Der enttäuschte Held - Kapitel 1

Alte Freunde

Kapitel 1 der Briefspielgeschichte "Der enttäuschte Held"

15. Travia 1043 BF, Gut Schweinsfold, am frühen Abend

Warm legte sich das Praiosmal über das Schweinsfolder Land, während sich viele Gäste einfanden, um in ihrer Capitale Herzogenfurt die Hochzeit der Baronin zu feiern. Zwei dieser Gäste jedoch machten sich an diesem Tag auf, einen alten Freund zu besuchen. Die Ritter Leomar von Ulenau und Baldos von Paggenfeld kannten sich schon aus ihrer Jugend und pflegten eine lange Freundschaft. Hoch zu Pferd folgten sie den ausgetretenen Wegen und bewunderten das Stammland ihres Freundes Junker Reo von Herzogenfurt-Schweinsfold. Dieser war der Vater der Braut, doch weigerte er sich ihr seinen Segen zu geben und an der Hochzeit teilzunehmen. Zu tief saß die Enttäuschung darüber, dass seine eigene Mutter, die verstorbene Baronin von Schweinsfold, seine Tochter anstatt ihn als Nachfolger bestimmt hatte.
Einer der alte Pfade führte direkt ins Herz der Baronie Schweinsfold, dem Gut und Dorf Schweinsfold, und war geprägt von langgestreckten Weiden, vielen Höfen und vor allem Schweine-, Schafs- und Rinderzüchtern. Und so war das Bild von Schwein und Rind bald ein gewohnter Anblick und die Luft war mit ihrem würzigen Geruch geschwängert. Fast ein jeder aus der Gegend kannte die Geschichte dieses Ortes; man erzählte sich, dass das Dorf viel älter sei als die Stadt Herzogenfurt und dass hier einst die ‘Mutter aller Säue’ gelebt haben sollte. Noch immer war das Herz des Landes von der Schweinezucht geprägt und es gab noch immer reichlich Rotten von Wildschweinen, die im nahegelegenen Foldenforst lebten. Der Foldenforst war einer der wenigen größeren Wälder in der Baronie, der nun, am fortgeschrittenen Tage, in Sichtweite rückte.
Das Dorf Schweinsfold, das sich kaum von einem einfachen Dorf von Schweinebauern unterschied, war kein besonderer Anblick. Keine Herberge oder Taverne hatte der Ort zu eigen, wobei sich die Bauern gelegentlich beim alten Schulzen Bachenvater zu einem Umtrunk einfanden. Trotz der vielen Höfe und des nahe gelegenen Waldesrandes wirkte der Ort ´staubig´ und der strenge Geruch vom Schwein war allgegenwärtig. Die einzige Attraktion, die Schweinsfold aufweisen konnte, war eine grob geschlagene Statue eines Ritters, der einem Drachen das Schwert in die Brust schlug. Diese stand am Beginn eines steinigen Pfades, der zu dem Gut des Junkers, dem Stammsitz derer ´von Schweinsfold´, führte. Beide Männer wußten, dass es sich bei der Statue um den Junker selbst handelte, der wohl in jungen Jahren gegen den Drachen, dem Lindwurm Chaidarion, im Almadanischen ausgezogen war. Lange hielten sie sich nicht auf und schlugen den Weg zum Stammsitz ein. Nach einer kurzen Weile, über einer Anhöhe zwischen Hügeln gelegen, sahen sie die alte und kleine Burg der Schweinsfolder. Ein Turm mit Wehrmauern dominierte das Anwesen, der Stein war moosbewachsen und dunkel angelaufen. Der Palas mit den Stallungen war von außen nicht zu sehen, doch schmiegten die sich im Schatten des Turmes an. Ein großer Pferch mit grunzenden Schweinen begrüßte die Ritter, bevor sie das schwere und hölzerne Tor erreichten. Eine Glocke kündigte ihre Ankunft von innen an.

Baldos von Paggenfeld, der hochgewachsene und langsam in die Jahr gekommene Ritter saß auf seinem elenviner Falben Thurwin und ließ seinen Blick über die Landschaft gleiten. Wie lange war es her, dass er hier gewesen war? Nachdenklich zwirbelte er seinen prächtigen Kaiser-Alrik-Bart, den er aufwendig hegte und pflegte. Baldos hatte für den Ritt wert auf bequeme Kleidung gelegt. Ein bauschiges Hemd mit geschnürter Brust, ähnlich dem welches er gestern Abend getragen hatte, dazu weiche lederne Beinkleider und Reitstiefel. Auf einen Wappenrock hatte er verzichtet, doch prangte sein Wappen an einem kleinen Wimpel am Gürtel. Der blonde Ritter deutete auf die Wehranlage. “Wie habe ich das alte Gemäuer vermisst. Den Geruch allerdings nicht.” Baldos lachte herzhaft. Bis gerade eben hatte er seinen guten Freund und Reisegefährten mit Geschichten über die kleine Norbarden-Dirne von letzter Nacht unterhalten. Doch jetzt, da sie auf das Tor zu hielten seufzte er. “Verdammt, ich war schon zu lange nicht mehr hier.”>br>

"Das kannst Du laut sagen. Geht mir auch so." Langsam ließ Leomar von Ulenau sein Ross, einen Elenviner Rappen, auf das hölzerne Tor zutrotten. Es war ein angenehmer Ritt gewesen, und die Geschichten, die Baldos erzählt hatte, taten ihr Übriges zu seiner guten Laune. Ach könnten doch nur alle Norbarden-Weiber Rahjas Handwerk nachgehen... oder wenigstens die, die er zu seinem Missvergnügen näher kannte… anstatt ihre Griffel nach diesen Landen auszustrecken...
Privatim unterwegs hatte der Ritter auf den Wappenrock der Boronwalder Landwehr verzichtet, der er als Hauptmann vorstand, doch verrieten sein Schwert und der edel gefertigte dunkelgrüne, nahezu schwarze Gambeson, den er zu vollschwarzen, nur etwas staubig gewordenen Hosen und Stiefeln trug und auf den er auch auf einem solchen Ausritt nicht verzichten wollte, dem Kundigen seinen Stand.
In seinen Satteltaschen klirrte es in diesem Moment leise aber dennoch verräterisch. Leomars Gesichtszüge und mit diesen sein einst schwarzer, doch ums Kinn herum ebenso wie auf seinem ganzen kurz geschorenen Haupt zunehmend weißmelierter Vollbart verzogen sich zu einem breiten Grinsen. "Staubige Kehlen wollen gut gespült sein, vor allem, wenn sie ein paar alte Geschichten zum Besten geben sollen." hob Leomar kurz die Deckelklappe und offenbarte die Hälse der mitgebrachten Flaschen an Kirschwein. "Mit so einer Dirne wie gestern dürfen wir heute ja leider nicht rechnen. Dafür vielleicht mit Schwein am Spieß, was ja auch nicht zu verachten und mit einem guten Tropfen noch besser ist. Außerdem ist heute ein besonders guter Tag, um hier zu sein. Genau hier und nirgendwo anders!"´

