Der erste Schnee

Der erste Schnee

27. Boron 1044 BF: Nyah DaRe von Tannwirk

Nyah verschließt das Kontor und schaut zum Himmel. Es hatte begonnen zu schneien. Der erste Schnee, dieses Jahr bereits sehr früh, es ist erst Ende Boron. „Perraine sei Dank! Die Ernte ist dieses Mal sehr gut ausgefallen! Getreide und Heu reichen hoffentlich auch durch einen langen, harten Winter!“ dankt Nyah. Zarte Flocken fallen auf die Wege und Wiesen. Kein Mensch ist mehr in Trutzelbach unterwegs. Die Fenster sind beleuchtet und aus den Kaminen steigt Rauch auf. Still ist es, keine bedrohliche Stille, sondern friedlich und sehr, sehr tief. „Schneestill“, denkt Nyah und holt ihr Pferd aus dem Stall, das Trude, ihre Mitarbeiterin im Kontor schon kurz vor Feierabend für sie gesattelt hat. Nyah steigt in den Sattel, doch sie wendet sich nicht gen Drachenstieg, sondern reitet zum Fluss; der Tommel fließt unweit von Trutzelbach. Nyah blickt durch die beginnende Dämmerung über den Tommel auf die andere Seite nach Albernia, ihre alte Heimat.

Über dem Tommel liegen leichte Dunstschleier. Das Pferd schnaubt und stößt dampfenden Atem aus. Nyah hebt ihr Gesicht zum Himmel und fühlt die Schneeflocken auf ihrer Haut. Kalt und piksig. Unermüdlich fallen die Flocken und die Landschaft verwandelt sich in einen weißen Traum. Das Pferd schnaubt unruhig. „Ruhig, Kasimir, ruhig!“ Dann wendet Nyah ihren Blick nach rechts, flussaufwärts und stutzt. Weiße Schleier tanzen auf dem Wasser, doch was sie zuerst für Dunst gehalten hatte, erscheint ihr nun als Figuren. Weiße, durchsichtige Frauen tanzen durch die Flocken, verändern ihre Konturen und Formen. Bald erscheinen sie als zarte Wolken, dann als Tiergestalten, Delphine, Wasserpferde und andere. Dann wechseln sie wieder zu Frauen in fließenden Gewändern, um sich dann in Schneekristalle zu verwandeln. Gebannt beobachtet Nyah den schwebenden, völlig lautlosen Tanz der Wesen, bis er sich nach einer ganzen Weile auflöst und nur noch Nebelschwaden über dem Tommel wabern. Als Kasimir ärgerlich schnaubt, zu lange auf einem Fleck stehen mag er gar nicht, reißt seine Reiterin sich vom Anblick des Flusses los. Sie lenkt ihr Pferd zurück zur Reichsstraße und schlägt dann den Weg nach Drachenstieg ein. Kasimir kennt den Weg und flott macht er sich auf den Heimweg, wo sein Stall und eine Raufe Heu auf ihn warten.

Noch bevor das Gut richtig in Sicht kommt, hört Nyah Kindergeschrei. Die Kinder des Gutes, darunter ihre eigenen, toben durch den Schnee und bewerfen sich mit Schneebällen. Reto steht am Tor, beobachtet das fröhliche Treiben und wartet auf die Heimkehr seiner Frau.

Später, wenn die Kinder im Bett wären, würde sie ihm von ihrem Erlebnis erzählen.

27. Boron 1044 BF

(Windwanderer SGS)