Am Tag zuvor

Kapitel 4-1: Am Tag zuvor

Ort: Stadt Herzogenfurt

Der Abschied von der Reisegruppe war für Doratravas Begriffe recht kurz und hastig gewesen. Nivard und Rondradin hatten ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln und wenig Zeit dafür vor dem Beginn der Brautschau, und die Altenberger als Ausrichter derselben waren noch deutlich angespannter unterwegs. Nicht einmal mit Gelda hatte sie noch ein paar Worte wechseln können, das Verbot des Kontakts bestand - zumindest für sie - noch immer. Das einzige, was Maura ihr mitgegeben hatte, war, sich bei einer gewissen Nordrun zu melden, einer Bardin wohl, die für die Unterhaltung zuständig war. Plötzlich allein gelassen, war Doratrava nichts anderes übrig geblieben, als schulterzuckend loszuziehen und sich durchzufragen.

Irgendwann war sie dann auf der Festwiese gelandet, wo geschäftiges Treiben herrschte: ein großes Zelt wurde gerade aufgebaut, diverse Podeste waren teilweise fertig, teilweise aber auch noch nicht, es wurde überall gehämmert, Leute schleppten Tische und Bänke, Stoffbahnen wurden aufgespannt, Anweisungen und Verwünschungen schwirrten hin und her. Mitten in dem Chaos dirigierte eine hochgewachsene, schon ältere Frau in bunter Kleidung mit dunkelroten Haaren einige Handwerker. Das musste diese Nordrun vom Lilienhain sein, der Beschreibung nach, die sie bekommen hatte, man hatte ihr auch nochmals gesagt, dass es sich um eine Bardin handelte. Allerdings sah die Frau sehr beschäftigt aus, immerzu gab sie Anweisungen oder wurde sie von Leuten mit Fragen bedrängt. Doratrava sah sich das eine kurze Weile lang an, dann fasste sie sich ein Herz und drängte sich durch die Leute hindurch, welche Nordrun umlagerten. Ja, sie musste wirklich ihre Ellenbogen einsetzen, denn jeder hier schien sein Anliegen als das gerade Wichtigste einzustufen und ging nicht minder forsch zu Werke, um an die Frau heranzukommen.

Doch schließlich hatte die Gauklerin es geschafft, wenn sie auch ihre Rippen spürte, wo ein heftiger Schlag sie im Getümmel getroffen hatte. Verstohlen rieb sie sich die Stelle, während sie Nordrun endlich ansprechen konnte. "Die Götter zum Gruße", intonierte sie mit publikumsgestählter Stimme, während sie eine bühnenreife Verbeugung machte. Der Blick der Bardin musterte sie von oben bis unten. Doratrava hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich frisch zu machen. Sie hatte gehört, dass man in der Herberge "Zum Lilienhain" (warum diese auch immer so hieß wie die Bardin) unterkommen konnte, doch dort angekommen hatte sich herausgestellt, dass diese längst überfüllt war. Mit Mühe hatte sie die Wirtsleute überzeugen können, ihr Gepäck und ihr Pferd für ein paar Stunden unterstellen zu können, um dann gleich in den benachbarten Stadtpark zu gehen, da dort Nordrun zugegen sein sollte. So fiel der Blick der Bardin also auf eine mittelgroße Gestalt in recht staubiger Reisekleidung: Wie so oft "außer Dienst" trug Doratrava ein geschnürtes Hemd, Lederhosen, leichte Stiefel und einen luftigen Kapuzenumhang zum Schutz vor der Sonne, doch hatte sie die Kapuze nun zurückgeschlagen, so dass ihre im wahrsten Sinne des Wortes blütenweiße Haut dem Praiosmal ungeschützt ausgesetzt war. Ihre langen, weißen Haare hingen etwas wirr um ihr Gesicht konnten aber die leicht angespitzten Ohren nicht ganz verdecken. Tiefblaue Augen blickten Nordrun offen, wenn auch ein wenig schüchtern an. Die junge Gauklerin mochte nur wenig älter als zwanzig Götterläufe zählen.