“Da hast du vollkommen recht, Leomar!” Baldos lachte vergnügt auf. “Sag mal, ist das Kirschwein?” Neugierig beugte sich der Ritter über die Satteltasche seines Freundes. Dann griff er nach seiner eigenen Satteltasche und offenbarte eine Holzschachtel. “Und als Ergänzung zu deinem Wein gibt es noch ein wenig gutes Rauchwerk aus dem Horasreich. In Weinbrand getauchte Zigarillos aus der Coverna.” Sie waren nun in Rufweite des Tores und Baldos erhob fröhlich seine Stimme. “Reo, mach schon das Tor auf! Wir bringen Wein und Rauchwerk mit!” Ein lautes, dröhnendes Lachen folgte seinen Worten.

***

Wie immer legte sich die Kühle des Abends im Hofe der Burg nieder und es war an der Zeit, die Fackeln zu entzünden. Die letzten Tage war es still auf dem Gut gewesen, denn die Gemahlin des Junkers, Raulgunde vom Berg, war mit ihrem Sohn Hlûthar und mit dem meisten Gefolge in die Stadt gezogen, um der Hochzeit ihrer Tochter beizuwohnen. Und so oblag es einem alten Knecht, der Köchin, sowie der Knappin Sonnhild von Hadingen und dem jungen Pagen Travinian von Gugelforst, sich um das Gut zu kümmern. Es war einer der beiden Heranwachsenden, der von weitem die angereisten Besucher entdeckte.

Der junge Page Travinian war immer noch dabei, sich in sein neues Leben einzugewöhnen. Gerade einmal acht Sommer zählte er und war seit nun gut zwei Monden weit fern seiner Heimat und seiner Familie. Der junge Baronet stammte aus einem liebenden Elternhaus: seine Mutter las ihm Geschichten vor und er durfte bei ihr sein wenn sie in ihrem Arbeitszimmer arbeitete, was ihn zugegebenermaßen langweilte, oder im Rittersaal mit den Ritterinnen und Rittern der Baronie sprach - letzteres empfand Travinian dann wieder als außerordentlich interessant und spannend. Sein Vater ließ ihn manchmal mit kleinen Holzschwertern üben und nahm ihn auf Ausritte in die großen Wälder Weidenhags mit. Er mochte auch Tante Inja, die die besten Geschichten kannte und die Ritterin Algrid, die ihm den respektvollen Umgang mit Tieren lehrte. Hier jedoch fehlten sie alle. Der junge Gugelforster hatte die ersten Wochen mit schrecklichem Heimweh zu kämpfen und öfters flossen deshalb auch Tränen. Erst als er die Knappin Sonnhild besser kennenlernte, änderte sich die Situation ein wenig. Recht schnell wurde sie ihm zu einer Freundin und 'großen Schwester', die sehr viel Geduld mit ihm aufbrachte, wenn Travinian wieder einmal zur unmöglichsten Zeit mit den Holzstöcken zum Üben kam, oder Helden- und Heiligensagen hören wollte. Stets erzählte der Baronet von seiner Heimat und dass er schnell groß und stark werden musste, um seine Familie und seine Schutzbefohlenen gegen die Schwarzpelze zu schützen.
Es war eigentlich nicht geplant gewesen, dass Travinian seine Ausbildung an einem solch kleinen Hof empfängt. Als sein Großvater Andilgarn während der zweiten Weidener Unruhen mit Reo vereinbarte, dass sein erster Enkel seine Ausbildung in Schweinsfold ableisten sollte, dachte der heutige Gesandte der Herzogin von Weiden in Greifenfurt an den hiesigen Baronshof zu Herzogenfurt, war Reo doch damals der Erbe der betagten Baronin Selinde gewesen. Dennoch war die Tatsache, dass es nun eben eine etwas bäuerlichere Gegend war, kein Grund dafür, dass man an dieser Übereinkunft etwas abändern sollte.
Wie so oft trug der junge Travinian seine Holzwaffen mit sich und begab sich zielstrebig auf die Suche nach Sonnhild. Der Herr Reo erwartete Besuch und die beiden hatten fleißig bei den Vorbereitungen geholfen, weshalb ihnen ihr Schwertvater auch ein freies Stundenglas zugestand. Am Wehrgang fand der Baronet die Knappin schließlich. "Sonnhild, da bist du ja. Du wolltest mir doch die eine Finte zeigen, die der Herr Reo dir gelernt hat."

