Unterkunft


Erzählung aus der Lichtkarz
(gehört im Süd-Gratenfelser Land, Ursprung unbekannt)


Die folgende Geschichte habe ich von einer Freundin, deren Bruder sie von einer Samenhändlerin hörte, die den Mann, dem sie passierte, selber noch kennengelernt hat.

Ludewin, so hieß der Mann, war damals noch ein junger Bursche, ein Müllersgeselle auf Suche nach Arbeit. Es war Herbst und gut zu laufen – wenn es nicht gerade regnete –, aber die Nächte waren schon empfindlich kalt.

So hielt er, als der Tag sich neigte, Ausschau nach einer Herberge. Bereitwillig wies man ihn in dem Dorf, in dem er fragte, weiter: der nächste Ort sei bloß ein kleines Kaff, aber beim Dorf dahinter gebe es ein Gasthaus, da komme er sicher unter. Bis Sonnenuntergang sei das gut zu schaffen. So lief er weiter, obgleich er schon recht müde war.

Bald stiegen Nebel aus den Wiesen und Waldstücken, feuchte Kälte kroch ihm in die Kleider, so dicht er sich auch die Gugel übern Kopf, den Mantel um die Schultern zog. Schlimmer fand er aber den Geruch in der Luft, bald nach Moder, bald nach kaltem Rauch, und die ziehenden Schwaden, in denen er düstere Formen ausmachte. Die Hütten des kleinen Kaffs? Eher erschienen sie ihm als hohe Häuser, die entlang des Weges dräuten. War dies schon das Dorf, in dem er das Gasthaus finden sollte?

In der Hoffnung, nur vom Nebel genarrt worden zu sein und Hütten oder Bäume für gewaltige Gebäude gehalten zu haben, lief er weiter, so schnell er noch konnte. Bald verwehte ein sachter Abendwind den Dunst, und um sich herum sah Ludewin Wiesen und Äcker, Hecken und Haine und gelangte endlich tatsächlich in ein Dorf.

War das denn noch ein Dorf? So hohe Fachwerkhäuser kannte er bisher nur aus Städten, Marktflecken mindestens. Hell verputzte Gefache, manche sogar bemalt, Schnitzereien an den Balken, bunte Fensterläden. Weinstöcke rankten an den Fassaden, noch voller Trauben, von denen die ersten schon zu faulen begannen. Zwischen den Häusern Apfel-, Birn- und Zwetschenbäume, mit nicht minder reichem Behang.

Einmal glitt er fast aus auf zu Boden gefallenen Früchten, und als er genauer hinsah, waren es gar Pfirsiche, zumindest meinte er, es könnten welche sein. Zögernd nahm er eine noch gut aussehende Frucht auf, schaute sich um, ob jemand käme, um sie für sich zu beanspruchen, aber die Leute ringsum scherten sich nicht um ihn und noch weniger um die am Boden liegenden Früchte. Ein, zwei braune Stellen schnitt er heraus, der Rest der Frucht – wohl wirklich ein Pfirsich! – schmeckte ihm wunderbar süß, und ihr Saft lief ihm übers Kinn.

Längst war der Tag der Dämmerung gewichen, aber Ludewin hatte kaum Mühe, sich zurechtzufinden, denn überall brannten Feuer in eisernen Körben und beleuchteten den Weg. Immer noch waren Leute unterwegs, trabte irgendwo ein Pferd, rumpelten Wagen knarrend durch die Gassen. Erst als er jemanden nach dem Gasthaus fragte und nur stumm eine Richtung gewiesen bekam, fiel ihm auf, daß die Menschen um ihn herum nicht viel zu sprechen schienen. Kein Lachen, kein Keifen, kein Schwätzen und Schwatzen vernahm er, auch wenn hier und da Grüppchen beisammen standen, auch keine rauhen Worte eines Streits. Doch auf seinen Wanderungen hatte er schon viel Sonderbares erlebt; es mochte sein, daß die Leute in dem Ort mit Einbruch der Dämmerung aufhörten zu reden, ein Borongelübde vielleicht.