"Ich bin Gauklerin - also eigentlich Tänzerin und Akrobatin, aber ich kann auch Messer werfen", fühlte Doratrava sich von dem fragenden, etwas strengen Blick der Älteren animiert zu erklären. "Ich bin gerade vorhin mit den Altenbergern zusammen angekommen, sie haben mich in Nilsitz für die Feier hier angeworben", sprudelte es weiter aus ihr heraus. "Ich habe aber keine Ahnung, wie das genau ablaufen soll - und ich weiß auch noch nicht, wo ich schlafen soll, meine Sachen und mein Pferd stehen gerade vorübergehend in der Herberge da vorne", die Gauklerin machte eine vage Handbewegung in Richtung derselben, "aber da ist voll und ich muss sie nachher wieder abholen ..." Doratrava verstummte, als Nordrun die Hand hob, um ihren Redefluss zu unterbrechen.

“Ich weiß wer du bist. Meine Nichte Gelda hat mir alles über dich erzählt. Ich bin froh dass wir Unterstützung bekommen. Nenn mich Nordrun.”, sagte die Bardin mit tiefer Stimme und lächelte. “Und mach dir keine Sorgen, ich habe ein Zelt für dich, das du auf der kleinen Wiese im Park aufstellen kannst. Ansonsten werden wir hier die Zeit verbringen.” Nordrun deutete auf ein großes, buntes Zelt. “Der Ablauf ist einfach, wir werden die Gäste mit unserer Kunst beehren, immer wenn keine wichtigen Reden anstehen, aber ich gehe da später darauf ein. Die Latrinen stehen schon, die kannst du benutzen. Wir haben hier im Park zwei Brunnen, da kannst du dich waschen. Ich würde dir vorschlagen du baust dir erstmal dein Zelt auf.” Die Bardin deutet auf ein Bündel.

Gelda hatte von ihr erzählt? Wann hatte sie denn das gemacht? Wie auch immer, Doratrava fühlte sich einerseits geschmeichelt, andererseits durchfuhr sie ein erneuter Stich beim Gedanken an ihre noch recht neue Freundin. Es war nun schon Wochen her, seit sie richtig mit Gelda hatte sprechen können. Seit Elenvina hatte die Anordnung des Altenberger Familienoberhauptes gegolten, dass kein Außenstehender mehr mit Familienmitgliedern oder genauer Brautschauteilnehmern sprechen durfte. Die Gauklerin konnte nicht verstehen, wieso dieser Winrich von Altenberg so streng war, zumal sie ja nicht als Werberin (Rahja - oder Travia? - behüte!) hier war, aber andererseits: was wollte man - und ganz speziell sie - von einem Travia-Hochgeweihten erwarten? Sie seufzte innerlich, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Nordrun zu. "Zelt. Wiese. Gut." Doratrava warf einen Blick auf das Bündel, dann wanderten ihre Augen zurück zu der Bardin. "Danach komme ich wieder her, um alles Weitere zu besprechen? - Äh, was hat Gelda denn alles erzählt?" fügte sie zusammenhanglos hinzu, von Neugier getrieben. Nordrun lachte auf. “Mach dir keine Gedanken, Doratrava. Sie hat nur gutes erzählt. Eine Jagdkönigin unter den Gauklern hab ich gerne hier. Und Gelda kann jetzt auch eine gute Freundin gebrauchen. Mach du erstmal dein Zelt, bis morgen ist noch genug Zeit über alles zu sprechen.” Die ältere Frau klopfte ihr auf die Schulter und wandte sich dann den Bänkelsängern zu.

