Der enttäuschte Held - Kapitel 2

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Kapitel 2 der Briefspielgeschichte "Der enttäuschte Held"

15. Travia 1043 BF, Gut Schweinsfold, Abend

Ein polterndes Lachen begrüßte die Knappin und den Pagen, als sie mit ihrer kulinarischen Fracht den Speisesaal betraten. “Schaut euch meine beiden an, vorbildliche Knappin und Page, allzeit bereit ihrem Schwertvater zu dienen! Sonnhild, bring schnell den Braten her!” Ruckartig war Reo von seinem Stuhl aufgestanden und winkte die beiden Heranwachsenden zur Tafel.

Gehorsam wartend stellte sich Travinian an die Seite seines Schwertvaters und wartete mit der Soße bis der Braten aufgetragen war.

Sonnhild versuchte sich ihre schlechte Stimmung nicht anmerken zu lassen. Der verlockende Geruch des Gänsebratens stieg ihr in die Nase, ließ ihr gleichzeitig das Wasser im Mund zusammenlaufen, aber auch ein leichtes Gefühl der Übelkeit in ihr aufsteigen, als sie daran dachte, wie Gitta noch gestern fröhlich den Pferden hinterhergewatschelt war. Auf Reos Worte rang sich die Knappin ein Lächeln ab und stellte den gebratenen Vogel in der Mitte der Tafel ab: “Ich wünsche den hohen Herren weiterhin einen guten Appetit!”, sagte sie bemüht fröhlich und mit einem noch immer angestrengten Lächeln; dann nickte sie Travinian zu, nun die Soße zu servieren.

"Wie herrlich - da läuft einem ja das Wasser im Munde zusammen, bei dem Anblick und Duft! Wahrlich, Du und Deine Köchin, Ihr versteht es, Deine Gäste bei Launen und Kräften zu halten." Leomar erkannte auf den ersten Blick, was dieser Braten zu Lebzeiten gewesen war. Aller Weinseligkeit zum Trotze schloss er kurz die Augen und dankte der gütigen Mutter für den Segen dieses Mahls und der Gemeinschaft der Freunde, die hier und heute zusammengefunden hatten. Als er seine Lider wieder hob, ließ er sich freudig auftun und machte sich angetan ans Schmausen.

“Der Braten sieht wirklich köstlich aus. Ein Lob an deine Köchin, sie versteht ihr Handwerk.” stimmte Baldos in den Lobgesang Leomars ein. Er sah die beiden Kinder an. “Hört auf euren Schwertvater und ihr werdet dereinst hervorragende Ritter abgeben.” Dann ließ auch er sich von dem Gänsebraten auftragen.

Der junge Page nickte dem Paggenfelder fest und stolz zu, dann wandte er sich wieder seiner Aufgabe zu. “Darf ich Euch die Soße reichen?”, fragte Travinian seinen Schwertvater, nachdem die Gäste alle ein Stück des Gänsebratens auf dem Teller hatten.

Sonnhild schmunzelte, als Baldos sie beide lobte und ihr Anflug von Wut legte sich allmählich, auch wenn ihr der Gedanke, dass sie Gitta auf dem Tisch vor sich hatte, nach wie vor ein flaues Gefühl bescherte.

Nur kurze Zeit später betrat Witta, die Köchin, den Raum, nur um sich kurz flüsternd mit ihrem Gemahl, dem Knecht, auszutauschen. Dieser wiederum huschte zu dem Junker und flüsterte diesem etwas in das Ohr. Dieser wurde kurz ernst, nahm einen Schluck aus dem Kelch und räusperte sich. “Wie es scheint, hat jemand Gefolge aus Herzogenfurt geschickt. Witta, sag den beiden, sie können eine kurze ´Audienz´ bei mir bekommen.” Dies sagte er mit gespieltem Stolz in der Stimme und lächelte seinen Freunden zu. “So ist das hier, selbst als Junker wollen die Leute meinen Rat.” Dann nahm er noch einen Schluck. Es dauerte nicht lange und die beiden Reiter betraten den Speisesaal.

Während ein junger Mann bei der Tür stehen blieb, näherte sich die ebenso junge Frau mit, auf dem Holzboden knallenden Absätzen und dem leisen Klirren des Schwertgehänges und der Kettenweste an die Tafel an. Die Frau mit dem braunen Wuschelkopf trug eine Pergamentrolle in ihrer Rechten. “Rondra zum Gruße, Wohlgeboren …”, sie neigte ihren Kopf zum Gruß und bedachte auch die beiden Ritter mit einem Blick, “... hohe Herren …”, nickte der Neuankömmling Leomar und Baldos zu. “Es liegt mir fern Eure gemütliche Zusammenkunft länger zu stören als notwendig. Mein Name ist Raugund von Dürrntann, Schildmaid des Bärenritters Wallfried vom Blautann.” Die Weidenerin stoppte in ihren Ausführungen und ließ ihren Blick durch die Anwesenden schweifen. Besonders lange schien sie dabei auf Travinian zu verharren, dem sie sogar den Anflug eines Lächeln schenkte. Wie es schien, kannten die beiden sich, denn auch der Page lächelte nun breit. “Es ist ein Botengang, der mich zu Euch schickt. Seine Wohlgeboren möchte seinen Besuch ankündigen … im Beisein der jungen Dame Arika von Schweinsfold. Sie weilen zur Zeit in Herzogenfurt.” Nun ging Raugund die letzten Schritte hin zum Tisch des Junkers und bot ihm die Pergamentrolle dar. “Und diesen Brief soll ich Euch im Namen meines Herrn übergeben. Mit den besten Grüßen und dem Segen der Sturmherrin.”

Leomar, der zunächst weiter getafelt hatte, war hellhörig geworden. Interessierte sich also doch noch jemand von der untreuen Brut für ihren Vater. Beiläufig legte er das Messer aus der Hand und leckte sich rasch seine vom Gänsefett triefenden Finger ab, um sodann den letzten Bissen mit einem kräftigen Schluss des Weines herunterzuspülen. Dabei beobachtete er weiterhin das Geschehen.

