Un Auffindbar

Unauffindbar

Von CatGrune und YanTur

Frühjahr 1009

Ein heilloses Durcheinander herrschte im Kopf der jungen Frau. Sie war Wochen unterwegs gewesen. Wochen ohne eine richtige Wäsche. Ohne anständige Mahlzeit. Sie hatte einige Pfund an Gewicht verloren. Ihre Muskeln schmerzten, ihre Kleider stanken. Und Schmutz und Staub hatten sich wie ein feiner Film über ihre Züge gelegt, in die ihre Tränen nun schmutzige Wege gruben.

Was sollte sie tun? Hier – Am Ende der Welt? Allein? Hinter sich hörte sie Kinderlachen und als sie aufblickte sah sie in zwei braun leuchtende Augen. Ein kleines braunhaariges Mädchen legte den Kopf schief und berührte dann ganz sanft Rondragards Haar. Die Kleine war im Stehen etwa so groß wie das hochgewachsene junge Mädchen im Sitzen.

„Rike!“ Als eine besorgte Stimme den Namen rief, sah das Kind auf, strich aber weiter über das Haar der Unbekannten, die nun noch erbärmlicher schniefte. „Rike!“ die Stimme kam näher und durch die tränenverhangenen Wimpern sah Rondragard eine ältere Frau, die sich neben das Kind beugte. „Ich habe sie gefunden.“ Sagte das Kind in bestimmendem Ton. Und die Frau lachte kurz auf und fuhr der Kleinen durch das dunkelbraune Haar.

„Hallo, Unbekannte.“ Sprach die Frau sie nun an und liess sich neben sie in den Dreck plumpsen. „Ich bin Ise.“ Sie streckte dem blonden Mädchen die Hand hin, die nach einer kleinen Weile auch zögerlich unter Schluchzen ergriffen wurde. „Warum weint sie denn?“ fragte das kleine Mädchen neugierig, was Rondragard nur in eine neuerliche Tränenflut trieb. „Sie sieht … mager aus.“ Fuhr das Kind in naiver Ehrlichkeit fort. „Rike.“ Die Frau zog das Kind in ihren Schoss und gab ihm einen Kuss. Und blieb mit ihr neben Rondragard sitzen. Sie sagten beide nichts. Lauschten nur dem Schluchzten der anderen, während Rike dem fremden Mädchen beständig über den Kopf strich.

Als das unglückliche, blonde Mädchen glaubte keine Tränen mehr zu besitzen und sie den Durst auf ihren spröden Lippen schmeckte, fragte Ise: „Brauchst du eine Unterkunft für die Nacht?“ Skeptisch blickte sie Ise an. Vor einigen Wochen hatten zwei Zuhälterinnen ihren unbedarften Weg gekreuzt. Nichtsahnend hatte sie sich auf die Traviagefälligkeit der anderen verlassen und damit fast mit ihrer Jungfräulichkeit bezahlt. Doch nun, während sich die Tränenschleier langsam lichteten, erkannte sie im bunten Gewand neben sich eine Dienerin der jungen Göttin und nickte. Das Kind klatschte in die Hände. „Wir dürfen sie behalten?“ Wieder lachte die Frau auf. „Rike, Menschen kann man nicht besitzen.“ „Doch, doch…“ Widersprach das Kind „Das nennt man Leiheigenschaft.“ Wieder lachte die Frau. „Leibeigenschaft meinst du. Aber das bedeutet nicht, dass man einen anderen Menschen besitzen kann.“ Sie stupste Rike an und reichte, nachdem sie aufgestanden war Rondragard die Hand.

