etwas trauriger. Leise summte er mit, der Text war ihm nur noch teilweise in Erinnerung. Und verstummte.

Das Haus war still. Die Nacht war still. Rahjas Stunde war überschritten, und es galt gleich, ob es Praios' oder Rondras Nachtstunde war, beide forderten Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit. Und ehrlich und wahrhaftig gesehen ...

Erinnerungen flackerten auf, an rahjagesegnete Leichtigkeit, an boronschwere Traurigkeit, an Furchtbarkeiten, an Entsetzlichkeiten, an ... ein Morgenrot, das es nicht hätte geben dürfen. Dann wieder an rahjanische Freuden, manche so einfach und unschuldig wie ein heiteres Wortspiel oder der frische Wind, wenn rosig die Sonne aufgeht.

Tempi passati. Ehrlich und wahrhaftig gesehen, war er ein Gestrandeter, nein, Verbannter, der sein Eiland mit wenigen Schritten durchmaß und durch und durch kannte: hier die Frischwasserquelle, da die Dattel- und Kokosnußpalmen, dort die Felsen mit nahrhaften Schnecken und Muscheln. Dann wieder die Quelle. So verdurstete er nicht und verhungerte nicht und fühlte sich doch wie einer, der darben muß und dessen wahrer Hunger und wahrer Durst kaum noch gestillt werden.

Immer noch hielt er die Laute im Arm, zupfte ohne klare Idee einer Melodie ihre Saiten. Wie armselig! Wie trostlos! Wie fad! Er faßte das Instrument am Hals und schleuderte es in die nächste Ecke, in der es ... durchaus nicht zerschellte.

Stattdessen schoß etwas sich überschlagend durch die Luft, drehte drei Runden ums Zimmer und schlidderte noch ein, zwei Schritt über den Boden, bevor es endlich zum Halt kam.

„Nuphara?! Ich dachte, du wärst mit Elina weg?! Bist du verletzt?!“

Heftig atmend hob und senkte sich der übergroße Libellenleib des Feenwesens, das sonst kaum ohne die junge Honak anzutreffen war. Mit seinen menschenähnlichen Händen preßte es die Laute fest an sich.

„Spinnst du?!“, fuhr es, immer noch keuchend, Dario an, der sich über es beugte und behutsam den halb insektoiden, halb humanoiden Körper inspizierte. „Das hätte kaputtgehen können!“

„Du hättest kaputtgehen können!“, erwiderte der Medicus. „Alles in Ordnung?“

„Bei mir ja!“, entgegnete Nuphara. „Bei dir anscheinend nicht! Wenn ich nicht grad' reingekommen wäre ...“

„War das ein Axxeleratus?“

„Ja, klar war das ein Axxeleratus! Was denkst du denn?!“

Hartnäckig umklammerte das Feenwesen die Laute, während Dario versuchte, sie ihm zu entwinden. „Erst versprichst du, daß du das nicht wieder wirfst!“, raunzte es den Medicus an.

„Das verspreche ich“, antwortete Dario ernst und konnte endlich das Instrument – betont sorgsam – beiseite legen.

Währenddessen rappelte sich Nuphara auf, strich sich die Flügel glatt, sortierte ihre libelligen Beine und flog auf die Lehne von Darios Stuhl. „Und jetzt“, sagte sie, bevor der Medicus erneut zu Wort kam, „was ist bei dir kaputt, daß du deine Laut-und-Leise so in der Gegend herumwirfst?“

Erst einmal war Dario mit Nuphara bisher so lange allein in einem Raum und so direkt konfrontiert gewesen, ganz zu Anfang, als sie neu im Haus war, alles erkundete und dabei das Behandlungszimmer auf den Kopf stellte. Es hätte damals nicht viel gefehlt, und er hätte 'das Geziefer' erschlagen. Circe und ihre Scholarin – in Darios Augen Nupharas Besitzerin – hatten im Labor gearbeitet und weder Darios Zornesrufe noch Nupharas Hilfeschreie gehört. – Nachher hatte Circe sich nur darüber amüsiert, wie geduldig Dario dem Feenwesen Instrumente, Gerätschaften und Verbandszeug erklärte, während Nuphara alles eifrig wieder an seinen Platz räumte.