“Vierhundertzwölf, vierhundertdreizehn, vierhundertvierzehn”, zählte Sonnhild die senkrechten Schläge, die sie zweihändig mit dem Holzschwert in Anderthalbhänder-Länge ausführte. Dabei wirkte die Hadingerin fokussiert, versuchte bei jedem einzelnen Hieb das hölzerne Schwert mit hoher Kraft heruntersausen zu lassen, dieses dann in waagerechter Position zum kontrollierten Stopp zu bringen, um schnellstmöglich wieder für eine neue Aktion bereit zu sein.
Die junge Knappin trug zu jener abendlichen Stunde eine dunkelbraune kurzärmelige Tunika mit dem auf dem Rücken gestickten Wappen Schweinsfolds. Ihre langen dünnen Beine waren von einer eng geschnittenen Schweinslederhose bedeckt und endeten in ihren schweren halbhohen Stiefeln. Sie unterbrach ihre Übung, atmete erschöpft tief durch und schüttelte dabei ihre Hände aus. Das rotblonde glatte Haar klebte ein wenig auf ihrer schweißglänzenden Stirn und ohne ihre Hände benutzen zu wollen, versuchte sie die Strähnen, welche ihr seitlich ins Gesicht gefallen waren, wieder heraus zu pusten.
In diesem Moment entdeckte Sonnhild den jungen Pagen. Ihre Miene hellte sich auf und sie schenkte ihm umgehend ein freundliches Lächeln, wobei ihre kleine Zahnlücke zwischen den beiden Schneidezähnen zu erkennen war. “Aber selbstverständlich. Komm’ her, Travinian”, sagte sie enthusiastisch. “Wie ich sehe, hast Du deine Holzschwerter dabei. Am besten trainieren wir die Finte erstmal mit dem Kurzschwert.” Die Hadingerin legte ihre Übungswaffe am Fuße des Wehrgangs zu ihren restlichen Waffen und nahm nun ebenfalls ihr hölzernes Kurzschwert. “Also, bei der Finte sind Geschwindigkeit und eine gute Technik Schwerpunkt...”, begann sie zu erklären. “Ein richtiges Schwert hat etwa das dreifache Gewicht eines Holzschwerts und du bist somit mit dem Holzschwert deutlich geschwinder als mit einer Stahlwaffe. Primär geht es ja darum, dass du mit einem Angriff…”, sie bemerkte, wie eine Fledermaus direkt über sie hinweg flog, kurz darauf eine zweite und eine dritte. “Oh schau, Travinian, Fledermäuse”, deutete sie auf diese. “Es wird dunkel und die Gäste könnten jeden Moment kommen.” Sonnhild blies sich erneut die Haare aus der Stirn. “Der Herr Reo ist sicher stolz auf uns, wenn wir noch vor Einbruch der Dunkelheit die Fackeln angezündet haben. Was hältst du davon, wenn ich die Fackeln hier unten im Hof und du die oben auf dem Wehrgang erzündest?” Sonnhild holte zwei Fackeln, von denen sie eine Travinian reichte. “Wenn wir es heute Abend nicht mehr schaffen sollten weiter zu üben, dann zeige ich dir die Finte morgen früh.” Kurz überlegte Sonnhild, ob sie vorschlagen sollte, sich nachts mit Travinian rauszuschleichen, um heimlich zu üben, verwarf diesen Plan jedoch schnell wieder, da sie ihn doch als zu riskant einschätzte. “Auf jeden Fall erzähle ich dir nachher noch die Geschichte von der Eselsmagd weiter…” Verschwörerisch zwinkerte sie ihm zu und begann mit dem Anzünden der zahlreichen Fackeln in dem kleinen Burghof.

Der junge Page nickte der Knappin energisch zu und seine tiefblauen Augen begannen zu leuchten. Travinian scheute Arbeit nicht, die er immer sehr motiviert annahm. ´Je schneller man damit begann, desto schneller war man damit auch wieder fertig´, lehrte ihn sein Vater stets. “Ich bin gleich wieder bei dir”, nach diesen Worten griff der Baronet nach einer Fackel und entzündete diese an einer nahen Kohlenpfanne. Der junge Gugelforster war in eine rot-goldene Tunika und dunkelbraune Lederhosen und -Stiefel gewandet. Auf dem goldenen Bereich der Tunika auf der linken Seite seiner Brust prangte der Schweinsfolder Eber. Um seine Taille trug er einen Gürtel aus Leder.
Am Wehrgang angekommen begann Travinian pflichtbewusst die Fackeln am Wehrgang. Er hatte nie verstanden warum man diese hier oben entzünden musste, war es doch schwer gewesen vom Licht in die Dunkelheit zu schauen - Orks konnten sich in der Dunkelheit gut anschleichen und hier oben wäre man im Licht stehend blind gegen die Gefahr aus den Schatten. Das hatte ihm sein Oheim Trautmann so gelernt. Der war ja ein Ritter der Finsterwacht und hatte eine Burg direkt im Finsterkamm. Andererseits drohte ihnen hier in Schweinsfold wahrscheinlich auch keine Gefahr. Es dauerte nicht lange, da fielen dem Knaben zwei Reiter ins Auge, die sich von Praios kommend der Burg näherten. Ja, das musste der Besuch sein, da war sich der Baronet sicher.
“Sonnhild …”, rief Travinian der Knappin im Burghof zu, “... der Besuch ist da! Sagst du dem Herrn Bescheid?” Der Page ging hin zur Glocke und läutete daran, so wie er es schon oft gesehen hatte und es üblich war wenn Besuch kam.

“Sehr gut, Travinian! Ich sage dem Herrn Reo gleich Bescheid”, rief Sonnhild zu ihm hoch und entzündete dabei die letzte Fackel im Burghof. Sie schaute in Richtung der Stallungen und erblickte den Knecht der Burg: “Lantfrid, hilf doch bitte Travinian beim Öffnen der Tore. Die Gäste kommen…” Sonnhild rannte nun geschwind zum Palas und rief derweil hastig weiter zu Lantfrid: “...und kümmere dich um die Reittiere der Gäste.”
Der beleibte Knecht Lantfrid war ein Mann, der schon sein Leben lang seinen Dienst auf Burg Schweinsfold tat. Seine Frau Witta arbeitete ebenfalls hier und war die Burgköchin. Vor über fünfzig Götterläufen hatten die beiden sich bei der Arbeit kennengelernt und man sah Knecht Lantfrid trotz der körperlich schweren Arbeit an, dass er die leckere Küche seiner Frau durchaus zu schätzen wusste.
Eilig stürmte Sonnhild zum Palasgebäude und preschte die Treppe hinauf, wobei sie immer gleich zwei Stufen auf einmal nahm. Im langgestreckten Flur in der ersten Etage legte sie einen Endspurt zum Schreibzimmer des Junkers hin, klopfte nach Luft japsend an die Türflügel, öffnete diese, ohne auf eine Antwort zu warten und trat in die Schreibstube hinein: “Herr Reo, die Gäste treffen ein!”

