Nilsitz Jagd Doratrava Anreise

Kapitel 3-2: Die Gauklerin

Autor: BioraTagan

Peraine 1042 B.F.

Der Pfad war steinig, dazu noch glitschig, denn es nieselte schon seit Stunden. Was hatte Doratrava nur geritten, in so einer abgelegene Gegend unterwegs zu sein, wo die Dörfer klein waren und weit auseinander lagen und die Bewohner mühsam ihren kargen Lebensunterhalt verdienten, so dass sie wenig übrig hatten für Gaukler wie ihresgleichen? Doch wie so oft hatte sie sich einfach treiben lassen, hatte in den Tag hinein geträumt und gar nicht auf den Weg geachtet, bis sie sich plötzlich abseits jeder größeren Straße völlig allein auf diesem Pfad wiedergefunden hatte. Sie hatte sich umgesehen, die Schultern gezuckt und ihr Schicksal angenommen, wie so oft schon.

Seit dieser Hochzeit nahe Albenhus passierte Doratrava so etwas öfter. Dann verschwamm die Umgebung um sie herum, während ihr Geist zu anderen Sphären aufbrach, um … ja, warum eigentlich? Meist konnte sie sich nach dem Ende eines solchen Tagtraums gar nicht daran erinnern, was genau ihr Geist da so alles getrieben hatte, was sie manchmal ärgerte, denn ihr Geist hatte doch nicht einfach das Recht, etwas zu tun, von dem sie nichts wusste, das sie ihm nicht erlaubt hatte … ?

Woran Doratrava sich dagegen oft erinnerte, war die Nacht der Hochzeit in Hlûtharswacht oder wie das geheißen hatte. Alles hatte so gut begonnen, sie hatte mehrere Auftritte absolviert, die selbst den bestimmt verwöhnten adligen Gästen und dem Hochzeitspaar höchstselbst Anerkennung abgerungen hatten, doch dann … war etwas passiert. „Etwas“, genauer konnte sie das nicht fassen, hatte sie weggelockt von der Hochzeitsgesellschaft, in den nahen Wald hinein, und das hatte ihr vermutlich das Leben gerettet. Denn hinter ihr, dort, wo die Gesellschaft gerade noch ausgelassen gefeiert hatte, war das Chaos ausgebrochen, sie hatte Schreie gehört, Kampfeslärm, zerspringendes Geschirr … Manchmal träumte sie davon, auch von der seltsamen Puppe, die sie im Wald gefunden hatte, diesem „Valpobär“, wie so etwas genannt wurde, was sie damals aber noch nicht wusste, in dem roten Kleidchen, dem zwei Knöpfe fehlten, genau die zwei Knöpfe, welche Doratrava gefunden hatte auf dem Weg in den Wald, um einer vage erkennbaren Gestalt am Rande des Scheins der Feuerschalen zu folgen, die ihr gewunken hatte. „Etwas“ eben, denn eine Gestalt, eine Person, hatte sie nicht gefunden, nur diese Puppe und die Sicherheit des Waldes vor dem, was über die Hochzeitsgesellschaft hereingebrochen war …

Am nächsten Tag hatte Doratrava schnell ihre restlichen Sachen vom verwüsteten Festplatz gefischt und war geflohen, so weit weg, wie ihre Füße sie trugen, was bis nach Weiden war in eine große Stadt namens Trallop, und auch dort waren seltsame Dinge geschehen, aber lange nicht so seltsam wie in Hlûtharswacht.

Wie auch immer, nun war Doratrava hier, wieder irgendwo in den Nordmarken, wenn ihre Ortskenntnis sie nicht trog, doch weit weg von Albenhus, auf einem eher „unwegsamen“ Weg, welcher sie hoffentlich noch vor Anbruch der Dunkelheit und bevor ihr Reisemantel völlig durchweicht war, in ein Dorf führen würde, um dort die Nacht zu verbringen und den Bewohnern vielleicht ein wenig Abwechslung in ihr Dasein zu bringen.

Doratrava reiste zur Zeit nur zu Fuß und mit leichtem Gepäck. Ihre Reisekiste mit den vielen schönen Kleidern hatte sie gegen eine kleine Spende im letzten größeren Tempel zurückgelassen. Schön und gut, wenn man sich ein paar Kleider leisten konnte, doch selbst mit einem Pferd war so eine Reisetruhe nicht ohne weiteres transportabel. Spontan hatte sie daher kürzlich beschlossen, einen beschwingten Ausflug ohne Last zu unternehmen – welcher sie hierher geführt hatte, gefühlt an das Ende der Welt, das dazu noch nass, klamm und kalt war. Immerhin konnte die Landschaft als idyllisch bezeichnet werden, wenn man sich Sonnenschein dazudachte, unter ihr lud sogar ein kleiner See zum Baden ein – wenn es denn wärmer gewesen wäre. Um nicht zu frieren, lief sie zügig, soweit es der steinige Untergrund zuließ, und drehte auch immer wieder Pirouetten oder machte den ein oder anderen Luftsprung, um nicht aus der Übung zu kommen. Hin und wieder pfiff sie sogar ein Liedchen, was einen Hasen in die Flucht trieb, wie sie ein wenig verstimmt feststellte.

Endlich, endlich kamen ein paar Häuser, na eher Hütten in Sicht, das heute eher verstohlene Praiosmal musste gerade dabei sein, sich zur Ruhe zu betten, so dämmrig war es bereits geworden. Frischen Mutes beschleunigte Doratrava ihre Schritte und stand bald darauf auf so etwas wie einem Platz zwischen einer Handvoll eher armseliger Holzhäuser. Keine Menschenseele war zu sehen, doch aus dem größten Haus drang ein wenig Licht und Gelächter auf die Straße. Immerhin schien man hier keinen Trübsal zu blasen, ein gutes Zeichen. Ohne weiter zu zögern ging Doratrava auf das Gebäude zu und öffnete die laut knarrende Tür. Obwohl sie nicht eine der Größten war, musste sie sich ducken, damit ihr Kopf nicht mit dem oberen Rahmen der niedrigen und schmalen Tür kollidierte.

Drinnen war es leidlich hell durch ein paar schummrige Öllampen, die an Wänden und Decke hingen, sowie das Feuer, welches Doratrava mit wohliger Wärme begrüßte. Grobe Stühle und Tische füllten den Raum, dessen Boden lediglich aus festgestampftem Lehm bestand. Drei Stufen führten hinunter auf eben jenen. Ein Dutzend Dörfler gaben sich ihrem abendlichen Vergnügen hin, welches aus Essen, Trinken und lautstarken Gesprächen bestand, welche allerdings abrupt verstummten, als sie die Schwelle überschritt. Alle Blicke richteten sich auf sie.

Gäste waren hier eher selten, wie Doratrava nicht umhin kam festzustellen. Nun, das war zu erwarten gewesen. Ohne weiter nachzudenken überließ sie sich ihren in bereits einem Dutzend Jahren des Gauklerdaseins geschulten Instinkten und streifte in einer eleganten, fließenden Bewegung ihren einfachen, mittlerweile klatschnassen Reisemantel von den Schultern, um ihn über den nächsten Hocker zu werfen, was leider den an diesem Tisch sitzenden Bauern einen kleinen Sprühregen bescherte. Doch das schienen diese nicht wirklich wahrzunehmen, starrten sie doch mit offenen Mündern auf Doratravas Erscheinung: Nun nicht mehr gebändigt von der Kapuze schüttelte sie ihre langen, fast weißen Haare aus, welche ein fast schon zu perfekt ebenmäßiges Gesicht einer sehr jungen Frau umrahmten, dessen Haut an Blässe die der Haare noch überbot. Dunkle Augen blickten unternehmungslustig in die Runde, jeder der abendlichen Zecher fühlte sich persönlich gemustert. Die Fremde trug braune, schlammverschmierte Stiefel, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, doch darüber eine enge schwarze Lederhose, welche seitlich von den Waden bis zur Hüfte geschnürt war. Ihren Oberkörper mit den nur schwach ausgeprägten Brüsten bedeckte ein schräg schwarz-weiß kariertes Hemd mit silbernen Knöpfen und Rüschenärmeln. Den Hals umschloss ein Stoffband mit einer silbernen Brosche, welche im schummrigen Licht nicht genauer zu erkennen war. Im breiten Ledergürtel um ihre Hüften konnte ein genauer Beobachter eine Handvoll Dolche ausmachen, welche seitlich und im Rücken platziert waren. Doratrava ließ ihre Erscheinung einen Moment lang wirken, dann verbeugte sie sich tief mit vor der Brust geschwungenen Rechten. „Gestatten, Doratrava ist mein Name, die Kunst, Menschen zu erfreuen, mein Gewerbe, dies heute hier zu tun mein Wunsch!“ Sie richtete sich erwartungsvoll wieder auf.

Da sprang ein junger Bursche, nein, ein Kind, es mochte keine zehn Lenze zählen, von einer Bank im Hintergrund des Raumes. ‚Ist nicht längst Bettzeit für den jungen Mann?‘ fuhr es Doratrava durch den Kopf, als der Bengel, dessen Kopf von einem wirren Schopf roter Haare geziert wurde, frech vor ihr Aufstellung nahm und mit näselnder, aber lauter Stimme fragte: „Bist du eine Hexe?“

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Totenstille breitete sich in dem nicht allzu großen, plötzlich irgendwie gedrängt wirkenden Raum aus. Die Dörfler erstarrten in ihren Bewegungen, der Junge schlug sich mit großen Augen die Hand vor den Mund, als würde ihm nun mit Schrecken klar werden, dass er ein unaussprechliches Geheimnis verraten hätte. Der erste Impuls Doratravas war es, dem Bengel mit einer handfesten Ohrfeige für seine überaus passende Begrüßung zu danken, doch mit Mühe schaffte sie es, sich zu beherrschen und das professionelle, gewinnende Lächeln beizubehalten. So waren Kinder eben, vor allem hier weitab der großen Städte, gefangen im Bann des Aberglaubens und eben direkt und unverstellt, bis sie lernten, sich in die verlogene Welt der Erwachsenen einzufügen. Außerdem war sie ob ihres Aussehens manche … überraschte Reaktion gewohnt, je nachdem, wo sie sich aufhielt. Bei ihrer allerersten Gauklertruppe hatte man sie deswegen in glitzernde Kleider gesteckt und vorausgeschickt, um für den Auftritt der Truppe zu werben, doch da war sie selbst noch ein Kind gewesen. Nun, kein Kind mehr und allein unterwegs, schien man ihrem exotischen Aussehen nicht selten abergläubische Furcht denn Neugier entgegenzubringen, so wohl auch hier.

Die Stimmung war sichtlich gekippt, Doratrava sah manchen Gesichtern an, dass die Leute sich ernsthaft Gedanken machten, ob an dem Ausspruch des Kleinen nicht etwas dran war, eine junge Magd griff gar verstohlen zum Messer an ihrem Gürtel. Nun galt es schnell zu handeln. Flink öffnete sie die Umhängetasche, welche noch an ihrer Seite hing, und fischte drei bunte, wenn auch schon etwas verwaschene und fadenscheinige Bälle heraus. „Aber, aber, junger Mann“, wandte Doratrava sich mit ihrer besten Bühnenstimme direkt an den rothaarigen Knaben, der sich mittlerweile mit beiden Händen den Mund zuhielt. Vielleicht sollte er zumindest eine Hand da wegnehmen, fuhr es ihr unwillkürlich durch den Kopf, damit er im Zweifelsfall seine Augen auffangen konnte, sollten sie ihm herausfallen. „Dann sag mir mal, ob eine Hexe wohl so etwas zustande bringen würde?“ Mit diesen Worten wand sie sich mit einer schlangenhaften Verbiegung aus dem Riemen der Tasche, so dass diese neben ihr zu Boden fiel, und begann, mit den drei Bällen zu jonglieren, erst ganz normal mit beiden Händen. Das forderte ihr nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit ab, so dass sie aus den Augenwinkeln die Reaktionen der Dorfbewohner verfolgen konnte. Tatsächlich entspannten sich die meisten, hier und da wurden die Gespräche wieder aufgenommen oder es erklang ein wenig verlegen klingendes Gelächter. Die Magd mit dem Messer sah allerdings noch immer zweifelnd aus, und an einem Tisch tuschelten ein paar Burschen verschwörerisch miteinander, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Doratrava drehte sich zweimal im Kreis, was sie in die Mitte des Raumes führte, und ging dazu über, die drei Bälle nur mit der linken Hand in der Luft zu halten. Der Rotschopf hatte sich hinter der Theke in Sicherheit gebracht und lugte verstohlen dahinter hervor, immerhin hielt er die Hände nicht mehr vor den Mund, sondern brauchte sie wohl, um sich an der Theke festzuhalten, damit er nicht umfiel. Wahrscheinlich handelte es sich um den Sohn der Wirtin, welche gerade hinter derselben angelegentlich damit beschäftigt war, ein langes Messer sehr sorgfältig mit einem schmutzigen Tuch trockenzureiben und dabei beständig giftige Blick in Doratravas Richtung warf, als fürchtete sie, die Gauklerin würde ihr Kind gleich fressen.

Diese fasste einen der Tische ins Auge, der recht stabil aussah, dann griff ihre Rechte nach der Kante, ihre Beine schwangen nach oben, so dass sie plötzlich kopfüber auf dem Tisch balancierte, während sie mit der Linken weiterhin die drei Bälle in der Luft hielt. Wieder hielten die meisten Gäste die Luft an, doch diesmal nicht ob ihres Aberglaubens, sondern ob der schieren Missachtung von Sumus Griff seitens Doratravas. Selbst die für ihren Stand sehr schlanke Wirtin hielt inne beim Polieren ihres Mordwerkzeugs, der Rotschopf vergaß, sich festzuhalten und fiel auf die Knie.

Nach nur wenigen Augenblicken des einhändigen Handstands stieß Doratrava sich ab, landete sicher und elegant wieder auf ihren Füßen und pflückte die Bälle aus der Luft, um sich sogleich erneut tief zu verbeugen. Noch aus der Verbeugung heraus warf sie einen der Bälle dem Jungen zu, was diesen mit einem erschreckten Quieken nach hinten auf den Hosenboden fallen ließ. „Na, wie hat dir meine kleine Zauberei gefallen, kleiner Mann?“ Ein paar der Leute begannen zaghaft, mit der Faust auf die Tische zu klopfen, der Junge überwand seine Furcht und klatschte zweimal ebenso zaghaft in die Hände. Gut, die Stimmung neigte sich langsam wieder zu ihren Gunsten, darauf konnte man aufbauen. Doratrava machte einen Schritt auf den Jungen zu und streckte die Hand nach ihm aus. „Wollen wir tanzen?“ Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie die noch recht junge Wirtin das lange Messer mit einer entschlossenen Bewegung vor sich in das Holz der Theke rammte. Das sollte wohl eine Botschaft sein.

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Jetzt nur keine Unsicherheit zeigen, sonst konnte sonstwas passieren. Doratrava schenkte der Wirtin, die, wie ihr jetzt erst auffiel, dieselben roten Haare hatte wie ihr Bengel, ein freundliches Lächeln und fasste jenen an der zaghaft ausgestreckten Hand, um ihn nach oben und ein wenig zu sich heran zu ziehen. Hm, anderswo hätte sich wohl genau diese Frau verdächtig gemacht, eine Hexe zu sein, entsprach sie doch den gängigen Vorurteilen viel besser als sie selbst. Weiße Haare, weiße Haut und leicht spitze Ohren, welche die Dörfler mittlerweile sicher auch bemerkt hatten, war zwar „anders“ und „exotisch“ und vielleicht auch „unheimlich“ oder gar „gefährlich“, aber nicht unmittelbar „Hexe“. Egal, sie schob diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf ihre Vorführung. Jetzt bloß keinen blöden Fehler machen, weil sie abgelenkt war.

Mangels eines Musikanten rief Doratrava sich die Takte einer beschwingten Melodie ins Gedächtnis, eine Übung, welche sie gut beherrschte, war sie doch eher selten in der Begleitung eines Musikers unterwegs oder traf einen solchen zufällig an. Sie blickte nach unten, dem Burschen tief in die Augen, in der Hoffnung, er verstand den Wink und ließ sich willig führen. Sie wusste, dass sie ein nicht unerhebliches Risiko einging, was die Stimmung der Leute anging, aber ihre impulsive Natur war eben mal wieder mit ihr durchgegangen, und nun musste sie das Beste daraus machen.

Langsam vollführte Doratrava einige einfache Tanzschritte und bedeutete dem Jungen, der sie weiterhin mit großen Augen anstarrte, aber sich zum Glück nicht wehrte, mit sanftem Druck, wie er sich bewegen sollte, wobei sie darauf achtete, ihm nicht zu viel abzuverlangen. Eigentlich tanzte sie eher um ihren kleinen Partner herum und führte seine Arme, so dass sein Körper die eine oder andere Drehung beschrieb, was ganz gut klappte. Also wurde sie mutiger und beschleunigte ihre Schritte, halb schloss sie ihre Augen, um sich besser auf die stumme Melodie in ihrem Kopf zu konzentrieren. Der Junge schien tatsächlich Gefallen an dem Tanz zu finden und bemühte sich sichtlich, ihrer Anleitung zu folgen und sogar selbst den ein oder anderen ausschmückenden Schritt einzufügen. Die sprachlosen Dorfbewohner, die vermutlich äußert selten, wenn überhaupt einmal, von einer Gauklerin beehrt wurden, konnten dem sinnverwirrenden Reigen, den die weißhaarige Frau mit ihrem ungewöhnlichen Tanzpartner durch die eng stehenden Tische wob, bald kaum mehr folgen, und das, ohne irgendwo anzuecken. Irgendwie war es doch so etwas wie Zauberei.

Nach zwei Runden durch den Schankraum beendete Doratrava den Tanz mit einer letzten dramatischen Drehung und entließ den Rotschopf aus der Bewegung heraus in die Arme seiner Mutter, während sie selbst in der letzten Pose mit nach oben und zur Seite gereckten Armen verharrte. Wiederum breitete sich Totenstille im Raum aus, einen bangen Moment befürchtete Doratrava, zu weit gegangen zu sein. Doch dann klatschte der Junge aufgeregt in die Hände und rief „Mama, die Hexe kann toll tanzen, kann ich das auch lernen?“ Da stahl sich ein Lächeln auf die bisher sehr abweisenden Züge der jungen Wirtin und sie begann ebenfalls zu klatschen, und dann fielen auch die Dorfbewohner ein, ein paar pfiffen und johlten sogar. Das Eis war gebrochen.

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Einige Zeit später saß Doratrava mit der rothaarigen Wirtin an einem kleinen Tisch in einer Ecke. Ihren vorwitzigen Sohn hatte diese mittlerweile ins Bett geschickt, während die Gauklerin für die Leute noch ein paar Kunststücke zum Besten gegeben hatte. Einer hatte sogar eine kleine Flöte ausgepackt und darauf ein paar krude Lieder gepfiffen, doch das war gut genug gewesen, um auch noch einmal ein paar einfache Tänze auf den festgestampften Lehmboden zu legen. Einer der jungen Burschen hatte sich sogar getraut, sie um einen Tanz zu bitten. Da er sich eher schüchtern und unbeholfen angestellt hatte, war Doratrava auf das Ansinnen eingegangen. Sie hatte auch schon öfter erlebt, wie ein Möchtegern-Weiberheld vor seinen halbstarken Altersgenossen angeben wollte oder ein schleimiger, wohlhabender Wichtigtuer der Meinung war, ein Winken mit dem Geldbeutel wäre doch sicher etwas, dem eine kleine Gauklerin nicht widerstehen könne. Dann hatten diese Leute sie traviaungefällig bedrängt und betatscht, so dass ihr nichts als die Flucht geblieben war, so dass sie nun grundsätzlich vorsichtig und misstrauisch gegenüber Annäherungsversuchen reagierte. Zumal es Doratrava trotz der Tatsache, dass sie viel herumkam und viele Leute traf, immer noch schwer fiel, diese auf den ersten oder auch den zweiten Blick richtig einzuschätzen. Ein wenig neidisch dachte sie an Nedjima zurück, die Wahrsagerin einer Zahori-Truppe, mit der sie vor ihrem Abstecher nach Trallop eine Zeitlang unterwegs gewesen war. Ihr hatte meist nur ein kurzer Wortwechsel ausgereicht, dann hatte sie genau sagen können, ob sie einen Halsabschneider, eine diebische Elster, einen verschlagenen Schacherer oder eine schüchterne Stubenhockerin vor sich gehabt hatte. ‚Musst du gucken Leute tief in Augen und dann sie lasse erzählen, was wollen sie am meisten, dann du lernen viel‘, hatte Nedjima ihr einmal verschwörerisch geraten. Nun, wenn Doratrava jemandem aus nächster Nähe tief in die Augen sah, dann zuckten die einen erschreckt zurück, und die anderen vermuteten sofort rahjagefällige Motive, aber Geheimnisse hatte ihr noch niemand erzählt, also ließ sie es lieber bleiben.

Nun, der schüchterne Bursche war schüchtern geblieben, konnte sich aber nun rühmen, mit einer „weißen Hexe mit tiefblauen Augen“ getanzt zu haben. Nicht, dass sie ihm raten würde, überall damit anzugeben, denn zu viele Leute hatten keinen Humor oder glaubten zu fest an Praios oder, meistens, beides, aber das war seine Sache, nicht ihre. Dafür war sie mit der Wirtin, Jelride hieß sie, ins Gespräch gekommen, denn der übliche Lohn für Doratravas Darbietungen waren Kost und Logis, letzteres in der Regel im Stall, wenn einer vorhanden war. Münzen waren in diesem abgelegenen Bergdorf, das den Namen „Firnau“ oder „Fichtenruh“ oder so ähnlich trug, wie sie inzwischen aufgeschnappt hatte, nicht für sie abgefallen.

„Sag einmal“, fragte Jelride nach den durchaus freundlich verlaufenen Verhandlungen und dem ersten Bier, das zumindest den Durst stillte, „du bist doch sicher auf dem Weg zu dem großen Fest, das der Vogt und die Zwerge bei der neuen Jagdhütte ausrichten? Der großen Jagd, du weißt schon?“

Doratrava blinzelte zweimal. Fest? Jagd? Zwerge? Was hatte sie mit Zwergen zu schaffen? Sie runzelte die Stirn, während Jelride sie erwartungsvoll ansah. Ganz dunkel tauchten da ein paar Erinnerungsfetzen in ihrem Geist auf. Die Hochzeit in Hlûtharswacht, schon wieder … sie hatte nach einer ihrer Darbietungen mit einem Zwergen gesprochen, der sich ganz angetan von ihrer Kunst gezeigt hatte. Boran… Borindix… Borindax… irgendwie so hatte er geheißen und von einer großen Jagd an einem Ort namens Nilsitz im Ingerimm 1042 gesprochen, bei welcher sie herzlich willkommen wäre. „Äh, ja, natürlich, äh, wo finde ich denn Nilsitz?“ stotterte Doratrava etwas unbeholfen. Jelride lachte herzlich auf, Doratravas Befangenheit schien sie nicht zu stören. „Du bist schon längst da!“ stieß sie kichernd hervor. „Huch?“ entfuhr es Doratrava. „Wo ist denn dann das Fest?“ - „Nilsitz heißt die ganze Vogtei, das Fest findet aber dort statt, wo unser Vogt, seine Hochgeboren Borindarax, Sohn des Barbaxosch, eine alte Jagdhütte hat neu errichten lassen, tief in den Wäldern des Eisenwaldes.“ Borindarax – Borindarax – Borindarax, so hieß der Zwerg, hoffentlich konnte sie sich den Namen merken, bis sie ihn traf, das wäre ja sonst sehr peinlich. Warum mussten Zwerge nur so komplizierte Namen haben? Sohn des Dingsbums merkte sie sich sicherheitshalber erst gar nicht, sonst kam sie nur durcheinander. „Du musst dem Weg, der aus Firnruh hinausführt, nur immer weiter folgen“, fuhr die Wirtin fort, „und keinen der schmaleren Pfade nehmen, die gelegentlich davon abgehen, sonst wirst du dich nur im Wald verirren, weil du dich hier nicht auskennst. Und im Wald,“ Jelride beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem unheilvollen Flüstern, „da gibt es echte Hexen. Und Druiden. Und was sonst noch alles, wollen wir gar nicht wissen. Die Leute hier bewirtschaften den Boden und ein kleines Stück des Waldes rings um das Dorf, aber tiefer hinein in die Waldwildnis traut sich niemand, außer ein paar Köhlern, aber die sind meist sowieso verrückt.“

Doratrava nickte bedeutungsschwanger. Zwar hielt sie das alles für Aberglaube, aber die Bewohner solch abgelegener Dörfer reagierten erfahrungsgemäß verschnupft, wenn man sie dies merken ließ. Die Gauklerin wollte die neugewonnenen zaghafte Freundschaft nicht gleich wieder aufs Spiel setzen. „Hab vielen Dank für die Beschreibung und die Warnung, das hilft mir sehr.“ Auf einen plötzlichen Impuls hin fuhr sie fort: „Tatsächlich bin ich zu dem Fest des Bo...Borindarax? eingeladen, aber ich hatte es völlig vergessen. Die Götter wollen aber ganz offensichtlich, dass ich daran teilnehme, sonst wäre ich jetzt nicht hier. Aber ich habe meine ganze Ausrüstung im Traviatempel von Twergenhausen zurückgelassen, weil ich die eh kaum hier herauf gebracht hätte. Was mache ich nun bloß?“

Jelride lachte erneut herzlich. „Ach, das wird sich schon ergeben, ihr Gaukler seid doch ein findiges Völkchen.“ Dann lehnte sie sich erneut verschwörerisch nach vorne. „Ich mache dir einen Vorschlag: du hast Sumin heute eine große Freude bereitet und damit auch mir. Erfülle ihm seinen Wunsch und lehre ihn ein paar Tage das Tanzen, dann habe ich vielleicht etwas für dich.“ Mit diesen Worten spuckte sie in die rechte Hand und streckte sie Doratrava entgegen. Diese fackelte nicht lange und tat es Jelride gleich, dann schüttelten die beiden Frauen sich die Hände. Irgendwie hatte sie ein gutes Gefühl bei der Rothaarigen, und tief in die Augen hatten sie sich jetzt auch schon öfter gesehen, ohne dass Doratrava etwas Schlechtes bemerkt hätte.