Nachdem Nordrun offenbar alles gesagt hatte, was ihrer Meinung nach zumindest jetzt zu sagen war, zuckte Doratrava die Schultern und wuchtete sich das Bündel aus Zeltplane und Zeltstangen über die Schulter, um sich auf den Weg an das andere Ende des Parks zu machen. Ihr Pferd brauchte trotzdem noch einen dauerhaften Unterstand, das würde sie wohl kaum mit auf die Wiese nehmen dürfen. Vielleicht konnte sie mit dem Wirt der Herberge “Zum Lilienhain” etwas aushandeln, dass ihr Pferd doch dort im Stall verbleiben konnte. Wie auch immer, jetzt hieß es erst einmal Zelt aufbauen. Als sie mit leicht schmerzender Schulter von dem unförmigen, nicht eben leichten Bündel auf der Wiese ankam, sah sie diese zu ihrem ersten Erschrecken schon weitgehend bedeckt von den Zelten diverser Adliger, wie die Wimpel und Wappen verrieten, die überall angebracht waren. Aber da Nordrun sie ausdrücklich hierher geschickt hatte, musste das wohl seine Richtigkeit haben. Also suchte sie sich einen noch freien Platz am Rander der Wiese, wo sie hoffentlich niemanden störte und fing an, ihr Zelt zu errichten, allerdings ohne besondere Eile an den Tag zu legen. So beschäftigt, wie Nordrun war, brauchte sie dort in den nächsten Stunden wohl nicht nochmals aufzukreuzen. Nebenher betrachtete sie das Treiben bei den umliegenden Zelten und auch weiter weg. Vielleicht sah sie ja ein bekanntes Gesicht.

Doch Doratrava erkannte niemanden, obwohl sie glaubte das Wappen des Hauses Tannenfels erkannt zu haben. Kaum hatte sie das Zelt aufgestellt, winkte ihr eine Gestalt in einem Kapuzenmantel zu, die am Rande der Wiese stand. Das rote Haar das unter der Kapuze hervor lugte, ließ eine Vermutung aufkommen. Gelda? schoss es Doratrava durch den Kopf. Erfreut ließ sie alles stehen und liegen und rannte zu der Gestalt hinüber. Als Doratrava näher kam bestätigte sich ihre Vermutung: es war ihre Freundin Gelda! Herzlich begrüßte die Altenbergerin die Gauklerin, nahm sie aber gleich zur Seite. “Ich bin ja so froh dich zu sehen, Doratrava. Lass uns ein Stück gehen, ich darf eigentlich gar nicht hier sein.” Die Gauklerin hatte es sich nicht nehmen lassen, Gelda nach der langen Zeit der erzwungenen Distanz zu umarmen und einmal erstaunlich kraftvoll im Kreis zu wirbeln. “Immer noch diese komische Geheimniskrämerei?” erwiderte Doratrava mit freudiger, aber gesenkter Stimme und sah sich unwillkürlich verstohlen um, ob sie jemand beobachtete.

Die beiden Freundinnen liefen an den Lilienfeldern vorbei, bis sie ganz unter sich waren. “Ich habe dich vermisst. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie anstrengend die Fahrt bis hier hin war, so zusammengepfercht mit meiner Familie. Und mein Oheim Winrich predigt die ganze Zeit von den Tugenden Travias und wie wertvoll eine Ehe ist. Ich bin mir nicht mal sicher ob ich überhaupt heiraten möchte.” Voller Sorge schaute sie Doratrava an.

Bei der Erwähnung von Winrichs Predigten spürte Doratrava einen unangenehmen Druck in der Magengegend, da sie an ihre traviageweihten Zieheltern und die Flucht vor ihnen erinnert wurde, weil sie es damals, vor so langer Zeit, einfach nicht mehr bei ihnen ausgehalten hatte. Travia hier und Travia da und nein, das darfst du nicht, das ist nicht in Travias Sinne, und wenn du nicht tust, was wir dir sagen, wird Travia dich strafen. Unwillkürlich schüttelte die Gauklerin sich, behielt aber ihre Gedanken für sich, denn diese würden Gelda sicher nicht weiterhelfen. Sie war eine Adlige und Doratrava nur eine kleine Gauklerin. Was wusste sie schon von den Gepflogenheiten und Sitten der hochgestellten Persönlichkeiten? Dennoch … sie fasste die Freundin mit beiden Händen an den Schultern und zwang sie so zum Stehenbleiben. “Gelda … ja, das glaube ich, ich konnte ja wenigstens reiten und war nicht in einer Kutsche eingesperrt. Aber ich habe mich auch nach dir gesehnt. Da findet man eine neue Freundin - und dann darf man wochenlang nicht mit ihr sprechen! Dabei bin ich doch nicht mal ‘gefährlich’ für dich, ich bin doch nicht als Werber hier!” Doratrava hielt inne und grinste Gelda nun schelmisch an. “Oder bin ich gefährlich für dich?” Kaum waren die Worte heraus, bereute die Gauklerin sie schon wieder - fast. SIe wollte nicht, dass Gelda den Eindruck bekam, sie mache sich über ihre Sorgen lustig, denn sie fand diese nur zu berechtigt, zumindest aus ihrer eigenen, bescheidenen Warte. “Gelda, du bist noch so jung … wenn ich etwas zu sagen hätte, dann sollte man nur heiraten, wenn man jemanden liebt und das selbst will. Aber Liebe … ist ein flüchtiges Gut … zumindest, was mich selbst betrifft, ich weiß nicht, ob ich die Richtige bin, um in dieser Beziehung Ratschläge zu geben. ‘Höre auf dein Herz’ ist leicht gesagt von einer Gauklerin, die keiner Familie Rechenschaft schuldig ist …” Noch immer hielt Doratrava Gelda an den Schultern und schaute ihr mit ihren nebelgrauen tief in die grünen Augen. Ihre Miene spiegelte Sorge und Mitgefühl und mehr wider.