Er hatte auch keine Schwierigkeiten, das Gasthaus zu finden, mit einer großen schmiedeeisernen Weintraube überm Eingang. Zu seiner Enttäuschung wurde er kopfschüttelnd ab-, ja geradezu barsch des Hauses verwiesen. Den Zugang zum Stall, in dem er Pferde stampfen und mampfen und schnauben hörte, verwehrte ihm eine grimmig dreinschauende Magd, die drohend die Heugabel schwang.

Ratlos zog Ludewin durch die Straßen, in denen nun weniger Leute unterwegs waren. Wen er nach Unterkunft fragte, wies ihn nur wieder zum Trauben-Gasthaus zurück. Eine Frau schüttete aus einem Tuch Brot auf die Straße. Auf seine Frage, ob sie vielleicht einen Schlafplatz für sie hätte, schlug sie die Fensterläden zu. Da ihm der Magen knurrte, klaubte Ludewin etwas von dem Brot auf, eine angeschnittene Semmel, einen Kanten Graubrot, alles nur wenig eingetrocknet und zu aufgelesenen Äpfeln und Birnen gut zu essen.

Die Kälte konnte das Mahl auf Dauer nicht vertreiben, auch die Feuerkörbe brannten allmählich nieder, warm hielten sie ohnehin kaum. Nach einer Weile kehrte Ludewin zu dem Gasthaus zurück. Drinnen war noch Licht, aber die Türe verschlossen. Ebenso das Haupttor des Pferdestalls. Aber hinten gab es noch eine Pforte, die er unverriegelt fand. In einer leeren Box machte er es sich auf Decken und etwas Stroh bequem und schlief bald ein.

Die Tiere waren wohl unruhig, denn er schlief schlecht, träumte von schreienden Pferden mit Mähnen aus Flammen, Feuerkörben, die ihre Glut über ihn spien, feurigen Menschen, die Jagd auf ihn machten.

Er erwachte, weil er bitterlich fror.

Über ihm spannte sich der noch dunkle Himmel. Um ihn herum erhoben sich nur Schatten von Gebüsch und schwarze Mauerresten, spitz und zackig wie Zähne. Im dämmernden Morgenlicht suchte er sich einen Weg aus den Trümmern, stolperte, fing sich an einem Holzstück auf, nein, keinem Holzstück, sondern einer aus kalter Asche ragenden Pferderippe. Brombeergestrüpp wucherte in einstigen Pferdeboxen. Unter stachligen Ranken, die Ludewin beiseite riß, um sich einen Weg zu bahnen, grinste ihn ein Menschenschädel an. Daneben die verrosteten Zinken einer Forke.

Kaum eine Viertelstunde später kam er in ein weiteres Dorf, ganz ähnlich dem, in dem er am Nachmittag zuvor nach einer Herberge gefragt hatte. Am Dorfplatz ein schmuckes Gasthaus, in dem er heißen Tee und ein gutes Frühstück bekam. Ob er draußen genächtigt habe?, fragte ihn die Wirtin, beinahe vorwurfsvoll, während sie ihm Distelsamen und ein Stück Brombeerranke vom Mantel klaubte; ein freier Strohsack und eine Decke hätten sich bei ihr im Haus allemal noch gefunden! Als er berichtete, wo er genächtigt hatte, schlugen die Umstehenden erschrocken Praios- und Boronzeichen. Die Wirtin aber brachte ihm eine große Schüssel heißen Brei mit Butter und Honig. Als er unauffällig in seine Geldkatze lugte, winkte sie ab. "Behüt' mich Travia vor so einem Frevel, daß ich einem Wandernden nach so einer Nacht ein bißchen heißen Brei mißgönnte!"

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(C) fs, 10/2023