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Die Nacht verbrachte Doratrava wie schon erwartet und trotz des sich gut anlassenden Verhältnisses mit Jelride in einem Stall, zusammen mit ein paar der Tiere des Dorfes. Obwohl sie solcherart Unterbringung mehr als gewöhnt war, schlief sie schlecht. Das gelegentliche Muhen der beiden Kühe riss sie öfter aus dem leichten Dämmerschlaf, zudem war sie nun etwas nervös wegen diesem Fest in Nilsitz, nein, bei dieser Jagdhütte. Da würde sicher wieder ein ganzer Sack voll verwöhnter Adliger anreisen, möglicherweise sogar welche, die sie bei der Hochzeit gesehen hatten, wo sie zu Hochform aufgelaufen war, aber auch genug Zeit gehabt hatte, etwas vorzubereiten und sich ein Kostüm auszudenken. Doch weil sie mal wieder alles vergessen hatte, musste sie nun wahrscheinlich improvisieren. Aber wie? Mit nichts improvisierte es sich schlecht, und sie hatte weder viel Geld dabei, noch gab es hier in erreichbarer Nähe einen Ort, wo man sich für Geld hätte etwas kaufen können. Ob Jelride ihr helfen konnte? Am Abend hatte sie impulsiv wie immer dem „Geschäft“ zugestimmt: Tanzunterricht für Sumin gegen „etwas“. Irgend etwas hatte sie davon abgehalten zu fragen, was denn genau Jelride für sie hätte, und dabei würde es nun auch bleiben, bis es soweit war. Doratrava fand das irgendwie spannend, andererseits konnte sie auf diese Weise leider ihre Befürchtungen nicht besänftigen, wo sie wohl ein angemessenes Kleid oder Kostüm herbekommen sollte … und erlesene Teppiche … und ein paar Stangen … na ja, Holz gab es hier und bei der Jagdhütte sicher genug, das war sicher nicht das Problem. Ihr Geist formte ganz ohne ihr bewusstes Zutun schon wieder Gedanken und Pläne, welcher Art ihr Auftritt vor der Festgesellschaft sein könnte, statt sich auszuruhen. Widerborstiges Ding, ihr Geist, sollte lieber schlafen, sonst würde sie morgen sehr müde Tanzstunden geben müssen.

Gegen Morgen fiel Doratrava dann endlich in einen unruhigen Schlummer, den nicht einmal die Kühe zu unterbrechen vermochten. Wenn die Gauklerin nach dem Aufwachen auch wirre Erinnerungen an eine wilde Hatz durch einen Wald hatte, begleitet von Jagdhörnern, welche verdächtig nach Rindvieh klangen …

Zum Frühstück war Doratrava der einzige Gast, dazu noch ein früher, denn sonderlich bequem war das Strohlager nicht gewesen, und die „Jagdhörner“ hatten auch nicht dazu beigetragen, sie lange nach Sonnenaufgang noch schlafen zu lassen, trotz ihrer Müdigkeit. So fühlte die Gauklerin sich nun rechtschaffen zerschlagen, während sie Milch und ein wenig Dünnbier trank und dazu hartes Brot und scharfen Käse aß. Immerhin gehörte zu ihrer „Anstellung“, dass Essen und Schlafen umsonst waren. Jelride werkelte in der Küche, sie tauschten zunächst ein paar freundliche Belanglosigkeiten aus. Immerhin erfuhr Doratrava im Laufe des Gesprächs, dass ihr Mann Holzfäller gewesen war, doch vor einigen Monden Opfer seiner Arbeit geworden war, als ein fallender Baum ein Eigenleben entwickelt hatte und entgegen jeder Erfahrung gefallen war. Ende der Geschichte. Jelride mochte nicht mehr dazu sagen, wenn sie auch erstaunlich gelassen blieb bei diesem Thema. Zum Glück war sie keine Leibeigene und führte sie die Gaststube, damit konnte sie sich auch ohne den Verdienst ihres Mannes einigermaßen über Wasser halten, ohne gleich nach einem neuen Lebensgefährten Ausschau halten zu müssen. Wobei es Angebote gab, schon, aber viele waren es nicht. Ihre roten Haare, und die ihres Sohnes, halfen nämlich nicht wirklich. Bei den knapp vier Dutzend Bewohnern von Firnruh war sie bekannt und beliebt und ihr Wort hatte Gewicht, doch hier war gerade kein Mann auf Brautschau. Die Leute aus den Nachbardörfern kannten Jelride nicht so gut, und von den eigenen Dörflern war ihr schon zugetragen worden, dass man hier und da darüber tuschelte, ob die Hexe nicht Schuld am Tod ihres Mannes war – und mit „Hexe“ war natürlich sie selbst gemeint. Das war wohl auch der Grund, wieso Sumin, der übrigens erst sieben war, aber sehr groß für sein Alter, ganz der Vater, am gestrigen Abend überhaupt Doratrava auf diese Weise angesprochen hatte, denn auch er bekam Dinge mit, Jelride konnte das leider nicht verhindern.

In diesem Moment kam eben jener Junge in die Gaststube gestürmt. „Doradora, können wir jetzt tanzen? Jetzt gleich? Bittebittebitte!!!“ Aha, Jelride hatte ihm offensichtlich schon von seinem Glück berichtet. Seufzend und lächelnd zugleich erhob sich Doratrava vom Frühstückstisch, ohne überhaupt auf die Verballhornung ihres Namens einzugehen. Ein letzter Schluck Dünnbier, dann ging es ans Werk: Tanzunterricht für einen begeisterten, aber ahnungslosen Wirbelwind mit roten Haaren!

Jelride hatte auf Doratravas Bitte hin Platz im Schankraum geschaffen, indem sie Tische und Bänke beiseite geräumt hatte. Draußen regnete es heute, deshalb zog die Gauklerin es vor, ihren neuen Schüler hier drinnen zu unterrichten. Sie begann mit den einfachsten Tanzschritten des Paartanzes und zeigte dem Jungen auch die richtige Haltung des Körpers und der Hände. Anfangs machte Sumin auch begeistert mit, aber als er langsam feststellte, dass Tanzunterricht in Arbeit ausarten konnte, und das nicht nur für die Lehrerin, begann er abzuschweifen und Doratrava immer mehr Fragen zu stellen. Erst ganz harmlose, wo sie herkam und wo sie schon gewesen war, dann aber zunehmend schwerer zu beantwortende: „Warum bist du so weiß?“ - „Warum hast du spitze Ohren?“ - „Warum sind deine Augen braun, waren die gestern nicht noch blau?“ - „Kann ich auch lernen, eine Hexe zu sein?“ Da fand Doratrava es an der Zeit, eine längere Pause einzulegen.

Sie nahm eine Kleinigkeit zu sich und überlegte, doch viel Muße hatte sie dazu nicht. Jetzt, um die Mittagszeit, kamen ein paar der Dorfbewohner vorbei, die ebenfalls bei Jelride ihr Mittagsmahl einnahmen. Man grüßte sie erst ein wenig scheu, aber dann wurde Doratrava doch bald aufgefordert, für ein wenig Unterhaltung zu sorgen. Wenn man schon mal eine Gauklerin mehr oder weniger für sich allein hatte …

Doch irgendwann machte sich Doratrava seufzend wieder auf die Suche nach ihrem Schüler, entschlossen, ein paar Dinge klarzustellen. Als sie Sumin also endlich gefunden hatte, draußen im Stall und deutlich angefeuchtet durch den Regen, was ihn nicht weiter zu stören schien, hieß sie ihn mit ernster Miene, sich auf einen Strohballen zu setzen. „So, Sumin“, begann sie, „was denkst du, was Hexen so den ganzen Tag machen?“ Der Junge sah sie ein wenig verwirrt an, zumal Doratravas Stimme durchaus streng geklungen hatte. „Äh, ich weiß nicht? Leute verhexen?“

„Hast du schon mal eine Hexe gesehen?“

„Äh … dich?“

Aha. Nun gut, so wurde das nichts. Frustriert warf Doratrava die Arme in die Luft. „Also, jetzt hör mal zu: ich bin keine Hexe, ich habe keinen Besen und auch keine Kröte und schon gar keine roten Haare ...“ Sie hielt inne und biss sich auf die Lippen, denn plötzlich füllten sich die Augen des Kleinen mit Tränen, dann brach es aus ihm heraus: „Du also auch! Ich hasse dich! Alle Fremden sagen, Mama wäre eine Hexe, nur weil sie rote Haare hat, und wenn wir mal in einem anderen Dorf sind, will keiner mit mir spielen, weil ich auch rote Haare habe und der Sohn der Hexe bin, und wenn Mama irgendwo auf einem Markt was kaufen will, dann muss sie immer mehr bezahlen, weil wenn sie gut verhandelt, sagen die Leute, sie hätte sie verhext, und manchmal kommen heimlich Leute von woanders, die Hilfe von Mama wollen, weil sie eine Hexe ist, und wenn sie dann sagt, dass sie nicht helfen kann, dann beschimpfen diese Leute Mama ganz schlimm und ...“ Schluchzend brach Sumin ab, drehte sich um und rannte davon.

Doratrava raufte sich die Haare. Da hatte sie ja was Schönes angerichtet, dabei hatte sie dem Jungen doch eigentlich nur beibringen wollen, dass sie eben keine Hexe war und es auch besser war, vor anderen Leuten so etwas nicht auszusprechen, denn manche bekamen das in den falschen Hals, gelinde gesagt. Aber es half nun alles nichts, sie sprang auf und rannte hinaus in den Regen, der nicht schwächer geworden war, um Sumin wieder einzufangen. Nicht, dass im noch was passierte, denn der Regen hatte draußen alles in glitschigen Matsch verwandelt, zudem ragten überall Steine aus dem Boden, und der nahe Wald sah in diesem Wetter noch weniger einladend aus als bei Sonnenschein. Verdammt, wo war der Bengel hin?

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Da! Im Matsch waren schwach ein paar Spuren zu sehen, frisch, da der Regen sie bereits wieder wegwusch. Überhaupt, der Regen, der war mittlerweile ganz schön heftig geworden, auch der Wind hatte merklich aufgefrischt, und war das eben nicht ein ferner Donner gewesen? Doratrava hatte sich bisher nie sonderlich um das Wetter gekümmert, da sie noch gar nicht so lange allein unterwegs war, meist waren da andere besser darin gewesen. Aber sie erinnerte sich dunkel, davon gehört zu haben, dass in den Bergen das Wetter besonders schnell umschlagen konnte. Nun, so richtig gebirgig war es hier ja noch gar nicht, aber ob das das Wetter auch wusste?

Sie schüttelte energisch den Kopf und rannte den Spuren hinterher, solange sie diese noch erkennen konnte. Kurz vermeinte sie, hinter sich Jelride ihren Namen rufen zu hören, aber Doratrava kümmerte sich nicht darum. Erst den Jungen finden, zumal, wenn ein Unwetter drohte, dann weitersehen.

Mittlerweile war sie selbst schon komplett durchweicht, doch das fiel Doratrava nur am Rande auf. Das sparte schon das Waschen der Kleidung, was sie sich eigentlich für ihren Aufenthalt hier vorgenommen hatte. Plötzlich rutsche ihr linker Fuß auf einem glitschigen Stein weg, nur mit Mühe und dank ihrer „berufsbedingten“ Körperbeherrschung konnte sie einen Sturz verhindern, wenn auch ein scharfer Schmerz durch den Oberschenkel fuhr. Das hatte sie davon, wenn ihr Geist mal wieder auf Abwegen war, statt sich auf das Wesentliche zu konzentrieren! Doratrava biss die Zähne zusammen und ignorierte den Schmerz und auch die Gedanken daran, wie sie wohl Tanzunterricht halten sollte mit einer ordentlichen Zerrung im Oberschenkel.

Sumin war nichts Besseres eingefallen, als geradewegs in den Wald zu laufen. Hatten die Dorfbewohner nicht davon erzählt, dass man sich nicht zu weit vom Dorf entfernen sollte, weil es im Wald allerlei Unheimliches geben sollte? Bei diesem Wetter schien Doratrava das nicht mehr nur Aberglaube zu sein, just in diesem Moment erhellte ein Blitz die Wolken über ihr, kurz darauf folgte ein mächtiger Donnerschlag, der sie zusammenzucken ließ. Dieses Wetter musste Sumin doch zur Vernunft bringen!

Die Gauklerin tauchte ein in das Zwielicht unter den Bäumen. Der Regen klang hier gedämpft, aber da er schon eine Weile anhielt, hatte er bereits den Weg durch das dichte Blätterdach gefunden, so dass es hier nicht wirklich trockener war als beim Dorf, es sei denn, man suchte die Nähe eines Stammes. Leider war es hier so dämmrig, dass Doratrava kaum den Boden sehen konnte, der dazu auch nicht so matschig war, so dass Sumins Spuren sich verloren. Sie war ja auch keine Jägerin, die sich mit so etwas auskannte, verdammt! Sie rannte jetzt einfach weiter in die Richtung, in die die Spuren vorher gewiesen hatte. Weit konnte der Junge doch eigentlich gar nicht sein, er hatte kaum Vorsprung gehabt und Doratrava konnte sich rühmen, sehr flink auf den Füßen zu sein, zumindest ohne Zerrung, welche sich beim Gedanken daran sogleich wieder unangenehm bemerkbar machte.

Scharf sog sie die Luft ein und konzentrierte sich erneut aufs Laufen. Rufen hatte wohl keinen Sinn, der Regen fiel laut prasselnd von den Blättern, welche von heftigem Wind gezaust wurden, dazu zerriss nun häufiger ein Donnerschlag die Luft.

Doch es gab hier keinen Weg. Äste und Dornen zerrten an ihrer Kleidung und an ihren langen Haaren, da verfing sich ihr Fuß in einer Wurzel. Diesmal half alle Übung nichts, kopfüber stürzte sie zu Boden, der Aufprall trieb ihr die Luft aus den Lungen, zu allem Übel begann hier auch noch ein Abhang, den Doratrava nun hilflos hinunterkullerte, bis ein weiterer harter Aufprall sie stoppte. Benommen blieb sie liegen, während ihr Geist völlig unbeteiligt feststellte, dass den Schmerzen nach kein Körperteil während des Sturzes verloren gegangen war.

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Von den Blättern eines Baumes über ihr fielen nasse Tropfen auf Doratravas Gesicht. Mit weit offenen Augen sah sie diesen entgegen, sah einen nach dem anderen fallen, als hätte Satinav den Lauf der Zeit verlangsamt, bis sie aufspritzend und mit einem kleinen, kalten Stich ihr Gesicht trafen. Ihr Körper war fern, nur sehr dumpf war sie seiner gewahr, was ihr im Moment ganz recht war, denn irgendwie war ihr klar, dass er sie mit nicht unerheblicher Pein überfallen würde, sobald sie in ihn zurückkehrte. Warum nochmal lag sie hier, nass, klamm, ein grünes, tropfendes Blätterdach über sich?

Da drang eine dunkle, kräftige Stimme in ihre trägen Gedanken. „Na na, kleine Fee, warum so stürmisch?“ Seltsam, die Worte rollten ebenso träge über sie hinweg wie die Tropfen fielen, als hätte sich der Sprecher absichtlich ihrem Rhythmus angepasst. Doratravas Blick ruckte zur Seite, dann stöhnte sie schmerzerfüllt auf. Die Stimme hatte ihren Geist zurück in ihren Körper gezwungen und den Lauf der Zeit wieder zurechtgerückt, Doratrava vermeinte nun jede Faser ihres Körpers aufschreien zu spüren. Tränen schossen ihr in die Augen, doch dann war die erste Welle vorbei und sie erblickte über sich einen … Mann … eher eine Riesen? Zwei Schritt maß er mindestens, Beine wie Baumstämme, Arme wie dicke Äste, vor der breiten, haarigen Brust verschränkt, so stand er über ihr. Seine dunklen Haare waren lang und wirr und zottelig, er trug einen ebenso langen, wirren und zotteligen dunklen Bart. Den Oberkörper bedeckte ein einfaches, bis zum Bauchnabel offenes Hemd von undefinierbarer Schlammfarbe, so dass Doratrava einen nahezu unverstellten Ausblick auf üppig wucherndes Brusthaar, eher fast schon einen Pelz, genießen durfte. Die muskulösen Beine steckten in einer ebenso einfachen und ebenso undefinierbar gefärbten Hose, welche von einem bloßen Strick zusammengehalten wurde, die Füße waren unbedeckt. Irgendwie erschien Doratrava diese Gestalt so, als wäre sie hier an dieser Stelle aus dem Boden gewachsen, auch schien das Wasser an ihr abzuperlen. Sie blinzelte die Tränen und das Regenwasser fort, mit mäßigem Erfolg, und versuchte in die Gegenwart zurückzufinden. Sumin! Sie suchte Sumin!

„So schweigsam, kleine Fee? So allein im Wald bei diesem Wetter?“ Der Mann sprach wirklich sehr langsam und grollend, aber nicht unfreundlich, wie Doratrava fand – oder sich einbildete. Was meinte er aber mit „kleiner Fee“? Wobei, im Gegensatz zu diesem Berg von Kerl wirkte sie wahrscheinlich tatsächlich feenhaft-ätherisch, insofern konnte sie die Wortwahl nachvollziehen und verdrängte weitere Gedanken daran. Sumin war nun wichtig.

Doratrava stützte sich auf den weniger schmerzenden linken Arm und versuchte dich irgendwie aufzurichten. Der Riese streckte daraufhin kurzerhand eine seiner (ebenfalls dicht behaarten, wie sie unwillkürlich feststellte) Pranken aus und stellte sie ohne weiteres Federlesen auf die Beine, als wäre sie eine gewichtslose Puppe. Fast knickte sie wieder ein, so dass sie sich an dem stützenden Arm festhalten musste, doch dann machte sie einen unsicheren Schritt zurück, um dem Riesen besser ins Gesicht sehen zu können. Den scharfen Schmerz, der durch ihren linken Knöchel fuhr, konnte sie gerade so zurückdrängen. „W...wer bist du? Hast du einen Jungen mit roten Haaren gesehen? Den suche ich nämlich … ?“ Ihre Stimme zitterte ein wenig, was bestimmt auf die Kälte und den Schock des Sturzes zurückzuführen war.

Der Riese blickte sie mit kleinen Augen an, welche fast unter seinen dunklen, buschigen Augenbrauen verschwanden. Dann verzog sich sein breiter Mund zu einem leichten Lächeln. „Arbosch. Ja. Gut.“

Doratrava blinzelte erneut, sowohl wegen des Regens und der Tränen, welche die nächste Schmerzwelle ihr aus den Augen trieb, als auch um Zeit zu gewinnen, die drei Worte sinnvoll zu interpretieren. Dann ging ihr auf, dass jedes Wort die Antwort auf eine ihrer zweieinhalb Fragen gewesen war. „Äh … gut? Gut! Wo ist er? Ich muss ihn zurück ins Dorf bringen, zurück zu seiner Mutter!“ Nicht zuviel nachdenken, das Wichtigste zuerst.

„Hmmmm… komm.“ Damit drehte sich Arbosch um und stapfte tiefer in den Wald. Er machte keine Anstalten, sich zu vergewissern, dass Doratrava ihm folgte. Schon wieder verblüfft und aus dem Gleichgewicht gebracht humpelte sie ihm hinterher, was sich durchaus als fordernd erwies, hatte der Riese doch fast die doppelte Schrittlänge wie sie selbst, außerdem tat ihm vermutlich nichts weh und Regen, Kälte, Wurzeln, Zweige und Dornen schienen ihm nichts auszumachen.

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Keine Geräusche waren zu hören außer dem Prasseln des Regens und dem Rauschen des Windes in den Baumwipfeln, gelegentlich mischte sich noch ferner Donner in das Geräuschensemble. Das Gewitter war zum Glück ein Stück weit entfernt vorbei gezogen und hatte sie nicht direkt getroffen. Das Dorf Firnruh schien Doratrava nun ewig weit entfernt zu sein, von der Umgebung her könnte sie nun irgendwo in Aventurien unterwegs sein, wo es Mischwald gab und Regen und Nässe und Kälte - und einen Riesen, der ihr den Weg bahnte. Dumpfer Schmerz verdrängte weitergehende Überlegungen, als sie sich mühte, dem Waldschrat – den sie für sich nun so nannte, auch wenn sie noch nie einen leibhaftigen lebenden Baum gesehen hatte – zu folgen.

Plötzlich blieb Arbosch stehen, was Doratrava nicht gleich bemerkte und deswegen gegen seinen Rücken prallte, der sich wahrhaftig eher wie die Rinde eines Baumes anfühlte und sich keinen Fingerbreit bewegte. „Was … ?“ setzte sie an, doch Arbosch legte einen Finger vor die Lippen und deutete mit dem Arm voraus „Schhhh!“

Vor ihnen breitete sich eine Lichtung aus, nein, ein großer Platz mitten im Wald, von einer riesigen Eiche dominiert, welche ihre Äste weit in alle Richtungen streckte und so einen Freiraum rings um ihren Stamm geschaffen hatte, wo nur niedriges Buschwerk zu wachsen imstande war. Aufgrund des dichten Blätterdachs war es hier einigermaßen trocken. Direkt am Stamm saß Sumin, offenbar in Gedanken versunken, und schnitzte mit einem kleinen Messer an einem Stock herum. Immerhin weinte er nicht mehr, aber warum war er hierher gelaufen, noch dazu bei diesem Wetter? Tat er das wohl öfters? Er sah nicht so aus, als würde er sich fürchten oder sonst etwas für ihn Ungewöhnliches tun.

„Sei vorsichtig“, grollte da eine Stimme erstaunlich leise neben Doratravas Ohr. „Sonst erschrickt er und läuft wieder weg. Das wäre nicht gut.“ Doratrava sah ein wenig zweifelnd zu Arbosch nach oben. Was wusste denn der Waldschrat, was gut für den Jungen wäre? Doch sie sah nur ein zerfurchtes, bärtiges, aber gütiges Gesicht und konnte keine Arglist erkennen; nicht, dass sie gut in so etwas gewesen wäre, schon gar nicht bei Waldschraten. Sie schüttelte den Kopf, nicht zuletzt, um ihren Geist von erneuten Wanderungen auf Abwegen abzuhalten, und konzentriert sich auf den Jungen. Der hatte noch keine Notiz von seinen Beobachtern genommen und schnitzte weiter an seinem Stock.

Spontan machte Doratrava drei Schritte nach vorne, auf den Platz unter den ausholenden Ästen der Eiche hinaus. Mit aller Willensanstrengung unterdrückte sie die Schmerzen in ihren Gliedern und begann einen lautlosen Tanz, ganz so wie am gestrigen Abend in der Gaststube, doch diesmal unbehindert von Tischen und Bänken. Wie durch ein Wunder waren auch die zahlreichen niedrigen Büsche kein Hindernis für ihre anmutigen Bewegungen, mit welchen sie sich dem Jungen näherte und sodann ein Netz aus ausdrucksvollen Tanzschritten um ihn wob, allein, um ihn zu beruhigen und an diesen Ort zu bannen.

Im ersten Moment erschreckt fuhr Sumin hoch, dann entfuhr ihm ein leises „Doradora ...“, während er mit großen Augen ihren kunstvollen Bewegungen zusah, während Stock und Messer nach unten sanken. Zum Glück konnte er nicht beurteilen, wie schwer Doratrava diese Bewegungen fielen, wie sehr sie sich mühen musste, die Schmerzen zu unterdrücken, wie sehr ihre Kunst eigentlich darunter litt. Doch für einen Jungen aus einem Dorf weitab jeder großen Stadt erblühte ihr lautloser Tanz dennoch wie eine nie gesehene Rosenblüte nach einem magischen Frühlingsregen.

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Schließlich und nicht zuletzt, weil sie bald nicht mehr konnte, verneigte sie sich formvollendet vor ihrem jungen Bewunderer und streckte die Hand nach ihm aus. „Komm mit mir, Sumin, zurück ins Dorf und zu deiner Mutter“, lockte die Gauklerin mit leiser, samtiger Stimme. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen.“

Da grinste sie der freche Bengel plötzlich unvermittelt an. „Schon vergessen. Gibst du mir noch mehr Unterricht, wenn ich mit dir zurückkomme?“ Innerlich verdrehte Doratrava die Augen. Sie war erschöpft und – im wahrsten Sinne des Wortes – zerschlagen und sie mussten nun ein ganzes Stück zurück zum Dorf gehen, erneut im Regen und über nassen Stock und glitschigen Stein. Vielleicht konnte Arbosch ihnen helfen? Sie sah sich nach dem Riesen um, doch rings um die Lichtung mit der Eiche stand der Wald vom Regen abgesehen still und schweigend und unbewegt, es war niemand zu sehen. „Äh … Arbosch?“ rief Doratrava etwas zaghaft. Dann drehte sie sich zu Sumin um. „He, hast Du gesehen, wo Arbosch hin ist?“

„Wer ist Arbosch?“ fragte der Junge verständnislos.

„Na der Riese, mit dem zusammen ich hergekommen bin!“ Doratrava kniff die Augen zusammen. Sumin schien ehrlich verblüfft zu sein, das war kein Spiel.

„Riese? Du bist doch ganz allein, also, auch, als du mich gefunden hast, da war niemand sonst!“ Jetzt blinzelte der Junge ein, zweimal. „Doradora, du bist ja verletzt!“ rief er dann ganz aufgeregt. „Du blutest ja! Was ist denn mit dir passiert?“

Doratrava wurde auf einmal schwindlig. Die Worte des Jungen riefen ihr die Verletzungen, welche sie sich bei seiner Verfolgung zugezogen hatte, wieder überdeutlich ins Gedächtnis. Und das mit Arbosch, das hatte sie sich doch nicht nur eingebildet? Hatte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen, so dass sie Wahnvorstellungen hatte? Zaghaft betastete sie selbigen, doch dieser schien im Gegensatz zu ihrem restlichen Körper glimpflich davongekommen zu sein. Dennoch wurde ihr für einen Moment schwarz vor Augen, so dass sie sich schwer auf den Jungen stützte, dann verflog die Schwäche so schnell, wie sie gekommen war. Nur der Schmerz blieb.