Baldos legte die Gänsekeule beiseite und betrachtete die Neuankömmlinge. Er meinte sich an den Herrn der beiden zu erinnern, jedenfalls hatte er das Wappen in Herzogenfurt bereits gesehen. Es freute ihn, dass Arika scheinbar noch nicht von den Einflüsterungen ihrer großen Schwester und deren Gefolge verdorben worden war und stattdessen die Nähe zu ihrem Vater suchte. Scheinbar ungerührt riss er ein Stück Brot ab und tunkte damit das Gänsefett in seinem Teller auf. Dabei ließ er die beiden Weidener aber nicht aus den Augen. Vielleicht litt er unter Verfolgungswahn, aber die letzten Götterläufe hatten ihn Vorsicht gelehrt. Zu oft hatte man von Angriffen und Attentaten gehört und wenn Leomar und er nicht hier gewesen wären, hätten es eventuelle Angreifer nur mit Reo, ein paar Kindern und alten Bauersleuten zu tun. Also aß er scheinbar ruhig weiter, während seine Schwerthand unter den Tisch glitt, bereit seine Klinge zu ziehen, sollte es notwendig werden.

Reo zog überrascht eine Augenbraue hoch und lächelte dann breit. “Rondra zum Gruße! Auf die Weidener ist Verlass!” Mit einem Kopfnicken gab er seiner Knappin das Zeichen, die Rolle zu ihm zu bringen. “Aber ich muß sagen, dass ich doch ein wenig enttäuscht bin, dass Arika und Gefolge nicht gleich hierher kamen… nach Hause!” Die letzten Worte sagte er mit ein wenig Nachdruck.

Leomar nickte beifällig zu des Junkers Worten. Hochzeit ihrer Schwester, der Baronin, hin oder her - wie konnte Arika nur den weiten Weg aus Weiden hierher kommen, ohne allzuvorderst und zuerst ihrem Vater ihre Aufwartung zu machen. Mit der Treue war es wahrhaftig nicht mehr weit her...

Sonnhild wunderte sich, wer die Weidener Gäste sein mochten, doch erkannte sie, dass Travinian mit den Besuchern wohl bekannt sein musste. Interessiert betrachtete sie die Waffen und Rüstungen der Neuankömmlinge, insbesondere das Reiterschwert der Schildmaid. Auf Geheiß von Reo verbeugte sie sich ehrerbietig: “Ja, sehr wohl, Euer Wohlgeboren.” Eilig lief sie zu Raugund und nahm die Pergamentrolle entgegen, um sie ihrem Herrn zu überreichen.

Dieser nahm das Papier auch gleich und entrollte dieses. “Wilfred von Gugelforst ist ein guter Freund von mir und Arikas Schwertvater. Travinian hier ist dessen Neffe und wird einmal Baron von Weidenhag werden.” Stolz tätschelte er die Schulter des Jungen. Doch bevor er mit dem Lesen anfing, drehte er sich zu seiner Knappin. “Sonnhild, Travinian setzt euch nun und nehmt von Speis und Trank. Lantfrid,” sein Blick wanderte nun zu den Neuankömmlingen, “bring unsere Boten hier in die Gesindestube und lass Witta ihnen ein Abendmahl bereiten. Und”, nun dachte er kurz nach,” bring sie für die Nacht ins Gutshaus. Die Burg ist für mich und meine Gäste.” Nun wanderte sein Blick wieder aufs Papier. “Und wenn du dort bist, bring ruhig noch einen Knecht und eine Magd mit, wenn du zurückkommst.” Wieder schaute er auf und versicherte sich, dass der Knecht alles gehört hatte. Dann las er endlich.

Währenddessen verneigte sich Raugund. "Travia vergelt es Euch, Wohlgeboren. Habt Dank." Sie nickte auch den anderen Anwesenden zu und verließ dann wieder den Saal. Der Waffenknecht Derling folgte ihr.

Baldos entspannte sich und legte seine Hand wieder auf den Tisch.

Sonnhild tat wie ihr geheißen. Dankbar setzte sie sich zu Tisch, auch wenn sie von dem Vogel wahrhaftig kein Stück haben wollte. Doch bevor sie sich ein Stück vom saftigem Schwein nahm, wartete sie gespannt auf den Inhalt des Briefes.

"Greif zu und lass es Dir ruhig schmecken - wie wir es bereits haben!" ermunterte Leomar gutmütig die Knappin. "Und nimm auf jeden Fall von dem Wein." Er glaubte, sie wartete nur, bis auch die Ranghöheren am Tische wieder speisten, wie es sich für Knappen geziemte. Doch je nachdem, was in dem Brief stand, mochte es vielleicht dauern, und viel Hunger konnten Reo, Baldos und er ohnehin nicht mehr haben, so viel sie bereits verputzt hatten. Auch er erwartete gespannt Reos Regungen auf das Geschriebene.

Travinian war sehr aufgeregt gewesen. Er kannte Arika sehr gut, lebten sie bis vor ein paar Monden doch am selben Adelshof, der noch dazu nicht sonderlich groß war. Der Baronet mochte Reos jüngste Tochter und sie war ihm am Hag in etwa das, was Sonnhild ihm hier war - eine Freundin, die viel Geduld mit dem jungen Gugelforster und seinen Flausen hatte. Zu Wallfried, der sie wohl begleiten würde, sah Travinian immer auf. Er war eigentlich einer der Vasallen seiner Mutter, doch beinahe ständig in Trallop, wo er einer der Ritter der Herzogin war. Wenn ein Kind träumte und den Ritterstand idealisierte, dann erschien in seinen Gedanken wohl ein Bild, das dem Blautanner recht nahe kam: er war groß und stark, trug eine glänzende Rüstung und einen verwegenen Ausdruck auf seinem Antlitz. Er war mutig und unnachgiebig, aber dennoch milde und mit einem großen Herz für Schwächere und Schutzbedürftige. Die Blautanner waren in Weiden bekannt und sehr geachtet dafür, einen blütenweißen ritterlichen Leumund zu haben und auch der Rondrakirche sehr nahe zu stehen.
Nachdem die Gedanken des Pagen wieder im Hier und Jetzt waren, nahm er sich etwas Soße und Brot und begann zu essen. Die Gans rührte er nicht an, wiewohl die Freude auf Wallfried und Arika etwas die Trauer um Gitta vertrieb.