Ein Eselkarren hatte die drei die Straße hinab mitgenommen. Bis Ise den Bauern gebeten hatte anzuhalten. „Tsa mit dir, Freund.“ Winkte sie ihm zum Abschied zu. Danach ging sie voraus, einen kleinen Pfad in den Wald hinein, der irgendwann im Unterholz erstarb. Rondragard war zu müde, zu resigniert als dass sie sich noch darüber wunderte oder fragte, wo sie eigentlich hingingen. Ihr war mittlerweile alles egal. Ihr Leben war zu Ende. Es war … vorbei. Tränen rannen wieder ihre Wangen hinunter, die erst versiegten, als sie auf einer grünen Lichtung standen. Mitten im Wald. Neben einer verfallenen Kirche. Ise lächelte: „Dies ist der „alte Tempel“ Ich habe die Tempelweihe gerade erneuert. Dieser Ort wird dir die Kraft wiedergeben, die du glaubst verloren zu haben. Und dir helfen, einen neuen Weg zu finden.“ Rike war auf eine junge Frau zugerannt, die hochschwanger und strahlend ihre Arme für das Kind ausgebreitet hatte. Sie leuchtete mit der Friedfertigkeit des Ortes um die Wette. „Mama, schau, was ich gefunden habe.“ Das Kind deutete auf Rondragard, die das erste Mal seit Monden lächeln musste.

Herbst 1010

Rondragard verbrachte Wochen und Monate im Tempel der jungen Göttin. Sie genoss es, dass niemand ihr Vorschriften machte, niemand sie drängte. Schnell hatte sie das durch die anstrengende Reise verlorene Gewicht zurückgewonnen. Ihr goldblondes Haar war wieder frei von Filz und Tieren und sie pflegte es gewissenhafter als sie es zuvor getan hatte. Sie packte mit an, wo sie konnte, half Ise und ihrer Enkeltochter mit dem neuen Derebewohner und kümmerte sich liebevoll um Rike, die ein forderndes, neugieriges Kind war. So verging zuerst das Ende des Frühlings und dann der Sommer. Sie sprach sich ihr Seelenleid bei Ise vom Herzen: Der Tod der Mutter, die ihr so ähnlich gesehen hatte, ihr schwieriges Verhältnis zum Vater, der Mutters Tod nur schwer verwinden konnte und den sie immerzu an den Verlust erinnerte, die vielen Anträge, die an ihren Vater herangetragen worden waren, seit ihre Weiblichkeit erblüht war. Und der Druck mit dem dieser sie dazu bringen wollte, einem der Anträge nachzugeben.

Rondragard hatte ihre Heimat geliebt. Ihre Heimat und ihren Lehrmeister, der ihr so viel beigebracht hatte. Der ihr die Leidenschaft gezeigt hatte, die man im Herzen tragen musste, wenn man Heiler war. Den Drang Lebewesen zu helfen, in ihr Herz gepflanzt hatte. Sie hatte Abscheu vor dem Kriegshandwerk und der Ritterschaft entwickelt. Oh wie sehr sie es HASSTE, wenn Menschen zum reinen Vergnügen töteten. Und dann? Wessen Antrag hatte er schließlich zugestimmt? Dem Antrag eines Ritters! Des Mannes nämlich, den sie am meisten von all ihren Verehrern verachtet hatte. Dem man an den Augen ansah, dass er ein böser und grausamer Mensch war. Aber was sah ihr Vater? Nichts als einen Mann, der sie liebte. Er glaubte, das sei wichtig! Als ob Liebe nicht verginge! Als ob es nicht viel wichtiger war, seinen eigenen Vorstellungen zu folgen. Was hatte man denn schon auf Dere sicher, außer sich selbst und seinen Prinzipien?

Ihre beharrliche Weigerung sich zu verloben oder verheiraten zu lassen, hatten aber leider nur dazu geführt, dass ihr Vater ihrem Lehrmeister unterstellte, eine heimliche Liebesgeschichte mit ihr zu haben. Wie fern der Wahrheit dieser verbohrte Mann gewesen war!! Als sei sie ein dummes Ding, das einen Mann brauchte, um vollständig zu sein! Das allein hatte sie wütend gemacht. Gut, ihren Vater hatte ihre Wut nur darin bestätigt, Recht mit seiner Vermutung zu haben und er hatte ihre Ausbildung abgebrochen! Und dafür hatte sie ihn noch mehr gehasst. Es hatte ihm – wie passend- auch noch das beste Argument gegeben, sie mit seinem Wunschkandidaten zu verloben – gegen ihren Willen!