„Dora? Was ist denn?“ Sumins Stimme klang nun besorgt und ängstlich.

Die Gauklerin schüttelte den Kopf. „Nichts, es geht schon. Ja, ich bin gestürzt, als ich dich gesucht habe.“ Sie wischte sich mit der Linken über die Vorderseite ihres einfachen Hemdes. Das hatte sie heute Morgen angezogen, um ihr auffällig kariertes Obergewand für ihre Aufführungen zu schonen. Sie zuckte zusammen, spürte klebriges Blut an den Fingern und einen breiten Riss. Offenbar war sie in einen abstehenden Zweig oder Ast gefallen, welcher sich durch das Kleidungsstück und auch ein Stück ihrer Haut gebohrt hatte. Allerdings war die Verletzung wohl eher oberflächlicher Natur, sonst wäre sie kaum zu ihrem Kleine-Jungen-Betörungstanz in der Lage gewesen.

Doratrava sah sich ein letztes Mal verstohlen nach Arbosch um, wenn es ihn denn wirklich gegeben hatte und er wirklich so hieß, dann nahm sie Sumin bei der Hand und machte sich mit ihm auf den Rückweg nach Firnruh. Mehrfach drehte sie sich um, weil sie sich beobachtet fühlte, doch da war nichts, nichts außer Bäumen.

Der Weg war beschwerlich, aber nun, da sie nicht mehr wie von Sinnen rannte, durchaus zu bewältigen. Allerdings schätzte sie die Strecke bis zum Dorf auf mehrere Hundert Schritt „Hexenflug“, um beim Thema zu bleiben, wie ihr schadenfroher Geist ihr einflüsterte. Ihr war immer noch schleierhaft, wie der Junge es geschafft hatte, ohne nennenswerten Vorsprung so weit zu kommen, bevor sie ihn hatte einholen können, und das nicht mal aus eigener Kraft, falls Arbosch real gewesen war.

Da hörte die Gauklerin eine Stimme, die ziemlich aufgewühlt klang. „Sumin! Sumin! Doratrava! In Travias Namen, wo seid ihr?“ Das war eindeutig Jelride, welche inzwischen ihre Abwesenheit bemerkt hatte und sich nicht unerhebliche Sorgen machte, so, wie sie klang. „Hier!“ rief Doratrava keuchend zurück. „Ich habe Sumin gefunden!“

Einen Augenblick später lagen sich Mutter und Sohn glücklich in den Armen, während Doratrava erneut schwarz vor den Augen wurde. Ihr Knöchel schmerzte niederhöllisch, ihre Seite brannte wie Feuer, die rechte Schulter fühlte sich an, als wäre sie von einem Felsbrocken getroffen worden, und das Wasser, welches ihr über das Gesicht lief, war nicht nur Regen. So bekam Doratrava gar nicht mit, dass Jelride sie nach dem ersten Schock der Erleichterung böse anfunkelte und schon zu einer Schimpftirade ansetzte, die sich gewaschen hatte. Doch dann weiteten sich Jelrides Augen, als die Beine der Gauklerin unter dieser wegknickten, so dass sie unwillkürlich einen Schritt nach vorne machte, um die zum Glück nicht übermäßig schwere Gestalt der jungen Frau aufzufangen, bevor sie zu Boden fiel. „In Travias Namen, wer hat dich denn so zugerichtet?“ rief sie, halb zu der mehr als benommenen Gauklerin und halb zu Sumin gewandt.

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Peinlich berührt über ihren erneuten Schwächeanfall versuchte sich Doratrava halbherzig aus dem Griff der Wirtin zu befreien, während Sumin aufgeregt Erklärungen abgab: „Niemand! Also, Dora hat gesagt, sie ist hingefallen, um mich zu suchen, oder so, und da war sie mit einem Riesen zusammen, und dann haben sie mich, also, Dora hat, der Riese war nicht da, ich hab‘ zumindest keinen gesehen, mich gefunden ...“

Jelride, welche keine Anstalten machte, den Befreiungsversuchen Doratravas nachzugeben, schüttelte energisch den Kopf. „Halt! Sumin, von Anfang an und der Reihe nach!“ Mittlerweile sammelten sich auch eine Handvoll neugierige Dorfbewohner um die Szene, die gerade nichts Besseres oder plötzlich in der Nähe zu tun hatten.

Angestrengt zog Sumin die Brauen zusammen, dann begann er zaghaft: „Dora ist in den Stall gekommen und hat mich Sachen gefragt …“ Sein Blick streifte unsicher die umstehenden Leute, bevor er fortfuhr. „Das hat mir nicht gefallen, also …“ Der Junge hielt inne, weil sich das Gesicht seiner Mutter verfinsterte und ihr Griff offenbar fester wurde, denn Doratrava stöhnte plötzlich auf. „Neinneinnein, Dora kann glaube ich nichts dafür, es ist nur wegen meine Haare gewesen, sie konnte ja nicht wissen … auf jeden Fall bin ich weggelaufen, in den Wald, du weist schon, zu der großen Eiche, wo ich immer spiele ...“

„Sumin!“ unterbrach ihn seine Mutter streng. „Du sollst nicht allein so weit weg vom Dorf spielen, das weißt du genau! Noch dazu bei so einem Wetter!“

„Ja, Mama“, flüsterte Sumin eingeschüchtert, um dann wieder etwas lauter zu werden. „Bei der Eiche habe ich ganz vergessen, wieso ich weggelaufen bin und dass … na ja, auf jeden Fall kam Doratrava dann ganz bald und hat für mich getanzt, aber da war sie schon so dreckig und hat geblutet und gesagt, sie ist mir nachgerannt und dabei hingefallen und hat sich schlimm weh getan, und dann sind wir aber zurück hierher gekommen, ich konnte sie ja nicht blutend im Wald lassen … ?“ Nach Bestätigung heischend sah Sumin hoch zu seiner Mutter.

‚So war das also‘, dachte Doratrava, immer noch halb benommen, aber irgendwie amüsiert. ‚Kleiner Angeber, du wirst es noch weit bringen!‘

„Und was war das mit dem Riesen?“ fragte Jelride streng.

„Äh, ich weiß nicht … Dora hat gesagt, sie hat einen getroffen, aber ich habe keinen gesehen.“

Jelride sah Sumin einen Augenblick an, aber offenbar war die Geschichte zu Ende. „Also gut. Geht ins Haus, such dir trockene Sachen und warte auf mich. Mit Tanzen wird das heute wohl nichts mehr, deine Lehrerin sieht ein wenig kaputt aus!“ Die Wirtin sah sich um. „Leute! Das Schauspiel ist vorbei. Habt ihr nichts zu tun?“ Mehr oder weniger verlegen trollten sich die Dorfbewohner und nahmen ihre Tätigkeiten wieder auf, ein paar ließen es sich aber nicht nehmen, miteinander zu tuscheln und Doratrava schräge Blicke zuzuwerfen.

„Nun zu Dir“, wandte Jelride sich an die Gauklerin. „Hör schon auf zu strampeln, ich werde dich nicht fressen – noch nicht! - aber wenn ich dich loslasse, fällst du wahrscheinlich um. Pass auf, ich bringe dich rein, du legst dich auf eine Bank, und ich sehe mal nach deinen Wunden.“ Doratrava machte schon wieder Anstalten, sich zu befreien, doch Jelride blieb hart. „Keine Widerrede. Und aufhören zu strampeln, sagte ich! Du bist ja widerborstiger als Sumin, und das will was heißen!“

Doratrava dachte nicht daran, sich wie einen nassen Sack herumschleifen zu lassen. Sie spürte ihre Kräfte zurückkehren, wenn auch der Schmerz noch immer allgegenwärtig war, doch da fiel ihr Blick auf Jelrides Gesicht. Diese sah sie plötzlich ganz seltsam an, das kannte sie nur … von einem Mann, der versucht hatte, sie zu küssen, auch wenn sie nicht wollte. Erschreckt zuckte sie zurück und erschlaffte, wobei sie weiteren Blickkontakt vermied. Sie hatte sich doch sicher getäuscht!

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„So ist es gut“, raunte Jelrides Stimme sehr dicht an Doratravas Ohr, während sie diese durch den Schankraum in ein angrenzendes kleines, recht dämmriges Zimmer führte oder vielmehr eher trug. Die Gauklerin verbat sich, irgend eine Bedeutung aus dem Tonfall heraushören zu wollen. Sie versuchte, weiterhin einen kraftlosen und nachgiebigen Eindruck zu erwecken, gleichzeitig aber ihre Muskeln anzuspannen, um bereit für einen Ausbruchsversuch zu sein, sollte dies nötig werden. Allerdings entlockte ihr das ein erneutes Stöhnen, als ihre aufgerissene Seite heftig dagegen protestierte.

„Keine Sorge,“ flüsterte Jelride, „leg dich da hin, ich hole etwas zum Waschen und Verbandszeug. Ich bin so etwas wie die Heilerin hier im Dorf, und Sumin hält mich gut in Übung, was das angeht.“ Mit diesen Worten drückte sie Doratrava auf eine mit einem Fell bespannte Holzbank, welche unter dem Fenster des kleinen Raumes stand. Es roch ein wenig muffig, als wäre der Raum schon eine Weile nicht mehr betreten oder gelüftet worden. Jelrides kräftige, aber recht schlanke Hände verweilten ein wenig zu lange auf Doratravas Schultern für deren Geschmack, und als die Wirtin endlich losließ, strich sie wie durch Zufall über den Ansatz der kleinen Brüste der Gauklerin, um dann den Raum schnellen Schrittes zu verlassen. Doratrava wurde es heiß und kalt, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr erster Impuls war, aufzuspringen und aus dem Dorf zu flüchten, doch dann hätte sie ihre Tasche und ihr Gauklergewand zurücklassen müssen, also beherrschte sie sich notgedrungen und dachte nach. In „Rahjadingen“ war sie nicht gut, wenn sie nur daran dachte, wie Herdbrand, ihr traviageweihter Ziehvater den Namen der schönen Göttin immer ausgespuckt hatte wie eine schlechte Frucht, in welche er gebissen hatte, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Doch hatten ihre Zieheltern sie nicht auch gelehrt, dass alle zwölf Götter wichtig waren und jeder und jede ihren angemessenen Platz im Götterhimmel und hier unten auf Dere einnahm und vertrat und den Menschen seine oder ihre Aspekte nahebrachte? Das war einer der Widersprüche zwischen den Worten und den Taten vor allem Herdbrands, den sie wohl nie verstehen würde. Malvine, seine Frau, war da wesentlich milder und „toleranter“, so sagte man wohl, gewesen, was beide aber nicht davon abgehalten hatte, sie streng im Glauben an Travia und deren Prinzipien, und eben nur diesen und nicht denen der anderen elf, vor allem und insbesondere nicht denjenigen von Rahja, zu erziehen. Bis sie dann mit acht Jahren genug von ihrem orangefarbenen Gefängnis gehabt und sich in den Wagen einer durchreisenden Gauklertruppe geschmuggelt hatte, um diesem zu entkommen. Seitdem verknotete es Doratrava immer erst den Magen, wenn ein Aspekt Rahjas sich ihr näherte, vor allem wenn es hinterrücks und überraschend geschah wie eben. Oder Jelride wollte gar nichts von ihr, war nur freundlich, und sie litt eben doch an Wahnvorstellungen, weil sie im Wald eins auf den Kopf bekommen hatte, immerhin hatte sie ja heute schon Riesen gesehen, die scheinbar gar nicht da waren …

Da war allerdings noch die Sache mit der tulamidischen Tänzerin und dem Utulu gewesen … aber nein, darüber wollte sie jetzt ganz bestimmt nicht nachdenken. Nicht. Nachdenken.

Die Tür des Raumes öffnete sich wieder, so dass Doratrava erschreckt aus ihren Gedanken gerissen wurde und zusammenzuckte, was ihr schon wieder ein leises Stöhnen entlockte.

„So schlimm?“ erklang Jelrides leise, mitfühlende Stimme. „Warte, bald wird es dir besser gehen.“ Die Wirtin stellte eine mit warmem Wasser gefüllte Schüssel, in der ein Tuch schwamm, neben der Bank auf dem Boden ab. Es war zwar dämmrig in dem kleinen Raum, weil vor der fellbespannten Fensteröffnung wohl auch noch ein halb geschlossener Laden das meiste Licht abhielt, aber Doratrava kniff die Augen zusammen, um sich Jelride zum ersten Mal genau – also richtig genau – anzusehen. Die Frau war älter als sie, bestimmt fünf oder sechs Jahre, damit aber immer noch keine Dreißig. Lockige, karottenrote Haare umrahmten ein hübsches Gesicht und fielen ihr ein Stück weit über die Schultern. Ihre Augenfarbe konnte Doratrava bei dem Licht nicht erkennen, aber sie erinnerte sich an ein helles, fast wässriges Grün. Harte Arbeit und Sorgen hatten bereits ein paar Falten in das ansonsten recht fein gezeichnete Gesicht gegraben, doch ebenso hatten Freude und viel Lachen ihre Spuren hinterlassen. Ein paar Sommersprossen sprenkelten die Nase und die Wangen. So ein Gesicht konnte sehr spannend sein, wenn man darin zu lesen verstand, doch Doratrava war sich bedauernd bewusst, dass ihr diese Fähigkeit nicht gegeben war und sie nur das Offensichtliche erkennen konnte. Und offensichtlich war es ein schönes Gesicht, dessen erlebte Geschichte diese Schönheit nur noch betonte.

Jelride war ungefähr genauso groß wie Doratrava selbst, die etwas über 170 Halbfinger maß, dabei aber ein wenig kräftiger und üppiger. Das einfache Hemd der Wirtin spannte sich über dem durchaus ansehnlichen Busen, als sie sich so über die Gauklerin beugte. Sie trug einfache, zweckmäßige Kleidung und meist auch ein Tuch um den Kopf, das hatte sie aber abgenommen und achtlos zur Seite geworfen, als sie ihr Haus zusammen mit der Gauklerin betreten hatte. Sie roch ein wenig nach Schweiß und Bier und … Waldmeister? Aber nicht schlecht.

„Ausziehen!“ riss die energische Stimme der Wirtin Doratrava erneut aus ihren Betrachtungen, und erneut zuckte sie heftig und stöhnend zusammen.

„Äh … was?“ stammelte Doratrava nicht gerade geistreich.

„Na, ich muss die Wunden säubern. Dazu muss ich an sie rankommen. Deshalb: ausziehen!“ erläuterte Jelride geduldig und mit einseitig hochgezogenem Mundwinkel. Man konnte meinen, ihr begann die Sache, Spaß zu machen.

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Als die Gauklerin zögerte, setzte Jelride mit einem leichten Grinsen hinzu: „Ich kann dir auch helfen, wenn du es nicht alleine schaffst!“

Entsetzt schüttelte Doratrava den Kopf und entschloss sich für das kleinere Übel. Mit etwas mühsamen Bewegungen begann sie, ihr Hemd über den Kopf zu ziehen, wobei sie versuchte, Jelrides Miene im Blick zu behalten. Sie hatte zwar keine Ahnung, was sie tun sollte, wenn sie darin etwas erkennen sollte, was ihr ganz und gar nicht gefiel, aber zumindest wollte sie nicht schon wieder überrascht werden. Aufstöhnend fiel die junge Gauklerin zurück auf die Bank, ihre Seite machte tatsächlich erhebliche Schwierigkeiten. Heute war offenbar nicht ihr Glückstag. Sie fasste sich überkreuz an ihre Schultern, um nicht völlig entblößt den Blicken der Wirtin ausgesetzt zu sein.

„Nicht schlappmachen, Dora, jetzt die Hose!“

„Die Hose?“ Doratravas Stimme bekam einen leicht quiekenden Unterton.

„Deine Beine sehen nicht so aus, als hätten sie nichts abbekommen. Die Hose braucht nachher wohl auch noch eine Behandlung, aber zuerst bist du dran. Jetzt zier‘ dich nicht so, wie ich vorhin schon sagte, ich werde dich nicht fressen. Sonst bräuchte ich mir die Mühe, dich zu behandeln, gar nicht machen, oder?“ Die Stimme der Wirtin klang in Doratravas Ohren schon sehr spöttisch, sie kam sich reichlich kindisch vor. Mit Mühe drängte sie ihren traviagestählten Geist in den Hintergrund und versuchte, an gar nichts zu denken, während ihre Finger ungeschickt am Gürtel und dann am Verschluss ihrer Lederhose nestelten.

„Komm, ich helfe dir, du bist wohl doch zu benommen“, bot sich Jelride an und schritt auch gleich zur Tat. Zum wiederholten Mal zuckte Doratrava zusammen, als sie die kräftigen Finger der rothaarigen Wirtin auf ihrem Bauch unterhalb des Nabels spürte. Ihr Stöhnen klang aber nun eher wie ein Seufzen in ihren Ohren, was ihr sofort die Schamesröte ins Gesicht trieb. Doch bei diesem Licht und ihrer hellen Haut sah Jelride das hoffentlich nicht. Vor lauter Beschäftigung mit ihrer eigenen Befindlichkeit bekam die Gauklerin kaum mit, wie Jelride erst die Stiefel von ihren Füßen zog und dann die Hose schnell und routiniert folgen ließ. Erst dann kam ihr richtig zu Bewusstsein, dass sie nun völlig nackt und ungeschützt den Blicken der älteren Frau ausgesetzt war. Diese ließ es sich auch nicht nehmen, den weißhäutigen, sehnigen, knabenhaften, aber dennoch sehr wohlgeformten Körper der Gauklerin eingehend zu mustern, wobei sie eine unlesbare Miene zur Schau trug. ‚Sie sucht nach den Wunden‘, redete Doratrava sich ein. ‚Sonst nichts, sonst ...‘

Jelride hatte sich in die Hocke niedergelassen und nahm das nasse Tuch aus der Schüssel. Dann begann sie, ganz vorsichtig die am schlimmsten aussehende Wunde in der linken Seite der Gauklerin mit langsam kreisenden Bewegungen zu säubern. Erneut drang ein Stöhnen aus Doratravas Kehle, entgegen ihrer Vorsätze schloss sie die Augen, um sich ganz der Behandlung Jelrides hinzugeben, welche ihr schrecklich und schön zugleich vorkam. Sanft führten deren geschulte Finger das warme Tuch über ihre Verletzung, so vorsichtig wie möglich und so nachdrücklich wie nötig. Die Kreise wurden größer, schließlich nahm das Tuch seinen Weg über ihren gesamten Oberkörper, entfernte Schweiß und Dreck, liebkoste Haut und ihre Brüste mitsamt den sich entgegen Doratravas Willen aufrichtenden Brustwarzen. Ganz im Hintergrund hörte die Gauklerin eine nagende Stimme, die Warnung ihres Geistes, welcher sie zu Vernunft und Abwehr rief und an Travias Tugenden gemahnte, doch immer leiser wurde diese Stimme, leiser, bis sie im Rauschen des Blutes in ihren Ohren verklang.

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Plötzlich wurde ohne Vorwarnung die Tür aufgerissen. Doratrava fuhr entsetzt von der Bank hoch und beendete die Bewegung unvermittelt, als ihr Kopf mit einem lauten Krachen gegen das hölzerne Fensterbrett stieß. Aufstöhnend fiel sie zurück auf die Bank. Jelride fuhr herum, die Gauklerin hatte vor ihrer Kopfnuss gerade noch einen äußert verärgerten Ausdruck in ihrem Gesicht erkennen können.

„Mama, Mama, da draußen …“ Es war Sumin, der plötzlich wie angewurzelt stehen blieb und mit einem Mal verstummte, als ihm schier die Augen aus dem Kopf fielen. „D...dora? Du bist ja ganz nackt … w...was macht ihr hier, Mama?“ stammelte der Junge völlig verdattert. „Ich behandle ihre Verletzungen,“ stellte Jelride mit energischer, keinen Widerspruch duldender Stimme klar. „Raus mit dir!“

Doch Sumin stand immer noch da, mit offenem Mund und hervorquellenden Augen und starrte die nackte Gauklerin an, die stöhnend mit der einen Hand ihren Kopf hielt und mit der anderen etwas planlos nach ihrer Kleidung tastete. „Raus, sagte ich!“ Kurzerhand schleuderte Jelride das feuchte Tuch in die Schüssel, so dass das Wasser nach allen Seiten spritzte, dann fasste sie Sumin an den Schultern, drehte ihn energisch um und schob ihn aus dem Raum. Über die Schulter rief sie nach hinten „Keine Sorge, Dora, ich sehe nur schnell nach, was es so Wichtiges gibt, dann komme ich wieder.“ Damit schloss sie die Tür zu dem kleinen Raum hinter sich und Sumin.

Doratrava war allein. Sie stellte alle Bewegungen ein und versuchte, die plötzliche Leere in ihrem Kopf wieder mit sinnvollen Gedanken zu füllen, doch es dauerte ein wenig. Gerade noch hatten ihre Empfindungen Purzelbäume geschlagen, und jetzt, von einem Moment zum anderen, war alles vorbei, der Zauber des Augenblicks verflogen. Sie fühlte sich innerlich betäubt, als hätte jemand in ihr einen Eimer eiskalten Wassers ausgeschüttet, sie begann sogar zu frösteln. Aber ja, kein Wunder, sie war nackt und nass von Jelrides sorgsamer Behandlung. Wenn sie daran dachte, vermeinte sie, noch immer jede Berührung der rothaarigen Frau heiß auf ihrem Oberkörper, auf ihren Brüsten zu spüren, was sie seltsamerweise nur noch mehr frösteln ließ. Aber war es denn nicht gut, dass nicht mehr passiert war? Die Grenzen von Travias Anstand waren kaum überschritten worden, damit sollte ihr Gewissen sich zufrieden zeigen. Doch das Gegenteil war der Fall. Doratrava fühlte sich plötzlich leer und einsam und nutzlos. Schon wieder schossen ihr Tränen in die Augen, nicht zum ersten Mal heute, wenn auch aus anderen Gründen. Was war nur mit ihr los? So völlig durcheinander hatte sie sich bisher erst einmal in ihrem Leben gefühlt, und darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Nicht. Nachdenken.

Von draußen aus dem Schankraum waren mit einem Mal erste Schritte, dann Stimmen zu hören, die Jelrides, manchmal auch Sumins, und eine tiefe Männerstimme, aber nicht deutlich genug, als dass Doratrava etwas hätte verstehen können. Immer noch rauschte Blut in ihren Ohren, vermutlich lag es daran. Die Gauklerin setzte sich auf. Ein Stich fuhr durch ihre Seite, ihre Hand spürte warmes Blut aus der noch immer nicht versorgten Wunde laufen, schwindlig war ihr auch. Sie biss die Zähne zusammen und klaubte ihre Hose vom Boden. Mühsam zog sie diese sodann über ihre Beine. Jelride mochte gesagt haben, dass sie gleich wiederkäme, aber ein unbestimmtes Gefühl veranlasste Doratrava dazu, lieber nicht völlig hilflos und ausgeliefert auf die Wirtin zu warten. Sie schlüpfte in ihre Stiefel, ihr vermutlich geprellter Knöchel protestierte nur verhalten, dann schnallte sie ihren Gürtel mit den Wurfdolchen um. Als sie die Hand nach ihrem schmutzigen, zerrissenen Hemd ausstreckte, hörte sie Jelrides Stimme plötzlich viel lauter und deutlicher aus dem Schankraum: „Ich verbürge mich für die Gauklerin! Außerdem ist sie schon längst weitergezogen!“

Doratrava huschte zur Tür – na, ja, wollte huschen, doch als ihr geschundener Knöchel fast umknickte, entfuhr ihr das gefühlt hundertste Stöhnen an diesem Tag, mit großer Mühe konnte sie den Laut weitgehend unterdrücken und drückte ein Ohr gegen die geschlossene Tür. „Aber ...“ hörte sie Sumins Stimme gerade. „Sumin!“ zischte Jelride ihren Sohn daraufhin an. Dann die Männerstimme: „Mädchen, lass‘ den Knirps ausreden, offensichtlich hat er was zu sagen.“ Doratrava hielt unwillkürlich die Luft an.

*
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Von der anderen Seite der Tür ertönte unbestimmtes Rascheln und Schleifen, aber die Stimmen waren verstummt. Doch nur kurz, dann ertönte wieder die tiefe Männerstimme: „Na, spuck‘s schon aus, Junge, ich sehe doch, dass du etwas loswerden willst.“

„Lass Sumin in Ruhe, wenn ich sage, die Gauklerin ist weg, dann ist das so!“ Das war Jelride, energisch wie gewohnt, aber Doratrava war sich nicht ganz sicher, ob sich da nicht ein panischer Unterton eingeschlichen hatte. Verdammt, verdammt, was tun? Hastig zog sie das schmutzige, zerrissene Hemd über den Kopf, dazu musste sie allerdings das Ohr von der Tür nehmen und konnte den nachfolgenden Wortwechsel wieder nicht verstehen. Sollte sie durch das Fenster fliehen oder sich zumindest irgendwo in der Nähe verstecken, bis der Unbekannte wieder weg war? Aber würde sie damit nicht riskieren, dass der Mann Jelride oder gar Sumin etwas antat? Was wollte der Kerl überhaupt von ihr? Und war er allein, oder warteten in der Nähe noch ein paar Handlanger? Frustriert unterdrückte sie gerade noch einen ärgerlichen Ausruf und mit Mühe auch den Hustenreiz, den das Unterdrücken verursachte. Wenn sie wenigstens im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen wäre. Die Wunde in der Seite schmerzte zwar nicht wenig, aber das konnte Doratrava zur Not ignorieren, genauso wie ihre möglicherweise geprellte Schulter, doch der ebenfalls geprellte oder verstauchte Knöchel machte ihr richtig Sorgen, damit konnte sie weder springen noch rennen noch sonst irgendwelche Kunststücke vollbringen, falls es hart auf hart kam.