Jetzt zog er sich einen anderen Stuhl heran und nahm Nuphara gegenüber Platz. „Du hast recht“, sagte er, „das war unbedacht. Ich sollte die Laute nicht fortwerfen, sondern verschenken oder vielleicht verkaufen.“

Nupharas Miene verriet völliges Unverständnis, gepaart mit aufkommendem Entsetzen. „Aber worauf spielst du dann?!“

„Auf gar nichts“, erwiderte Dario ruhig, „ich musiziere nicht mehr.“

„Warum?“

Dario atmete tief durch. „Sieh mal“, hub er an zu erklären, „es gibt ja jetzt keine Gelegenheit mehr. Ich gehe nicht mehr zu geselligen Treffen oder Festen ...“

Er sprach nicht weiter. Nuphara hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute ihn unverwandt an. „Ja, und?“ Ihr Unverständnis blieb, ihr Entsetzen wich ... Ärger?

Eine Weile lang schwiegen sie beide.

„Soll ich dir was vorspielen?“, fragte Dario vorsichtig und hob die Laute auf.

Nuphara schwieg. – „Nö“, sagte sie endlich, „wenn du nicht mehr willst.“ Sie verließ ihren Ansitz und flog zur Tür.

„Jetzt warte!“, rief Dario hinter ihr her. „Setz dich wieder hin!“

Nuphara flog einen Bogen und ließ sich erneut auf der Stuhllehne nieder. Mit schiefgelegtem Kopf musterte sie den Medicus, der sich seinerseits zurechtsetzte und leise die Saiten stimmte.

„Was hättest du denn gern?“, fragte Dario Nuphara.

Die zuckte mit den Schultern, hörte aber nicht auf, ihn anzustarren.

Unschlüssig zupfte er einige Akkorde, geriet in die Melodie einer düsteren Ballade, brach ab, setzte neu an. Diesmal ein schnelleres Stück. „Tandaradei, tandaradei“, sang er leise den Refrain, und Nuphara begann den Rhythmus mitzuwippen, „Wintermond geht nie vorbei ...“

Nuphara erstarrte wieder, aber Dario spielte und summte weiter. Der Refrain wandelte sich: „Geht der Wintermond vorbei?“ Nuphara tappte mit einem Insektenbein im Takt mit.

„Tandaradei, tandaradei, Wintermond ist nun vorbei! Tandaradei, tandaradei, Wintermond ist nun vorbei!“

„Genau!“, jubelte Nuphara, umschwirrte Dario einmal und ließ sich wieder auf der Stuhllehne nieder. Duft nach Rosen und Ingrimmsglöckchen füllte den Raum. „Noch eins?“

Schmunzelnd suchte Dario neue Akkorde, zupfte eine neue Weise, getragener diesmal, und Nuphara runzelte wieder die Stirn. „Wart's halt ab“, murmelte Dario, erwischte einen falschen Ton, schüttelte unwillig den Kopf, spielte weiter.

„Peraine, meine Zuversicht“, hub er leise an zu singen, „Dir dank' ich alle Tag' ...

Peraine, meine Zuversicht
Dir dank' ich alle Tag'
Verlor ich auch der Sonne Licht,
Für Dich ich leben mag.

Hesinde, aller Weisheit Hort,
Um Deinen Rat ich frag'.
Sind meine Freunde auch weit fort,
Ihr' Erinn'rung ich mit mir trag'.

Oh Rahja, schönste Götterblum',
Du duftest mir im Hag.
Verlor ich auch Gold und eitlen Ruhm,
Meine Laute ich freudig schlag'.“

Begeistert klatschte Nuphara in ihre kleinen Hände. „Du bist sogar ein Dichter! Noch eins!“

Lächelnd schüttelte Dario den Kopf und stellte die Laute sanft an ihren Platz. „Das Stück stammt von Eldramir dem Blinden Barden, und jetzt ist Schlafenszeit. Gute Nacht!“

Als hätte sie es nie anders gehalten, schwirrte Nuphara Dario voraus ins Schlafgemach, ließ sich auf einer Truhe nieder, brachte sich in Ruheposition und schlief ein.


(Eldramir & Lyrik: (C) FS)