Der alte Turm

Diese Geschichte wurde anlässlich der dritten Lehensvergabe 1996 verfasst. Sie basiert auf dem selbstgeschriebenen Abenteuer „Rudes Turm“, dass der Verfasser nach dem Erscheinen der Box „Das Land des Schwarzen Auges“ 1990 auf Grundlage der darin befindlichen ersten Beschreibung der Stadt Gareth schrieb. Diese Geschichte hatte zur Folge, dass dem Verfasser die Baronie Kaldenberg in der Grafschaft Albenhus anvertraut wurde.

Der alte Turm

Gareth, 1019 BF

Rasch gab der Gardist dem heranschreitenden Kommissarius den Weg frei. Er wurde bereits erwartet.

„Gestatten, Garthog, Sohn des Gilemon, Oberkanzleirat.“ Nervös rieb der Zwerg seine kleinen Hände an seinem Wams. Der Kommissarius hielt inne, nickte kurz begrüßend und musterte den Kanzleirat eindringlich. „Bond. Schorsch von der Bond. Würdet Ihr so freundlich sein und mich zum Tatort führen?“ „Selbstverständlich.“

Die Präsenz von so vielen Gardisten war selbst für einen solch wichtigen Ort, wie der Kanzlei für Steuer-, Tribut- und Zollwesen ungewöhnlich. Die Schatzgarde wurde durch ein Banner Löwengarde kurzfristig verstärkt. Draußen schirmten Büttel der Stadtgarde das riesige Gebäude ab.

Der Kanzleirat und der Kommissarius stiegen die Stufen ins Kellergeschoß des Kanzleigebäudes hinab. Von einem Gardisten wurde vor ihnen eine schwere Tür geöffnet. „Ah! Der KGIA. Endlich. Ich habe Euch schon erwartet, Herr Kommissarius. So eine Dreistigkeit! Aber meine Leute haben die Situation im Griff. Wir haben die Missetäter festgesetzt. Ach, ich bitte um Entschuldigung. Ich vergaß mich vorzustellen. Oberst Arkensin Nistocra.“

Aus dem Nebenraum schallte lauter Protest. Einer der Gefangenen schien seinen Unmut deutlich kund zu geben. Die Neugier des Kommissarius hatte er zumindestens erregt. „...Eine Unverschämtheit! Unglaublich! Uns hier festzuhalten, wie einen ordinären Verbrecher. Zusammen mit diesem Pöbel. Weis Er überhaupt, wer Wir sind?! Wie oft soll ich es noch wiederholen?! Wir sind Inquisitor der Heiligen- und Reichskirche des allherrlichen Götterfürsten Praios! Ich war es schließlich, der Euch Bescheid gab und Alarm schlug. Welche Dummheit, Uns zu unterstellen, Wir hätten Teil an diesem Verbrechen. Eine Beleidigung! Das wird Konsequenzen haben! ...“

„Holt den Herrn her.“, wies der Kommissarius den Oberst an. „Sagt ihm, er soll aufhören mit dem Gebrüll. Das hält doch niemand aus.“ Kurz darauf führten Gardisten einem Mann herein. Sein goldblondes Haar war kurz und borstig. Unter seiner Nase wuchs ein prächtiger Kaiser-Alrik-Bart. Er war in eine etwas verdreckte, goldene Geweihtenrobe gekleidet. Auf seiner Brust prangte ein rotes Greifensympol und am Gürtel hing ein Greifenamulett. An seiner rechten Hand glänzte ein goldener Siegelring, dessen Gravur ebenfalls einen Greifen zeigte. Vom Aussehen her konnte er durchaus zur Heiligen Inquisition gehören. Was war hier geschehen, dass man einem solchen Manne so wenig Respekt zollte?


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In den spätsommerlichen Tagen des EFFerdmondes 23 Hal waren sie zurückgekehrt. Der Hesindegeweihte Aoureel ui Sagesse und der Ardariten-Ritter Accolon Adlerkralle waren in Begleitung des Inquisitors Phoebus Feuerherz und seiner Bannstrahl-Schergen gereist. Ui Sagesse sollte im Garether Hesindetempel über die Vorfälle in Weiden und die Geschehnisse um das dortige Wüstenei berichten. Der Inquisitor hatte dergleichen vor, jedoch in der Stadt des Lichts.