Doratrava warf einen zweifelnden Blick zum Fenster. Das sah nicht sehr vertrauenerweckend aus. Wie sie beim ersten Betreten des Raumes schon festgestellt hatte, war dieser sicher schon lange nicht mehr gelüftet worden, der Fensterrahmen sah alt und ein wenig morsch aus, vermutlich würde er ganz erbärmlich knarren, wenn sie versuchte, das Fenster zu öffnen. Die Stimmen von der anderen Seite klangen zudem mittlerweile recht erregt, offenbar verlangte der Mann, das Haus durchsuchen zu dürfen, was Jelride strikt ablehnte. „Wenn du nichts zu verbergen hast, was kümmert es dich, wenn ich mir die schäbige Bruchbude einmal genauer ansehe?“ verstand Doratrava nun, da die Lautstärke des Wortgefechts deutlich zugenommen hatte. Gut oder vielmehr schlecht, die Wortwahl des ungebetenen Besuchers ließ auf wenig Kompromiss- und umso mehr Gewaltbereitschaft schließen, und damit wollte die Gauklerin ihre neu gewonnene Freundin nicht allein lassen. Sie zog einen der Wurfdolche aus dem Gürtel und verbarg ihn auf der Innenseite ihrer rechten Hand, dann griff sie entschlossen nach der Türklinke und stieß die Tür schwungvoll auf, so dass sie lautstark gegen die Wand des Schankraumes knallte.

Doratravas Auftritt hatte mehr oder weniger die erwünschte Wirkung. Alle vier (vier – der Kerl war tatsächlich nicht allein, wie die Gauklerin zu ihrem Verdruss feststellen musste) Personen im Schankraum fuhren mehr oder weniger erschrocken zu ihr herum, Jelride mit entsetztem Gesichtsausdruck, während Sumins zwischen Schreck und seltsamerweise Freude wechselte. Der „Gast“ zeigte sich durchaus ebenfalls überrascht, aber eher nicht, sie zu sehen, nur über die Art ihres Auftritts. Der Mann war vielleicht 190 Halbfinger groß, dabei sehr kräftig gebaut und mit einem ordentlichen Wanst gesegnet. Ein schwarzer Vollbart umrahmte sein eher grobes Gesicht, die kleinen Augen lagen tief in den Höhlen, funkelten aber unangenehm listig, zumindest bildete sich Doratrava das ein. Er trug einen ausladenden Hut, der ganz nass war vom Regen, dazu einen gewachsten vorne offenen Mantel, der ebenso dazu beitrug, den Boden der Schankstube vollzutropfen. Seine stark behaarten Pranken hatte er mit den Daumen in einen breiten Gürtel gehakt, welcher der Ausbeulung des Mantels nach die Aufhängung der Scheide einer längeren Waffe bildete.

Mehr konnte Doratrava auf die Schnelle nicht erkennen, denn der ähnlich ausstaffierte, aber deutlich kleinere und hagerere Begleiter des Kerls trug eine geladene Armbrust, welche er bei ihrem plötzlichen und lautstarken Erscheinen reflexhaft nach oben riss und abfeuerte. Solche Momente schien Satinav zu lieben, warum sonst wohl kam es Doratrava immer so vor, als wolle der Herr der Zeit diese besonders lange auskosten und verlangsame dieselbe deshalb zu seinem Vergnügen auf eine Weise, dass selbst eine Schnecke ihrem Verlauf hätte folgen können? Die Gauklerin vermeinte, den Flug des Bolzens in jeder Einzelheit erkennen zu können, während sie alle Gedanken an schmerzende Glieder in den Wind schoss und sich ganz ihren Instinkten überließ. ‚Hätte ich die Tür ganz normal aufgemacht, wäre wahrscheinlich gar nichts passiert‘, konnte sie widersinnigerweise noch denken, bevor der Bolzen heran war.

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Jelride und Sumin schrien fast zeitgleich auf, als der Schuss fiel. Die rothaarige Wirtin stand dabei wie angewurzelt, während ihr Sohn sich mit erhobenen Fäusten auf den Bärtigen stürzte. Doch beide sahen sie, wie die Gauklerin sich mit einer blitzschnellen, unmöglich anmutenden Bewegung zur Seite fallen ließ, so dass der Bolzen zwar ihr Hemd aufriss und eine blutige Schramme über den Rücken zog, doch ansonsten harmlos irgendwo im Nebenraum in der Wand steckenblieb. Noch im Fallen schnellte die rechte Hand Doratravas nach vorne und schleuderte den bereitgehaltenen Dolch in Richtung des Schützen. Dieser verfügte über keine so guten Reflexe wie die Gauklerin und Phex schien ihm auch nicht hold zu sein, denn das Wurfgeschoss bohrte sich tief in seine rechte Schulter. Von der überraschenden Wucht des Treffers wurde er aufschreiend nach hinten gerissen, die Armbrust fiel polternd zu Boden.

Gleichzeitig schlug nun auch Doratrava auf dem Boden auf, leider konnte sie nichts mehr dagegen tun, dass dies mit ihrer verletzten rechten Schulter geschah, so dass auch sie einen schmerzvollen Aufschrei zum allgemeinen Orchester beisteuerte. Tränen schossen ihr in die Augen, so dass sie nur durch einen Schleier mehr erahnen als sehen konnte, wie der Bärtige Sumin grob zur Seite stieß wie einen Sack Rüben und einen Säbel aus der Scheide zog. Mit einem entschiedenen „Hah!“ sprang der Kerl auf sie zu.

Keuchend rollte Doratrava sich auf die linke Seite. Ihren rechten Arm spürte sie nach dem Aufschlag und der damit einhergehenden Schmerzexplosion nun überhaupt nicht mehr, ihr rechter Knöchel war weiterhin weitgehend unbrauchbar, aber links funktionierte noch alles. Sie krümmte sich zusammen wie eine Feder, drehte sich ein Stück, so dass ihre Beine in Richtung der nahen Wand zeigten, dann schnellte das linke Bein mit solcher Wucht dieser entgegen, während ihr linker Arm sie von Boden abstieß, dass ihr nicht sonderlich schwerer Körper wie ein Geschoss in Richtung des Angreifers geschleudert wurde.

Jelride stand immer noch wie angewurzelt, sie konnte den Bewegungen der Gauklerin kaum mit den Augen folgen. Aber dann besann sie sich. „Sumin!“ Sie lief zu dem Jungen, der stöhnend vor der Theke lag und sich den Kopf hielt. Die grobe Behandlung des Bärtigen hatte ihn dort gegen eine Kante geschleudert. Aus den Augenwinkeln konnte Jelride immerhin erkennen, dass der Armbrustschütze im Moment keine Gefahr darstellte, der saß stöhnend an der gegenüberliegenden Wand und hielt sich mit glasigen Augen die blutende Schulter. Die Wirtin schloss Sumin in die Arme und zog ihn an ihre Brust. „Sumin, ist alles gut?“

‚Blöde Frage‘, schoss es Doratrava zusammenhanglos durch den Kopf, als jener sich in die Magengegend des Bärtigen bohrte. Dass dieser ihren unerwarteten Angriff mit einer Abwehrbewegung seines Säbels zu kontern versuchte und ihr damit einen tiefen Schnitt quer über der Brust beibrachte, bemerkte sie schon kaum mehr.

Der Kerl gab ein ersticktes „Uumpf“ von sich und stolperte einen Schritt zurück – doch mehr passierte nicht, außer dass Doratrava direkt vor ihm zu Boden stürzte. Der Mann war sicher zweieinhalb Mal so schwer wie sie und hatte offenbar einen guten Stand.

Just in diesem Moment stürmte eine weitere Gestalt in den Raum, eine verwegen aussehende Frau mit Augenklappe und ähnlicher Regenkleidung wie die anderen beiden „Gäste“, also gehörte sie wohl auch der Bande an. Der bärtige Kerl verzog daraufhin das Gesicht zu einem siegessicheren Grinsen und senkte den Säbel auf Doratravas Hals. „Gib auf, Diebin!“

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Im ersten Moment hörte Doratrava die Worte zwar, verstand sie aber nicht, sie verstand nur, dass der Kerl sie nicht sofort töten wollte, was sie von weiteren verzweifelten Maßnahmen Abstand nehmen ließ. Zumal sie sich fühlte, als sei sie in Watte gepackt, sie spürte ihren Körper nur noch fern, die Schmerzen waren dumpf und unwirklich, ihre körperliche Kraft, auf die sie sich als Gauklerin doch immer hatte verlassen können, versickerte zusammen mit dem Blut aus ihren Wunden irgendwo im Nichts. Aufseufzend erschlaffte sie, ihr leicht angehobener Kopf schlug auf den Boden und brachte ihren Hals damit auch ein paar Halbfinger weg von der scharfen Spitze des Säbels.

Aber Jelride, die Sumin noch immer in den Armen barg, hatte verstanden. Völlig verdattert wiederholte sie „Diebin?“

„Hehe, das hast du wohl nicht gedacht, was?“ grollte die tiefe Stimme des Bärtigen selbstzufrieden. Dass einer seiner Männer leise stöhnend in der Ecke lag, schien ihn nicht weiter zu stören. „Die kleine Wildkatze hat in Twergenhausen jemanden bestohlen, der darüber nicht glücklich war, und deshalb kommen wir ins Spiel.“ Mit einer lässigen Bewegung ließ der nach Doratravas unmaßgeblicher Meinung ziemlich unangenehme Mann seinen rechten Stiefel in ihre Seite knallen, was sie aufstöhnend ein Stück zur Seite rutschen ließ. Gut. Noch ein Bisschen weiter weg vom Säbel, wie ihr offenbar noch wacher Geist mit nüchterner Klarheit feststellte, auch wenn die Gauklerin sich rein körperlich so elend fühlte wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr.

„Aber … aber sie ist doch nur eine Gauklerin … und hat auch außer einer Tasche nichts bei sich … ?“ stotterte Jelride, noch immer ziemlich verwirrt, während sie dem weinenden Sumin beruhigend über den Kopf strich.

„Das eine schließt das andere nicht aus“, stellte der Bärtige hämisch fest. „Das Biest wird nun schön verschnürt nach Twergenhausen zurück geschafft, mehr braucht euch hier nicht zu kümmern. Seid froh, dass ich das hinterhältige Weibsstück erwischt habe, wer weiß, was es sonst hier hätte mitgehen lassen.“ Der Kerl lachte auf. „Wobei, hier gibt es ja nichts zu holen, so am Ende der Welt.“ Er wurde unvermittelt wieder ernst. „Aber ihr, also genau du“, er deutete mit dem Säbel auf die Wirtin, „könnt noch etwas für mich tun: ihr kümmert euch um Friedbar dort“, jetzt deutete der Säbel auf den Verletzten in der Ecke, „bis ich einen Medicus aus Twergenhausen schicke. Ich nehme nicht an, dass es so etwas hier gibt?“

Jelride zögerte unmerklich, dann schüttelte sie stumm den Kopf. Doch dem Kerl schien ihr Zögern nicht entgangen zu sein. „Lüg‘ mich nicht schon wieder an, Weib, das wird dir sonst schlecht bekommen. Und deinem Balg.“ Der Säbel deutete nun auf Sumin.

Entsetzt schüttelte Jelride den Kopf. „Tut ihm nichts, ich bitte Euch, er ist doch noch ein kleines Kind!“ Ihre Stimme überschlug sich fast. Doratrava spürte ihre Angst fast körperlich, mehr noch als den eigenen Schmerz der Wunden. Ihre Gedanken rasten, doch außer wirrem Zeug kam nichts dabei heraus.

„Dann heraus mit der Sprache!“ bellte der Bärtige unvermittelt.

Jelride zuckte heftig zusammen, Doratrava und Sumin taten es ihr gleich, letzterer begann stärker zu schluchzen, wenn der Kleine auch versuchte, keinen Laut von sich zu geben, was ihm nicht wirklich gelang. „Ich … ich kenne mich ein wenig mit Heilkunde aus, die Leute im Dorf kommen zu mir, wenn sie sich verletzt haben“, stieß Jelride deutlich gegen ihren Willen hervor.

„Hervorragend!“ grinste der Bärtige daraufhin. „Dann sorgst du mir dafür, dass Friedbar nicht verreckt, bis der Medicus da ist. Und weil du so ein Lügenbeutel bist, darfst du das alles auf deine Kosten machen, dafür tue ich dir und deinem Balg nichts. Freu‘ dich, dass ich heute so großzügig bin, und das trotz des Scheißwetters da draußen und der Tatsache, dass deine … Freundin? … Friedbar so zugerichtet hat. Aber ich habe die ganze Rückreise nach Twergenhausen, um sie meinen gelinden Unmut spüren zu lassen!“ Der Kerl grinste nun um so dreckiger. Dann wandte er sich der Frau mit der Augenklappe zu. „Worauf wartest du, Dorlind? Schnür mir ein Paket, und sei nicht zimperlich, hörst du?“

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Die Angesprochene verzog den schmalen Mund zu einer Art bestätigenden, falschen Lächelns. Sie hatte lange, strähnige braune Haare, welche ungeordnet unter ihrem Hut hervorquollen, zudem war ihr Gesicht von ein paar Narben entstellt. Ihr verbliebenes Auge war grau und blickte sehr aufmerksam in die Runde. Sie zog ein Paar Lederriemen aus ihrem Gürtel und bewegte sich wortlos auf Doratrava zu.

‚Jetzt, jetzt oder nie‘, ging es Doratrava durch den Kopf. Sie war außer direkter Reichweite des Säbels, der dicke Kerl achtete nicht mehr vollständig auf sie und in wenigen Augenblicken wäre sie gefesselt und handlungsunfähig. Sie warf sich herum, um an die Dolche in ihrem Rücken zu gelangen – das heißt, sie wollte sich herumwerfen. Ein Gewitter von Schmerzen tobte durch ihren Körper, die Eskapaden ihres Geistes waren diesem wohl nun endgültig zu viel, all die Verletzungen und Überanstrengungen forderten nun ihren Tribut, ihre Reserven waren erschöpft. Mit einem eher an ein Schluchzen gemahnendes Ächzen fiel sie zurück auf den Rücken, nachdem sie nicht mehr als eine viertel Drehung geschafft hatte.

Dem Bärtigen entfuhr ein heiseres Kichern. „Hchch, siehst wohl deine Felle davonschwimmen, kleine Schlampe? Das wird noch lustig mit dir, ich glaube, wir werden uns auf dem Rückweg nach Twergenhausen nicht sehr beeilen.“ Ein belustigtes Grunzen beendeten diesen Ausspruch. Vor Schwäche und Abscheu wurde es Doratrava nun zu allem Überfluss übel, nur mit Mühe schaffte sie es, ihr Frühstück bei sich zu behalten. Dann war diese Dorlind über ihr und begann grob ihr Werk. Nach kaum fünfzig Herzschlägen lag Doratrava an Armen und Beinen gefesselt auf dem Boden des Schankraums, die Dolche hatte Dorlind ihr auch weggenommen, was Wunder! Sie warf einen flehenden Blick in Jelrides Richtung, doch diese kauerte immer noch vor dem Tresen und barg Sumin schützend in ihren Armen, nicht wagend, mit einer weiteren frechen Bemerkung den bärtigen Kerl nochmals auf sich aufmerksam zu machen.

„So, kleine Diebin, wir sind abmarschbereit. - He, du da“, rief der Bärtige in Jelrides Richtung, „pack‘ uns was Ordentliches zu essen ein, Kopfgeldjagd macht hungrig. Na los, beweg‘ dich, oder wir nehmen deine Kröte auch mit!“ Entsetzt sprang Jelride auf die Beine und zerrte den völlig verstörten Sumin hinter sich her in die Küche, wo sie sich lautstark ans Werk machte.

Der Bärtige begab sich derweil zu dem verletzten und apathischen Friedbar und tätschelte ihn nicht eben sanft auf die Wangen. „Heh, Dünner, nicht schlappmachen. Ich verspreche dir, dass die Schlampe dafür zahlen wird – und natürlich der Wertlinger. Die Rothaarige wird gut für dich sorgen“, er hob die Stimme, damit Jelride in der Küche auch garantiert mitbekam, was er sagte, „wenn sie weiß, was gut für sie ist. Den Dolch muss ich aber stecken lassen, sonst verblutest du mir noch. Wir müssen jetzt gehen, aber wir sehen uns wieder.“ Nochmal tätschelte er die Wangen des Verletzten, der nur mit einem unbestimmten Stöhnen antwortete.

„Was ist jetzt, Weib? Wir haben es eilig!“ Nach kurzer Pause erschien Jelride – allein – wieder im Schankraum, um dem Kerl ein in ein Tuch eingeschlagenes Paket in die Hand zu drücken. Sie gab sich sehr unterwürfig: „Das ist alles, was ich auf die Schnelle zusammenpacken konnte, mein Herr, ich hoffe, Ihr seid damit zufrieden?“ Sie sah den Bärtigen mit hochgezogenen Schultern von unten an, als würde sie gleich Schläge befürchten. Doratrava kannte Jelride jetzt noch nicht mal einen Tag, aber sie vermeinte erkennen zu können, wie schwer es der Rothaarigen fiel, sich so zu demütigen. Wenn es nicht um Sumin ginge, hätte sie dem Kerl vermutlich die Augen ausgekratzt!

Der Kopfgeldjäger, denn seinen Aussagen nach handelte es sich wohl um einen solchen, warf einen Blick in das Paket und brummte dann unbestimmt, aber nicht unzufrieden. Dann scheuchte er Jelride mit einer Handbewegung fort, die der Aufforderung mit einem verstohlenen, bedauernden Blick in Doratravas Richtung nur zu gerne folgte. Die Gauklerin konnte es ihr nicht verdenken. Was sollte sie schon tun? Das Dorf zusammenschreien? Die meisten Leute waren arbeiten, und wer von ihnen würde sich schon für eine Gauklerin einsetzen? Wenn der Kerl sagte, sie sei eine Diebin, dann würden es die meisten Leute sicher glauben.

Ach ja, Diebin. Doratrava schluckte mühsam Speichel und ein wenig Galle, dann erhob sie krächzend ihre Stimme: „Wie … hrm … wie heißt du überhaupt und was soll ich … hrm … gestohlen haben?“ Sie musste sich zweimal räuspern, weil das mit dem Schlucken nicht richtig funktionieren wollte. Der Bärtige wandte sich ihr wieder zu und gab sogar Antwort, wobei ein gewisser Stolz in seiner tiefen Stimme mitschwang: „Ich bin Rangold, genannt der Unfehlbare, weil mir noch nie eine Beute entkommen ist.“ Aha, ein Großmaul also. „Du hast dir diesmal das falsche Opfer herausgesucht. Der gute Herr Wertlinger lässt ausrichten, deine Vorstellung in Twergenhausen hätte ihm gut gefallen, aber er hätte dann doch gerne seinen Gürtelbeutel zurück, welcher ihm seinen Worten nach beim Zusehen oder kurz danach abhanden gekommen wäre.“

Doratrava lachte auf und musste diesen unpassenden Heiterkeitsausbruch mit einem Hustenanfall bezahlen. Keuchend gab sie schließlich zurück: „Was? Dem kann doch irgend jemand seinen verdammten Gürtelbeutel gestohlen haben. Und deswegen jagt ihr ausgerechnet mich?“ Doratrava konnte es nicht fassen. Wie dumm konnte man denn sein? Nur wegen der schlechten Laune eines Stadtbürgers war sie nun in dieser Lage, verletzt, verschnürt, ausgeliefert?

Plötzlich guckte der Bärtige ganz nachdenklich, dann rief er laut: „Weib! Wirtin! Bring mir die Sachen von der Schlampe, aber beeil‘ dich!“ Verdammt, jetzt musste schon wieder Jelride darunter leiden. Doratrava hätte ihren Mund halten sollen, bis sie aus dem Dorf gewesen wären, andererseits …

Da traf sie unvermittelt ein schwerer Stiefel in die Seite. Aufkeuchend musste sie eine weitere Schmerzwelle über sich ergehen lassen, weitere Tränen schossen ihr in die Augen. „Sag‘ du‘s mir, Schlampe! Wo hast du die Beute? Oder hast du sie gar hier versteckt, bei deiner rothaarigen Freundin? Ich bin ja nicht blöd, ich hab‘ schon bemerkt, wie ihr euch angesehen habt!“

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Der Atem rasselte in ihrer Kehle, als Doratrava mühsam und stockend antwortete: „Ich … habe … nichts gestohlen … also kann ich … auch nichts versteckt haben ...“ Aber der Gauklerin war klar, dass der Kerl ihr sowieso nicht glauben würde. Gerade brachte Jelride widerstrebend ihre Tasche und ihre übrige Kleidung.

„Gibt her!“ fuhr Rangold die Wirtin an und riss ihr die Sachen aus den Händen, woraufhin sie sich schnell zurückzog, bevor ihm noch irgend etwas einfiel, aber nicht, ohne noch einmal verstohlen Blickkontakt zu Doratrava zu suchen. Allerdings konnte die Gauklerin den Ausdruck in Jelrides Augen nicht deuten, Angst schwang darin mit, aber auch etwas anderes, Hoffnung vielleicht?

Rangold hatte derweil den Inhalt der Tasche auf den Boden geschüttet, aber natürlich war da nichts von Interesse für ihn dabei: ein Stück Seife, ein hölzerner Kamm, eine Handvoll lose Münzen, ein Wurfdolch, ein paar farbige Tücher, ein Paar schwarze, etwas abgenutzte Lederhandschuhe, drei bunte Bälle, ein einfaches Messer, ein kurzes Stück Seil, eine Wasserflasche, ein wenig Krimskrams wie schöne Steine und Knöpfe und Glasmurmeln. Jelride hatte gehorsam auch den Rest ihrer Sachen gebracht, außer ihrem Gauklergewand eine nicht allzu dünne Decke und ihren Kapuzenmantel. Nur ihre Stiefel fehlten, die standen noch in dem kleinen Raum nebenan.

„Halt!“ rief der Kopfgeldjäger da, als Jelride gerade in den Durchgang zur Küche schlüpfen wollte. Sie erstarrte erschreckt. „Wo ist das Geld? Hat die weißhaarige Schlampe dir Geld gegeben zum Verstecken?“

„N – nein!“ stammelte Jelride und hob abwehrend die Arme, einen ehrlich verwirrten und ängstlichen Ausdruck im Gesicht.

„Denk‘ dran, wenn du lügst, ist deine Kröte dran – also?“ Rangold fixierte Jelride drohend und wies nun wieder mit dem Säbel auf sie, den er die ganze Zeit in der Hand behalten hatte.

„Nein, Herr R...rangold, sie hat mir nichts gegeben, ich schwöre bei Travia!“

Der dicke Kopfgeldjäger funkelte sie noch einen Moment drohend an, dann winkte er mit dem Säbel, was Jelride erleichtert aus dem Raum flüchten ließ. Dann wandte er sich wieder Doratrava zu. „So, wenn sie keine gute Lügnerin ist, dann hast du die Beute woanders versteckt, was? Hältst dich für schlau, was? Aber ich sag‘ dir was“, er machte eine bedeutungsschwangere Pause, bevor er fortfuhr, „es ist mir egal! Hähä, der Wertlinger hat gesagt ‚Bringt mir die weißhaarige Gauklerin‘, seinen Beutel hat er dabei gar nicht erwähnt!“ Hämisch auflachend steckte der Kerl jetzt endlich den Säbel weg. „Schade, wäre ein gutes Zubrot gewesen. Vielleicht überlegst du es dir noch und erzählst mir, wo du das Geld versteckt hast, dann geht‘s dir möglicherweise besser auf der Rückreise nach Twergenhausen. Ich an deiner Stelle würd‘s mir überlegen, denn ich kenne mich!“ Erneut brach der Fettwanst in hämisches Gelächter aus. Doratrava konnte seine Heiterkeitsausbrüche in ihrem Zustand allerdings nicht gebührend würdigen, doch dem Kerl fiel gar nicht auf, dass seine bühnenreife Vorstellung vergeudete Liebesmüh‘ war.

Rangold trat auf sie zu und hob sie mit Leichtigkeit und wie einen nassen Sack auf die Schulter, wo Doratrava mit einem dumpfen Ächzen mit dem Kopf auf seinem breiten Rücken und erstklassiger Aussicht auf den Boden zu liegen kam. Sie war schon bequemer gereist. Wieder so ein unsinniger Gedanke, wie sie sich umso mehr zu häufen schienen, je schlechter es ihr ging. Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, wie Dorlind sorgfältig ihre Sachen zusammenklaubte und zu einem handlichen Bündel verschnürte. An ihre Stiefel dachte die Einäugige dabei natürlich nicht. Aber wie auch, woher sollte sie wissen, wo die waren.

„Benimm dich“, raunte Rangold ihr zu. „Wenn du Scherereien machst, fangen wir gleich hier im Dorf mit der ersten Lektion ‚Wie verhält sich eine gute Gefangene‘ an. Das wird dann lustig für die Dorfbewohner, aber sicher nicht für dich. Und wie lustig das deine rothaarige Freundin findet, sei mal dahingestellt.“

‚Haha‘, machte Doratrava im Geiste. Jetzt versuchte der ungehobelte Klotz auch noch witzig zu sein, auf ihre Kosten natürlich. Doch da die Lage über seiner Schulter ihren Schmerzen nicht gerade zuträglich war, hatte sie nicht viel Muße für weitere dieser Gedanken. Bis jetzt hatte sich leider auch niemand um den Schnitt gekümmert, den sie sich bei ihrer Aktion vorhin zugezogen hatte. Sie spürte noch immer Blut aus der brennenden Wunde rinnen. Wenn sich das niemand ansah und sie Wundbrand bekam, konnte die Bande sich den Weg nach Twergenhausen womöglich sparen.