Ein Spiel der Gefühle wanderte über Reos Gesicht, als er das Schriftstück las. Von tiefster Ernsthaftigkeit, über ein fröhliches Schmunzeln bis hin zu einem nachdenklichen Erkennen. “Soso, Arika. Hmmm.” Dann rollte er es wieder zusammen und legte es zur Seite. “Mein guter Freund Wilfred hat einen seiner besten Ritter aus Weiden geschickt. Einer von Blautann. Und nun hält der um die Hand meiner Tochter Arika an. Zumindest weiß man in Weiden, was Anstand heißt. Ich wünschte, dieser Wallfried würde Selinde freien und ihr den rechten Platz weisen. Was meint ihr?”, stellte der Junker die Frage in den Raum.

Sonnhild war von dem Brief überrascht. Sie war Arika schon einmal begegnet, als diese vor vielleicht drei Götterläufen zu Besuch auf Burg Schweinsfold gewesen war. Auch wenn es Sonnhild bisher verwehrt geblieben war, die Tochter ihres Herrn näher kennen zu lernen, so hatte sie zumindest ein Gesicht vor Augen. ‘Sie ist nur ein paar Jahre älter als ich und noch vor Abschluss ihrer Knappschaft wird sie bereits verheiratet…’, ging es Sonnhild mit einem leichten Gefühl der Beklemmung durch den Kopf. ‘Hoffentlich möchte Arika überhaupt den Bund eingehen’, überlegte sie. Aus dem regelmäßigen Briefkontakt mit ihrer guten Freundin und Schwägerin Mokaschka wusste Sonnhild, wie unzufrieden diese in der Ehe war, in die sie durch ihre Schwangerschaft und den Druck der Familie gezwungen worden war. Und auch ihr Bruder Hardomar wirkte nicht allzu glücklich, seitdem er den Traviabund schließen musste. Sie selbst hoffte, von einem ähnlichen Schicksal verschont zu bleiben und eines Tages selbst bestimmen zu können, wen, wann und ob sie heiraten wollte. Aber vielleicht liebten Arika und Wallfried sich ja tatsächlich? Sonnhild sagte der Freier nichts. Obwohl sie mit dem Namen Blautann vertraut war, so hatte sie von einem Wallfried noch nichts gehört. Während sie abwartete, was die hohen Herren auf Reos Frage sagten, flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand, schnell und eher heimlich zu Travinian: “Wer ist denn dieser Wallfried? Kennst Du den?”

Travinian nickte eifrig. “Ja, ich kenne ihn …”, flüsterte der Page zurück und das Lächeln auf seinem Antlitz zeigte Sonnhild, dass er über das eben gehörte sehr glücklich war. Er mochte Arika sehr gerne und wenn sie Wallfried heiratete, dann würde sie noch in Weiden sein, wenn er wieder nach Hause kam. Ob Sonnhild vielleicht auch nach Weiden kam? Vielleicht gab es ja noch einen Mann, den sie heiraten konnte. Dann hätte er alle, die er mochte wieder bei sich. “Er ist ein Ritter der Herzogin und eigentlich auch meiner Mutter. Ich mag ihn. Er ist sehr nett, kennt tolle Geschichten und hat ein paar Mal mit mir geübt.”

Ein Gefühl der Erleichterung ging durch Sonnhild, als sie Travinians Begeisterung für den Weidener Ritter Wallfried bemerkte. ‘Das muss ja doch ein sehr netter, stattlicher Rittersmann sein; da kann Arika sich sicherlich glücklich schätzen...’, überlegte die junge Hadingerin und hoffte, auch eines Tages mal einen galanten Ritter zu finden, den sie von ganzem Herzen lieben würde. Mit einem zufriedenen Lächeln signalisierte sie Travinian, dass sie seine Begeisterung mit ihm teilte und auf sein Urteil vertraute.
“Sehr gut…” flüsterte sie schnell und leise zurück und hakte noch einmal nach, bevor sie sich vom Essen auftun wollte: “Der Herzogin und auch Deiner Mutter?”

“Na…”, Travinian schürzte für einen Moment seine Lippen. “Er ist doch ein Bärenritter”, fuhr er dann flüsternd fort, als wäre dieser Umstand allseits bekannt. “Die dienen der Herzogin direkt und leben auch auf der Bärenburg in Trallop … aber er hat auch das Gut Weidenwald bei uns in der Baronie. Dort ist es schön, man sieht vom Weydensteyn über die halbe Baronie, die Festung Weißenstein und den Weißensee. Wallfried ist aber nur selten dort, der alte Olin vertritt ihn, aber der ist auch nett”, nun nickte der junge Baronet bestätigend.

“Ein Bärenritter...”, entschlüpfte es Sonnhild andachtsvoll, diesmal nicht mehr ganz so flüsternd. Durchaus hatte sie schon einmal von den herzoglichen Rittern des Bären gehört… Oder hatte sie es gelesen? Sie konnte sich nicht mehr wirklich erinnern, jedoch war ihr zumindest der Name dieses Ordens bekannt. Sie nahm sich fest vor, Travinian an den kommenden Abenden zu seiner Heimat zu befragen. Sicherlich kannte er viele spannende Erzählungen und wusste einiges über das raue Land zu erzählen, aus dem die wackersten Rittersleute des Reichs kamen. Und eines Tages, so schwor sich Sonnhild, würde sie sich von Travinian seine Heimat zeigen lassen und die von ihm genannten Orte mit eigenen Augen sehen. Sie roch an dem köstlich duftenden Schweinsbraten und auch wenn sie Witta noch nicht ganz verziehen hatte, so musste sie zugestehen, dass diese eine hervorragende Köchin war. Sonnhild ergriff das lange Messer und stach in die Schwarte des Bratens: “Magst Du noch was vom Schwein?”, fragte sie Travinian und versuchte dabei trotzdem der Unterhaltung der Erwachsenen aufmerksam zu lauschen.