Zwar war die Reise sicherlich eine Erholung, wenn man bedachte was sie in Weiden erlebt hatten. Doch Accolon hatte keine große Freude daran, dass sein Freund Aoureel sich entschloss, zusammen mit dem Inquisitor zu reisen. Accolon konnte den aufgeblähten, arroganten Praiosfanatiker nicht leiden. Das beruhte sicher auch auf Gegenseitigkeit. So hatte Accolon ein guten Anteil elfischen Blutes in sich, was seine Ohren offen preisgaben. Der Inquisitor machte keinen großen Hehl daraus, dass er Elfen nicht ausstehen konnte.

„Hier trennen sich unsere Wege nun.“ Sie hatten die Stadtgrenzen Gareths erreicht. „Endlich!“, dachte Accolon. Der Abschied fiel ihm nicht schwer. Während der Inquisitor sich mit seinem Gefolge nach Südwesten zur Stadt des Lichts wendete, schlugen Accolon und Aoureel den Weg zum Angbarer Tor ein.

Quer durch die alte Innenstadt ritten sie zum Eslamsbogen, um darauf der Natternstraße zum großen garether Hesindetempel zu folgen. „Hier können wir uns ja heute Abend treffen,“ meinte der Hesindegeweihte, als sie an einem alten Stadtmauerturm vorbeiritten, „wenn ich meinen Bericht erstattet habe.“ Accolon war verwundert. „Wo? Am Turm?“ „Nein. In der Taverne daneben: ‘Zum Turm’.“ Am Hesindetempel trennten sich die beiden. Während Aoureel seinen Pflichten nachkam, suchte sich der Ritter eine Herberge.

Wie verabredet trafen die Freunde sich abends in der Taverne. Nach den Erlebnissen und der Reise tat ein kühles Ferdoker einmal recht gut. So war der Abend ganz angenehm. Sie kamen ins Gespräch mit ein paar Adepten von der „Akademie der Magischen Rüstung“. Als sie erfuhren, dass die beiden aus Weiden kamen, war die Neugier natürlich groß. Doch es war den beiden verboten, darüber zu erzählen.

Als der Abend weiter fortgeschritten war, da sah Accolon, als er aus dem Fenster blickte, mit einem Mal etwas sehr Erstaunliches. Der Wehrturm draußen schien ganz merkwürdig zu leuchten. Aus den Mauerfugen drang ein seltsames Glühen in die Dunkelheit. Ein geisterhaftes Licht umwaberte den Turm. Accolon traute seinen Augen nicht. Hatte er schon so viel getrunken?

„Das passiert schon mal öfter.“, meinte Aoureel, als er sah, wie der Ritter nach draußen starrte. „Man sagt, der Geist des ermordeten Prinzen Rude ginge im Turm um.“ Aoureel war kaum erschrocken. Lange Jahre hatte er im Garether Hesindetempel gelernt und gedient. Er kannte die Geschichten um „Rudes Turm“. „Nicht nur im Turm.“, meinte einer der Adepten, „in der letzten Zeit ist der Prinz wieder erschreckend aktiv. In den letzten Wochen sind wieder mal ein paar Leute schrecklich verstümmelt gefunden worden. Wie vor 60 Jahren.“ Der Adept erzählte von grausamen Morden, welche die Bewohner der nahen Umgebung sehr verängstigten. Es waren wohl mittlerweile fünf Menschen dem „Prinzen“ zum Opfer gefallen. Die Stadtgarde stand vor einem Rätsel.

Es wurde schon fast wieder hell, als die beiden Freunde sich trennten. Aoureel ging zurück zum Tempel, während Accolon seine Herberge aufsuchte. Erst zur Praiosstunde wachte der Ritter wieder auf. Er wollte zum Tempel gehen, um sich von seinem Freund zu verabschieden, da er weiter musste, nach Arivor, um auch dort von den Weidener Ereignissen zu künden. Doch Aoureel war nicht im Tempel...

Schwer fiel es dem Ritter, zu glauben, was passiert war. Auf dem Heimweg von der Taverne zum Tempel war der Hesindegeweihte diesem Monster zum Opfer gefallen. Eine alte Frau hatte ihn am Morgen vor ihrem Haus gefunden. Seine Gliedmaßen sollen seltsam verrenkt gewesen sein und sein Leib auf grausige Weise verunstaltet.