Rangold trat ins Freie, dicht gefolgt von der schweigsamen Dorlind, welche die ganze Zeit über den Mund nicht aufgemacht hatte. Oder war Doratrava nur zu benebelt und hatte die Hälfte nicht mitbekommen? Was sie aber mitbekam, war, dass es noch immer regnete, nicht heftig, aber stetig. Was sie auch noch mitbekam, waren neue Schmerzattacken bei jedem Schritt, wenn sich die Schulter des Kerls erneut in ihre geprellte Schulter und die Brustwunde bohrte. Sie verbiss sich ein Stöhnen, da sie sich schon gedemütigt genug fühlte und dem Kerl nicht noch weitere Anreize für seine bescheuerten Witze bieten wollte. Was hatten die beiden jetzt überhaupt vor? Wollten die sie nach Twergenhausen tragen? Bei dem Gedanken wurde ihr wieder übel.

Plötzlich blieb Rangold unvermittelt stehen, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Doratrava konnte aus ihrer Position heraus nicht viel erkennen, doch die Beine Dorlinds machten einen Satz zur Seite, das Bündel mit ihren Sachen fiel in den Schlamm, und die Einäugige zog eine kurze Axt unter ihrem Mantel hervor. Da ertönte eine grollende, tiefe Stimme, deutlich tiefer noch als die des Kopfgeldjägers: „Lass' die kleine Fee gehen, Mensch!“ Doratravas Herzschlag setzte für einen Moment aus. Das war Arbosch!

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‚Dann hatte ich doch keine Wahnvorstellungen‘, schoss es Doratrava durch den Kopf, als sie unvermittelt auf dem matschigen Boden aufschlug, was ihre Sinne für einen Augenblick erneut in Agonie ertrinken ließ. Als die feurigen weißen Punkte vor ihren Augen endlich verblassten, hatte Rangold bereits seinen Säbel gezogen und trotz seiner Verblüffung über das Auftauchen des Riesen auch Worte gefunden: „Scher‘ dich zur Seite, Kerl, das geht dich nichts an!“ Seine Stimme klang überheblich wie schon die ganze Zeit.

Mühsam drehte sich Doratrava im Matsch, was an Armen und Beinen gefesselt und mit Schmerzen nicht ganz einfach war, dann konnte sie endlich an Rangolds Beinen vorbei nach vorne sehen. Ja, da stand Arbosch, ganz so wie bei ihrer ersten Begegnung, mit einfacher Hose und Hemd und ohne Schuhe und Waffen und gerade so, als könne der Regen ihn irgendwie nicht erreichen. Die Gauklerin konnte nun auch erkennen, dass sie sich schon ein Stück aus dem Dorf entfernt hatten, vielleicht ein paar Dutzend Schritt, hier wurde der Wald rechts und links des Weges wieder dichter.

„Lass‘ sie gehen, Mensch!“ wiederholte Arbosch, womöglich noch langsamer und grollender als zuvor. Doratrava kam der Riese irgendwie vor wie eine Naturgewalt, unverrückbar, wenn er sich nicht bewegen wollte, wie ein großer Fels, oder besser noch ein Baum. Sie hatte keine Ahnung, wie sie darauf kam, aber sie war sich ihrer Einschätzung völlig sicher. Wie konnte der Kopfgeldjäger nur auf die Idee kommen, sich mit einem solchen Wesen anlegen zu können?

Aber offenbar sah Rangold nicht, was die Gauklerin sah. Er ließ den Säbel in einer schnellen Bewegung einmal nach rechts und einmal nach links schwingen und machte ein paar Schritte auf Arbosch zu, der sich keinen Zehntelfinger bewegt hatte. „Du magst zwar sogar größer sein als ich“, versuchte der Kopfgeldjäger den Riesen erneut einzuschüchtern, „aber wir haben Waffen und sind zu zweit. Ich gebe dir eine letzte Gelegenheit: wenn du weißt, was gut für dich ist, trollst du dich jetzt schleunigst, sonst wird es dir leid tun!“

Arbosch gab diesmal nur ein dumpfes Grollen von sich, rührte sich aber wiederum nicht von der Stelle.

„Na gut, wie du willst!“ Rangold machte einen weiteren Schritt auf Arbosch zu und hielt den Säbel auf dessen Bauch gerichtet. Die Spitze der Klinge war nur noch eine Handbreit davon entfernt. Dorlind hielt vier Schritt Abstand von dem Riesen und hatte sich in seine linke Flanke begeben, aber Arbosch achtete gar nicht auf die Einäugige, zumindest schien es Doratrava so, die vor Anspannung fast zu atmen vergaß.

Als Arbosch noch immer keine Anstalten machte, das Feld zu räumen, holte Rangold mit einer blitzschnellen, kurzen Bewegung aus und zog die flache Seite des Säbels durch das Gesicht des Riesen. Immerhin war er nicht so skrupellos, einen Unschuldigen kurzerhand zu töten, wie Doratrava mit einer gewissen Erleichterung feststellte, wenn auch … sie konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Der Riese hatte den Schlag hingenommen, war nicht mal merklich zurück gezuckt, sondern hatte fast gleichzeitig die Linke erhoben, mit der er nun einfach so in die Klinge griff und diese mit einem Ruck dem überraschten Rangold aus der Hand riss. Der Kopfgeldjäger wurde durch diese völlig unerwartete Aktion aus dem Gleichgewicht gebracht und stolperte nach vorne, gegen die noch immer mit beiden Beinen wie im Boden verwurzelt dastehende Gestalt Arboschs. Dessen Rechte fuhr nun nach oben und versetzte dem dicken Kopfgeldjäger einen solchen Schlag gegen den Kopf, dass dieser mehrere Schritt zur Seite geschleudert wurde. Doratravas Augen wurden groß und größer. Ein unbestimmtes Gefühl zu haben war etwas ganz anderes, als es kurz darauf Wirklichkeit werden zu sehen.

Dorlind stieß einen unartikulierten Schrei aus und warf ihre kurze Axt auf den Riesen – und traf! Die Waffe blieb in der haarigen Brust des … Mannes? … stecken, doch mit einem unwirschen Grunzen riss sich Arbosch das in seinen Händen wie ein Spielzeug anmutende Geschoss aus dem Körper und warf es achtlos zur Seite. „Scheiße!“ brüllte Dorlind und zog eine zweite Axt unter ihrem Umhang hervor, diese etwas länger und wohl nicht zum Werfen gedacht. Ihre Stimme hatte in Doratravas Ohren allerdings leicht panisch geklungen. Die Gauklerin konnte nicht umhin, eine gewisse Genugtuung zu verspüren. Zumindest für den Moment traten all ihre Schmerzen in den Hintergrund.

Rangold richtete sich eben mühsam wieder auf, augenscheinlich ziemlich benommen von der gewaltigen Ohrfeige, die er abbekommen hatte. Dorlind hingegen musste Doratrava durchaus Mut zugestehen, denn diese stürzte sich mit erhobener Waffe auf Arbosch, der sich noch immer kaum von der Stelle bewegt hatte und sich nun lediglich leicht in die Richtung der Angreiferin drehte. Schon sauste deren Axt auf ihn nieder. Die Bewegungen des Riesen sahen zwar irgendwie schwerfällig aus, kamen aber dennoch immer rechtzeitig. So blockte Arbosch nun den Axtstiel mit dem einen Arm, während die geballte Faust des anderen die Einäugige mit der Wucht eines Schmiedehammers in den Magen traf. Mit einem dumpfen „Uuuuf“ klappte Dorlind zusammen und ließ die Axt fallen, um ächzend beide Armen um den Unterleib zu schlingen und sich an Ort und Stelle zu übergeben.

Jetzt endlich setzte Arbosch sich langsam in Bewegung und kam auf Doratrava zu. Die Anspannung des Kampfes, an der sie doch gar keinen körperlichen Anteil gehabt hatte, fiel von ihr ab, was die Schmerzen zurückkehren ließ. Doch da sah sie aus dem Augenwinkel, wie Rangold einen weiteren Gegenstand unter dem Mantel hervorzog, der wie ein kleiner Beutel aussah. „Vorsicht!“ stieß sie erschreckt aus, um Arbosch zu warnen. Der drehte sich schwerfällig – ja, nicht nur vermeintlich schwerfällig, sondern wirklich langsam! – herum, aber in diesem Moment landete das Beutelchen schon vor seinen Füßen, wo es trotz des Matsches und des Regens mit einem dumpfen „Puuf“ in einer dichten Rauchwolke aufging, welche Doratrava binnen Augenblicken sämtliche Sicht nahm und sie husten ließ, nachdem sie nicht verhindern konnte, den beißenden Qualm einzuatmen. Der Husten schüttelte ihren Körper durch, ließ alle Qualen von neuem aufleben, doch am Rande ihrer Wahrnehmung bekam sie mit, wie sich Rangold schreiend näherte, wohl, um sich selbst Mut zu machen. Ob Arbosch der Qualm etwas ausmachte, wusste Doratrava nicht, dafür nahm sie dumpfe Geräusche eines Schlagabtauschs und einen erneuten Schrei Rangolds wahr, diesmal voller Pein statt Wut.

Endlich lichtete sich der Qualm, so dass Doratrava wieder etwas sehen konnte, auch der Hustenreiz wurde schwächer. Rangold erhob sich in fünf Schritt Entfernung eben erneut, er hielt seinen rechten Arm, der ein wenig unnatürlich verbogen aussah, während gerade Dorlind auf ihn zu taumelte, sich noch immer den Bauch haltend. „Na warte, Schlampe“, keuchte der Fettwanst angestrengt, „für heute hast du gewonnen, aber wir sehen uns wieder, wenn dein dicker Freund nicht da ist, das verspreche ich dir!“

Doratrava war zu schwach und zu erleichtert, um dem Kerl eine angemessene Antwort hinterherzurufen, als er zusammen mit seiner Handlangerin den Weg hinuntertaumelte. Arbosch kümmerte sich nicht mehr um die beiden, sondern kam wieder zu ihr. Man merkte ihm keinerlei Auswirkungen des Kampfes an, nur sein Hemd hatte einen Riss, wo die Axt ihn getroffen hatte. Der Riese beugte sich hinab zu ihr und wischte mit einer Sanftheit, welche die Gauklerin ihm nicht zugetraut hätte, die Tränen von ihren Wangen. Mit leiser, getragener Stimme grollte er: „Es wird alles gut, kleine Fee, schlaf jetzt.“ Er berührte sie mit dem Zeigefinger an der Stirn, was sie alle Schmerzen, alles Leid, alles Licht, alles Sein vergessen ließ ...

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„Dora? … Dora!“ Eine Stimme, von weither, nicht unbekannt, stach in ihren Kopf, vertrieb die herrliche Stille und Dunkelheit, welche Geborgenheit versprach. Dora, ja, damit war wohl sie gemeint, das war aber nicht ihr vollständiger Name. „Doratrava! Wach auf! Geht es dir gut?“ Netterweise lieferte die etwas schrill klingende Frauenstimme das fehlende Stück ihres Namens nach, dann fühlte sie Hände, welche nach ihren Schultern fassten und sie zu schütteln begannen. Ja, jetzt war sie wach, auch wenn sie das gar nicht sein wollte. Aber ging es ihr gut? Sie versuchte, das Gerüttel zu ignorieren und horchte in ihren Körper hinein. Da war ein schwacher Nachklang von Schmerzen zu spüren, im rechten Knöchel, der rechten Schulter, über der Brust und sonst noch an ein paar Stellen, aber eher so wie eine ferne Erinnerung, keine wirkliche Pein mehr. Sie war hungrig und, noch mehr, durstig, aber das waren bekannte Gefühle, nichts, was sich nicht eine Weile aushalten ließ. Sie lag auf einem harten, aber trockenen Boden, wahrscheinlich Holz, nicht sehr bequem, aber auch das ließ sich eine Weile aushalten. Es war ihr weder zu warm noch zu kalt, ihre Kleidung war trocken. Ja, alles in allem ging es ihr tatsächlich gut, wenn ihr auch irgendwie die letzten Erinnerungen fehlten, was vor Stille und Dunkelheit gewesen war.

„DORA!“ Die Stimme bekam nun einen deutlich hysterischen Unterton, wenn Doratrava auch deutlich merkte, dass die Frau sich mühsam zu beherrschen suchte. Also schlug sie resignierend die Augen auf, denn sonst würde die Störenfriedin wohl keine Ruhe geben. Sie musste zweimal blinzeln ob der ungewohnten Helligkeit, die nun in ihren Kopf strömte, dann erkannte sie das besorgte, aber hübsche Gesicht einer noch einigermaßen jungen Frau mit welligen, karottenroten Haaren über sich. „Jel … Jelride?“ Plötzlich war da dieser Name in ihrem Geist und ein Gefühl der Vertrautheit.

Die Frau – Jelride! - zuckte plötzlich ein Stück zurück und hörte mit dem Geschüttel auf. Die Besorgnis in ihrer Miene wechselte rasend schnell über Erleichterung nach Erschrecken. „Deine Augen … was ist mit deinen Augen passiert? Sie sind ja ganz schwarz!“ Das schien die Frau aber nicht nachhaltig zu stören, denn im nächsten Moment riss sie Doratrava vom Boden hoch und umarmte sie mit einer Heftigkeit, welche der Gauklerin – ja, sie erinnerte sich wieder an ihre Berufung – die Luft aus den Lungen trieb. Sofort ließ Jelride wieder los und wurde ganz rot. „Entschuldige, deine Verletzungen … äh … ?“ Verwirrung schlich sich in ihre Miene, sie machte sich an Doratravas Hemd zu schaffen, was in dieser widerstreitende Gefühle auslöste. „Ich habe doch gesehen, wie der Säbel … aber … wie ist das möglich?“

„Was ist denn?“ wollte Doratrava jetzt auch wissen. „Welcher Säbel? Was machst du da überhaupt? Und wo bin ich?“ Ihre Stimme klang ein wenig rostig in ihren Ohren, als wäre sie lange nicht gebraucht worden.

„Erinnerst du dich nicht? Dieser schreckliche Kerl, Rangold, mit seinen Spießgesellen, der dich gefangen hat? Aber zuvor hast du ihm einen Kampf geliefert, bei dem sein Säbel deine Brust aufgerissen hat, ich habe das Blut spritzen sehen und dachte erst, das war es jetzt, aber dann ging der Kampf noch weiter, die Wunde kann also doch nicht so schlimm gewesen sein.“ Jelride wurde immer aufgeregter, ihr traten sogar Tränen in die Augen. „Aber jetzt … jetzt ist ja kaum noch etwas von dem Schnitt zu sehen, als wäre er gut versorgt worden und hätte viele Tage Zeit gehabt zu heilen. Das ist unmöglich!“

Der Kampf. Der fette Kopfgeldjäger. Die Bohnenstange mit der Armbrust. Die Einäugige. Langsam kehrten die Erinnerungen zurück. Unwillkürlich zuckte Doratrava zusammen, als auch die Erinnerung an die erlittenen Schmerzen deutlicher wurde, doch gleich darauf entspannte sie sich wieder, denn wie schon vorher festgestellt war kaum mehr als ein ferner Hauch davon noch zu spüren oder eher zu erahnen.

Arbosch! Die Kopfgeldjäger hatten sie gefesselt und hinausgetragen in den Regen, um sie zurück nach Twergenhausen zu bringen. Aber dann war Arbosch plötzlich da gewesen und hatte es Rangold und Dorlind gezeigt, und zwar so richtig, bis sie schließlich, vermutlich mit nasser Hose, das Hasenpanier hatten ergreifen müssen. Und dann … Arboschs rauhes, aber freundliches, besorgtes Gesicht, die Berührung an der Stirn, Dunkelheit und Frieden – bis jetzt, als Jeride sie so energisch erweckt hatte.

„Wie lange?“ Jelride sah die Gauklerin verwirrt an. „Wie lange ist das her? Dass Rangold mich fortgeschleppt hat?“

„Zwei Stunden?“ Jelrides Stimme kippte etwas bei dieser Antwort. „Ungefähr jedenfalls. Ich wollte gerade hinübergehen zur alten Malische, die braucht ihre Salbe, da bin ich fast über dich gestolpert!“

Nun sah sich Doratrava erstmals um. Ja, sie erkannte das kleine Gasthaus, über dessen Tür nicht mal ein Schild hing. Sie lag auf den groben Holzbohlen, welche den nackten Boden unter dem Vordach vor dem Eingang bedeckten. Es regnete immer noch gleichmäßig, die Wege zwischen den Häusern waren mittlerweile eine einzige Matschwüste. Doch sie war trocken, Lederhose und Hemd waren sauber, von den ganzen Dreck- und Blutspuren der Hatz durch den Wald nach Sumin und dem später folgenden Kampf war nichts zu sehen, ihr Hemd war zwar durch den Säbeltreffer zerfetzt worden, aber jemand hatte es mit groben Stichen einigermaßen zusammengeflickt. Sie war noch immer barfuß, doch neben ihr lag das Bündel mit ihren Sachen, das Dorlind so sorgfältig geschnürt hatte. Ihre weißen Haare flossen über ihre Schultern wie frisch gewaschen. Das alles ergab keinen Sinn, aber wer außer Arbosch konnte sie hierher gebracht haben und war damit für den ganzen Rest verantwortlich? Doratrava beschloss, bei Gelegenheit nach dem freundlichen Riesen zu suchen, um ihm zu danken.

Plötzlich durchströmte ein Gefühl unendlicher Erleichterung, Dankbarkeit und Freude ihren Körper, so dass nun ihr Tränen über die Wangen liefen. Mit einer geschmeidigen Bewegung, derer sie vor zwei Stunden nicht in der Lage gewesen wäre, setzte sie sich auf und löste behutsam Jelrides Hände von ihrem Körper, dann stand sie auf und zog die Wirtin mit hoch. „Wo ist Sumin?“

„Im Stall, saubermachen. Er brauchte etwas, um sich abzulenken. Warum?“

„Gut“, antwortete Doratrava nur, hob ihr Bündel auf und schob Jelride in die Gaststube, die glücklicherweise leer war, jetzt, am frühen Nachmittag, wo die Dorfbewohner noch alle zu tun hatten. Andere Reisende waren auch keine gekommen, aber das waren nur flüchtige Gedanken am Rande. Eigentlich dachte Doratrava gerade gar nichts, und vielleicht würde sie das später bereuen. Später. Sie warf ihr Bündel achtlos auf einen der Tische, dann drehte sie die überraschte Jelride zu sich herum, fasste sie mit einem Arm tief am Rücken und mit dem anderen am Hinterkopf und drückte der Rothaarigen einen fordernden, zungenbewehrten Kuss auf die Lippen, bis diese japsend nach Luft schnappte. Dann dirigierte Doratrava die Wirtin, deren Gesicht eine entzückende Röte angenommen hatte und deren Widerstand äußerst moderat ausfiel, in den kleinen Nebenraum und schloss nachdrücklich die Tür hinter sich.

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Später war jetzt. Dank des Regens und der Wolken wurde es heute schon sehr früh dämmrig draußen, und das kaum lichtdurchlässige Fenster des kleinen Raumes tat ein Übriges dazu, dass man hier drin kaum mehr die Hand vor Augen sah. Doratrava war erschöpft, so sehr sogar, dass sie kurz eingenickt sein musste, denn sie spürte Jelrides heißen Körper nicht mehr. Statt dessen raschelte es neben ihr, und von draußen hörte sie eine drängende Stimme: „Mama, Mama, wo bist du denn?“ Ihre normale Reaktion müsste jetzt sein, erschreckt zusammenzuzucken, aufzuspringen, mit fliegenden Fingern ihre wenigen Kleidungsstücke zusammenzuraffen und sich gehetzt umzusehen. Statt dessen lag sie nur da, nackt, warm und zufrieden, und dachte nichts, oder fast nichts, und was sie dachte, wollte sie nicht denken …

Jelride hatte sich wohl fertig angezogen und beugte sich zu Doratrava hinunter. „Dora“, zischte sie unterdrückt, „komm, du kannst da nicht liegenbleiben, schon gar nicht so. Steh‘ auf, zieh‘ dich an!“ Dann beugte die Wirtin sich noch ein Stück weiter herunter, so dass ihre roten Locken Doratrava kleine Brüste kitzelten, und küsste die Gauklerin sanft und zärtlich. Als ihre Lippen sich wieder von Doratravas lösten, setzte sie hinzu: „Es heißt doch, man soll aufhören, wenn es am schönsten ist, oder?“ Das sollte wohl fröhlich klingen, aber die Gauklerin vermeinte, einen kleinen bitteren Unterton heraushören zu können. Doch schon fuhr Jelride sachlicher fort: „Wenn wir nicht wollen, dass Sumin uns findet, muss ich jetzt gehen, außerdem werden bald die ersten Gäste kommen, bei dem Sauwetter können die Leute ja auch nicht so lang arbeiten und brauchen am Abend etwas, was sie wärmt. Also: bis später!“ Die schmale Tür des Raumes öffnete sich nur so weit wie nötig, dann war die Wirtin mit wehenden Kleidern nach draußen entschwunden und Doratrava lag allein im Dunkel.

Die Gauklerin dachte gar nicht daran, sich zu bewegen. Sie bevorzugte es statt dessen, weiterhin nichts zu denken und jedem einzelnen Gefühl der letzten – ja, wieviel Zeit war wohl vergangen? Ein Stunde? Wahrscheinlich sogar weniger. - Zeit nachzuspüren, jedem Streicheln, jeder sanften Berührung, jedem fordernden Griff, jedem weichen Kuss, jedem harten Nagel, der ihre Haut ritzte, der sich steigernden Erregung, der bis zum Zerreißen angespannten Muskeln ihres Körpers, bis schließlich der erlösenden Explosion der Sinne und dem angenehmen Hinwegdriften danach. Auch das war ein Tanz gewesen, ein anderer Tanz, ein besonderer Tanz, aber war nicht jeder ihrer ‚großen‘ Tänze ein besonderer gewesen? Allerdings war selten in ihrem bisherigen Leben die Gelegenheit für einen ‚großen‘ Tanz oder eine ‚große‘ Vorstellung gewesen.

Nun dachte sie doch etwas. Und wahrscheinlich Unsinn. Angenehmen Unsinn. Mit einem tiefen Seufzen riss sie sich zusammen und verbannte den angenehmen Unsinn in eine Ecke ihres Kopfes, wo sie ihn später hoffentlich wiederfand. Dann suchte sie tastend nach ihrem Hemd und ihrer Hose. Ach, sieh an, da waren ja auch noch ihre Stiefel. Kaum saß sie angezogen auf der schmalen Liege, die doch sicher nicht in der Lage war, zwei Frauen gleichzeitig zu tragen, noch dazu, wenn … wenn sie einen Tanz aufführten, da wurde die Tür aufgerissen und Sumin stand im Rahmen. „Dora … ?“ Gegen das bespannte Fenster konnte der Junge sicher nur ihre Umrisse sehen, aber das reichte im wohl. „Was machst du da drin?“ Er schnüffelte. „Und nach was riecht es hier?“

Jetzt wurde Doratrava so richtig rot, sie spürte ihre Wangen von einem Moment zum anderen glühen. Travia sei dank konnte der Junge das bei dem Licht nicht erkennen. Der Erläuterung der tieferen Mysterien von Rahjas Lehre und was wohl Travia dazu sagen würde fühlte sie sich nicht gewachsen, weshalb sie schnell abzulenken versuchte: „Was willst du?“

Doratravas Stimme hatte irgendwie knurrig geklungen, was so gar nicht zu der jungen, weißhaarigen, zierlichen Gauklerin passte, so dass Sumin unwillkürlich einen Schritt zurück machte. „Äh … Mama sagte mir, du seist wieder da, und als der schrecklich Mann dich mitgenommen hat, hab‘ ich gedacht, ich seh‘ dich nie wieder, und jetzt bist du doch wieder da, und da wollte ich dir Hallo sagen und fragen, ob ich weiter bei dir Tanzen lernen darf und Mama wollte nicht sagen, wo du bist und da hab‘ ich dich gesucht …“

Der Junge sah so aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, da konnte Doratrava nicht anders als aufzustehen und ihn in die Arme zu schließen. „Ja, ich bin wieder da, der schreckliche Mann ist weg und kommt nicht wieder, alles ist gut. Ich denke, jetzt ist es schon ein wenig spät für Tanzunterricht, aber morgen machen wir weiter – wenn du mir nicht wieder in den Wald wegläufst, hörst du?“ Erst jetzt fiel Doratrava auf, dass in der Gaststube schon eine Handvoll Leute anwesend war, welche sich alle der Tür zum Nebenraum zugewandt hatten und die Szene mitbekommen hatten. Wussten denn die Dorfbewohner, was heute schon alles vorgefallen war? Soweit sie sich erinnerte, war während des Kampfes mit den Kopfgeldjägern niemand sonst zu sehen gewesen, und auch, als Rangold sie versucht hatte zu verschleppen, war ihr niemand aufgefallen. Egal. Sollten sie gucken. Eine Gaukelvorstellung mehr.

„Dora …“, setzte Sumin zögernd nochmals an.

„Was?“ gab die Gauklerin geistesabwesend zurück.

„Was … was machen wir denn jetzt mit dem … dem … dem ...“

„Was?“ Doratrava ignorierte die Dorfbewohner und schenkte ihre volle Aufmerksamkeit wieder dem Jungen.

„Also … dem, in dem dein Messer gesteckt hat?“ Sumin klang jetzt ganz eingeschüchtert.

Ups. Da war ja noch was, sie erinnerte sich. Die Bohnenstange, wie hieß der nochmal? Egal. Doratrava stand auf und nahm Sumin bei der Hand. „Wir gehen jetzt mal zu deiner Mutter, dann klären wir das.“

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Die Leute starrten sie schweigend an, als Doratrava mit Sumin an der Hand aus dem kleinen Nebenraum trat. Vermutlich hatte sich doch schon herumgesprochen, dass es heute in dem kleinen Dorf ein wenig „Abwechslung“ gegeben hatte. Der Gedanke daran ließ ihre Miene versteinern. Mehr denn je sah ihr weißes, perfekt symmetrisches Gesicht nun aus wie das einer Statue, und keiner freundlichen. Die meisten der Dorfbewohner schauten irritiert oder erschreckt oder aus welchen Gründen auch immer zur Seite. Mit schnellen Schritten durchmaß die Gauklerin den Schankraum und zog Sumin mit sich. Sie hatte jetzt keine Lust, irgendwelche Fragen zu beantworten, falls einer der Gäste sich doch noch ein Herz fasste.