Das alles wäre niemals passiert, wäre ihre Mutter noch am Leben gewesen. Sie wäre auf ihrer Seite gewesen. Hätte ihrem Vater Vernunft beigebracht. Ohne ihre Unterstützung hatte sie nur den einen Ausweg gesehen: Flucht. Also hatte sie heimlich einen Rucksack gepackt und sich fortgeschlichen. Sie wollte zu ihrer Großmutter, die in Obena einer Baronin als Gesellschafterin diente. Doch dort angekommen, nach einer entbehrungsreichen Reise, hatte sie nur erfahren, dass ihre Großmutter einige Wochen vor ihrer Ankunft an einem Fieber verstorben war, das übel in der Baronie gewütet hatte.

Mit dem Sommer verging ihr Hass auf ihren Vater und ihr Drang den Tempel zu verlassen wuchs. Und doch wusste sie, dass sie nicht zurück wollte. Sie wollte frei sein. Sie wollte sich nicht binden. Nicht im Namen Travias. Nicht im Namen ihres Vaters. Das hatte er ihr vergällt. Sie würde sich niemals an einen Mann binden. Niemals!! Als sie sich ein Herz fasste und Ise schliesslich erzählte, dass sie gehen wollte, aber nicht wusste wohin, machte die ihr einen überraschenden Vorschlag: Im Lehen neben dem Wald, in dem sie nun seit Monaten lebte, gab es ein Gestüt, auf dem gerade Hilfe gesucht wurde. So könnte sie hinaus aus dem Wald, hätte Unterkunft und Verpflegung für den Winter und könnte im Frühjahr weiterziehen. Rondragard hatte gelächelt als sie den Vorschlag gehört hatte. Sie liebte Tiere. Sie verstand ein wenig von Pferden, konnte sogar reiten.

Oh wie glücklich war die junge Frau gewesen, als man ihr gesagt hatte, sie könne über den Winter auf dem Gestüt bleiben. Es machte ihr nichts aus mit den anderen Knechten und Mägden beim Gesinde zu schlafen. Sie mochte adelig sein, aber war in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Und auch ihr Lehrmeister war kein reicher Mann gewesen. Außerdem hatte sie immer noch Angst, dass ihr Vater irgendwann in dieser Baronie nach ihr suchen würde. Und hier unter dem Gesinde eines reichen Gestütsbesitzers würde er sie wohl am wenigsten vermuten.

Die Herrin des Gestüts war eine Albernierin. Miranee ni Bennain. Ihr Urgroßvater war albernischer Fürst gewesen und ihre Linie verwaltete beträchtliche Ländereien in dem angrenzenden Fürstentum. Sie hatte sich –der Liebe wegen munkelten die geschwätzigen Mägde- für einen einfachen nordmärker Ritter entschieden und hielt ein wachsames Auge auf das Gestüt ihres Mannes. In ihrem Auftreten lag stets etwas Elegantes und Überlegenes, wenn die Frau auch nicht übertrieben arrogant wirkte, sondern eher pragmatisch zu sein schien. Im Gestüt zog sie sich oft Stunden in das Arbeitszimmer zurück und kümmerte sich um die wirre Buchführung des Gestütsleiters. Der war nämlich ein glatzköpfiger Trunkenbold, der zwar eine Menge von Pferden verstand, aber von Zahlen nicht den Hauch einer Ahnung hatte. Bald hatte er auch begriffen, dass die neue Magd kein einfaches, schollenflüchtiges Bauernmädchen war, wie er zuerst angenommen hatte. Sie konnte lesen und schreiben und verstand sich äußerst gut auf profane Heilung- Das hatte die Suffnase stutzig gemacht. Doch Gera – wie sich Rondragard nun nannte- hielt sich stets bedeckt. Gab nichts preis, was irgendwem Informationen gegeben hätte. Und lebte sich ein. Ihr Wissen über die Heilkunde machte sie darüber hinaus bald zu einem geschätzten Mitglied des Gesindes und die anderen respektierten und achteten sie. Sie fühlte sich wohl. Und gab ihren Plan weiterzuziehen vorerst auf.