Außer sich vor Schmerz und Trauer um den verlorenen Freund taumelte Accolon durch die Straßen. Nach all den schlimmen Erlebnissen im „wilden“ Weiden musste Aoureel ausgerechnet in dieser riesigen Metropole auf diese Art zu Boron gehen? Unbegreiflich.

Als Accolon am späten Nachmittag langsam wieder zur Besinnung gekommen war, beschloss er, den Mörder seines Freundes zu finden. Zuerst ging er zu der Frau, vor deren Haus Aoureel ermordet wurde. Es war eine Pension. Der „Sichere Hafen“. Die Frau, eine ehemalige Traviageweihte aus Salza, war noch ganz entsetzt von dem, was sie am Morgen gesehen hatte. „Oma Heiltrud“, so war ihr Name, war die Besitzerin der Pension, die in der unmittelbaren Umgebung des alten Wehrturmes lag. Sie hatte schon viel von den Morden in der letzten Zeit gehört. Voller Angst hatte sie sich Nachts immer eingeschlossen. Doch bis zum heutigen Morgen hatte sie noch keines der Opfer gesehen, obwohl alle in der Nähe des Turmes gefunden wurden.

„Ich hörte, dass vor 60 Jahren schon einmal Menschen auf diese Weise ums Leben kamen!?“ Accolon erinnerte sich an den Ausspruch des Adepten. „Ja, das ist wahr. Aber es war nur einer. Ein Praiosgeweihter — so wird zumindestens erzählt.“ Oma Heiltrud war zwar schon alt, aber so lange lebte sie noch nicht in Gareth, um das Geschehen damals selbst erlebt zu haben.

Accolon suchte noch die nächste Wachstube der Stadtgarde auf, um sich über die anderen Opfer zu erkundigen. Doch es gab keinen offensichtlichen Zusammenhang, außer, dass alle beim Turm gefunden wurden.

Der Turm. Welches Geheimnis barg er? Der Eingang war zugemauert. Im Hesindetempel, wo Aoureels Leichnam aufgebahrt wurde, erfuhr Accolon etwas mehr über „Rudes Turm“. In einer Nacht im Jahr 371 vor Hal, als sich das Erntefestmassaker jährte, wollte jemand den Geist des ermordeten Kaiser Rude II im Turm gesehen haben. Seitdem soll es dort spuken. Nach dem Mord an dem Praiosgeweihten lies Kaiser Perval den Turm zumauern. Selbst Galotta, der ehemalige kaiserliche Hofmagier, durfte ihn nicht öffnen und untersuchen.

Es war mittlerweile spät in der Nacht, als Accolon zur Herberge ging. Er wollte noch einen Abstecher zum Turm machen, um zu beobachten, ob dieser wieder leuchtete. Tatsächlich. Wieder dieses unheimliche Glimmen. Es sei in der letzten Zeit ungewöhnlich oft gewesen, dass man dies beobachten konnte, hatte ein Geweihter im Tempel erzählt.

Accolon zuckte mit den Schultern und ging weiter. Er war zu müde und betrübt, als das er nun weiter nachforschen wollte. Da schlurfte doch was über das Pflaster? Gewand drehte der Ritter sich um. Er blickte in zwei glühende, dämonische Augen. Da stand es vor ihm. Bedrohlich. Befremdend. Eine verzerrte Fratze. Unwirklich, mit einer unnatürlichen Bewegung griff es nach ihm.

Accolon sprang zurück und wich aus. Er taste nach seinem Langschwert. Doch das hatte er am Stadttor hinterlassen müssen. So musste er sich mit seinem Parrierdolch begnügen. Im Licht des Madamals sah er, dass das Monster eine Geweihtenrobe trug. Es griff an. Unbändige Kräfte trieben es. Es war dem Ritter bei weitem überlegen. Verzweifelt wehrte er sich mit dem Dolch. Mit einem Knacken brach es ihm seinen Arm. Schmerz. Er wurde die Luft geschleudert. Sein Dolch entglitt ihm, als er auf das Pflaster prallte. Da packte es ihn wieder. Irgendwie schaffte Accolon es, sich loszureißen. Er rannte. Lief um sein Leben.