Doratrava fand Jelride in der Küche, wo diese hektisch beim Zubereiten des abendlichen Eintopfes war. Sie sah nur kurz auf. „Dora. Ich bin spät dran.“ Ein winziges Lächeln umspielte ihren Mund. „Willst du mir helfen?“

Uh, Kochen. Nicht gerade ihre starke Seite, wie Doratrava sich eingestand. Und außerdem war sie wegen etwas anderem hier. Aber sie wollte guten Willen zeigen. „Was soll ich tun?“

Jelride schob ihr ein Schneidbrett und ein Messer hin, dazu irgend welche Wurzeln. „Schneid‘ das klein. Und dann ab in den Topf.“

Die Gauklerin konnte zwar Messer werfen, aber beim Schneiden musste sie sehr aufpassen, nicht ihre Finger zu nah an die Klinge zu bringen, insofern stellte sie sich recht unbeholfen an, was Jelride aber nicht weiter zu stören schien. Sumin verzog sich in eine Ecke und begann mit ein paar Küchenutensilien ein stummes Spiel, nachdem wir ihn nicht weiter beachteten.

„Sonst hilft er ein wenig mit“, flüsterte Jelride der Gauklerin zu. „Aber heute hat er sich eine Pause verdient.“

Was Doratrava wieder zu ihrem eigentlichen Anliegen brachte. „Sag‘ mal Jel, was hast du denn mit der Bohnenstange gemacht?“

Die Wirtin ließ den Kochlöffel sinken, mit dem sie gerade den Inhalt des Topfes umrührte. Natürlich wusste sie gleich, von wem Doratrava sprach. Ernst sah sie die Gauklerin an. „Ich habe seine Wunde versorgt, so gut es geht, und ihn dann in den Stall gebracht. Wir haben hier zwar sogar ein kleines Gästezimmer, falls tatsächlich mal jemand Fremdes zum Übernachten hierbleibt, aber das war mir zu schade für diesen … diesen ...“ Tränen traten Jelride in die Augen, Doratrava sah Zorn und Schmerz, aber auch Scham. Wenn sie sich nicht täuschte, zumindest. Sie streckte eine Hand aus und strich der Wirtin sanft über die Wange. Jelride nahm sich zusammen, lächelte dankbar und fuhr fort: „Da liegt er noch. Er ist ziemlich schwach und wird Fieber bekommen, wenn er es nicht schon hat. Du hast ihn ordentlich erwischt mit deinem Messer. Wenn dieser Rangold mit dir hätte unbehelligt abziehen können, wäre mir angst und bange, dass ich den Kerl nicht durchbringen könnte, bis er abgeholt würde, aber so … ist mir egal, ob er verreckt!“ Ihr Gesicht verzog sich vor Wut, aber so sicher schien sie sich ihrer Sache nicht zu sein, ihre Augen flackerten und ihr Mund verzog sich zweifelnd. „Aber … einfach umbringen oder absichtlich sterben lassen könnte ich ihn nicht, glaube ich ...“ Ihre Stimme wurde beim letzten Satz so leise, dass Doratrava diese über das Prasseln des Feuers unter dem Topf kaum noch hören konnte. Zum Glück konnte deswegen auch der Junge nicht viel hören – hoffte die Gauklerin zumindest. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, doch dieser ließ unbeeindruckt einen Kochlöffel durch die Luft schweben und bewegte den Mund in stummem Selbstgespräch.

„Ich habe eine Idee“, beschwichtigte Doratrava die Wirtin mit beruhigender Stimme. „Wir bringen die Bohnenstange in den Wald, ich bitte Arbosch, sich um ihn zu kümmern.“

„Wen?“ fragte Jelride verständnislos, als aus dem Schankraum laut ihr Name gerufen wurde.

„Ich erkläre es dir später,“ versprach Doratrava, als sie die Wirtin hin- und hergerissen sah zwischen ihrer Pflicht und ihrem Bedürfnis, den Plan der Gauklerin erläutert zu bekommen. „Geh‘ nur.“

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Als die Wirtin Richtung Gaststube verschwunden war, beschloss Doratrava spontan, dass sie heute ihre Finger genug in Gefahr gebracht hatte, und legte das Messer weg. Statt dessen streckte sie eine Hand nach Sumin aus. „Komm, kleiner Mann, wir gehen tanzen!“ Der Junge blickte auf, dann erhellte sich sein Gesicht schlagartig. „Au ja!“ rief er fröhlich, ließ die zweckentfremdeten Küchenutensilien fallen und sprang auf.

Auf dem kurzen Gang zum Schankraum kam ihr Jelride bereits wieder entgegen, deren Augen sich etwas weiteten, als sie sah, dass ich Sumin hinter mir her zog. „Wir gehen tanzen“, erklärte sich die Gauklerin schnell, bevor Jelride auf die falschen Gedanken kam. „Aber gut, dich nochmal zu treffen. Wo können wir hin, bei dem Wetter. In den Stall will ich gerade nicht“, setzte sie mit schiefen Lächeln hinzu. Irgendwie fühlte sie sich seltsam, immer noch aus dem Gleichgewicht. Sie konnte ihre Stimmung gerade gar nicht wirklich beschreiben, doch passte diese irgendwie nicht zur Situation. Vielleicht – nein, hoffentlich – wurde das besser, wenn sie tanzte. Wenn doch nur jemand da wäre, der ein Instrument spielen konnte. Aber die Dorfbewohner wollte sie danach jetzt nicht fragen.

„Äh … am Dorfrand dort“, die Rothaarige deutete vage hinter sich, „gibt es eine offene, aber überdachte Scheune, wo wir das Heu für das ganze Dorf lagern. Die ist gerade halb leer, da könnt ihr hin. Aber du wolltest mir doch erzählen, was wir mit …“ Jelride brach ab, als die Gauklerin abwinkte.

„Das hat Zeit bis später“, vertröstete Doratrava die Wirtin mit einem unbeschwert aussehenden Lächeln. „Bis dann! Komm, Sumin.“

„Aber nur, bis es dunkel ist. Der Junge muss ins Bett“, rief Jelride ihnen hinterher.

„Och Mama“, beschwerte dieser sich sogleich.

„Alles gut, mach‘ dir keine Sorgen“, erwiderte Doratrava leichthin. Blöde Redensart, schalt sie sich gleich darauf selbst. Nach dem, was heute schon alles passiert war! Egal jetzt, sie trat mit dem Jungen ins Freie, in den Regen. Bei diesem Wetter würde die Dunkelheit nicht lange auf sich warten lassen. „Komm, Sumin, zeig‘ mir die Scheune.“

Nun, mit der Dunkelheit hatte Doratrava es nicht so genau genommen. Sumin war Feuer und Flamme gewesen, es hatte der Gauklerin viel Freude bereitet, ihm weitere Tanzschritte beizubringen – und ihm gelegentlich zu zeigen, was man vollbringen konnte, wenn man richtig lange übte. Dem Jungen waren fast die Augen aus dem Kopf gefallen, aber Doratrava schämte sich nicht dafür. Sie hatte nichts anderes getan als sonst auch, ihr Bestes gegeben, um andere Menschen für eine kurze Zeit der Eintönigkeit ihres Daseins entsagen zu lassen und etwas zu schauen, das sie sonst selten geboten bekamen. Aber sie hatte gemerkt, wie sehr Sumin diese Ablenkung gebraucht hatte, um sein Weltbild wenigstens wieder ein kleines bisschen gerade zu rücken.

Die Gauklerin betrat mit dem Jungen zusammen den Schankraum. Es waren noch Dorfbewohner anwesend, deren Blicke sie absichtlich ignorierte, aber das würde nicht mehr lange so sein. Wer mit dem ersten Licht des Tages an die Arbeit gehen musste, konnte am Abend nicht stundenlang Bier trinken. Welches hier übrigens erstaunlich gut war für so ein abgelegenes Dorf, wie Doratrava sich erinnerte.

Jelride warf ihr einen giftigen Blick zu, als Doratrava ihr den Jungen heil und gesund und fröhlich von seiner Tanzstunde erzählend übergab, doch die Wirtin konnte den Anschein von strenger Missbilligung nicht lange aufrecht erhalten, bald ließ sie sich von der guten Laune ihres Sohnes anstecken und verschwand lachend mit ihm irgendwo im Haus.

Die Gauklerin zapfte sich selbst ein Bier und ließ sich dann innerlich etwas ächzend auf einen Hocker sinken, der hinter der Theke stand. Irgendwie war sie noch nicht wieder im Vollbesitz ihrer Kräfte, trotz allem, was Arbosch mit ihr gemacht haben mochte. Nach der anstrengenden Tanzstunde spürte sie sogar wieder ein Brennen im eigentlich gut verheilten Schnitt über ihrer Brust. Hoffentlich gab das keine Narbe, fuhr es ihr durch den Kopf, als ein Schatten auf sie fiel. Träge und etwas überrascht schaute sie nach oben. Ein großer, kräftig aussehender Kerl hatte sich vor ihr aufgebaut, er trug eine ärmellose, fettige Lederjoppe und hatte zerzauste kurze graue Haare. Eine alte Narbe lief vom rechten Auge bis zum Kinn herunter, das Gesicht war stoppelbärtig, die Augen funkelten angriffslustig. Die Arme hatte der Mann in die Hüften gestemmt, Wenn Doratrava nicht alles täuschte, hatte sie ihn schon gestern Abend unter den Besuchern der Schänke gesehen.

Als der Kerl sicher war, ihre Aufmerksamkeit zu haben, fing er an, etwas schwerfällig zu sprechen: „Heh, du, kannst zwar schön tanzen und springen, aber wenn du unsere Jelride oder den Sumin verhext, bekommst du‘s mit uns zu tun!“ Bei diesen Worten hatte der Mann sich noch weiter nach vorne gebeugt, so dass er auf sie fallen würde, wenn er nicht aufpasste. Was zum Namenlosen … ?

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Ein kurzer Blick an dem breiten, nicht eben nach Rosen duftenden Körper des Kerls vorbei zeigte Doratrava, dass von den acht oder neun anderen Leuten im Raum vielleicht die Hälfte mehr oder weniger grimmig zu ihr herübersahen, während die anderen versuchten, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Ein einziger drüben beim Feuer blickte ebenfalls in ihre Richtung, ohne gleich Dolche aus den Augen zu spucken. Was ging denn hier vor? Was hatte sie denn Schlimmes getan, das die Leute gegen sie aufbrachte? Sie war sich keiner Schuld bewusst, so sehr sie sich auch den Kopf zerbrach. Oder hatte irgend jemand mitbekommen, dass sie und Jelride … ? War das hier in diesem abgelegenen Dorf ein Problem? Sie wurde ein wenig rot, da sie sich ihrer Gefühle selbst nicht so recht im Klaren war und nicht genau wusste, was sie geritten hatte.

„Hast du verstanden, Mädchen?“ riss der Wortführer der grimmigen Dörfler Doratrava mit rauher, fordernder Stimme und ziemlich feuchter Aussprache aus ihren fieberhaften Überlegungen. Zum Glück stützte er sich nun mit einer Hand an der Wand hinter ihr ab, was die Gefahr, dass er auf sie stürzte, zum Glück deutlich verminderte. Ja, irgendwie konnte sie den alten Mann nicht richtig ernst nehmen, nachdem sie heute schon ganz andere Gefahren überstanden hatte. Andererseits wollte sie es sich auch nicht mit den Dorfbewohnern verscherzen. Sie mochte Jelride wirklich und wollte nicht, dass diese wegen ihr Schwierigkeiten bekam.

„Ich bin ja nicht taub,“ rutschte es Doratrava aller guten Vorsätze zum Trotz heraus. Offenbar hatte sie genau den falschen Ton getroffen, denn das Gesicht des Kerls begann langsam rot anzulaufen. Schnell hob sie beschwichtigend die Hände, doch da sie in einer Hand noch den Bierkrug trug, ging das nur auf Kosten eines Teils der süffigen Flüssigkeit, die aus dem Krug schwappte und mit einem lauten Klatschen auf dem Boden landete. „Ich hab‘s nicht so gemeint, entschuldige bitte. Und außerdem kann ich niemanden verhexen, weil ich keine Hexe bin! Ich dachte, das hätten wir gestern schon geklärt?“

Der grobe Klotz zeigte sich wenig beeindruckt. Was war nur in ihn gefahren? Er roch jetzt nicht übermäßig nach Bier oder Schnaps aus dem Mund, eher nach toten Tieren, betrunken schien er also nicht zu sein. Er ballte die Rechte zur Faust und schüttelte sie vor Doratravas Nase, so dass sie zurückzuckte und sich den Hinterkopf an der Wand anschlug. „Aua!“ entfuhr es ihr ungewollt, zudem schwappte noch ein Schluck Bier aus dem Krug.

„Ich verpass‘ dir am besten eine Tracht Prügel, wenn ich dann nicht verhext bin, glaub‘ ich dir!“ keifte der Kerl, dem die Gauklerin eine solche Art der Beweisführung durchaus zutraute in dessen aufgebrachter Stimmung. Sie spannte den Körper an, um rechtzeitig zum Beginn der Demonstration zur Seite zu springen, da erhob die Gestalt am Feuer ihre Stimme, ein noch recht junger Mann, auch sehr breit gebaut, mit halblangen schwarzen Haaren und einem Schnurrbart. „Lass‘ gut sein, Grodun, sie hat doch gesagt, dass sie dich verstanden hat, und sonst hat sie uns oder Jelride doch nichts getan.“

Der Wüterich, Grodun hieß er also, stieß sich von der Wand ab und fuhr zu dem Sprecher herum. „Halt dich da raus, Jungspund. Ich bestimm‘, wann gut ist!“

Nun stand der ‚Jungspund‘ von seinem Platz beim Feuer auf und stemmte die Hände in die Hüften. Von der Größe und vom Körperbau stand er Grodun in nichts nach, aber er war bestimmt zwanzig Jahre jünger. Doratrava nutzte den sich anbahnenden Streit und stellte den Krug zur Seite, um sich dann vorsichtig an der Wand entlang Richtung Durchgang zur Küche davonzustehlen.

„Ich habe es satt, dass du hier immer alle herumkommandierst, Grodun. Nur weil du der älteste Holzfäller bist, gibt das dir nicht das Recht, auch alle anderen herumzuschubsen!“ Der Jüngere machte einen Schritt weg vom Tisch, an dem er gesessen hatte, um mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen.

Grodun knurrte und trat dafür näher an den Jungspund heran. „Ich wollt‘ der da“, seine Hand wedelte in Doratravas Richtung, Phex sei Dank ohne dass er nach hinten gesehen hätte, „eine Lektion erteilen. Was mischt die kleine Hexe sich in unsere Angelegenheiten?“ Er bewegte sich einen weiteren Schritt auf den Jüngeren zu, der ihn ruhig erwartete. „Aber ich fang‘ jetzt erstmal mit dem Jungvolk an, das nicht weiß, was Respekt vor dem Alter bedeutet!“ Er hob eine Faust zum Schlag, und Doratrava machte, dass sie aus dem Schankraum huschte. Doch im kurzen Gang zur Küche stieß sie unvermittelt mit Jelride zusammen, die gerade von dort kam. „Ummpf“, entfuhr es der Gauklerin unwillkürlich und sie fiel aus ihrer geduckten Haltung zu Boden, so dass Jelride fast über sie stolperte. Das unverhoffte Aufeinandertreffen der beiden Frauen lenkte die Aufmerksamkeit der Streithähne auf sich. Grodun vergaß offensichtlich, dass er gerade den Jungspund hatte zurechtstutzen wollen, und brüllte: „Dageblieben, Hexenweib!“

Da trat Jelride vollends in den Schankraum und stemmte hoch aufgerichtet ihrerseits die Hände in die Hüften. „Grodun! Firdalor! Was soll das hier?“ Doratrava zuckte zusammen ob der schneidenden Schärfe, die in den Worten der Wirtin lag. Jelride konnte offensichtlich auch anders!

„Frag‘ Grodun“, erwiderte der Jüngere, Firdalor, mit leicht eingeschüchterter Miene und niedergeschlagenen Augen.

„Hrmmm“, knurrte der Ältere, nun deutlich abgekühlt ein seinem Jähzorn. „Wir wollen nicht, dass die Hexe was mit dir macht“, brummelte er dann in seinen Stoppelbart. Die Arme hatte er sinken lassen, er sah Jelride nicht direkt an.

Jelride sah ihn scharf an. „Was mit mir macht? Was denn? Außerdem ist Doratrava keine Hexe, sondern eine Gauklerin, sonst nichts, und meine Freundin ist sie auch. Und sterben hätte sie heute können, also hat sie unsere Sorge und unsere Gastfreundschaft verdient, und keinen unbegründeten Hass! Und jetzt ist Schluss mit den Gockelspielchen! Bedient euch, wenn ihr noch was braucht, aber wer sich in meiner Schankstube schlägt, braucht sich die nächste Zeit nicht mehr sehen zu lassen!“ Sie wandte sich wieder Doratrava zu, die sich mittlerweile aufgerappelt und nun doch wieder ihren Bierkrug zurückerobert hatte. War ja noch halb voll, wäre schade drum. „Komm, Dora, wir haben noch etwas zu besprechen.“ Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch.

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Jelride führte Doratrava kurzerhand in die Küche, nachdem sie sich versichert hatte, dass die Dorfbewohner still hielten und ihr auch nicht folgten.

„Was war das denn eben?“ fragte die Gauklerin, noch immer etwas erschüttert von der gerade knapp umgangenen Tracht Prügel.

„Das sollte ich eigentlich dich fragen“, schoss Jelride zurück, mit immer noch scharfer Stimme. Als sie aber den betroffenen Gesichtsausdruck Doratravas sah, zersplitterte ihre strenge Miene in ein herzliches Auflachen. Spontan drückte sie die Gauklerin an sich und gab ihr einen langen Kuss. Dann hielte sie diese auf Armeslänge Abstand vor sich. „Kaum lässt man dich ein paar Augenblicke allein, bist du schon wieder in Schwierigkeiten. Wie machst du das bloß?“

Doratrava war blassrosa angelaufen und schüttelte hilflos den Kopf. „Ich hab‘ gar nichts gemacht!“ protestierte sie lahm.

„Ja ja, das sagen sie alle.“ Jelride lächelte die Gauklerin warm an. „Mach‘ dir nichts draus, wir sind hier in Firnruh eine große Familie. Und wie in jeder Familie gibt‘s halt manchmal Streit. Grodun ist der Sprecher der Holzfäller, so was wie ihr Anführer, und da die Holzwirtschaft hier wichtig ist, nimmt er sich allerhand heraus. Unsere Dorfschulzin Magda ist seine Tante, deshalb sieht sie über Groduns Eskapaden gerne hinweg, solange er es nicht zu bunt treibt. Firdalor dagegen hat vor ein paar Jahren unsere Firanja geheiratet und ist zu uns ins Dorf gezogen. Obwohl die beiden als Jäger mit der beschränkten vögtlichen Erlaubnis der Jagd auf Hochwild nicht ganz unwichtig sind, hat Firdalor als Ortsfremder einen schweren Stand bei den Einheimischen. Die beiden geraten öfters aneinander, bislang haben sie sich aber noch nicht geschlagen. Aber kaum ist eine gewisse spitzohrige Gauklerin in der Nähe, brechen alle Schranken. Nochmal: wie machst du das nur?“

Obwohl die Frage der Wirtin in heiterem Tonfall gestellt war und sie eindeutig nur ein wenig freundschaftlich sticheln wollte, fühlte Doratrava sich getroffen. Ein bitterer Zug umspielte ihren Mund, als sie impulsiv und heftig eine Rechtfertigung versuchte: „Ich bin ich und kann niemand anderes sein. Ich habe weiße Haare, weiße Haut und komische Augen“, sie deutete auf dieselben, welche Jelride in nebligem Grau entgegenstarrten. „Ich habe spitze Ohren, bin deswegen mindestens Halbelfe, und kann jeden verhexen, wie es mir beliebt. Ich kann besser tanzen, Räder schlagen und Messer werfen als die meisten Leute, denen ich je begegnet bin, aber das liegt nicht an lebenslanger Übung, sondern daran, dass ich bestimmt mit Zauberei ‚betrüge‘. Ich bin heute hier, morgen dort, und deshalb klaue ich den Leuten, was nicht niet- und nagelfest ist. Ich bin eine junge, gut aussehende Frau, die für ihre Vorführungen aufreizende Kleidung trägt, und deshalb meint jeder Mann höheren – oder auch nicht so hohen – Standes, ich sei eine Hure und würde für ein paar Heller oder einfach nur ein gutes Mahl oder schöne Worte mit ihm ins Bett oder Heu springen. Dabei versuche ich nur, das weiterzugeben, was ich bei den Gauklern gelernt habe: lebe dein Leben, sei niemandes Untertan, schenke den Leuten Freude und ziehe daraus dein eigenes Glück. – Doch: ich bin ich, aber wer bin ich? Ich weiß nicht, wer mich gezeugt hat und warum meine Mutter mich dann doch nicht haben wollte!“ Während Doratravas Tirade begannen die Tränen zu fließen, bis sie sich haltlos schluchzend in Jelrides Arme warf.

Diese war völlig erschüttert, welche Auswirkungen ihr kleiner Scherz hatte. Sie barg die Gauklerin schützend in ihren Armen und streichelte ihr beschwichtigend, aber ein wenig hilflos, über den Kopf. „Tut mir leid, Dora, ich wollte dir nicht weh tun“, flüsterte sie, wobei sie selbst mit den Tränen kämpfen musste. „Alles ist gut, du bist bei mir, niemand wird dir etwas tun.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis Doratrava sich beruhigt hatte. Mit krächzender, noch immer tränenerstickter Stimme drohte sie Jelride: „Wehe, wenn du das jemandem erzählst. Dann bring‘ ich dich um!“ Natürlich war das scherzhaft gemeint – doch ein wenig erschreckt sah Jelride schon aus. Die Gauklerin versuchte ein schelmisches Lächeln, was ihr komplett misslang und eher zur Grimasse missriet. „Was wolltest du nun eigentlich mit mir besprechen? Was ich mit der Bohnenstange vorhabe, oder?“

Jelride, welche Doratrava noch immer tröstend in den Armen hielt, nickt nur.

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Die Gauklerin genoss die Berührung und dachte nicht daran, sich daraus zu befreien. Statt dessen begann sie zu erklären: „Ich hab‘ dir doch von Arbosch erzählt, als ich Sumin aus dem Wald zurückgebracht habe. Ach nein, stimmt, ich wollte dir von Arbosch erzählen, aber dann sind wir abgelenkt worden.“ Still lächelte Doratrava vor sich hin, der Aufruhr ihrer Gefühle von gerade schien fast schon wieder vergessen. Sie war zum impulsiv und lebenslustig, als dass sie lange düsteren Gedanken nachhängen konnte. „Also: Arbosch habe ich im Wald getroffen, als ich Sumin heute Morgen gesucht habe. Er hat mich zu dem Jungen geführt. Er sieht aus wie ein sehr großer, sehr kräftiger Mann mit wildem Bart und Haaren, aber seit er mich auch vor Rangold gerettet und wohl auch noch meine Wunden besser als ein Heiler versorgt hat, glaube ich nicht, dass er ein normaler Mensch ist. Ich werde in den Wald gehen und ihn bitten, die Bohnenstange zu sich zu nehmen. Dann bist du den Kerl los und er ist versorgt. Ich habe keine Ahnung, was Arbosch mit ihm machen wird, aber das ist mir eigentlich egal.“

Jelride hatte der Gauklerin mit immer größer werdenden Augen zugehört und dabei ganz vergessen, sie weiter zu streicheln. „Ein Mann wie ein Baum soll hier beim Dorf im Wald leben? Warum haben wir noch nie von ihm gehört?“ fragte sie schließlich ungläubig. „Und wie willst du ihn denn finden? Sieht ja so aus, als hätte er bisher immer dich gefunden.“

Doratrava zuckte die Schultern und löste sich jetzt doch bedauernd aus Jelrides Armen. „Er scheint ja genau zu wissen, was hier vorgeht, sonst hätte er nicht immer rechtzeitig zur Stelle sein können. Ich muss es einfach darauf ankommen lassen.“

„Und wann willst du zu ihm? Es ist schon stockfinster draußen!“ Jelride lang ehrlich besorgt, zweifelnd sah sie ihre Freundin an.

„Hm, ja, aber wenn ich es gleich mache, ist es erledigt. Außerdem: wenn ich Arbosch überzeugen kann, dann holt er sich die Bohnenstange am besten selbst, und das wäre doch sicher besser, wenn es dunkel ist und ihn niemand dabei sieht. Wer weiß denn davon, dass der Kerl in deiner Scheune liegt?“

Jelride runzelte unsicher die Stirn. „Eigentlich nur Sumin … und Lardir, der Sohn von den Rotstätters. Der hilft mir manchmal, wenn er Zeit hat, und ich brauchte ja jemanden, der mir hilft, den Verletzten in den Stall zu tragen. Ich weiß natürlich nicht, was er seinen Eltern erzählt hat, aber heute hat mich noch niemand darauf angesprochen. Ich hätte auch gar nicht gewusst, was ich erzählen soll.“ Jelride hielt inne, als sie sah, dass die Gauklerin etwas sagen wollte, und machte eine abwehrende Handbewegung. „Vielleicht sollten wir einfach einen Boten zum Vogt schicken, Firdalor zum Beispiel, und der soll dann entscheiden!“

Nun war es an Doratrava, die Stirn zu runzeln. „Aber wie lange wird es dauern, bis der Vogt sich darum kümmert? Der ist doch jetzt mit seinem Fest beschäftigt, und außerdem ein Zwerg, ich habe gehört, bei denen dauert alles ein wenig länger, weil sie so lange leben? Dann müsst ihr euch vielleicht wochenlang mit dem Verletzten herumschlagen – es sei denn natürlich, er stirbt vorher. Und dann bräuchtet ihr einen Geweihten für den Grabsegen.“

„Ja, schon, trotzdem … Dora, willst du wirklich nachts allein in den Wald? Nach allem, was heute schon passiert ist? Und ich weiß auch nicht, ob das richtig ist, die Bohnenstange einem seltsamen Mann aus dem Wald zu überlassen ...“ Jelride kaute unschlüssig auf ihrer Unterlippe.