***

Es dauerte nicht lang und das alte und schwere Tor wurde geöffnet. Zur Überraschung der beiden Ritter erwartete sie im Tordurchgang ein Knabe mit einer Fackel in der Hand und erwartungsvoll geöffneten Augen. Doch nur Augenblicke später erschien im selben Fackelschein ihr alter Freund: Reo. Wie gewöhnlich schaute dieser vorbildlich und makellos aus. Groß und breitschultrig trug der Ritter einen Wappenrock mit dem Zeichen Schweinsfolds, dazu einen breiten Gürtel mit gegurtetem Anderthalbhänder. Sein helles Haar war kurz und ordentlich geschnitten, der Bart kurz gehalten. Doch was ihn eigentlich auszeichnete, waren seine lebendigen und vertrauenserweckenden, hellblauen Augen und sein gewinnendes Lächeln. Und genauso begrüßte er die Beiden mit geöffneten Armen. “Rondra zum Gruße! Willkommen auf Schweinsfold, meine Freunde. Was für eine Freude!”
Nun fiel den beiden auch das junge Mädchen neben ihm auf, das ebenfalls strahlte.

"Dank, Junge!" bedachte Leomar den Knaben, der ihnen geöffnet hatte, nur kurz und im Vorbeiritt. Ebenso schwungvoll und schneidig wie er sein Pferd eben noch durch das Tor angetrieben hatte, versuchte der Ritter bald dahinter abzusitzen, doch musste er den Stunden im Sattel und seinem nicht mehr ganz so jugendlichen Alter Tribut zollen und sich am Ende etwas müder wirkend als gewollt vom Ross herabhieven - mochte es der Abend nur recht gnädig verhüllen! Das minderte aber nicht im geringsten seine Freude, endlich Reo gegenüber zu stehen.
"Der Löwe hat gebrüllt, und seine Gefährten sind gekommen - ist seine Einladung doch Verheißung!" ging er Reo noch in breitbeinigen Schritten und mit geöffneten Armen entgegen. Ja, Verheißung war sie in der Tat. Auf eine gute Zeit unter Freunden und einen ordentlichen Kater danach. "Rondra zum Gruße, mein alter Freund!” klopfte er ihm den Rücken. “Wie schön, Dich endlich wiederzusehen! Lass Dich ansehen! Wie schaffst Du es nur immer, trotz der Jahre keinen Tag zu altern? Ist es etwa ewig junges Elfenblut in Deinen Adern oder nicht sogar eher die Gesellschaft liebreizender junger Damen, die Dich so jung und frisch hält?” zwinkerte er Sonnhild zu, ehe er wieder Reo ansah. “Willst Du mir Deine Begleitung nicht vorstellen?"

Travinian beäugte die ankommenden Ritter interessiert, hielt sich sonst jedoch artig an der Seite seines Schwertvaters. Hier hatte der Jüngling nichts zu sagen und um mit den Schlachtrössern zu helfen, war er noch zu klein. Im schlimmsten Fall kassierte er von einem der Tiere einen Tritt. Der Page würde den Pferden dann Hafer und Wasser geben, wenn sie im Stall standen und dabei konnte er sie sich dann auch genauer ansehen.

Die erst vierzehn Götterläufe alte Knappin schmunzelte amüsiert, als Leomar ihr zuzwinkerte und freute sich für ihren Schwertvater, dass seine Freunde ihn besuchten. Auf den ersten Blick machte der Ulenauer Ritter einen sehr charmanten und sympathischen Eindruck, ganz anders, als ihre Schwägerin ihr in einem ihrer Briefe berichtet hatte. Sie wollte sich selbst ein Bild machen und war daher gespannt, ob sich ihr erster Eindruck bestätigen würde.
Von Baldos hatte sie schon einmal einen äußerst netten Eindruck erhalten, als der Paggenfelder Schwertvater ihres Bruders Hardomar sie in Hadingen besucht hatte. Sie erkannte den lebenslustigen, stattlichen Ritter auf Anhieb, fragte sich jedoch, ob auch dieser sie erkennen würde. Immerhin war sie bei ihrem letzten Zusammentreffen doch noch jünger gewesen und seither ganz schön in die Höhe geschossen. Gespannt wartete Sonnhild auf die begrüßenden Worte ihres Schwertvaters Reo.

Auch Baldos war abgestiegen sobald sie das Tor passiert hatten und streckte sich erstmal mit einem Seufzen als er mit beiden Füßen auf dem Boden stand. Der Ritter grinste breit und umarmte seinen alten Freund. “Du siehst gut aus, für einen alten Mann.” Er lachte und entließ Reo aus seinem Griff. Sein Blick schweifte über die beiden Kinder und sein Grinsen wich Unglauben als er das Mädchen ins Auge fasste. “Du bist doch nicht die kleine Sonnhild, oder? Schau an wie groß du geworden bist.” Dann ging sein Blick zu dem Pagen. “Und wer bist du?”

Kurz bedachte der Angesprochene seinen Schwertvater mit einem Blick, der ihm knapp zunickte. Pagen sollten unaufgefordert nicht ihr Wort erheben, das hatte er schon zuhause in Weiden gelernt. “Mein Name ist Travinian Gerhelm Randolph von Gugelforst, hoher Herr”, kam es dann wie einstudiert, aber mit, für sein Alter, fester Stimme. “Ich bin der Page seiner Wohlgeboren, Reo von Herzogenfurt-Schweinsfold.” Travinian musste etwas mit Sonnhild üben bis die Vorstellung saß. Er war nicht gut mit Namen, aber sonst nicht auf den Mund gefallen.