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Da war die Taverne. Der Wirt wollte gerade schließen, denn die letzten Gäste waren schon gegangen. Als ihm ein blutüberströmter Krieger entgegenstürzte. „Wer hat Euch denn so zugerichtet?“ Erschöpft stolperte der Fremde in die Gaststube. Dort brach er zusammen. Er war gekleidet in einen weißen Wappenrock, der ein rotes Schwert zeigte. Ein Arm hing verdreht an ihm herunter. In der anderen Hand hielt er einen Stoffpfetzen.

Als er aufwachte lag er auf einem Strohlager. Vor ihm stand ein wohlbeleibter Mann, der eine Lederschürze trug — der Wirt. Daneben stand eine Frau — eine Perainegeweihte. „Ihr habt eine außergewöhnliche, robuste Konstitution, dass Ihr das überlebtet.“ Sein Arm schmerzte. Er blickte sich um. In seiner rechten Hand fühlte er ein Stück Stoff. Er hob es zu seinen Augen. Es war ein rotes Stück Samt, mit Goldfäden durchwirkt. „Nanu? Habt ihr die Stadt des Lichts überfallen?“, scherzte der Wirt.

Das Monster war also ein Praiosgeweihter. „Ihr könnt jetzt noch nicht aufstehen! Ihr seid viel zu schwach. Ihr braucht ein paar Wochen Ruhe!“ „Gute Frau, in den Wochen könnten noch zu viele von ihm ermordet werden.“ Mühevoll schleppte er sich zum Greifenplatz. Ohne den prachtvollen Bau zu bestaunen, wonach ihm jetzt nicht der Sinn stand, schritt er in die riesige Tempelhalle. Da er körperlich so sehr geschwächt war, fiel es ihm schwer, in der großen Halle jemanden ausfindig zu machen, an den er sich wenden konnte. Doch da wurde schon ein Gardist der Sonnenlegion auf ihn aufmerksam. Der wollte ihn aufgrund seiner lädierten Kleidung und Aussehens schon aus dem Tempel befördern. Das Symbol des Ardaritenordens auf seinem Rocke ließ den Gardisten jedoch zögern.

„Würde Er mich zum Tempelvorsteher führen?!“ Accolon versuchte so würdevoll, wie es in seinem Zustand möglich war, aufzutreten. Beim Hochgeweihten wurde er erst nach geraumer Zeit empfangen. Doch das war dem Ritter recht. So konnte er sich ein wenig ausruhen. Er schilderte dem hohen Praiosdiener die Vorfälle und seine Vermutung, dass der Mörder vielleicht der Praiosgeweihte sei, der vor 60 Jahren am Turm umkam. Accolon bat darum, in den Akten der Praioskirche nachschlagen zu dürfen, um mehr über den Geweihten erfahren zu können. Doch der Hochgeweihte verweigerte ihm dies. „Das ist wohl eher ein Fall für die Heilige Inquisition. Ich werde den Großinquisitor, den werten Rapherian von Eslamshagen, benachrichtigen. Ihr könnt gehen, Herr Ritter.“

Die Inquisition. Sie mochte helfen. Doch Accolon wollte die Sache nicht aus der Hand geben. Also beschloss er, persönlich die Inquisition zu benachrichtigen, um dann eventuell mit dabei bleiben zu können. Das tat er zwar äußerst ungern, aber vielleicht stellte es sich nun als Vorteil heraus, dass er diesen arroganten Inquisitor Phoebus Feuerherz kannte.

Es dauerte fast zu lange, bis der geschwächte Ritter den Inquisitor in der Stadt des Lichts fand. Zuerst war dieser abweisend und wollte dem Halbelfen nicht helfen. Doch dann packte dem Herrn Feuerherz der Ehrgeiz. Autorisiert vom Großinquisitor ritt er mit seinen Bannstrahl-Rittern und mit Accolon Adlerkralle in die Innenstadt. Dort holte er sich im Praiostempel die entsprechenden Akten. Der Geweihte, der vor 60 Jahren umkam, hieß Myzanæl Solarian. Er schien ein Kandidat gewesen zu sein, für das Amt des Wahrers der Ordnung.

Der Tag neigte sich seinem Ende zu. Der Inquisitor beschloss, sich in der Nacht auf die Lauer zu legen, um das Monster aufzuspüren. Rund um den Turm hatten sie sich verteilt. Nach Mitternacht begann wieder das Licht um den Turm zu wabern. Es geschah jedoch nichts.