Gelda nickte nachdenklich. “Ja du hast recht. Aber meine Eltern meinen es wäre meine traviagewollte Pflicht.” Sie blieb kurz stehen und errötete ein wenig. “Meinst du das Nivard … gut für mich wäre? Oder sollte ich erst einmal schauen, ob es jemanden gibt der um mich wirbt?” fragte sie unsicher. Ihre Gedanken jedoch wanderten zu ihrer ersten Liebesnacht mit dem Rondrageweihten Rondradin, um gleich wieder zu erkennen, das sie hier ihren Herzen nicht folgen konnte. Traviagewollte Pflicht. Schon das wäre für Doratrava ein Grund zum Aufbegehren. Aber das konnte sie Gelda unmöglich sagen. Diese war vermutlich behütet und glücklich im Schoß ihrer Familie aufgewachsen und hatte nicht ihre, Doratravas, Erfahrungen gemacht. “Nivard …” begann sie, um Zeit zu gewinnen. Nivard war ihr in kurzer Zeit ein guter Freund geworden, aber wirklich kennen tat sie ihn nicht. Dafür war die Zeit dann doch zu kurz gewesen, ihre neu erwachsene Freundschaft zu wenig auf die Probe gestellt worden. “Nivard ist charmant und freundlich, hilfsbereit und pflichtbewusst”, fuhr Doratrava fort, bevor die Pause zu lang wurde. “Was er sonst noch alles ist, kann ich nicht sagen, denn dazu kenne ich ihn noch nicht lange genug. Aber wenn du diese Eigenschaften an einem Mann schätzt, dann könnte er gut für dich sein, ja.” Wobei ‘gut sein’ nicht notwendigerweise etwas mit leidenschaftlichen Liebesnächten zu tun hatte, aber danach hatte Gelda ja auch nicht gefragt … “Aber wo du schon einmal die Gelegenheit hast, dir die anderen Bewerber anzusehen, würde ich das tun. - Wie läuft das eigentlich dann ab?” gab Doratrava nun doch auch ihrer eigenen Neugier nach. “Darfst du denn entscheiden, wen du von den Bewerbern heiratest? Oder entscheidet das euer Familienoberhaupt?”

Gelda nahm die Hand ihrer Freundin. “Falls es jemand gibt, dem ich erwähle oder erwählt werde, müssen beide auch zustimmen. Das wird natürlich mit der Familie besprochen. Ich weiß nur eines. Wenn es um Sabea geht, dann wird das ein Kampf werden, auch wenn meine Eltern uns gerne unter der Haube sehen würden.” Sie stöhnte ein wenig. “Dora, ich muss langsam zurück. Wir sehen uns morgen!” Gelda schaute sich nochmals um. “ Ich habe mir von meiner Familie gewünscht, dass du auch unser Gast bist. Also wenn du nichts zu tun hast, kannst du gerne bei den Gästen platz nehmen.” Die Altenbergerin drückte die Gauklerin noch einmal und machte sich auf den Park zu verlassen. “Folge deinem Herz”, flüsterte Doratrava ihrer Freundin hinterher, aber so leise, dass sie es vermutlich nicht mehr hörte. Sie sah Gelda noch nach, so lange sie konnte, und winkte ihr nochmals zu, als diese sich ein letztes Mal herumdrehte. Gelda winkte verstohlen zurück und war dann weg.