Sonnhild war erleichtert und glücklich darüber, wie gut Travinian sich vorgestellt hatte. ‘Er ist ja so talentiert’, dachte sie und warf ihm für den Bruchteil eines Herzschlages einen stolzen Blick zu. Die beiden hatten in den letzten Wochen gelernt, sich nur mit einem kurzen Augenkontakt zu verständigen.
Erwartungsvoll schaute sie dann zu ihrem Schwertvater und stellte sich auf sein Zeichen hin ebenfalls vor: “Mein Name ist Sonnhild Isora von Hadingen, es ist mir ein großes Vergnügen, die hohen Herren hier zu begrüßen.” Nun wandte sie sich direkt an Baldos. “Und es ist schön, Euch wiederzusehen. Sowohl mein Bruder, als auch seine Wohlgeboren”, sie deutete auf ihren Schwertvater, “haben nur in den höchsten Tönen von Euch gesprochen”, behauptete sie mit voller Überzeugung. Sie wandte sich nun auch wieder an den Ulenauer Ritter. “Ich hoffe, die hohen Herren hatten bei dem schönen Wetter eine gute Anreise. Dürfte ich mich vielleicht um Eure Rösser kümmern?” Sonnhild liebte es, Zeit mit Pferden zu verbringen und freute sich schon darauf, gemeinsam mit Travinian und dem Knecht Lantfrid die zwei edlen Rösser der Gäste versorgen zu dürfen.

Soso, das war also die kleine Hadingerin! Die hätte Leomar beim besten Willen nicht mehr erkannt, aus der einstigen Pagin war inzwischen schon beinahe eine Frau geworden, auch wenn zur Länge noch ordentlich Kontur kommen durfte. Aber das zeigte nur, dass sie sich zuletzt zu selten hier getroffen hatten. Über die Hadinger konnte man eigentlich nichts schlechtes sagen, sah man einmal davon ab, dass auch in dieses Haus mittlerweile eine dieser Norbardinnen eingeheiratet und den hohen Herrn an sich gerissen hatte. Dafür konnte aber die Knappin hier nichts, und noch weniger dafür, dass diese Norbarden-Weiber schlicht und ergreifend die Pestilenz waren.
"Die Reise war in der Tat angenehm, junge Dame, doch nun sind unsere Kehlen staubig und unsere Hintern platt! Und wer weiß, was mein Ross dazu sagen würde. Jedenfalls wäre es Dir sicherlich mindestens so dankbar wie ich, wenn Du Dich seiner für heute Abend annehmen könntet."

Die Knappin lächelte glücklich und nickte ihm zu. “Es ist uns eine große Freude!” sagte sie begeistert. “Wir werden uns umgehend um Eure schönen Elenviner Rösser kümmern!”
Sie sah, wie der Knecht Lantfrid von den Toren zurückkam und Anstalten machte, das Pferd von Baldos entgegen zu nehmen. Sie selbst näherte sich behutsam dem stolzen Rappen des Ulenauers und kraulte diesen sanft zwischen den Ohren. Das Pferd zuckte kurz mit den Ohren, ließ sich die Streicheleinheit aber gefallen. Sonnhild freute sich, dass das Tier ihr offenbar Vertrauen schenkte.
“Wie heißen sie denn?” fragte Sonnhild an beide Gäste gerichtet. “Gibt es ein bestimmtes Futter, das sie besonders mögen?”
Dann wandte sie sich freundlich an den jungen Pagen: “Travinian, könntest du schon einmal die Einstellplätze für die Pferde mit Stroh vorbereiten? Wir bringen sie dann gleich rein.”

Der angesprochene Page sah wieder kurz zu seinem Schwertvater, dem er ja Gehorsam schuldete und erst nach einem abermaligen, knappen Lächeln wandte Travinian sich wieder zu Sonnhild um. “Ja natürlich”, meinte der junge Knabe pflichtbewusst und machte sich auf in Richtung der Stallungen.

"Jacireno ist mit Heu vollauf zufrieden. Jedenfalls hat er das zu sein. Gibst Du ihm überdies Hafer, frisst er Dir aus der Hand und das Lager Deines Schwertvaters leer." beantwortete Leomar lachend die Frage Sonnhilds. "Solange Du ihn mir nicht ganz abspenstig machst, ist es an Dir, ob Du seine Gefräßigkeit austesten möchtest. Nur sei mit Äpfeln vorsichtig. Die mag er genauso, doch tun zu viele davon Jacireno nicht gut."

“Du musst ein wenig Acht geben, denn Rafaldas hier ist ein echter Rabauke. Wenn du ihn für dich gewinnen willst, dann sind Möhren und Äpfel der schnellste Weg dahin.” Baldos zwinkerte Sonnhild zu.

“Vielen Dank, die hohen Herren”, sagte die Knappin voller Vorfreude, sich gleich um die beiden Pferde ausgiebig kümmern zu dürfen. “Ich werde die Ratschläge gerne beherzigen.” Lächelnd nahm sie den Rappen am Zügel. “Komm’, Jacireno, jetzt gibt es gleich was Leckeres für dich.” Gemeinsam mit dem Knecht führte Sonnhild die Pferde in die Stallungen, wo Travinian schon fleißig zugange war.

Im Speisesaal

Nur kurze Zeit später fanden sich die beiden Ritter mit dem Junker in dessen Speisesaal im Palas wieder. Eine große, runde Tafel war reichlich mit Schweinebraten, Kohl und Wurzelgemüse, wie auch Soßen und Krügen mit Wein gedeckt. Der rustikale Raum war behangen mit alten Wappen verschiedener Generationen der Schweinsfolder und zeigte den Stolz, den der Gastgeber für seine eigene Familie hatte. Erst hier im hell erleuchteten Saal fiel den beiden das ergraute Haar und Bart Reos auf, das ihn doch nun älter erscheinen ließ. “Setzt euch. Meine treue Witta hat sich selbst übertroffen. Das fetteste Schwein hat sie schlachten lassen. Ja, ja, Treue ist etwas, was in den heutigen Tagen rar gesät ist.” Mit einem melancholischen Blick wies er Baldos und Leomar an, sich zu setzen. Der alte Knecht, als einziger Bediensteter im Raum, war sogleich heran, um jeden Wunsch der Gäste zu erfüllen.