Doratrava hingegen fühlte eine unerklärliche Gelassenheit und Zuversicht, wenn sie an Arbosch dachte. Sie konnte es nicht erklären, versuchte es deshalb auch gar nicht erst, aber sie vertraute dem … Waldschrat, oder wie auch immer man ihn nennen konnte, für sie war es richtig, irgendwie natürlich, sich an ihn zu wenden. „Jel, lass‘ es mich versuchen“, versuchte sie die Wirtin weiter zu überzeugen. „Ich will nichts tun, was dir nicht gefällt, also lasse ich es, wenn du gar nicht willst, aber lass‘ es mich versuchen. Ich spüre, dass das ein guter Weg ist!“

Immer noch zögerte Jelride. „Ich habe weniger Angst um den Kerl, als vielmehr um dich, Dora! Nicht mal wir hier würden ohne Not nachts in den Wald gehen, und wir kennen uns hier aus. Es gibt allerlei Geschichten, was da alles in den Wäldern sein Unwesen treiben soll, und das fordert man nicht heraus!“

Die Gauklerin fasste Jelride beschwichtigend bei den Händen. „Aber vielleicht ist Arbosch ja der Ursprung einer dieser Geschichten. Doch er ist freundlich, das spüre ich, er würde mir nichts tun. Er hat mich gerettet!“

„Aber du kennst ihn doch gar nicht! Du hast diesen Arbosch doch heute das erste Mal getroffen. Vielleicht hast du seine Geduld erschöpft?“ Jelride versuchte alles, ihre neue Freundin zurückzuhalten, aber sie sah deren Gesicht an, dass Doratrava sich schon entschieden hatte. Sie löste ihre Hände aus denen der Gauklerin und warf sie resignierend in die Luft. „Ach, du hörst ja doch nicht auf mich! Dann komme ich mit!“

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Doratrava schnappte unwillkürlich nach Luft. Sie wollte schon heftig ablehnen, aber mit welcher Begründung? Wenn sie die Gefährlichkeit des nächtlichen Waldes heraufbeschwor, dann würde sie doch genau der Wirtin das Wort reden. Sie blickte nach Worten ringend Jelride ins Gesicht, die siegessicher zurücklächelte. „Also – du bleibst da oder ich gehe mit, keine Widerrede“, bekräftigte Jelride nochmals.

Viel später verließen die beiden Frauen das Gasthaus durch die Hintertür. Da Jelride nicht gehen konnte, bevor der letzte Gast nach Hause gewankt war, hatte Doratrava sich noch einige Zeit gedulden müssen. Sie hatte lustlos mit ihren drei Bällen jongliert, um sich die Zeit zu vertreiben, als ihr das zu langweilig geworden war, hatte sie die Bälle durch einen Kochlöffel, eine kleine Pfanne und ein Küchenmesser ersetzt. Als dann alles scheppernd zu Boden gefallen war, war Jelride entsetzt in die Küche gestürmt und hatte sie erst einmal heftig ausgescholten, was ihr einfiele, solch einen Lärm zu machen, sie würde noch Sumin wecken und möglicherweise die wenigen noch in der Gaststube anwesenden Dörfler herbeirufen. Kleinlaut hatte Doratrava sie beschwichtigt, und Phex sei Dank waren weder die Dorfbewohner noch Jelrides Sohn aufmerksam geworden, sonst wäre der nächtliche Ausflug womöglich ins Wasser gefallen.

Nun, jetzt waren sie endlich unterwegs. Es hatte wenigstens aufgehört zu regnen, doch bis zum Waldrand war es nicht weit, und kaum unter den Bäumen, war das Geräusch und auch das Gefühl fallender Tropfen noch immer allgegenwärtig. Es war stockfinster, die Wolken ließen keinen Schimmer des Madamals auf die Erde fallen, und schon gar nicht das dichte Blätterdach. Jelride hatte eine abblendbare Laterne mitgenommen, welche sie gerade so weit öffnete, dass die beiden Frauen gerade so erkennen konnten, wo sie entlang gingen. Beide trugen Mäntel gegen die nun durchaus empfindliche Kälte und Nässe, Doratrava hatte alle Wurfmesser und sogar ihren schweren Dolch im Gürtel stecken. Die Wirtin hatte mit einem entschuldigenden Blick lediglich eines ihrer Küchenmesser mitgenommen.

Die Gauklerin war von einer seltsamen Zuversicht durchdrungen. Sie fürchtete heute Nacht keine Wesenheiten, die Legenden entsprungen waren oder für deren Entstehung erst verantwortlich zeichneten, warum auch immer. Aber wilde Tiere konnten trotzdem ihren Weg kreuzen, was Doratrava nicht hoffte, aber denen wollte sie zumindest nicht wehrlos gegenüberstehen. Zumal sie im Zweifelsfall nicht flüchten konnte, hatte sie doch die störrische, unvernünftige, liebenswerte, hilfsbereite, kluge Jelride im Schlepptau, die sich nur mit einem Küchenmesser bewaffnet den Gefahren des Waldes stellen wollte. Verdammt, vielleicht hätte sie der Guten einfach einen Schlag auf den süßen Kopf geben sollen … was sie niemals über sich gebracht hätte.

„Wohin jetzt?“ fragte Jelride in diesem Moment. Die beiden Frauen waren nun vielleicht 300 Schritt vom Dorf entfernt und fünfzig Schritt tief in den Wald eingedrungen. Noch befanden sie sich auf dem Weg, welcher in ein paar Tagen Doratrava zur Jagd führen würde, so die Götter es wollten, aber in der klammen Finsternis war dieser kaum als solcher zu erkennen. Jelride nahm richtig an, dass nicht dieser Weg sie zu ihrem Ziel bringen würde, wie Doratrava beiläufig feststellte, während sie selbst die Augen schloss und nach innen lauschte. Sie folgte dabei einfach ihrer Intuition, denn sie hatte keine Ahnung, wie sie Arbosch finden sollte, aber das hatte sie noch nie längerfristig geschreckt. Und tatsächlich, sie verspürte einen eigenartigen Zug, den schwachen Drang, in eine bestimmte Richtung zu gehen, gleichzeitig aber auch eine unbestimmte Warnung, genau diesen Weg nicht zu beschreiten. Da sie sich aber keiner Schuld und unrechten Absicht bewusst war, ignorierte sie die Warnung, fasste Jelride bei der Hand und flüsterte ihr zu: „Jel, ich führe dich, aber du musst leuchten und verhindern, dass ich stolpere oder gegen einen Baum renne. Ich muss die Augen geschlossen halten.“ Die Gauklerin spürte, wie Jelride sie zweifelnd und unsicher ansah. „Vertrau‘ mir!“, setzte Doratrava deshalb hinzu. „Und frag‘ nicht. Das ist besser für uns beide.“

Jelride überlegte sich ernsthaft, ob sie ihre Freundin nicht einfach zurück zum Dorf zerren sollte. Nun, in Dunkelheit und Kälte und Einsamkeit war sie sich nicht mehr so sicher, ob ihre Idee, die Gauklerin zu begleiten, eine gute gewesen war. Zumal diese anfing, sich seltsam zu benehmen. Vielleicht lauerte hinter dem nächsten Baum schon eine echte Hexe, die nur darauf wartete, lebendes Fleisch für ein finsteres Ritual in die Finger zu bekommen? Von irgendwo aus der Nähe erklang der krächzende Schrei einer Krähe, und Jelride zuckte heftig zusammen. Um ein Haar hätte sie die Laterne fallen lassen.

Doratrava indes schien gar nichts gehört zu haben. Bestimmten Schritts zog die Gauklerin Jelride abseits des Weges tiefer in den Wald, und diese hatte bald genug damit zu tun, ihrer Aufgabe nachzukommen, nämlich zu verhindern, dass die Gauklerin über Wurzeln stolperte oder in Erdlöcher fiel oder gegen Äste rannte. Mehrmals zischte Jelride ihrer Freundin zu, sie solle langsamer machen, aber Doratrava ging einfach immer weiter und holte sich den einen oder anderen Kratzer, bevor Jelride es verhindern konnte. Dabei folgte ihr Weg keineswegs einer geraden Linie, sondern schlängelte sich mal hierhin, mal dorthin, und das nicht, um irgend welchen Hindernissen auszuweichen. Im Gegtenteil, jetzt zog die Gauklerin sie sogar durch ein Dornengestrüpp, dessen Ranken heftig und schmerzhaft an ihren Gliedern zogen. Als Jelride meinte, nicht mehr weiterzukommen, hatte sie plötzlich das unbestimmte Gefühl, dass die Ranken sich wie von Geisterhand zurückzogen.

Doratrava bekam von alledem nicht wirklich etwas mit. Sie folgte ihrer inneren Spur mit schlafwandlerischer Sicherheit, so schwach sie auch sein mochte. Einmal öffnete sie spontan die Augen, da sah sie rechts und links des Weges zwei zerzauste, alte Bäume stehen, die mit ihren wild gezackten Ästen fast so etwas wie ein Tor bildeten. Und waren da nicht zwei gelb leuchtende Augenschlitze in der Rinde jedes der beiden Stämme zu sehen, welche sie argwöhnisch und mahnend musterten? Doch als Doratrava spürte, wie die unsichtbare Schnur, an welcher sie sich entlanghangelte, zu zerfasern drohte, schloss sie die Augen schnell wieder. Jelride schien nichts bemerkt zu haben, denn der Zug, den die Wirtin auf ihre Hand ausübte, um sie um Hindernisse herumzulenken, veränderte sich nicht spürbar.

Doratrava hatte nun das Gefühl, durch zähen Schlamm zu waten, welcher mit aller Macht verhindern wollte, dass sie ihr Ziel erreichte, doch da war der Schlamm an die Falsche geraten. Sie biss die Zähne zusammen und kämpfte sich unermüdlich vorwärts. Um eine gute Tänzerin und Akrobatin zu sein, brauchte es viel Übung, noch mehr Hartnäckigkeit und einen unerschütterlichen Willen, seinen Körper über alle Grenzen hinaus zu führen. Und tatsächlich begann sie bei diesen Gedanken einen Tanz, erst langsam und mühsam, doch dann immer schneller und beschwingter. Der Zug des Schlamms wurde schwächer, als sei dieser überrascht, dass sein Opfer nicht klein beigab, sondern nur umso energischer eigentlich unmögliche Bewegungen vollführte, bis es über dem Boden zu schweben schien, sich um Büsche und Bäume herumwand, seine Arme über diese streichen ließ, als seien es flüchtige Tanzpartner, um schließlich mit einem letzten Wirbel den Bereich des tödlichen Schlamms ein für alle Mal zu verlassen.

Jelride schrie entsetzt auf, als Doratrava sich plötzlich von ihr losriss und zu einer unhörbaren Musik zu tanzen begann, erst langsam, dann immer schneller, als sei ein Dämon in sie eingefahren. Ungläubig starrte sie der Gauklerin hinterher, die sich mit traumwandlerischer Sicherheit an Dornengestrüpp und ausladenden Bäumen vorbei immer weiter von ihr entfernte, bis sie im Wald verschwunden war. Erst jetzt erwachte die Wirtin aus ihrer Erstarrung und blendete die Laterne voll auf. „Dora? Dora! Doratrava! Wo bist du? Komm zurück!“ rief Jelride zunehmend verzweifelt, jede Vorsicht ob der möglichen Gefahren des Waldes, die sie damit auf sich aufmerksam machte, in den Wind schlagend.

Mit einem Mal fühlte die Gauklerin, wie starke Arme sie an den Schultern griffen und ihrem wilden, ungestümen, urtümlichen Tanz ein jähes Ende machten, indem diese sie einfach vom Boden hoben. Erschreckt und aus ihrer Versunkenheit gerissen riss Doratrava die Augen auf und fand sich Auge in Auge mit einem knorrigen Gesicht in der Rinde eines gewaltigen Baumes, dessen Ausmaße sie in der Dunkelheit nur erahnen konnte. Ein seltsames, lautes, beunruhigend klingendes Knarren ertönte in ihren Ohren, als sich unter den gelben Augenschlitzen und der knolligen Nase ein breiter, waagrechter Schlitz öffnete. Mit mehreren Augenblicken Verzögerung registrierte die Gauklerin erst, dass sie Worte gehört – und verstanden! - hatte. „Kleine Fee. Ainthuviria. Was willst du hier?“

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Das war … konnte das … ? Ihre Gedanken waren zu einer zähfließenden Masse erstarrt, welche sich kaum noch von Fleck bewegte. Ein schier unerträglicher Druck hatte sich auf ihren Kopf gelegt, welcher jegliche Initiative zu ersticken drohte. Ein winziger Funke in Doratravas Innerem vermittelte ihr das Gefühl, dass sie unrettbar verloren wäre, gäbe sie nun jeglichen Widerstand auf. Also kämpfte sie, kämpfte sie erneut, wie schon ‚draußen‘ gegen den Schlamm, nahm ihre Kraft zusammen und öffnete Reserven ihres Geistes, von denen sie bisher nicht gewusst hatte, dass sie existierten. Es war ihr nicht möglich, eingeklammert wie sie war, sich in einen Tanz zu retten, eher fühlte sie sich wie beim Armdrücken mit einer Thorwalerin, nur dass nicht nur ihr Arm gefordert war, sondern jegliche Muskelfaser ihres Körpers und jedes Quäntchen Willenskraft, dass sie irgendwie aufbringen konnte. Zehntelfinger für Zehntelfinger zwang ihr Geist den Druck aus ihrem Kopf und von ihrem Körper, bis plötzlich die Welt um sie herum zersplitterte wie eine Glasscheibe in einem horasischen Herrenhaus, in welche ein übelwollender Nachbar einen Stein geworfen hatte.

Doratrava hatte das Gefühl, hart auf einen unnachgiebigen Boden geschleudert zu werden, was ihr die Luft schmerzhaft aus den Lungen trieb, doch dann schlug sie die Augen auf, ohne sich erinnern zu können, sie überhaupt geschlossen zu haben. Sie spürte Wurzeln unter sich, Moos, Feuchtigkeit, um sie herum standen Bäume dicht an dicht, zwischen denen ein düsteres Zwielicht herrschte. War denn nicht mehr Nacht? Dann fiel ihr Blick auf eine kleine Lichtung direkt vor ihren Füßen, und dort stand er! „Arbosch!“ entfuhr es der Gauklerin, die sich mühsam aufrichtete. Sie fühlte sich wie gerädert, als hätte sie stundenlang geübt bis zur Erschöpfung und dann erst recht weitergemacht.

Arbosch sah aus wie immer, mit wilden, langen Haaren und ebensolchem Bart, barfuß, in seiner üblichen, einfachen groben Kleidung, und blickte ein wenig grimmig, aber nicht unfreundlich auf sie herab.

„Was willst du, kleine Fee?“ fragte er mit grollender Stimme … erneut? Doratrava war sich nicht sicher, was von den Erlebnissen der letzten Zeit, seit sie Jelride (Jelride! Wo war sie überhaupt? Verdammt!) verloren hatte, real gewesen war. Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu klären, was nicht wirklich viel half.

„Arbosch!“ wiederholte Doratrava wenig geistreich. „Äh … ich dachte, also, vielleicht könntest du uns helfen … ?“ Ihre Stimme überschlug sich ein wenig, sie fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Das alles war wohl doch keine so gute Idee gewesen. Hätte sie bloß auf Jelride gehört!

„Warum?“ grummelte Arbosch, eher abweisend, wie die Gauklerin fand.

Darauf fiel Doratrava keine gute Erwiderung ein. Spontan überließ sie sich ihrer Intuition. „Weil … du mir bisher schon geholfen hast und mich magst?“

Der Riese klappte den Mund hörbar zu. Offenbar hatte er nicht mit dieser Antwort gerechnet, freute sich Doratrava ein ganz kleines bisschen über diesen winzigen Sieg. Dann machte er einen so schnellen Schritt auf sie zu, dass sie erschreckt und völlig überrascht zurücksprang. „Du must noch viel lernen, kleine Fee“, kollerte seine Stimme nun eher wie eine Berglawine in ihren Ohren. „Ich helfe dir – ein letztes Mal!“

Doratrava hatte das untrügliche Gefühl, dass gerade irgend ein Handel geschlossen worden war, dessen Preis sie nicht kannte und aus dem sie nicht mehr herauskam. Doch die Gauklerin war gut darin, das Leben so zu nehmen, wie es war, also zuckte sie innerlich die Schultern und kam zur Sache. „Die Kopfgeldjäger, vor denen du mich gerettet hast. Ich habe einen von ihnen verletzt, bevor sie mich gefangen haben, der liegt nun im Dorf in einer Scheune. Ich dachte … du könntest dich um ihn kümmern!“ Sie hatte sehr schnell gesprochen, in der unbestimmten Furcht, zu wenig Zeit zu haben, und hielt nun atemlos und erwartungsvoll inne.

„Gut“, grollte Arbosch nur, diese eine Silbe, ohne nähere Nachfrage. Doratrava wollte schon erklären, was sie sich vorstellte, da zuckte der Arm des Riesen nach oben, und ihr schwanden die Sinne. „Jel ...“ war ihr letzter Gedanke.

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„… Jel ...?“ Doratrava regte sich stöhnend. Licht sickerte durch ihre geschlossenen Augenlider, irgend etwas Hartes drückte ihr ins Kreuz, ihr war kalt, ihre Kleidung war nass, es roch nach Nebel und Moos und … Jel? Die Gauklerin riss die Augen auf und registrierte erst jetzt, dass sie auch etwas von oben drückte: der schlaffe Körper einer rothaarigen Frau, der schwer quer über ihrem eigenen lag. „Jel! Was ist mit dir? Wach auf!“ rief Doratrava bestürzt und wälzte den leblosen Körper von ihr herunter, um ihn dann umso energischer zu schütteln, bis erste Geräusche aus Jelrides Mund ertönten.

„Was…? Aufhören. Aufhören! Halt!“ krächzte die Wirtin erst schwach, dann zunehmend unwirsch und abwehrend.

„Jel! Den Göttern sei Dank!“ Doratrava umarmte die Rothaarige mit aller Macht und drückte ihr dann einen heftigen Kuss auf den Mund.

„Mmm...mmh… lass gut sein!“, riss sich Jelride schließlich lachend und keuchend los, „du bringst mich noch um!“

Endlich ließ die Gauklerin von ihrer Freundin ab und zog sie hoch. „Ist alles gut? Ich … ich habe dich verloren, und … dann wurde alles seltsam!“ stieß Doratrava hervor. „Ich wollte nicht … ich hätte auf dich hören sollen!“ Sie blickte betreten zu Boden.

Jelride sah die weißhaarige Gauklerin mitfühlend an. Doch dann setzten ihre eigenen Gedanken wieder ein. Ja, was war eigentlich mit ihr geschehen? Sie erinnerte sich noch, nach Doratrava gerufen zu haben, als diese plötzlich wie vom Namenlosen besessen davon getanzt war. Aber danach? So sehr sie sich den Kopf zerbrach, ihr fiel nicht ein, was danach geschehen war. Dann erinnerte sie sich daran, was sie hatten eigentlich erreichen wollen. „Dora …“, begann die Wirtin zaghaft, „hast du diesen Arbosch gefunden? Wird er uns helfen?“

Doratrava sah auf, und alle Geschehnisse der Nacht brachen unvermittelt über sie herein, so dass sie unwillkürlich in die Knie ging. Als Jelride ihr schon helfend zur Seite springen wollte, winkte sie aber ab. „Geht schon, alles gut,“ brachte sie heraus, wenig überzeugend in ihren eigenen Ohren. Schnell fuhr sie fort: „Ja, ich habe Arbosch getroffen, und ja, er versprach, uns zu helfen.“ Alle anderen Einzelheiten des Zusammentreffens mit dem Riesen unterschlug sie lieber, auch das Gefühl, diesem nun mindestens etwas schuldig zu sein. „Er hat das aber nicht näher erklärt, und dann wurde ich ohnmächtig.“

„Ich sagte doch, der Wald ist gefährlich“, gab Jelride zurück. „Ich weiß auch nichts mehr, außer dich gerufen zu haben, und dann wurde ich ohnmächtig.“

„Komm, gehen wir zurück zum Dorf“, drängte Doratrava. „Sonst wirst zumindest du vermisst“, setzte sie, nicht vollkommen ohne Bitterkeit, dazu.

Jelride wuschelte ihr tröstend über den Kopf, so, wie man es bei einem Kind tut, dann nahm sie die Gauklerin bei der Hand und führte sie. Dieser Teil des Waldes kam ihr nicht wirklich bekannt vor, aber ein untrügliches Gefühl sagte ihr, in welcher Richtung das Dorf liegen musste.

Jetzt in der Dämmerung schafften sie den Rückweg recht schnell, sie waren tatsächlich nur wenige Hundert Schritt vom Dorf entfernt gewesen. Jelride fand sogar ihre Laterne wieder, worüber sie sehr erleichtert war. Das Leben im Dorf war hart, der Verdienst gering, und eine abblendbare Laterne somit ein wertvoller Gegenstand.

Ihr erster Weg führte die beiden Frauen zum Stall. Im Matsch vor dem Gebäude waren keine besonderen Spuren zu entdecken, von drinnen hörten sie das Muhen einer Kuh. Schnell öffnete Jelride den Verschlag und eilte hinein, dicht gefolgt von der Gauklerin. Die Bohnenstange war verschwunden! Spurlos! Nichts deutete darauf hin, dass der Verletzte jemals hier gewesen war, man konnte nicht mal eingedrücktes Stroh erkennen, wo er einmal gelegen hatte. Verwundert suchte Jelride den ganzen Stall ab, begleitet von protestierenden Äußerungen der teilweise noch schläfrigen Tiere, aber ohne Erfolg.

„Er ist tatsächlich weg“, stellte die Wirtin schließlich etwas atemlos fest.

„Freu‘ dich“, erwiderte Doratrava lächelnd. „Keine Sorgen mehr deswegen. Arbosch hat Wort gehalten.“ Wann würde sie den Preis zahlen müssen?

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Der Tag verging ausnahmsweise ohne größere Katastrophen, wenn man davon absah, dass Sumin sich beim Tanzunterricht das Knie aufschlug, als er versuchte, eine Pirouette nachzumachen, welche Doratrava ihm gezeigt hatte, da sie mal wieder nicht an sich halten konnte. Der Junge war hart im Nehmen, aber Jelride hatte die Gauklerin zum wiederholten Male heftig ausgeschumpfen. Da in dieser Stimmung nicht gut Kirschen essen war mit der Wirtin, hatte Doratrava das Genick eingezogen und versprochen, vorsichtiger zu sein.

Allerdings hatte Jelride ihrer Freundin, nachdem sie sich beruhigt hatte, auch berichtet, dass Grodun und seine Anhänger immer noch Stimmung gegen sie machten, wenn auch nicht mehr so offen wie am Tag zuvor. Doratrava hatte geseufzt und mit einem gewissen Bedauern zum Ausdruck gebracht, dass es sowie langsam an der Zeit wäre, weiterzureisen, wenn sie denn tatsächlich rechtzeitig bei dieser Jagdhütte in den Wäldern sein wollte. Jelride hatte sie nur seltsam angesehen und sie für den Abend zu einem Gespräch gebeten. Der Gauklerin war etwas mulmig geworden, aber natürlich hatte sie zugesagt.

Und nun war es Abend geworden. Zwar hatte es heute kaum geregnet, aber die Wolken hingen immer noch schwer und tief über den Bergen und es wurde früh dunkel. Die Gäste in Jelrides Schankstube kamen und gingen auch wieder, Doratrava hatte allerdings darauf verzichtet, etwas zum Besten zu geben, denn sie hatte auch Grodun gesehen. Da Jelride ihrem Sohn nach der Verletzung und aufgrund der Missachtung ihrer Anweisungen am gestrigen Abend verboten hatte, noch nach Einbruch der Dunkelheit mit der Gauklerin zu üben, ‚vergnügte‘ diese sich alleine in der halbleeren Scheune am Rande des Dorfes und wartete darauf, dass Jelride das Licht aus dem Fenster nahm, welches anzeigte, dass die Gaststube noch geöffnet war. Dieses Vergnügen bestand darin, dass sie einen Hauklotz, wie er zum Holz machen verwendet wurde auf der einen Seite der Scheune postiert hatte und in der zunehmenden Dunkelheit von der anderen Seite aus mit ihren Messern darauf warf. Das half ihr ein wenig, die innere Anspannung abzubauen, allerdings wurde es mit fortschreitender Zeit immer schwieriger, die Messer wieder aus dem Klotz zu bekommen,

Endlich erlosch das Licht im Fenster der Gaststube. Doratrava wartete noch ein kleines Weilchen, bis sie keine Geräusche von heimkehrenden Dorfbewohnern mehr hören konnte, dann huschte sie aus der Scheune und in der nun fast vollkommenen Finsternis hinüber zu Jelrides Haus, wobei sie sich die letzten paar Schritt entlangtasten musste. Nicht jeder mit spitzen Ohren konnte im Dunkeln sehen, wie sie mal wieder mit einem Anflug leichter Bitterkeit über die allgegenwärtigen Vorurteile der Menschen ihr gegenüber bei sich dachte.

Sie klopfte, und gleich darauf ließ Jelride sie herein, um hinter ihr die Tür zu verriegeln. „Gegen ungebetene Waldbewohner – und Grodun, falls er meint, etwas vergessen zu haben“, erläuterte Jelride ungefragt. „Komm, wir gehen in die Küche, du hast bestimmt noch Hunger!“ Doratravas Magen knurrte zustimmend bei diesen Worten, tatsächlich hatte sie seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen.