Der Page nickte der Knappin zu und nahm sich vom dargebotenen Fleisch. Anders als Sonnhild schienen seine Gedanken jedoch woanders als am Tisch zu sein.

"Von Blautann - zweifelsohne ein guter Name!" Leomar schürzte die Lippen und nickte anerkennend. "Und mehr als das. Wie Du schon sagst: ein gestandener Weidener Ritter." Mehr musste nicht gesagt sein, wie auch seine Stimme unmissverständlich vermittelte. "Ich freue mich für Dich und Deine Jüngste!" Er wollte schon den Kelch heben, da kam ihm eine Nachfrage in den Sinn: "Hat sich dieser Schreiberling eigentlich jemals bei Dir oder Raulgunde blicken lassen, um bei Dir um Selindes Hand anzuhalten? Wenigstens der guten Form halber? Oder hat er Dir zumindest geschrieben?"

Reo zischte aus. ”Ja, geschrieben hat er. So ´verschnörkelt´, dass ich das gar nicht lesen konnte. Es hat mich schnell ermüdet und ich habe es auch gleich dem Kaminfeuer übergeben. Meinen Segen hätte er eh nie bekommen. Ein Mann, der kein Schwert zu schwingen weiß, ist kein richtiger. Jedenfalls keiner für Schweinsfold!” Damit hob er wieder seinen Kelch und prostete in die Runde. Nach seinem tiefen Schluck gab er seinem Pagen ein Zeichen, jedem nochmals einzuschenken. Mit der Keule von Gitta in der Hand sprach er weiter. “Ich bin für meine Heldentaten bekannt. Ein Held, der immer bereit war, anzupacken. Wisst ihr, meine Freunde, es ist Zeit meine Tatenlosigkeit zu beenden. Ich bin mir sicher, dass der nordmärker Adel schon über mich lacht.” Dann biss er ab, kaute und schluckte. “Ich muss etwas tun. Das erwarten meine Untertanen von mir. Bei allen Göttern noch einmal, ich habe einen Drachen erschlagen und nun sollte ich mich von so einer einfältigen Gans von Tochter um mein Erbe bringen lassen???” Nun blickte Reo zornig in die Runde und stand auf. “Ich habe Pläne und bin froh, dass ihr hier seid! Würdet ihr mir helfen, dem Landgrafen die Augen zu öffnen, damit ich, rechtmäßiger Erbe, den Thron von Schweinsfold zugesprochen bekomme? Und glaubt mir, schaden soll euch das natürlich auch nicht.” Nun schaute der Junker herausfordernd und würdevoll … in einen Spiegel. Dieser hing am anderen Ende des Raumes. Doch dann wanderte sein Blick wieder zu seinen Gästen.

Travinian tat wie ihm von seinem Schwertvater geheißen ward; er nahm den schweren Tonkrug mit Wein und füllte den drei Rittern ihre Kelche auf. Was der Hausherr von sich gab, stimmte den Baronet dabei etwas nachdenklich, wiewohl er die genauen Zusammenhänge altersbedingt natürlich nicht verstehen konnte. Er wusste jedoch, dass Reo allem Anschein nach auf seine Tochter böse war. Ein Gedanke, der Travinian Sorge bereitete … würde seine Mutter auch einmal so böse auf ihn sein? Die Gugelforster waren eine sehr traviafromme Familie und seine Mutter in ganz Weiden für ihren Familiensinn bekannt. Sie schimpfte stets wenn der Baronet und seine Geschwister sich in den Haaren lagen - war das vielleicht der Grund für den Zorn seines Schwertvaters? Und wie würde Arika das sehen, wenn sie sie in ein paar Tagen besuchen kommen würde? Würde sie auch zornig auf ihre Schwester sein? Oder ihren Vater? Im Kopf des Burschen ratterte es und beinahe wäre er über das Bein eines der Stühle gestolpert. Travinian rief sich so gut es ging zur Ruhe und wartete, dass sein Schwertvater ihm wieder zugestand, sich zu setzen.

Hätte Leomar nicht bereits einiges an Wein intus gehabt, hätte sein Verstand vielleicht die nach außen gezeigte Inbrunst seiner Reaktion gezügelt. Doch so kippte sein Stuhl laut polternd nach hinten, als er - von seinem Herzen gelenkt - ungestüm und unverstellt aufsprang und den frisch befüllten Kelch stürmisch in die Höhe riss, so dass ein guter Schluck seine Hand hinab in den Ärmel lief und sich dort mit seinem Schweiße vermengte. "Ich bin dabei, Reo, mein wahrer Baron! Ja, lass uns dem Grafen zeigen, wem er dieses Kleinod unter den Gratenfelser Landen wirklich überlassen hat! Nicht Rittern edlen Geblüts und tapferen Herzens, sondern Höflingen, Händlern und Norbardengeschmeiß! Ja, Reo, ich bin dabei! Soll der Graf das ganze Pack aus Herzogenfurt kehren. Und wenn er es nicht macht, erledigen wir es für ihn!” Der Ritter streckte seinen Rücken durch und rief: “Für die Freundschaft! Für die Wahrhaftigkeit! Für Schweinsfold!" Wie um seine Worte zu besiegeln setzte Leomar den Kelch an und trank diesen in einem so gierigen Zug aus, dass ihm dabei ein weiterer Anteil durch den Bart sickerte, um sich darunter zu einem Rinnsal zu vereinen und eine rote Spur hinterlassend im Halsausschnitt zu verschwinden. Krachend setzte er das Gefäß auf dem schweren Tisch ab, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und sah Reo voll grimmiger Entschlossenheit in die Augen. “Ich bin dabei, mein Freund.” Dann ging sein Blick erwartungsvoll zu Baldos.