Leomar erkannte dieses Glitzern in den Augen seines Freundes, und es versetzte ihm und seiner gerade noch so guten Laune einen Stich. Es war so ungerecht! In Herzogenfurt tummelten sie sich, die Hochzeit von Reos Tochter zu feiern, sich in deren neuhochgeborenem Glanz zu sonnen und zugleich anzubiedern, immer darauf hoffend, Vorteile daraus mitzunehmen, nachdem das Fest ausgekehrt war, und sich vorher ordentlich vollzusaufen und den Ranzen vollzuschlagen. Um Reo, den rechtmäßigen Baron, war es dagegen einsam geworden, besonders heute. Wie gut er seinen Schmerz nachvollziehen konnte. Wenn einem jemand unrechtmäßig vorgezogen wurde. Jemand, von dem man wusste, dass diese Person nicht oder noch nicht die Qualitäten besaß, die sie für die Aufgaben brauchte, für die man selbst ausersehen war. Und wenn sich dann alle Schranzen von einem abwendeten. Doch Baldos und er waren da, und das war richtig so.
"Auf die Treue!" erhob er den Kelch. "Und die unzerbrüchliche, wahre Freundschaft! Beide mögen rar gesät sein, doch blühen sie auf karger Wiese nur umso schöner und erhabener. Und sie werden bestehen!"

Baldos tat es seinem alten Freund gleich und erhob den Kelch. “Auf die Treue und die unzerbrüchliche, wahre Freundschaft!” Er prostete seinen alten Gefährten zu. Wie immer war es Leomar, der die richtigen Worte fand, so wie früher schon und dafür war er ihm unendlich dankbar. Er selbst tat sich selbst heute noch damit schwer. Dabei tat es ihm Herzen weh, Reo in der Stille zurückgelassen zu sehen. Doch andererseits wärmte es ihm auch das Herz, hier mit seinen beiden alten Freunden vereint zu stehen.

Nun war es an Reo mit einem breiten Grinsen zu antworten. ”Auf wahre Freundschaft!” Offensichtlich taten die Worte der Beiden seiner Seele gut. Mit kräftigen Schlucken leerte er den Kelch und setzte sich dann. “Lantfrid, schenk uns gleich mehr ein!” Kaum war es ausgesprochen, setzte der Knecht sich in Bewegung. “Und wie ist es in Herzogenfurt? Ich kann mir vorstellen, dass sich die Adligen langweilen. Selinde weiß doch gar nicht, was ein nordmärker Adeliger erwartet. Ein richtiges Turnier hätte es geben sollen. Naja, aber was soll ich erwarten. Eine lächerliche Hofdame, die Baronin spielen will und dann auch noch diesen Alrik Wurst heiratet. Einen Niemand. Da lachen sich die Greifax doch schlapp. Endlich haben sie ein schwaches Schweinsfold.” Nun war wieder der bittere Ton in seine Stimme zurückgekehrt.

"Ich war die letzten Tage nicht mehr dort. Es reicht schon, wenn die ganze Norbardensippschaft sich dort tummelt und um Dein Töchterchen scharwenzelt, allen voran meine Schwägerin und diese halbe, blasse Portion von ihrem Söhnchen." Die letzten Worte hatte Leomar beinahe ausgespien. "Mir käme beim Anblick nur der Wein hoch." Hart setzte der Ritter den Kelch auf die Tafel und wischte sich die letzten Weintropfen mit dem Handrücken aus dem Bart. "Aber nach allem, was ich hörte, hast Du hast Recht - kein anständiges Turnier, keine anderweitigen Wettkämpfe. Stattdessen Tanz und Gaukelei. Aber was erwartest Du, wenn die Stadt fest in der Hand von Ministerialen und Kaufleuten ist, und voll von Künstlern und anderem fahrenden Volk. Die alten ritterlichen Werte stehen nicht mehr allzu hoch im Kurs, stattdessen frisst man sich satt am Wohlstand, der in fleißigeren und wehrhafteren Zeiten erarbeitet und verteidigt worden ist.” sprach er von Herzogenfurt, doch meinte er auch Ulenau. “Ich frag mich immer noch, was Deine Mutter geritten hat..." er überlegte kurz, ob er es aussprechen durfte, aber unter Rittersleuten und Freunden musste er kein Blatt vor den Mund nehmen. "... Dich zu übergehen. Den gestandenen Ritter. Den Drachentöter. Den Streiter vor Mendena. Dabei war sie doch aus ganz anderem Holz geschnitzt wie die Neubaronin... dachte ich bislang wenigstens... Aber wer weiß,” menetekelte er, in seinen leeren Kelch starrend, mit nahezu tonloser Stimme “wer oder was auf sie eingewirkt hat… oder auf ihren letzten Willen...”

Mit einer geübten Bewegung leerte Baldos seinen Kelch und knallte ihn dann auf den Tisch. “Ich war in Herzogenfurt, allein schon weil mein Neffe dort war. Es ist so wie Leomar sagt. Kein Turnier zu Ehren des Hochzeitpaares, stattdessen nur Saufen, Fressen und Fi… .” Baldos bremste sich im letzten Moment. Bevor er weitersprach, räusperte er sich. “Ich war gestern im Kontor deiner lieben Verwandtschaft Leomar. Die betreiben dort in den Hinterzimmern ein Freudenhaus. Ich kann euch sagen… “ Der Paggenfelder hob vielsagend die Augenbrauen.

“Das sieht denen ähnlich.” grummelte Leomar leise vor sich hin, wenig überrascht, da er bereits auf der Anreise einige delikate Details erfahren hatte. “Für gutes Gold verkaufen die alles…”

“Einer der Höflinge deiner Tochter hat sich dort als Frau verkleidet und seinen Arsch feilgeboten und ein Knappe hat sich dort ebenfalls der Kundschaft angeboten.” Baldos wirkte aufgebracht und sein Schnurrbart bebte vor Empörung. “Ihr kennt mich, ich bin den rahjanischen Dingen nicht abgeneigt, aber das ging selbst mir zu weit. Wo kommen wir denn da hin, wenn sich Adlige als Dirnen verdingen?”

Reo schüttelte ungläubig den Kopf. “Ich wusste, dass ihr mich verstehen werdet. Schweinsfold verkommt. In den letzten Tagen sind mir so einige Neuigkeiten ans Ohr gelangt. So einiges läuft dort arg schief in Herzogenfurt. Und was für ein Landesvater wäre ich, wenn ich da nur tatenlos zuschauen würde?” Sein Blick ging ins Leere. Doch dann grinste er. “So, Baldos, du warst also im Hurenhaus der norbardischen Schlangen, um nach dem Rechten zu sehen?” Nun lachte er.