Als der Morgen graute, machten sie einen grausamen Fund. Auf den Stufen zum zugemauerten Eingang des Turmes lag einer der Bannstrahl-Ritter. Entstellt. Keiner hatte in der Nacht etwas bemerkt. Praios-sei-bei-uns.

Über Tag forschte der Inquisitor noch einmal alle Umstände nach, die Accolon schon bekannt waren. Der nutzte die Zeit, um sich ein wenig zu erholen. In der folgenden Nacht wollten sie wieder zum Turm. Diesmal sollten sie alle in Gruppen zusammen bleiben und in der Umgebung des Turmes patrouillieren.

Der Turm leuchtete wieder. Das Madamal war von Wolken verhangen. EFFerd schickte das, was sein Monat versprach: Nieselregen. Accolon und zwei Bannstrahl-Schergen bogen um eine Häuserecke. Da huschte eine dunkle Gestalt vorüber. „Halt! Wer da?“ Keine Antwort. Im schummrigen Licht des Turmes erkannten sie, dass die Gestalt eine Geweihtenrobe trug. „Das ist er! Hinterher!“ Das Monster war schnell. Sie rannten um den Turm herum. Weg? Doch da. In der Gasse. Ein Bannstrahl-Ritter rutsche auf dem nassen Pflaster aus. Accolon lief in die Gasse. Dunkel. Auf einmal schrie der andere Bannstrahl-Ritter vor Schmerz auf. Accolon drehte sich um. Da waren sie wieder. Die glühenden, dämonischen Augen. Die zweite Begegnung würde er nicht mehr überleben. Accolon betete zu Rondra und zog sein Schwert. Die Torwache hatte es ihm überlassen, weil der Inquisitor darum bat. Der Ardaritenritter war bereit zum letzten Gang.

Was war das? Gurvanische Gesänge? Da stand der Inquisitor in strahlendem Licht zehn Schritt hinter dem Monster und betete. Rund herum umzingelten es die Bannstrahl-Ritter. „Höre! Myzanæl Solarian, geh’ zurück in die Hallen des Praios, wo Du Deinen gerechten Frieden finden sollst!“ Das Licht umschloss nun auch den untoten Praiosgeweihten. Es leuchtete blendend grell auf. Dann war es Dunkel und das Monster war fort. Ein Wunder.


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Vielleicht war es ja doch gut, dass Accolon sich an den Inquisitor gewandt hatte? „Ich glaube nicht,“ erläuterte Accolon ihm am nächsten Tag, „dass wir das Rätsel bereits ganz gelöst haben. Da wäre noch der Turm.“ „Euer Kopf scheint wohl Schaden genommen zu haben beim nächtlichen Kampfe? Der Untote ist fort. Das genügt!“ ‘Arrogant und verblendet’, dachte Accolon, „Und wer hat den Geweihten aus dem Totenreich geholt? Und warum? Weshalb leuchtet der Turm? Wer steckt dahinter? Alles scheint im Zusammenhang mit dem Turm zu stehen. Es ist in der direkten Umgebung passiert. Sollten wir ihn uns nicht mal näher ansehen?“ „Nein!“, Phoebus Feuerherz war entrüstet, „Der Turm wurde auf kaiserlichen Befehl zugemauert. Es wäre Rechtsbruch!“ „Steht nicht der göttliche Wille über dem Kaiser?“

Schwer ließ sich der Inquisitor überzeugen. Doch scheinbar siegte die Neugier über ihn. Aber man konnte unmöglich den Turm aufbrechen. In etwa ein Dutzend Schritt Höhe waren noch Fenster, die nicht zugemauert waren. Doch wie hinaufkommen? Da packte ein Bannstrahl-Ritter ein Seil und einen Haken aus den Satteltaschen seines Rosses. Es war ein Bild für die Götter. Mit phexgefälliger Geschicklichkeit warf der Praiosanhänger den Wurfhaken zum Fenster. Ebenso behände kletterte er hinauf. Sehr merkwürdig. Oben angelangt zwängte er sich durch das Fenster. Accolon wollt als zweiter hinaufklettern. Da rieselte ihm Erde entgegen. Er konnte sich gerade noch festhalten als eine wahre Lawine herunterfiel. „Heh! Aufhören!“ Als er oben war, begriff Accolon. Das Einzige was man sehen konnte, waren Säcke. Kartoffelsäcke. Prall gefüllt. Der ganze Turm war voll. Der Praiosrecke hatte sich ein wenig Platz geschaffen. Nun schlitzte er wieder einen Sack auf. Es quoll Erde hinaus. Sehr seltsam.