Der impulsive Ausbruch Leomars überraschte Baldos. Im Gegensatz zu seinem Freund hatte Baldos bisher kaum dem Wein zugesprochen. Während des Essens trank er generell nie viel. Das hob er sich normalerweise für später auf, denn guter Wein war wie eine schöne Frau, beiden galt es seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Aber er konnte es verstehen, warum Leomar so sich so in die Brust warf, denn Baldos kannte die Hintergründe. Er dachte kurz daran was Hardomar widerfahren war und auch was er in Herzogenfurt alles gesehen und gehört hatte. Die Baronie würde unter Selinde zu einem Schatten seiner früheren Größe verkommen und Herzogenfurt selbst zu einem Sündenpfuhl verkommen. Auch an seinen Neffen dachte Baldos und beschied, dass es für Dorcas besser wäre, wenn er in den Diensten eines Barons mit Ritterschlag stand, anstatt in den Diensten einer undankbaren Tochter.
Also erhob sich auch Baldos und nickte Reo zu. “Du kannst auf mich zählen, so wie immer. Für die Freundschaft! Für die Wahrhaftigkeit! Für Schweinsfold!” Dann stürzte auch er seinen Kelch mit einem Zug hinunter, wobei er aber darauf achtete, dass nichts in seinem geliebten Bart hängen blieb.

"Das ist es!" nickte Leomar ergriffen. Auf wahre Freunde war Verlass! Der Ulenauer Ritter fühlte sich im Rausch, der teils vom Weine rührte, noch mehr aber vom Hochgefühl, nach den Tagen der Demütigung endlich etwas zu tun, um wieder Gerechtigkeit herzustellen, in Schweinsfold ebenso wie in Boronswalden. Sein Blick ging wieder zu Reo: "Sodann, wie werden wir es angehen? Hast Du schon einen Plan?" brannte er darauf, näheres zu erfahren.

Sonnhild fiel der nachdenkliche und besorgte Blick Travinians auf. Etwas schien ihn zu beunruhigen. Ob es an der Konversation selbst lag oder an dem inzwischen leicht angetrunkenen und lauten Gemütszustand der Erwachsenen, konnte die Knappin nicht deuten. Sie beobachtete weiterhin Travinian und versuchte seine Mimik zu lesen.
Die Reaktion von Reos Freunden setzte sie in Erstaunen: ‘Was für treue Freunde er doch hat’, ging es ihr, auch wenn sie bei Leomars Ausdruck “Norbardengeschmeiß” kurz die Stirn gerunzelt hatte, anerkennend durch den Kopf. Wenn sie mal eines Tages erwachsen war, hoffte sie, dass sie und Travinian auch eine solch enge Bindung haben würden. Eine Freundschaft, bei der jeder dem anderen half und beistand.
Doch alarmierte sie das Thema und die nun konkret werdenden Pläne ihres Schwertvaters. Sie verstand, dass Reo seine älteste Tochter nicht für eine geeignete Baronin Schweinsfolds hielt und wusste von seiner Enttäuschung, übergangen worden zu sein. Allzu oft hatte er sich in den letzten Monden über sein Schicksal in Sonnhilds Anwesenheit lauthals beschwert und ihr haarklein erzählt, wie ungerecht er behandelt wurde. Die Hadingerin war selbst der festen Überzeugung, dass es wichtig war, einen fähigen und starken Regenten zu haben. Sie glaubte nicht, dass eine Hofdame, die nie auf diese Aufgabe vorbereitet worden war, eine kompetente und starke Baronin sein könnte und fragte sich, warum die alte Baronin dies scheinbar so entschieden hatte. Vielleicht war sie im Alter nicht mehr ganz zurechnungsfähig gewesen? Dennoch hatte Sonnhild auch Sorge vor einem aufkommenden Konflikt. Wie würde die Reaktion des Landgrafen ausfallen und was würde passieren, wenn es zu einem Streit kam? Würde Reo bis zum Äußersten gehen und versuchen, mit Gewalt den Baronssitz zu erobern?
Auch wenn es für sie keine Zweifel gab, dass sie Seite an Seite mit ihrem Schwertvater kämpfen würde, so wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass sich alles doch irgendwie in Wohlgefallen auflösen würde. Sie versuchte sich ihren besorgten Blick nicht anmerken zu lassen und nickte ihrem Schwertvater vertrauensvoll und unterstützend zu.
Als der Page wieder zu ihr kam und darauf wartete, dass er sich erneut setzen durfte, sah sie ihn besorgt an: “Alles gut?”, fragte sie ihn mit fürsorglicher Stimme und lächelte ihn an, wenn auch etwas verkrampft. Doch vermutete sie, dass ihre Mimik und Gefühle für Travinian wie ein offenes Buch dalagen.

Travinian durfte schon oft Mäuschen spielen wenn seine Mutter ihre Ritter zu sich geladen hatte. Für gewöhnlich empfing man am Hag den Besuch in der ´großen Halle´, doch gab es Ritterdinge zu besprechen, wich die Baronin in einen kleinen Nebenraum aus - den sogenannten ´Rittersaal´, obwohl dieser die Bezeichnung nicht wirklich verdiente. Es standen dort um einen schweren Holztisch sieben Stühle. Jeder mit einem schönen Wappen verziert. Einer davon, an der Kopfseite, gehörte der Baronin, die sechs anderen, jeweils 3 jede Seite, den sechs Unterlehen der Baronie: die Junkergüter Wargenforst, Düsterfurt und Biberwald, das Edlengut Südhag und die Rittergüter Weidenwald und Dûrenbrück. Eben dort durfte er öfters zuhören, also waren dem Baronet solcherlei Ansprachen nicht fremd gewesen. Im Grunde genommen, denn nie richtete sich der Groll der Ritterinnen und Ritter gegen die eigene Familie. Eine Tatsache, die wahrscheinlich auch damit zusammenhing, dass man in seiner Heimat den Feind nicht in den eigenen Reihen suchen musste. Der Schwarzpelz dräute in den Schluchten der Ausläufer des Finsterkamms und auch von Praios her, aus der in Greifenfurt gelegenen Helbrache. Die Familie jedoch - und deshalb verstörte es Travinian so sehr, seinen Schwertvater auf diese Art und Weise reden zu hören - war unantastbar. Sie war das Fundament gegen die äußeren Gefahren, so wurde es auch dem Baronet stets gelernt - nicht umsonst war Weiden ein Land Rondras und auch Travias, als Hüterin der Herdfeuer und Familien.
Dem Blick Sonnhilds begegnete der junge Mann mit einem leichten Kopfschütteln, doch wagte er es nicht sein Wort zu erheben. Vielleicht könnte ja Arika dafür sorgen, dass sich sein Schwertvater und seine Tochter wieder vertragen.