“Wenigstens ein moralisch gefestigter muss ja, wenn es sonst keiner tut.” stimmte auch Leomar in Reos Gelächter ein und nahm einen langen Zug aus dem zwischenzeitlich wieder befüllten Kelch.

Mit einem überzogenen Seufzen und bemüht ernster Miene nickte Baldos. “Es war ein hartes Opfer, aber einer musste es ja tun.” Dann konnte er nicht mehr an sich halten und stimmte ebenfalls in das Gelächter ein.

Im Stall

Die Pferde ließen sich willig von Sonnhild und dem Knecht in den Stall führen. Der recht große Stall beherbergte sonst mehr Tiere, doch bis auf die Pferde vom Junker, der Knappin und des Pagen waren alle mit auf der Hochzeit in Herzogenfurt. Erst nachdem die Pferde abgesattelt waren, fiel es Sonnhild und Travinian auf. Das sonst so fröhliche Schnattern der Hausgans Gitta fehlte. Diese eine Gans hatte im Gegensatz zu den anderen Gänsen der Burg die Angewohnheit, jeden herzlich zu begrüßen, der sich im Pferdestall wiederfand. Der Knecht meinte sogar zu wissen, dass Gitta sich selbst für ein Pferd hielt und deswegen hier immer zu finden war.

Als die Pferde ihre Boxen erreichten, war Travinian bereits fast fertig mit seiner Arbeit. Es zahlte sich beim Jüngling aus, dass er, wiewohl dem Hochadel angehörig, nicht mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen war. Der Baronet aus bescheidenem, traviafrommen Elternhaus war von klein auf daran gewöhnt worden, auch dem Gesinde bei leichten Tätigkeiten zur Hand zu gehen. “Ich hole noch frisches Wasser um die Pferde zu tränken. Sie müssen durstig sein …”, sprach der Page und griff nach einem Holzeimer, mit dem er sich zum Brunnen aufmachen wollte, “... und vielleicht läuft mir dabei auch Gitta über den Weg. Es wird dunkel, da sollte sie nicht mehr im Hof herumstreunen.”

Sonnhild striegelte gerade Jacireno, als der Page den Eimer ergriff: “Gute Idee, mache das schon einmal”, sagte sie mit beschäftigter Stimme, da sie gerade ihre volle Aufmerksamkeit dem Pferd widmete. Dann löste sie sich aus ihrem Fokus, sah, wie Travinian schon halb aus den Stallungen war und rief sie ihm hinterher: “Brauchst du beim Tragen vielleicht Hilfe? Du bist zwar sehr stark, aber die Eimer werden gewiss auch schwer sein.”

“Ah, das geht schon”, meinte der junge Page daraufhin und war zur Tür hinaus. Travinian sollte auch nicht allzu lange für den Weg zum Brunnen und wieder zurück benötigen. Der Eimer war ihm doch tatsächlich etwas zu schwer, denn die Hälfte des Inhalts war beim Rückweg hinaus geschwappt. Etwas schwerer atmend stellte der junge Baronet seine Fracht hin. “Ich gehe gleich noch einmal, aber Gitta habe ich nicht gefunden. Wollen wir sie dann suchen?”

“Mhmm”, stimmte Sonnhild zu, während sie Bürste und Striegel beiseite legte und einen interessanten Fund machte. Da war dem Knecht doch tatsächlich etwas aus der Satteltasche der Gäste gefallen. ‘Das ist doch ein Zigarillo?’, dachte sie. Andere Heranwachsende in ihrem Alter würden sicherlich die Situation ausnutzen. Sie musste umgehend an ihren garstigen Cousin Hlûthar denken, den sie letztes Jahr im Sommer in Herzogenfurt getroffen hatte. ‘Der würde das Ding mit seinen Kumpanen heimlich anzünden und paffen’, ging es ihr durch den Kopf. Sonnhild war jedoch von anderem Schlag. Sie steckte den Zigarillo mit der Absicht ein, diesen zu späterer Zeit seinem Besitzer zu überreichen.
“Entschuldige Travinian. Ich komme schon…”, rief sie, als dieser schon wieder halb draußen war. “Was sagtest Du? Gitta ist nicht da? Sollen wir in dem Gänsestall nachschauen, wo die anderen Gänse schlafen?” Doch vermutlich hörte Travinian sie nicht mehr, da er schon herausgelaufen war. Die junge Hadingerin eilte ihm hinterher.

Der junge Page hörte die Worte der Knappin noch, wiewohl der Gänsestall natürlich auch sein erster Anlaufpunkt gewesen wäre. Gitta fand er auch an ihrem Schlafplatz nicht, sodass Travinian unverrichteter Dinge, aber wieder mit vollem Eimer zurück in den Pferdestall kam.
“Ich … finde …”, japste er außer Atem, “... ich finde sie nicht. Nur ein paar Federn auf ihrem Schlafplatz. Ihr wird doch nichts passiert sein? Sollen wir sie draußen suchen? Vor der Burg? Vielleicht ist sie vorher raus und findet nun nicht mehr zurück. Was, wenn sie ein Wolf erwischt?”

Zum antworten kam die Knappin nicht, denn sie wurden von Witta, der Köchin unterbrochen.
Die schwere Frau stapfte am Pferdestall vorbei und hatte arge Mühe ein großes Tablett zu tragen. Sie blieb stehen. “Ihr da, Ihr Taugenichtse! Kommt her und bring das zu euren Herren. Ich muß in die Küche. Edle Zungen wollen verwöhnt werden!” Giftig starrte sie die beiden an. Der Geruch von Gänsebraten stieg beiden in die Nase. “Sonnhild, du nimmst das Tablett mit der Gans. Und du trägst den Soßenkrug!” Ungeduldig stapfte Witta mit dem Fuß auf.