In einem der am Wege liegenden Gasthäuser

Fedora hatte das beste Zimmer bezogen und ein heißes Bad genommen. Liobha Linissel von Leihenhof, die sie als ihre Pagin begleitete, hatte gemeinsam mit einer Magd in dem Gasthaus für Gepäck, Pferde und Kutsche gesorgt, war selbst ebenfalls in den Zuber gestiegen und hatte sich um die Kleider und Ausrüstung von sich selbst und Fedora gekümmert. Aureus hatte einen Ausritt im umliegenden Gebiet in Angriff genommen, nach der Reise wollte er die Freiheit eines jungen Mannes genießen, und nicht mehr die Anwesenheit der beiden Frauen ertragen müssen. Fedora ließ ihn gewähren. Sie widmete sich ihrer Korrespondenz und Liobha war an ihre nächsten Rechenaufgaben gegangen, welche bei Fedora zu den Grundlagen der Ausbildung gehörten, ebenso wie Schreiben, Lesen, Zeichnen, Näharbeiten, Geografie, Geschichte, und dergleichen mehr. Bis zum nächsten Tag würden sie wohl noch im Gasthaus verweilen, bevor sie sich auf den endgültigen Weg zur Brautschau nach Stadt Herzogenfurt in der Baronie Schweinsfold machten. Wie es sich gehörte in der kleinen Kutsche, mit der sie auch schon zu dem Adelstreffen gefahren waren. Als Fedora sich gestärkt hatte, setzte sie einen Brief an ihre Tochter Anniella auf. Anniella hatte sich als Pagin letztlich entschieden, bei Hartuwal Von Hornisberg in eine eher streitbare Karriere zu gehen, als im Storchengarten bei Ivetta von Leihenhof in die Peraineschule zu gehen und eine religiöse Laufbahn einzuschlagen. Fedora hatte Ihre Tochter im Firnholz zuvor jahrelang in allem unterrichtet, was einer Tochter einer Baronsfamilie anstand, so wie sie es nun mit Liobha, ihrer Pagin, und schon seit längerem Aureus von Moosgrund, ihrem Knappen, tat. Sie hatte den beiden und Ihrer Tochter eine ebenso umfassende Ausbildung zukommen lassen, wie sie selbst erfahren hatte. Rechnen, auch höhere Mathematik, Astronomie, Reiten, Jagen, Schwertkampf, Musik, Tanz, höfische Benimmregeln, Spuren lesen, Wundversorgung, Biologie, Führen eines Haushalts (um genau zu sein, einer ganzen Baronie), Handel, Kräuterkunde. Anniella war noch jung, sie hatte noch vieles zu lernen und zu entdecken, und eigentlich wurde Fedora ganz anders bei dem Gedanken, dass ihr kleines Mädchen eines Tages heiraten würde, oder erwachsen werden würde, oder mit einem Mann zusammen sein würde. Sie war immerhin erst 16 Götterläufe alt.

Nach einiger Zeit setzte sie die Feder an und schrieb Ihrer Tochter, dass sie auf der Brautschau nach geeigneten Kandidaten Ausschau halten würde, außerdem ihre kürzlichen Erlebnisse, Grüße von ihrer Amme und einige andere Kleinigkeiten, auch von Adamar, Anniellas Bruder, der als Knappe wohl auch bald seinem Ritterschlag entgegenfiebern würde. Selbstverständlich würde Fedora auch für ihn nach einer Adeligen Braut Ausschau halten, immerhin wäre er der nächste Baron vom Firnholz und bereits im Heiratsfähigen Alter, eher noch als die kleine Schwester.