Sonnhild zerriss es das Herz, dass es Travinian offensichtlich nicht gut ging. Sie schaute ihn mit fürsorglichem Blick an und streichelte ihm kurz über Schulter und Oberarm: “Mache Dir keine Sorgen…”, wisperte sie mit leiser Stimme zu ihm gewandt: “...wir reden nachher, in Ordnung?” Mit einem eindringlichen Blick und einem leichten hoffnungsvollen Lächeln nickte sie ihm zu und Travinian antwortete ihr seinerseits mit einem bestätigenden Nicken.

***

Bevor Reo weiter sprechen konnte, war nun endlich Landfrit mit weiteren Knechten zurückgekehrt. Diese räumten nun flugs die Tafel ab und brachten neue Krüge Wein. Als wieder Ruhe einkehrte, sprach der Gastgeber nun endlich weiter. “Ich wusste, ich kann auf euch zählen, meine Freunde. Schweinsfold wird bald wieder einen ordentlichen Baron haben, du einen ordentlichen Landesvater und dein gebürtiges Lehen, er nickte Leomar zu, ”Dir, Baldos, werde ich ebenfalls ein Gut geben.” Er ging herum und strich dem jungen Pagen über die Schulter. “Travinian, mein Sohn, Du wirst, wie versprochen, ein Knappe eines Barons und Helden sein.” Sein Blick streifte nun Sonnhild. “Das gleiche gilt für dich, Sonnhild. Und ich bin mir sicher, dass mein Ältester, nun Erbe, deine Hand nicht verschmähen wird.” Wieder schaute er in den Spiegel und straffte seinen Wams. “Allerdings werde ich nicht wie ein feiger Usurpator den Baronssitz in Herzogenfurt besetzen, sondern dem Volk zeigen, das nur ich der Auserwählte bin. Wie ich das anstellen will, fragt ihr euch? Nun, das ist ganz einfach. Die Traditionen dieses Landstrichs werden es richten.” Nun nahm der Junker wieder Platz. “Morgen wird Selinde solch eine Tradition erfüllen wollen, das werde ich aber zu verhindern wissen. Ich werde es an ihrer Statt vollführen!” Nun grinste er. “Jeder Baron Schweinsfold stellt sich der heiligen Flamme Ingerimms und lässt am Tag seiner Hochzeit die Eheringe seines Vorgängers einschmelzen und neu schmieden. Der Geweihte erkennt dessen Schicksal und gibt seinen Segen. Ohne diesen erkennt das Volk seinen Herrscher und dessen Ehepartner nicht an.” Nun wanderte sein Blick wieder zu seiner Knappin. “Die Hadinger hüten die alten Rituale und die heilige Schmiede. Doch bevor die Ringhüter diese erreichen, werden wir ihnen die Ringe abnehmen!” Verschwörerisch schaute der Ritter nun in die Runde. “Ich habe Karten von den geheimen Pfaden, die diese nehmen müssen. Sie führen auch durch ein Moor, dort schlagen wir zu. Sonnhild, Travinian, geht in meine Schreibstube und bringt mir die Karten von meinem Schreibpult!”

Kurz huschte der Schatten des Zweifels vor Leomars innerem Auge vorüber, doch verschwand dieser ebenso schnell, wie er gekommen war. Ein Überfall oder Hinterhalt auf ein hochzeitliches Ritual mutete auf den ersten Blick vielleicht nicht so rondrianisch an, wie er sich selbst sah. Doch ging es ja darum, ein bis nach Alveran schallendes Unrecht aus der Welt zu schaffen, und Schweinsfold und Ulenau in rechtmäßige Obhut zu bringen. Und warum sonst sollten die Ringe solcher Hüter bedürfen, wenn nicht, um zu zeigen, dass der Baron oder die Baronin für die Sicherheit der anvertrauten Güter, seien es Schmuckstücke oder die Baronie selbst zu sorgen imstande wäre. Morgen konnten Selinde und ihre Leute es beweisen... oder scheitern. Ja, eigentlich war die Sache doch ganz rondrianisch, rondrianisch genug, wenigstens für ihn.
"Es wird an der Zeit, dass Dein Ehebund mit Raulgunde erneuert und bekräftigt wird. Mit dem angemessenen Schmuck an der Hand! Erzähl uns mehr über Deinen Plan!" rieb sich Leomar in grimmiger Vorfreude die Hände, während sie auf die Rückkehr des Pagen und der Knappin mit den Karten warteten. "Sagt die Tradition eigentlich auch, wie viele Hüter diese Ringe begleiten sollen?" wollte er von Reo wissen. "Und wer genau diese Hüter sind?"

Zufrieden lächelte Reo. “Genau das ist mein Plan! Den Ehebund mit meiner Raulgunde mit diesen Ringen zu erneuern! Nun, die Tradition besagt, dass das Brautpaar zwei Ringhüter auswählt und die Traviageweihten die Begleiter als Zeugen. Diese wird unter den Gästen gewählt. Es können nicht viele sein.” Freudig rieb er sich die Hände.

Der Blick des Pagen ging während der Rede seines Schwertvaters zwischen den anderen Anwesenden hin und her. Selbst Travinian verstand, dass das Vorhaben eine ernste Sache war und wohl zu einer Menge Unfrieden führen würde. Auf Reos Aufforderung hin nickte er eifrig und zog Sonnhild an ihrem Ärmel mit sich. Es schien ganz so, als konnte der Gugelforster den Rittersaal gar nicht schnell genug verlassen.