Der junge Page musste sich an den rauhen Umgangston des hiesigen Gesindes noch gewöhnen. In seiner Heimat, dem mancherorts unzivilisiert geheißenen Weiden, brachte das Personal den Knappen schon etwas mehr Respekt entgegen, immerhin waren die Zöglinge ja von Stand - so hatte er das zumindest am Hag, dem Baronshof seines Erbes Weidenhag, immer beobachten dürfen. “Ja … ich komme scho …”, das letzte Wort blieb dem jungen Mann im Hals stecken und er deutete auf das Tablett. “I … ist das Gitta?”

Kurz zuckte die Köchin und fast hätte man meinen können, dass sie nun dem Jungen den Hals umdrehen wollte, für diese Frage. “Ja”, kam es knapp und sie drückte die gegarte Gans in Sonnhilds Hände. Wortlos übergab sie den Jungen den Soßenkrug.

Travinian verzog keine Miene, auch wenn es in ihm arbeitete. Er mochte Gitta, hat sie gerne mit Brotkrumen gelockt und ihr manchmal sogar von seinem Tag erzählt. Aber so war der Lauf des Lebens. Am Hag gab es einen Traviatempel und oftmals wurden die Gänse zur rituellen Speisung der Gläubigen herangezogen. Der Baronet nickte der unfreundlichen Köchin tapfer zu und trug die Soße in Richtung des Rittersaals.

Sonnhild kannte die ruppige Art der Köchin schon, seitdem sie hier war, doch konnte sie sich nicht entsinnen, diese schon einmal so giftig erlebt zu haben. Als sie erfuhr, dass Gitta auf dem Speiseplan stand, fühlte sie angesichts dieser Ungerechtigkeit Wut und Trotz in sich aufsteigen. ‘Warum musste es ausgerechnet Gitta sein?’ Missmutig und ohne die Köchin eines weiteren Blicks zu würdigen, nahm die Knappin das Tablett entgegen. Wortlos drehte sie sich um, folgte Travinian und fauchte zwar leise, aber so dass auch die Köchin es gewiss noch hören konnte: “Sie wird schon sehen, was sie davon hat. Travia wird es ihr heimzahlen.”

Der junge Page war regungslos vorangestapft. Seine Tante Inja sagte ihm immer, dass er die Nutztiere nicht so sehr ins Herz schließen solle. Ja, man solle ihnen am besten nicht einmal Namen geben, weil es alles schwer machen würde. Dennoch trauerte er um die Hausgans, auch wenn er sich nichts anmerken ließ - immerhin musste er doch stark sein als angehender Ritter.

***

Noch bevor Witta sich wieder in Richtung des Palas wenden konnte, vernahm sie die Hufschläge mehrerer Pferde, die wohl den letzten Weg zur Burg hochritten und nur wenige Momente danach durch das noch offene Tor ritten. Ein junger Mann hielt eine große, brennende Fackel in seiner Rechten, eine junge Frau auf einem zweiten Pferd hielt ein Banner hoch. Witta kannte den Blason nicht; es handelte sich um ein seltsam anmutendes Kreuz. Die Pferde waren außer Atem und schienen einen recht weiten Weg in kurzer Zeit zurückgelegt zu haben.
Die junge Frau mit dem Banner war in eine Kettenweste und Lederzeug gewandet und trug ein Reiterschwert an der Seite. Der Mann trug einen Gambeson sowie Arm- und Beinschienen. Beide wirkten ob der leeren Burg etwas verwundert.
"Die Zwölf zum Gruße, gute Frau. Rondra und Travia ihnen voran. Wir kommen mit einer Nachricht für den Burgherren …", sie brach ab und wandte sich an den Mann neben ihr, der jedoch bloß die Schultern hob, … den Burgherren." Kurz huschte ein Lächeln über die Züge der Frau, hätte sie lesen können, würde sie wissen, wie der Adelige hier sich nannte.

Ihr überraschter Blick ging kurz zurück zu den Heranwachsenden, doch die waren schon im Palas verschwunden. ´Dieser verdammte Lantfrid, hat er doch das Tor offen gelassen.´ Witta griff nach ihren Rock und deutete eine Verbeugung an. “Nun, hohe Dame, wen kann ich denn melden?”

"Einfach nur Raugund, gute Frau", die Waffenmaid hatte einen Zungenschlag, den Witta als 'nicht von hier' erkannte. Raugund war zwar eine von Dürrntann, aber leider nur die Bastardtochter des Ritters aus der Stadtmark Baliho und demnach auch keine Ritterin, sondern bloß Edelmagd. "Wir möchten deinen Herrn nicht über Gebühr beanspruchen oder gar stören und bringen eine Nachricht aus Herzogenfurt. Seine Wohlgeboren Wallfried vom Blautann, Edler vom Blautann und Ritter von Weidenwald und im herzoglich Weidener Hausorden vom Bären möchte sich und die junge Dame Arika für einen Besuch in ein paar Tagen ankündigen und wir müssen dem hiesigen Junker …", Raugund brach ab und wandte sich Derling zu, der den Wink verstand und ein Schreiben hervorzog, "... diesen Brief überreichen. Auch bitten wir um traviagefällige Aufnahme bis morgen früh für uns und unsere Pferde."

Nun kam die Köchin ins Schwitzen. ´Ausgerechnet heute Abend. Wo kein Personal auf der Burg ist.´ Sie schaute auf. “Nun gut, ich werde dem Junker von Herzogenfurt-Schweinsfold Bescheid geben. Doch wartet bitte hier, ich gebe dann gleich Bescheid.” Dann drehte sie ab und ging zum Palas. War das die Strafe Travias? Noch immer hatte sie ein schlechtes Gewissen die Gans geschlachtet zu haben. Doch war das der Wunsch ihres Herren, auch wenn die Herrin immer darauf bedacht war, genau diese nicht auf den Speiseplan zu setzen.

Die Weidenerin zog kurz ihre Augenbraue hoch und warf dem Waffenknecht Derling einen irritierten Seitenblick zu. Damit, dass sie nun hier stehen gelassen wurden, hatte sie nicht gerechnet. “Wir warten”, meinte Raugund dennoch höflich zur sich entfernenden Frau und streichelte den Hals ihres Rosses.

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