Vorsichtig schütteten sie die Erde aus dem Fenster, bis alle Platz hatten. Dann kämpften sie sich vorwärts zu einer Luke. Immer nur Säcke. Überall. Dann abwärts. Es dauerte Lange. Was mögen die ganzen Säcke nur bedeuten? Unten im Kellergeschoß des alten Stadtmauerturmes fanden sie die Antwort. Ein Stollen. Irgendjemand hatte einen Stollen gegraben. Wahrscheinlich sollte es keinem auffallen. Soviel Erde wegzuschaffen hätte den Stollengräber verraten.

Doch wohin führte der Stollen? Warum mussten hierfür Menschen sterben? Der Untote sollte sicherlich die Leute vom Turm fernhalten. Sie krochen in den Stollen hinein. Er war mehrere hundert Schritt lang. Etwa eine halbe Meile blieb er schnurgerade, dann machte er einen Bogen nach links. Auf dem letzten Stück durchbrach er eine dicke Mauer. Wollte hier jemand einen Verbrecher aus dem Stadtgefängnis befreien? Doch das lag in der entgegengesetzten Richtung. Sie kletterten durch das Loch und gelangten in einen mit Fackeln beleuchteten Gang, der rechtwinklig zum Stollen verlief. Wo waren sie?

Sie teilten sich auf. Eine Hälfte ging nach links. Accolon ging mit dem Inquisitor und dem Rest nach rechts. Sie kamen an eine schwere, mit Eisen beschlagene Tür. Sie stand halb offen. Was war dahinter? Accolon schlich vorsichtig näher.

Es schien ein Wachraum zu sein. Aber die Wachen schienen allesamt zu schlafen. Betäubt. „Schatzgarde.“, meinte Phoebus, „wir sind entweder unter der Kaiserlichen Münze oder unter der Kanzlei für Steuer-, Tribut- und Zollwesen, vermute ich.“ Da gab es also einen Gang zwischen.

Von hier aus gingen zwei weitere Türen weg. Eine war verriegelt und wahrscheinlich auch verschlossen. Schwere Schlösser. Die andere war angelehnt. Von dort kamen Stimmen. Metall klimperte. Accolon stieß die Tür auf.

Er war schier geblendet von soviel Silber und Gold. Zu großen Türmen waren die Barren aufgestapelt. Truhen voller Schmuck und Edelsteinen. Wertvollstes Gemmen. Beinahe konnte Accolon sich selber nicht mehr beherrschen und wäre über den Schatz hergefallen. Doch da wurde seine Aufmerksamkeit auf ein paar finstere Gestalten gelenkt. Diese schienen sehr überrascht. Einer von ihnen schien ein Magier zu sein. Er hob seine Arme und murmelte etwas. Ein flammender Ball kam auf Accolon und seine Begleiter zugeflogen.

Doch da trat der Inquisitor vor und hielt betend sein Greifenamulett hoch. Der Ball erlosch. Ein Wunder. Schon wieder. Der Magier schien die Aussichtslosigkeit der Situation zu erkennen. Er verschränkte seine Arme vor seiner Brust, nickte, und fort war er. Einfach verschwunden. „Tunich-Guhd! Verdammt! Jetzt lässt er uns hier sitzen.“, schrie einer der Gauner.

Tunich-Guhd. So hieß wohl der Magier, der den untoten Praiosgeweihten beschworen hatte. Er war entwischt. Nun entbrannte ein kurzer Kampf. Doch die Schatzräuber hatten keine Chance. Sie waren bald überwältigt. „Hol’ Hilfe und schlage Alarm“, befahl Phoebus einem Bannstrahl-Ritter. Wenig später waren weitere Wachen der Schatzgarde da.


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Der Kommissarius verstand. Ja. Sie hatten den Raub des Kronschatzes verhindert. Gut für die Karriere des Inquisitors. Aber den Hesindegeweihten Aoureel ui Sagesse machte das auch nicht wieder lebendig.