Während Doratrava sich stärkte, kam Jelride zur Sache. „Ich weiß selbst, dass du weiter musst, und weil nicht alle hier freundlich zu dir sind, eher früher als später.“ Sie stockte ein wenig und musste schlucken. „Ich hätte mir gewünscht, wenn du noch ein paar Tage mehr hiergeblieben wärst, wegen Sumin.“ Sie stockte erneut und ließ ihren Kopf nach vorne sinken, so dass ihre roten Locken ihr Gesicht verdeckten. „Und mir … noch nie habe ich … und ich wusste gar nicht, dass … aber jetzt …“

„Jel“, unterbrach sie Doratrava sanft und nahm ihre Hände, bis ihre Freundin endlich wieder aufblickte. Durch den Schleier ihrer Haare sah die Gauklerin im düsteren Licht, das das glimmende Holz in der Küche verbreitete, das Glitzern von Tränen. Schon wieder war später, aber anders, als sie sich das vorgestellt hatte. Hier ging es nicht nur um sie allein. Das war etwas Neues für Doratrava, die Zeit ihres Lebens zwar immer wieder ‚Freunde‘ gehabt hatte, angefangen von den Mitgliedern der Gauklertruppe, mit der sie als Kind ihrem Heimatdorf und ihren Zieheltern entflohen war. Aber niemals so. Zum allerersten Mal vermeinte sie, Liebe, echte Liebe zu fühlen – und Jelride ging es offenbar genauso. Selbst Lugan, der Utulu, an den sie gegen ihren Willen ihre Unschuld verloren hatte (und der rein gar nichts dafür konnte, aber das war eine andere Geschichte, über die sie jetzt nicht nachdenken wollte), war ‚nur‘ ein Freund. Wenn sie darüber nachdachte und verglich, was sie ihm gegenüber fühlte und was sie bei Jelride empfand, dann gewann die Frau, die vor zwei Tagen in ihr Leben getreten war, in jeder Beziehung. Nicht, dass sie die körperliche Beziehung zu dem Utulu bedauerte (wenn man von den Umständen, wie sie begonnen hatte, absah), aber es war eben nur das – eine rein körperliche Beziehung. Und es war … nun ja, lustig gewesen, mit dem sogar im Vergleich zu ihr weltfremden Urwaldkrieger durch die Lande zu ziehen. Aber auf Dauer auch anstrengend. Sie schüttelte den Kopf, um die Gedanken an Lugan loszuwerden, denn um ihn ging es jetzt gar nicht. Sondern um Jel, die sie liebte, obwohl sie wusste, dass sie nicht hierbleiben und die Wirtin nicht einfach ihr Leben, ihren Sohn und ihr Dorf zurücklassen würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde Doratrava wirklich geliebt, und sie musste den Menschen, der ihr dieses unendlich wertvolle Geschenk machte, nun, nicht zurückweisen, aber dennoch zurücklassen. Sie musste jemanden anderen verletzen.

Doratrava wurde gewahr, dass Jelride sie die ganze Zeit fragend anstarrte, während die Tränen sich an ihrem Kinn sammelten. Sie musste aufhören mit dem Selbstmitleid, wenigstens das. „Jel … ich liebe dich. Wie noch niemanden zuvor in meinem Leben. Ich … ich weiß auch nicht, wie das geschehen konnte. Aber ich bin nicht dafür geschaffen, ein Leben lang in einem kleinen Dorf am Rand des Nichts … ja, was zu tun? Und du, du bist nicht dafür geschaffen, mit deinem Sohn auf der Straße zu leben, kein Zuhause zu haben, nicht zu wissen, was du am nächsten Tag essen wirst, bei Wind und Wetter durch die Lande zu ziehen und den Spott oder gar Hass der Leute zu ertragen, die sie ‚Hexen‘ gegenüber zum Ausdruck bringen.“ Nun stiegen Doratrava die Tränen in die Augen, der Hals wurde ihr eng. „Ich liebe dich – aber wenn ich hierbliebe, wäre ich gefangen. Ich muss frei sein, ich lebe für meine Kunst, und wenn ich das nicht mehr hätte, müsste unsere Liebe sterben. Und dafür ist sie zu schade. Ich muss gehen, und nehme unsere Liebe mit in meinem Herzen, dann stirbt sie erst, wenn ich selbst sterbe!“

Jelride sah die Gauklerin die ganze Zeit unverwandt an, während die Tränen von ihrem Kinn zu Boden tropften. „Dora …“ brachte sie nur heraus, dann riss sie ihre Geliebte unvermittelt an sich, dass diese meinte, sie würde ihr nun alle Knochen brechen. ‚Auch eine Methode‘, meldete sich ihr Geist ungebeten wie meistens.

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Doratrava stöhnte, bis Jelride endlich lockerer ließ, dann lachte und weinte sie gleichzeitig und streichelte der schönen rothaarigen Wirtin über das Haar und die Wangen. Diese ließ sich das gern gefallen, doch auch ihre Tränen versiegten nicht gänzlich. „Dora … ich habe vom ersten Moment an gewusst, dass du nicht hierbleiben wirst. Und doch … hast du mich verhext!“ Ihr Gesicht verzog sich zu einem schmerzlichen Lächeln. „Du bist eben doch die Hexe von uns beiden … nur anders als Sumin das meinte oder die Leute hier. Peraisumu sei Dank sind nicht alle Hexen böse … ups!“ Jelride schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund, doch Doratrava sah sie nur verwirrt an.

„Was?“

„Nichts, alles gut“, wiegelte Jelride ab. „Dora … ich weiß auch nicht, wie du das gemacht hast, aber ich liebe dich auch. Und will dich nicht verlieren. Und muss dich ziehen lassen.“ Sie hob die Hand, als Doratrava den Mund öffnete. „Still! Sag‘ nichts, was du später bereuen wirst! Du hast doch schon selbst erklärt, warum du gehen musst, und ich glaube, ich verstehe das … wenn auch mein Herz etwas anderes möchte. Bitte … bitte versprich‘ mir wenigstens, dass du mich besuchen wirst … und nicht erst in vielen Jahren, sondern bald! Bitte!“ Flehentlich sah die Wirtin Doratrava an.

Diese schluckte schwer, mitgerissen von den eigenen Gefühlen und denen ihrer Geliebten, genau wissend, dass der Wind sie bald irgendwo ganz anderes hin treiben konnte, doch dann nickte sie. „Ich verspreche es. Bei … Peraisumu.“ Sie hatte durchaus zugehört, wenn sie auch nicht verstanden hatte.

Nochmals zog Jelride die Gauklerin in eine knochenbrechende Umarmung. „So, aber eigentlich wollte ich nicht … trotzdem …“ Sie hielt inne und holte zitternd Luft, um nochmals zu beginnen. „Du hast dir deine Bezahlung redlich verdient. Sumin wird traurig sein, wenn du nicht mehr da bist.“ Eine neue Träne stahl sich aus ihrem linken Auge und fand den Weg zum Kinn. „Komm mit, ich zeige dir, was ich für dich habe.“ Mit diesen Worten zog sie die Gauklerin aus der Küche und zur Treppe, welche ins Obergeschoss führte. „Leise!“ zischte sie, „Sumin schläft!“

Doratrava bemühte sich, leicht aufzutreten, um mögliche knarzende Treppenstufen nicht zu sehr zur Ausübung ihrer bevorzugten Tätigkeit zu animieren, und schaffte es, wie Jelride fast ohne Geräusch oben anzukommen. Die Wirtin hatte in der Küche eine Kerze entzündet, denn im Haus war es stockfinster, da kein Mondlicht von draußen hereinfallen konnte wegen der Bewölkung.

Das Obergeschoss bestand nur aus zwei Räumen, die mit einfachen Holztüren vom Treppenabsatz her zu erreichen waren. Jelride wandte sich nach links und führte die Gauklerin in ein recht geräumiges Zimmer mit einem großen Bett, einem stattlichen Schrank und ein paar weiteren einfachen Möbeln, denen Doratrava keine weitere Beachtung schenkte, bis die Wirtin sie zu einer Truhe in Hintergrund des Raumes zog. Diese war aus dunklem Holz, offensichtlich alt, massiv und mit metallenen Beschlägen versehen, welche auffällige, regelmäßig aussehende Verzierungen aufwiesen, deren Symbolik der Gauklerin aber rein gar nichts sagte.

„Die Truhe gehörte meiner Urgroßmutter“, erklärte Jelride flüsternd, mit noch immer belegter Stimme. „Sie lebte als Alchimistin in Alborath. Aber ich glaube, sie reiste auch viel, nach dem, was meine Mutter und meine Großmutter mir erzählt haben. Ich habe keine Ahnung, wie sie an so etwas gekommen sein könnte, aber schau nur!“ Damit öffnete sie die Truhe, der ein staubiger, leicht modriger Geruch entstieg. Sie griff hinein und zog ein blutrotes Gewand daraus hervor, schulterfrei, mit einem schmalen Schlitz, der zwischen den Brüsten begann und bis zum Bauchnabel führte. Dazu undurchsichtige Strumpfhosen in gleicher Farbe, aber das Merkwürdigste war das Obergewand, welches nicht wirklich ein Kleidungsstück war, sondern eher nach zwei gewaltigen schwarzen Rabenschwingen aussah. Doratrava riss die Augen auf und wünschte sich mehr Licht herbei, denn im schummrigen Kerzenlicht waren kaum Einzelheiten zu erkennen. Die Strumpfhosen wiesen goldene Applikationen an den Füßen auf, und auch beiderseits des Schlitzes waren solche zu erkennen, aber Doratrava hätte das ‚Kleid‘ oder eher Kostüm anziehen müssen und einen Spiegel gebraucht, um mehr erkennen zu können. „Sie hatte in etwa deine Größe, und ich glaube, sie war auch sehr schlank, wenn auch nicht ganz so dürr wie du“, erläuterte Jelride mit einem tränenden Lächeln in der Stimme. Doratrava schlug spielerisch nach ihr, so dass sie mit einem unterdrückten Auflachen zurückweichen musste.

„Das ist toll – wenn es mir passt. Aber – ich kann damit wahrscheinlich nur tanzen, und ich kann es nicht transportieren, ohne es kaputt zu machen“, bedauerte die Gauklerin. Bewundernd strich sie über die ‚Rabenfedern‘. Daraus hätte man etwas machen können. Aber es war unmöglich.

„Warte, da ist noch mehr“, setzte Jelride nach. Wieder griff sie in die Truhe, diesmal kamen ihre Hände mit einem sehr knappen grünen Stoff zum Vorschein. Doratrava musste ihn erst einmal entwirren, um sich ein Bild machen zu können. Auch dieses Kleidungsstück war kein Kleid, sondern ein Kostüm. Es war hochgeschlossen, doch mit einem rautenförmigen Ausschnitt über den Brustansatz. Die Arme blieben unbedeckt, ebenso die Körperseiten, die Vorder- und Rückseite des Kostüms wurden nur durch drei schmale Riemen verbunden, welche ansonsten eine spannbreite Lücke ließen. Dazu gehörte ein kurzer Rock, stufenförmig in Falten gelegt und in hellerem Grün gehalten, welcher in der Mitte bis zu den Knien fiel, während er an der Seite gerade die Hüften bedeckte.

Doratrava wurde schon rot, als sie sich das Kleidungsstück nur an ihrem Körper vorstellte, Konnte sie so etwas tragen, vor einer Versammlung von Zwergen und Adligen bei einer Jagd? Andererseits war sie auch bei der Hochzeit von Hlûtharswacht über ihren Schatten gesprungen und hatte sich zu diesem besonderen Anlass ein ganz besonderes und ganz besonders körperbetont-freizügiges Kostüm schneidern lassen, was ihre Ersparnisse der letzten Jahre nicht unerheblich dezimiert hatte. Außerdem konnte sie nicht zurück nach Twergenhausen, um ihren Fundus zu holen. Erstens würde sie dann die Feier nicht mehr rechtzeitig erreichen, und zweitens wollte sie sich nicht darauf verlassen, dass Arbosch den Kopfgeldjäger so nachhaltig vertrieben hatte, dass er nicht in der Stadt auf der Lauer lag.

„Ich gebe ja zu, dass man so etwas eigentlich nicht anziehen kann, wenn man nicht beim Theater ist“, unterbrach Jelride die Überlegungen der Gauklerin. „Aber außer diesen beiden Stücken habe ich nur noch das hier!“ Mit diesen Worten zog sie ein weiteres Gewand aus der Truhe. Es bestand aus einem hellroten Mieder mit schwarzem Spitzenbesatz, dazu einem jackenartigen, langärmeligen, grünen Obergewand, welches vorne offen war, aber den Rücken vollständig bedeckte, sowie einem graugrünen Tuch, welches wie ein Rock um den Körper gewunden, aber mit einer goldenen Schließe so an der Hüfte befestigt wurde, dass ein Bein komplett unbedeckt blieb. Zu diesem Kleid gehörten sogar so etwas wie Sandalen in schwarzer Farbe, nur waren diese mit langen Bändern versehen, welche bis zur Hüfte hinauf geschnürt werden konnten.

Nun war die Gauklerin in ihrem Element, sogar in solch einer Weise, dass darüber der Sturm der Gefühle Jelride gegenüber vorübergehend in den Hintergrund gedrängt wurde. Im Kopf probte sie schon Tänze und Kunststücke, welche sie diesen Gewandungen würde aufführen können. „Gaukelei, wie ich sie betreibe, und Theater sind gar nicht so verschieden“, murmelte sie dabei abwesend, während sie mal dieses, mal jenes Stück Stoff betrachtete und vor sich hielt.

Schließlich kam sie bedauernd zu einer Entscheidung. „Ich kann dieses Rabengewand leider nicht mitnehmen, dazu bräuchte ich eine Kiste und eine Kutsche oder so. Ich nehme das grüne ‚Kleid‘ mit dem Rock, dazu aber noch die Sandalen mit den langen Schnüren. Wenn ich darf?“ erinnerte sie sich daran, dass sie hier ja über den Besitz ihrer Geliebten sprach.

Diese nickte lächelnd, wobei sie sich die letzten Tränen aus dem Gesicht wischte. „Ich kann damit nichts anfangen, du könntest alles haben!“ Dann griff sie ein weiteres Mal in die Truhe. „Außerdem habe ich noch was da drin, was dich vielleicht interessieren könnte.“ Ihre Hand kam mit einem kleinen Tonfläschchen zum Vorschein. Doratrava sah sie verwundert an. Was sollte das werden?

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„Komm, wir gehen nochmal in die Küche“, raunte Jelride der Gauklerin zu. „Hier ist das zu gefährlich!“ Verwundert folgte Doratrava der Wirtin, wieder mussten die beiden im flackernden Kerzenlicht die Treppe hinunterschleichen, bis sie die dunkle und mittlerweile kalte Küche erreichten. Nur noch wenige Funken zeigten sich in der verlöschenden Glut des Feuers. Verblüfft stellte Doratrava fest, dass sie viel länger mit den Kleidern zugebracht hatte, als es ihr vorgekommen war.

„Schau!“ machte Jelride wieder auf sich aufmerksam. Sie hatte das Tonfläschchen entkorkt und verstreute eine winzige Menge eines glitzernden Pülverchens auf der steinernen Arbeitsfläche. „Das hat mir meine Mutter mal gezeigt, als ich ein Kind war“, erklärte sie dazu. „Ich war ganz begeistert damals und wollte das dann jeden Abend sehen, aber Mutter meinte, dazu sei es zu wertvoll. Nach einiger Zeit habe ich vergessen, dass es das Zeug gibt. Erst nach dem Tod meiner Mutter bin ich wieder über die Truhe gestolpert und habe mich erinnert.“

Doratrava lauschte ihrer Geliebten zunehmend ungeduldig. So eine lange Rede. Es war ihre letzte gemeinsame Nacht, wie sie sich mit einem Stich klar machte, sollten sie die Zeit da nicht sinnvoller verbringen?

„Ich weiß auch nicht, aber ich habe die Fläschchen nicht angerührt seitdem, außer ein einziges Mal, um auszuprobieren, ob das Pulver noch wirkt. Bestimmt könnte man es in einer Stadt gut verkaufen … na ja, vielleicht auch nicht. Wirklich etwas anstellen kann man damit ja nicht.“

„Jetzt mach‘ schon“, fiel ihr die Gauklerin nun doch ungeduldig ins Wort. „Was macht man denn mit dem Pulver, das so wichtig ist?“

Jelride hatte während ihrer Erklärungen das Pulver mit der Hand über eine Fläche von vielleicht einem halben Rechtschritt verteilt, nun hielt führte sie die Kerzenflamme an die Steinplatte. Mit einem überraschten Ausruf, den sie gerade noch mit der Hand ersticken konnte, sprang Doratrava zurück, als die ganze Platte da, wo sie vom Pulver bedeckt war, in weißblaue Flammen aufging. Diese flackerten und züngelten vielleicht einen halben Spann hoch, wobei sie sich wanden und bewegten, als sei in der Küche ein heftiger Wind aufgekommen. Damit nicht genug, fuhr Jelride nun mit der linken Hand, mit der sie auch das Pulver verteilt hatte, durch die Flammen.

„Nicht!“ rief die Gauklerin entsetzt und stürzte vor, um Jelrides Hand aus dem weißblauen Feuer zu reißen. Doch diese machte unterdrückt lachend einen Schritt zurück und drehte die Handfläche nach oben. Doratrava traute ihren Augen nicht, auch die Hand stand in Flammen. Doch die Wirtin zeigte keinerlei Anzeichen von Schmerz, ihre Haut wurde nicht verbrannt. Jelride reckte ihr herausfordernd ihren Arm entgegen, und Doratrava stach nach kurzem Zögern mit dem Zeigefinger in die Flammen, um ihn schnell wieder zurückzuziehen. Aber … tatsächlich, sie verspürte keinerlei Hitze, eigentlich nicht mehr als ein sanftes Kribbeln. Mutiger geworden, legte sie nun ihre Handfläche langsam von oben auf die ihrer Geliebten. Wieder kribbelte es nur, wo die weißblauen Lohen sie berührten, mehr nicht. Auch auf Jelrides Hand tanzten die Flammen, als hätten sie ein Eigenleben. Die Wirtin zog die Hand schnell durch die Luft und zog damit eine weißblaue Spur durch die Dunkelheit, die ein wenig länger nachzuleuchten schien als wenn man dasselbe mit einer gewöhnlichen brennenden Fackel getan hätte.

Nach einem Zehntel Stundenglas war alles vorbei, die farbigen Flämmchen sanken schnell in sich zusammen. „Da staunst du, was?“ Jelride zeigte der Gauklerin ihre Handfläche. Ein wenig weißer Staub war darauf zurückgeblieben, aber es gab keinerlei Verbrennungen. „Völlig nutzloses Zeug, außer um Kinder – und auch Erwachsene – zu erschrecken.“ Sie blinzelte Doratrava zu. Vor lauter Eifer vergaß die Wirtin ganz ihre Trauer. Aber auch die weißhaarige Frau war in ihren Gedanken nun ganz woanders. Jelride fuhr fort: „Aber eine Gauklerin wie du kann doch sicher etwas damit anfangen, also schenke ich dir soviele Fläschchen, wie du mitnehmen willst. In der Truhe oben sind vielleicht zwei Dutzend, ich habe sie nicht gezählt.“

„Ja … ja“, murmelte Doratrava und strich abwesend mit der Hand über die Steinplatte. Auch auf dieser war nur ein wenig weißer Staub zurückgeblieben, welcher von ihrer Bewegung aufgewirbelt wurde und verwehte. Dann kehrte ihr Blick ins Hier und Jetzt zurück und sie schaute Jelride an, während sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. „Ja … ich kann etwas damit anfangen, und ich weiß auch schon, was.“

Jelride schaute sie erwartungsvoll an. „Nein,“ lachte die Gauklerin da, „ich habe zwar eine Idee, aber ich weiß nicht, ob es klappt. Weißt du was: ich soll dich ja bald wieder besuchen kommen, dann erzähle ich dir, was ich getan habe und wie es war.“

Bei diesen Worten fiel ein Schatten über Jelrides Miene, da sie wieder an den bevorstehenden Abschied erinnert wurde. Das entging der Gauklerin nicht, auch ihr drohte der Hals wieder eng zu werden. Da nahm sie ihre Geliebte kurzerhand in den Arm und gab ihr einen langen, langen Kuss. „Und jetzt gehen wir nach oben, du hast ein schön großes Bett“, flüsterte sie der Rothaarigen ins Ohr. „Diese unsere letzte Nacht ist zu schade zum Schlafen.“ Unwillkürlich dachte sie an Sumin, der oben im anderen Zimmer lag und hoffentlich selig schlummerte. „Wir dürfen leider nicht zu laut sein“, fügte sie mit leisem Glucksen hinzu.

Noch vor dem Beginn der Morgendämmerung packte Doratrava ihre wenigen Sachen zusammen, nun reicher um ein grünes Kostüm, schwarze Schnürsandalen und ein Dutzend Tonfläschchen, dazu etwas Proviant und einen gefüllten Wasserschlauch. Sie war fast fertig, da war ihr einer ihrer spontanen Einfälle gekommen und sie hatte Jelride auch noch um die Strumpfhosen des Rabenkleides und das hellrote Mieder gebeten. Ihre Umhängetasche beulte sich nun ganz ordentlich aus und war auch nicht leichter geworden, aber manchmal musste man für die Kunst Opfer bringen, wie sie sich selbst nicht ganz ernst nehmend sagte.

Doratrava hatte es sich nicht nehmen lassen, sich von dem halbwachen Sohn Jelrides zu verabschieden. Sie wollte sich nicht davonschleichen wie ein Dieb, zumindest nicht von den Menschen, die sie lieb gewonnen hatte. Sumin war ganz geknickt gewesen, dass seine ‚Lehrzeit‘ nun schon vorbei war. Seine Fragen, was sie denn bei seiner Mutter im Zimmer gemacht hätten, hatte der Gauklerin ein Rosa in die Wangen getrieben, welches nicht mehr als blass zu bezeichnen war. Hatte der Bengel doch etwas mitbekommen, Rahja sei Undank. Na ja, oder so. Eigentlich nicht. Mit Mühe und viel gutem Zureden hatten sie und Jelride den Jungen endlich dazu bringen können, wieder schlafen zu gehen.

Dann war die Zeit des Abschieds von ihrer Geliebten gekommen. Alle Tränen hatten die beiden gestern vergossen, heute beherrschte zwar Wehmut ihrer beider Gefühle, aber die Freude überwog - jeder Abschied barg die Freude des Wiedersehens in sich. Sie hatten das Beste aus diesem ungewollten, unverhofften, von Rahja gesegneten, aber niemals für die Ewigkeit angelegten Zusammentreffen gemacht, sie hatten beide Freuden erlebt, welche sie sich in ihren kühnsten Träumen bisher nicht hatten vorstellen können. Zumindest galt das für Doratrava, in den Kopf ihrer geliebten Jel konnte sie nicht hineinsehen, aber auch diese hatte zu keiner Zeit den Eindruck gemacht, es könnte ihr langweilig geworden sein.

„Jel ...“, begann Doratrava, als die beiden, immer noch war es fast dunkel, denn immer noch hingen schwere Regenwolken über dem Wald, sich vor dem Hinterausgang der Gaststube bei den Händen hielten und liebevoll in die Augen sahen.

„Pscht“, machte da Jelride und hob den linken Zeigefinger senkrecht vor die Lippen. „Es ist alles gesagt, es wird nicht besser, wenn wir nochmal von vorne anfangen.“ Sie ließ die Hände der knabenhaft schlanken, aber zähen Gauklerin los und schlang ihre Arme ein letztes Mal um sie. Ein letztes Mal drückte sie ihre vollen Lippen auf die hellroten, oft ein wenig streng und schmal wirkenden ihrer Geliebten und sah ein letztes Mal in ihre … gelben? … Augen. Aber nicht einmal das konnte sie heute erschrecken. „Da hast mir etwas versprochen“, flüsterte sie in Doratravas Ohr. „Ich warte auf dich.“ Kurz zögerte die rothaarige Wirtin, die so viel mehr war. „Aber nicht für immer.“ Dann löste sie sich von der Gauklerin und trat einen Schritt zurück.

Doratrava blieb wie angewurzelt stehen, der Blick ihrer wie helles Bernstein funkelnden Augen wollte denjenigen ihrer ersten großen Liebe nicht loslassen. „Jel …“, wiederholte sie und streckte den Arm nach ihr aus. Nun wurde ihr der Hals doch nochmal eng und sie fühlte, wie sich die Tränen sammelten. Mit einem innerlichen Aufschrei riss sie sich zusammen. Sie selbst war verantwortlich für alles, für den Beginn dieser wunderbaren Beziehung, und auch für das Ende, und schon beim ersten Zug in diesem Spiel hatte sie gewusst, dass sie verloren hatte. Nun musste sie ein guter Verlierer sein.

„Jel, ich liebe dich“, waren ihre letzten Worte, dann ließ sie den Arm fallen und drehte sich herum. Sie blickte nicht zurück, sah Jelride nicht winken, sah die eine Träne nicht, die auch ihre Geliebte nicht umhin kam, doch noch zu vergießen, sah nicht, wie sie mit hängendem Kopf zurückkehrte ins Haus und die Tür hinter sich schloss. Sah die nächsten Stunden nicht, wohin sie lief. Spürte den Regen nicht, der sie komplett durchweichte, weil sie vergessen hatte, ihre Kapuze aufzusetzen. Sah nicht die riesenhafte Gestalt, welche ihren Weg aus den Bäumen heraus mit undeutbarem Blick verfolgte, um sie dann lautlos und schemenhaft zu begleiten. Bemerkte nicht die riesenhafte Spinne, welche im Blätterdach lauerte, um sich auf so leichte Beute zu stürzen, nur um von riesenhaften Pranken zerfetzt zu werden.

In dieser Nacht träumte sie von einer rothaarigen Frau, welche sie mit Haut und Haaren verschlang, um sie niemals wieder herzugeben. Sie träumte von glitzerndem Pulver und davon, vergessen zu haben, nach dem Rezept zu fragen. Und von einem freundlichen, grimmigen Riesen, der unermüdlich über ihrem Lager wachte, die gefährlichen Tiere des Waldes fernhielt und sich überlegte, was wohl der Preis dafür sei. ‚Kleine Fee‘, raunten die Blätter. ‚Wir werden uns wiedersehen!‘