Sonnhild nickte Reo trotz ihres unguten Gefühls entschlossen zu und erhob sich angesichts der Reaktion Travinians ebenso eilig. “Wir kommen gleich wieder”, sagte sie, deutete eine Verbeugung vor den hohen Herren an und verließ mit dem Pagen den Raum.

Der ältere Paggenfelder wartete bis sich die Tür hinter den beiden Kindern geschlossen hatte. “Reo, ich wünschte du hättest schon früher eingeweiht. Dann hätten Leomar und ich unsere Lanzen mitgebracht und ein paar Handlanger für den Überfall anheuern können, die man anschließend problemlos verschwinden lassen kann.” Einen Moment starrte er seinen Freund tadelnd an, dann wurde seine Miene weicher. Seufzend sprach er weiter. “Also gut, wie hast du dir diesen Überfall vorgestellt? Hast du ausreichend Männer dafür und wie sieht dein Plan aus, wenn sich die Ringhüter wehren? Ein Angriff auf Adlige wird kein gutes Licht auf dich und dein Anliegen werfen.” Gab Baldos zu bedenken.

Leicht tadelnd schaute Reo seinen Freund an. “Ach, Baldos. Ich werde doch keine unschuldigen Gäste wie Strauchdiebe überfallen. Ich denke nicht das Waffen oder extra Leute notwendig sein werden. Allein unser Auftreten sollte genügen. Ich habe nicht vor jemanden Gewalt anzu tun, nur einschüchtern. Allerdings werd ich mir die Ringe nehmen, sei es mit einer rondrianischen Herausforderung an Ort und Stelle!”

Mit Reos Worten waren für Leomar die letzten Zweifel an der Rondragefälligkeit der Unternehmung oder wenigstens deren Vereinbarkeit mit den Geboten der Leuin ausgeräumt - Reo war Ritter durch und durch, mit jeder Faser seines Herzens, das stand für ihn außer Frage. Es ging nicht mehr um das ‘Ob?’, nur noch um das ‘Wie genau?’. Er hoffte, dass Baldos nun genauso überzeugt war wie er.

Baldos war noch nicht völlig überzeugt, hatte er doch gesehen, welche Art von Leuten Reos Tochter um sich scharrte. “Ich hoffe du hast recht, mein Freund.”

***

In der Schreibstube angekommen, atmete der junge Knabe erleichtert durch. Mit demselben sorgenvollen Blick von vorhin maß Travinian daraufhin seine Freundin Sonnhild. “Das was seine Wohlgeboren vorhat, ist ernst, oder?”, fragte er flüsternd. “Das war ein Kriegsrat, oder?”

“Sieht ganz so aus...”, flüsterte sie unheilvoll. Der Umstand, dass ein so kühnes und sicherlich gefährliches Unterfangen bereits morgen real werden sollte und das auch noch in ihrer eigenen Heimat, ließ sie die junge Frau erschaudern. Die Knappin spürte, wie ihr Puls vor Aufregung raste, wischte sich über die Stirn und begann nach den Karten der Region zu suchen. Sicherlich mochte ihr Schwertvater einen besseren Baron abgeben, doch auf diese Art und Weise die Macht zu ergreifen, erschien ihr nicht gerade tugendhaft. Ihr gefiel die ganze Sache ganz und gar nicht. “Was hältst Du davon? Ob dies der göttlichen Leuin zusagen würde?”

Selbst der Jüngling konnte diese Frage sicher beantworten. “Ich glaube nicht”, meinte Travinian besorgt. “Und der Mutter Travia wird es bestimmt auch nicht gefallen.” Der Page hatte in seiner Heimat enge Bezugspersonen aus dem Klerus gehabt - die Schwertschwester der Saladûra Sancta Matissa und die Tempelmutter des Hags des göttlichen Herdfeuers, die auch seine Großtante war. Von ihnen hatte er schon im Kindesalter sehr genau gelernt was gut und was richtig war. Was jedoch Ingerimm davon hielt, schließlich war diese Sache mit den Ringen ja ein Ritual dem Feuergott zu Ehren, konnte der Gugelforster nicht einschätzen. Er kannte den feurigen Vater nur vom Hören und hatte keinen Bezug zu seinem Kult.
“Wir müssen das verhindern, Sonnhild”, flüsterte der Page seiner Freundin zu. “Unfrieden darf in der Familie nicht sein ...”, rezitierte er die Predigten seiner Großtante, “... und Autorität ernten jene, die Schutz zu bieten wissen und keinen Unfrieden säen”, ließ er einen Satz der Schwertschwester Leudara folgen. “Wir müssen was mit den Karten machen, denn wenn sie sie nicht finden, können sie sie nicht überfallen.”

Sonnhild fand die Karten, wie von Reo beschrieben, direkt auf seinem Schreibpult vor und es schien für sie kein Zufall zu sein, dass er diese bereits aufgeschlagen dort zu liegen hatte. “Da hast Du recht”, bestätigte die junge Hadingerin die Glaubensgrundsätze, die Travinian wiedergegeben hatte. Sie war von den niederträchtigen und brutalen Plänen ihres Schwertvaters tief enttäuscht, den sie bisher für seine heldenhaften Taten bewundert und glorifiziert hatte. Mit dem heutigen Tage brach für sie ein Teil ihres Weltbildes zusammen. Natürlich hoffte Sonnhild, dass Reo Baron werden würde, aber doch auf eine ehrenhafte und göttergefällige Weise, nicht mit so einem hinterhältigen Komplott. Immer noch fassungslos schluckte sie heftig. “Du meinst, wir sollten die Karten verändern? Aber wie? Wäre das nicht auffällig?” sagte sie nachdenklich mit leicht resignierter Stimme. Sie schaute sich die Karten etwas genauer an und überlegte, wie man diese eilig manipulieren könnte. Doch vermutlich hatte ihr Schwertvater die Pläne in den letzten Tagen oder sogar Wochen bereits ausgiebig studiert und würde sowohl eine Manipulation bemerken als auch den Weg zu diesem Moor vermutlich trotzdem finden.

