Vor dem Konzert

Flanieren im 12-Göttergarten

Am großen Tor des Schlosses wurden die Gäste des sommerlichen Musikvergnügens eingelassen und von einem blank geputzten Diener in frisch gewaschenem Gewand durch den Seitenflügel nach draußen geführt. In diesem Teil des jungen Gebäudes säumten einige der größeren Werke aus der Sammlung des kunstbegeisterten Gastgebers den Weg. Der Kenner konnte an Pinselführung und Farbwahl der Bilder oder auch an der Detailfreude der plastischen Arbeiten deutlich erkennen, welche Qualität die Werke hatten, während der Laie sich schlicht an einer Schönheit und Vielseitigkeit erfreuen konnte, die selbst beim unbedarftesten Betrachter die Seele in Schwingung versetzte.

Dann: nur noch eine kleine Treppe hinab ins Freie und schon standen die Besucher vor der flachen Bruchsteinmauer, an deren Ende man durch einen efeubewachsenen Rundbogen eine saubere, ordentliche Rasenfläche, von zwei Seiten durch Felsen und Mauer begrenzt, betrat.

Der Garten – ganzer Stolz des Barons – bot gerade von dort oben einen atemberaubenden Anblick: Kunstvoll waren verschiedene Terrassen in einem alten Bachlauf angelegt worden. Über Äonen hatte sich das Wasser in den harten Fels des Isenhags gefressen und eine tiefe, fruchtbare Schneise gegraben. Eine sprudelnde Quelle ergoss auch heute noch ihr feuchtes Nass in einen kühlen Bach, der sich über verschiedene künstlich angelegte Terrassen durch eine duftende Blüten- und Pflanzenpracht schlängelte und sich schließlich über blanken Fels in einem Wasserfall in die wilden Wälder unterhalb Obenas entlud.

Tatsächlich fühlte sich Lares nicht nur in seinem Kleidungsstück, sondern auch vor Ort etwas verloren. Mit so viel überbordender Blütenpracht hatte er nicht gerechnet und wurde unfreiwillig an die Rosenhaine seines Heimatgutes erinnert, dass er nun schon seit Monden nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Hierdurch trübte sich seine Stimmung noch etwas ein und er schritt zielstrebig auf den Gastgeber zu – in der Hoffnung, sich bald wieder verabschieden zu können. [Lares]

Von klein auf hatte ihm das Zeichnen gelegen und unter den Anweisungen der ihn betreuenden Diener der schönen Göttin dazu gedient, seinen Ängsten ein Ventil zu bieten, ihnen Ausdruck zu verleihen. Seiner Gemütserkrankung hatten Boron-Geweihte nicht Herr werden können, hatten die schwarzgekleideten, schweigsamen Geweihten ihm doch eine Todesangst eingejagt und ließen es ihm noch heute kalt den Rücken herunterlaufen. In der Obhut von Seelsorgern der Rahja-Kirche war er hingegen aufgelebt und in seinen künstlerischen Fähigkeiten noch dazu gefördert worden. So blieb Tassilo noch, bevor er die eigentliche Attraktion zu sehen bekam, im Gebäude hängen und betrachtete versonnen die prächtigen Werke in der Sammlung des Barons. [Tassilo]

Tsalinde hätte noch Stunden vor den Bildern stehen bleiben können. Eines hatte es ihr besonders angetan. Es zeigte eine waldige Berglandschaft, einen kleinen Bachlauf und eine Unzahl an Tieren des Waldes, die so wundervoll gemalt waren, dass man glauben konnte, sie seien echt. Fasziniert betrachtete sie die Pinselführung, versuchte daraus die Technik abzuleiten, damit sie diese vielleicht später in ihren eigenen Werken umsetzen könnte.

Lächelnd trat Aerol neben sie und flüsterte: „Wir sollten unseren Gastgeber nicht warten lassen. Ich bin sicher, es wird sich noch Gelegenheit bieten, dass ihr euch alles genau ansehen könnt, Herrin.“ Tsalinde lächelte ebenfalls, schaute zu dem einen Kopf größeren Mann auf und sah den Schalk in seinen Augen blitzen. „Sicher habt ihr Recht, Jäger. So sei es, gehen wir hinaus zu unserem Gastgeber und genießen wir dieses wundervolle Fest.“ [Tsalinde]

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Kategorie: Briefspielgeschichte