Fedora verschwieg, dass sie heimlich auch für sich selbst den Wunsch hegte, wieder einen Partner und Ehemann zu haben, immerhin lag der Tod Loncalds nun bald 10 Götterläufe zurück. In all der Zeit hatte sich Fedora erst erfolgreich gegen ihren Vater und ihren Bruder behauptet, die es beide gerne gesehen hätten, wenn Fedora wieder geheiratet hätte, und sich darin ausnahmsweise einig gewesen waren, wo es sonst fast ausschließlich Meinungsverschiedenheiten zwischen den Beiden gegeben hatte. Aber als Ulfried nicht mehr aus dem Feldzug Schlacht um Mendena auf dem Haffax-Feldzug zurückkehrte, und ihr Vater über den Tod seines Sohnes starb, und sie die Führung der Baronie übernehmen musste, da wünschte sie sich oft eine starke Schulter, einen guten Rat, um in ihre neue Rolle und die Verantwortung zu finden, der sie sich alleine gegenüber sah. Wie gut, dass beide Kinder versorgt waren, vielleicht war es nun endlich wieder an der Zeit an sich selbst zu denken. Sie mochte den Gedanken nicht, diese Idee öffentlich zu machen, wer weiß wieviele Hände ihr gereicht würden, von Männern unter ihrem Stand, von Männern jenseits ihres Alters, von Männern, mit denen sie keine geistreiche Konversation führen könnte, oder die sich zwar auf die Wissenschaften, nicht aber auf den Kampf verstanden.

Generell war es ihr unangenehm dass jemand davon Kenntnis haben könnte, dass Fedora selbst sich als Braut auf dieser Brautschau befinden würde, um nach einem Kandidaten für sich selbst Ausschau zu halten. Der Gedanke allein versetzte ihrem Herzen einen kleinen Stich, denn jedesmal kam ihr auch der Gedanke, dass sie Loncald verraten würde, ihre Ehe und ihre Familie, ihre gemeinsame, viel zu kurze Vergangenheit, erst recht hatte sie gegenüber Ivetta ein schlechtes Gewissen, und gegenüber Roklan, die beide zur Familie ihres Mannes gehörten. Sie zauderte, wollte sich lieber im Geheimen umschauen, die Kandidaten erst kennenlernen, selbst entscheiden, wen sie ansprach, wer in Frage käme, und glaubte sogar, keiner wäre gut genug, um Loncald zu ersetzen.

Niemand könnte Loncald ersetzen, und das war auch nicht Fedoras Ansinnen, dessen war sie sich ganz Sicher! Aber jemanden geeigneten zu finden, ohne dass es alle Anwesenden Wissen durften? Nein, sie wollte es niemanden wissen lassen, sollte sie auch allein bleiben! Offiziell würde sie teilnehmen um für ihre Kinder zu sorgen! So musste es allen erscheinen und nur insgeheim würde sie sich selbst umschauen!

Sie beendete den Brief an ihre Tochter, siegelte ihn und übergab ihn einem Boten, den sie rufen ließ. Sie machte sich daran, der Magd und Liobha zu helfen alle Kleider zu verstauen, das Gepäck zu verstauen und die Kutsche für die Reise fertig zu machen. Dann setzte sie sich zum Abend mit dem Mädchen und dem Knappen in den Gastraum und ließ sich kommen, was immer im Kessel war und an Getränken ausgeschenkt wurde. Sie war vorbereitet, die Kleider waren gewaschen, ihre Haare gebürstet, den Schmuck hatte sie extra bereitgelegt, um ihn griffbereit zu haben, und einen guten Eindruck zu machen. Was allerdings ihr Sohn davon halten würde, dass sie für ihn nach einer Braut Ausschau hielt? Sie hatte ihn vorsorglich nicht von diesen Plänen unterrichtet, er sollte seine Knappschaft zuerst beenden und den Ritterschlag erhalten, bevor an so etwas gedacht werden konnte. Wann Roklan von Leihenhof diese wichtige Ehrung und damit die Entlassung aus seinen Diensten und den Abschluss der ritterlichen Ausbildung des Jungen vornehmen würde, war aber noch offen.

Am nächsten Tag machte sich Fedora mit Knappe und Pagin auf den Weg zur Brautschau...