Der Page hob auf die Worte der Älteren hin lediglich seine Schultern. Er hätte nur ein paar Striche dazu gemalt, aber wahrscheinlich hatte Sonnhild damit recht. Reo kannte die Karte und würde es merken.

Dann richtete sie sich auf und ihre Augen waren von plötzlicher Entschlossenheit gezeichnet. “Ich habe eine Idee!”, flüsterte sie mit einem kurzen Lächeln. “Wir könnten uns nachher, wenn die Erwachsenen betrunken sind und schlafen, rausschleichen und erst einmal die Weidener Gäste einweihen. Die Schildmaid Raugund könnte noch heute Nacht die Baronin informieren und wir beide reiten derweil nach Hadingen und warnen dort alle. Großvater Ehrfried und Onkel Ingerian. Und die Landkarte nehmen wir mit.” Doch wich ihre Begeisterung recht schnell einem sorgenvollen Stirnrunzeln. Plötzlich sehr nachdenklich geworden fragte sie Travinian: “Wäre es denn richtig, wenn wir seine Wohlgeboren hintergehen? Immerhin ist er unser Schwertvater und wir sind ihm zu Gehorsam und Treue verpflichtet.” Sonnhild wurde schlecht bei dem Gedanken, Reo, der in den letzten sechs Jahren zu einem Ersatzvater für sie geworden war, in den Rücken zu fallen.
“Das können wir doch eigentlich nicht tun, oder?”, fragte sie Travinian leise mit zweifelnder Stimme. “Ich meine, das wäre Verrat an unserem Herrn.”

Travinian kaute auf diese Frage hin unsicher auf seiner Unterlippe. In seinem Kopf ratterte es. “Hm, das stimmt auch wieder”, er dachte an die mahnenden Worte seiner Mutter, seinem Schwertvater gegenüber stets folgsam und treu zu sein. Doch ließ den Gugelforster eben auch nicht los, dass sein Ausbildner dabei ist Krieg mit seiner eigenen Familie zu führen. “Wir sind aber eine Familie und wir passen aufeinander auf”, meinte der Page dann kindlich naiv. “Und in dem Fall braucht uns unser Schwertvater, denn wenn er das macht was er möchte, erzürnt er die Sturmherrin und die gütige Mutter. Machen wir's so; wir sprechen mit Raugund, aber sie soll es nicht der Baronin, sondern nur Arika und Wallfried sagen. Ich kenne die beiden, ihnen wird was einfallen.”

Sonnhild hatte bei dem Gedanken, Arika zu informieren, ein mulmiges Gefühl. Sie kannte diese nicht sonderlich gut und hoffte, dass Travinian mit seiner Einschätzung richtig lag. Auch wenn der junge Page diese Tochter Reos sehr gut kannte, wusste er, auf wessen Seite sie im Ernstfall stehen würde? Würde Arika die Baronin direkt warnen oder sich etwas einfallen lassen, um die Situation zu deeskalieren? Oder würde sie doch ihren Vater in seinem Tun unterstützen? Noch immer verspürte Sonnhild den Wunsch, die Leute in Hadingen zu informieren. Würde sie sie doch nur irgendwie warnen können... Sie machte sich Sorgen um ihre Familie.
Dann fiel ihr etwas ein: “Oh verflucht!”, zischte sie plötzlich, noch immer über die Karte gebeugt. Sie schaute den Pagen mit eindringlichem, fast verzweifelten Blick an. “Meine Schwester wird bestimmt bei den Ringhütern sein. Wenn wir Reo folgen, dann muss ich meine eigene Schwester überfallen!” Nachdenklich rollte sie die Karte zusammen, während sie innerlich mit sich haderte. “Wenn wir es nicht schaffen, den Herrn am Aufbruch morgen früh zu hindern, kommen wir irgendwann in die Zwickmühle, dass wir uns für eine der beiden Parteien entscheiden müssen.” Inzwischen hatte sie die Karte eingepackt und sprach mit leicht zitternder Stimme: “Ich will mich nicht entscheiden müssen”, sie stöhnte auf und pustete sich nervös die Haare aus der Stirn. “Also gut, versuchen wir nachher Raugund zu informieren. Bis dahin sollten wir uns nichts anmerken lassen. Ich schätze nicht, dass sich seine Wohlgeboren von uns von seinem unehrenhaften Plan abbringen lassen wird.” Traurig und resigniert zuckte sie mit den Schultern, während sie Anstalten machte, den Raum zu verlassen. “Und vermutlich werden wir es auch nicht schaffen, die hohen Herren mit sehr viel Alkohol kampfuntauglich zu machen. Oder was meinst Du?”

Travinian wirkte skeptisch. “Ich weiß ja nicht … ich habe die Erwachsenen schon öfters trinken sehen bevor sie in den Kampf zogen und meistens sind sie auch wieder daraus zurückgekommen.” Der Page hob abermals seine Schultern. “Wir können Raugund auch sagen, dass sie es deiner Schwester sagt. Aber nicht, dass diese dann gleich die Baronin informiert - das müssen wir verhindern, sonst bekommt unser Schwertvater erst recht Probleme.”

“Das wird sie gewiss nicht, wenn Raugund ihr die Umstände erklärt…”, behauptete Sonnhild, ohne groß über ihre Antwort nachzudenken. Während sie sich nun mit Travinian auf den Weg zurück zum Speisesaal machte, dachte sie an ihre Schwester und deren eher lautes und gesprächiges Auftreten. Imelda war nicht wirklich diskret und hatte manchmal eine Art an sich, wo sie ins Reden kam und mit ihrer durchdringenden Stimme unbewusst die halbe Nachbarschaft unterhielt. Auf der anderen Seite empfand Sonnhild es aber als unbedingt notwendig, dass ihre Schwester als Ringhüterin gewarnt würde. So sehr sie es sich auch wünschte, dass Reo Baron würde, so konnte sie es doch nicht zulassen, dass er die Ringhüter und somit auch ihre eigene Schwester mit einem hinterhältigen Überfall in Gefahr brachte. Deshalb sagte sie nichts weiter zu Travinian und ging nachdenklich neben ihm her.

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