* 

„Aaaaaaarrgh!“ mit einer einzigen Bewegung fegte er Schüssel, Becher und Besteck vom Tisch, so dass sich der dampfende Brei an Wand und Boden verteilte. Selbst die irdene Kanne, welche den sauren Wein enthielt, fiel krachend zu Boden und zerbarst. Ivetta, ein dreizehnjähriges Bauernmädchen, dass ihm als Hausmagd diente, erschrak und ließ beinahe den Topf samt Kelle fallen. Auch Godehard, sein fünfjähriger Sohn, zuckte zusammen und seine Augen füllten sich mit Tränen. Ivetta nahm den Jungen an die Hand und brachte ihn schleunigst in die Küche, wo sie ihn tröstete, so gut sie konnte. Heiße Tränen kullerten über ihre Wangen und sie zitterte. Sie hatte Angst, denn ihr Herr hatte sich in den letzten Wochen sehr verändert. Seit dem Tod seiner Frau bekam er immer häufiger diese heftigen Wutanfälle.

Maldoram saß am Tisch und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Diese großen, kräftigen Hände, mit denen er voller Kraft und Stolz das Schwert führen konnte und so manchen Gegner bezwang. Doch waren sie nicht fähig seine geliebte Ermenhild aus Golgaris Klauen zu reißen und so hatte er sie Anfang des Jahres zu Grabe tragen müssen. Was sollte er nur ohne sie tun? Wie sollte er nur weiterleben? Sie war sein Ein und Alles, hatte sich um Haus und Kinder gekümmert und ihm mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Sie hätte Hesinde oder Peraine als Geweihte dienen können, so groß waren ihre Güte und Schläue gewesen. Doch sie hatte sich für ihn entschieden – und er sich für sie. Nun war sie fort.

Doch nicht nur sie. Auch Rondragard, seine Tochter, war fort. Davongelaufen war sie – undankbare Eselin. Dumme, störrische, kleine Eselin. Seine Schultern zuckten, als er den Tränen freien Lauf ließ. Die Gefühle waren so stark, dass er nicht einmal daran dachte, was man von ihm halten würde, würde man ihn jetzt so sehen. Ihn, den stolzen Ritter, gebrochen von der Last des Lebens.

Es dauerte nicht lange, bis aus Trauer Selbstmitleid wurde und aus Selbstmitleid wiederum Wut. Sein Leben war nicht leicht gewesen, doch hatte er es geschafft zum Ritter geschlagen zu werden. Er hatte sogar eine Anstellung gefunden und musste dafür seine Heimat verlassen, während Mutter und Bruder geblieben waren und darauf hofften das ehemalige Lehen zurück bekommen zu können. Er wurde in ein kleines, unbedeutendes Dorf geschickt, um ein Auge auf den dort lebenden Junker zu haben, der sich wie ein verwöhntes Kind aufführte, soff und spielte und sich dabei keinen Deut um sein Junkergut scherte. Er war sogar so dreist ihm nur ein einfaches Haus im Dorf zur Verfügung zu stellen, anstatt, wie es ihm als Ritter eigentlich zustünde, ein eigenes Gut bereit zu stellen. Doch Maldoram konnte all das ertragen, solange Ermenhild an seiner Seite stand und mit einem Lächeln alle Sorgen, Nöte und Unannehmlichkeiten wegzaubern konnte. Nur so konnte er ertragen, dass seine Tochter sich nicht im Ritterhandwerk unterweisen lassen oder mit ihm zur Jagd ausreiten wollte. Nur so konnte er ertragen, dass sein Sohn mit einem steifen Arm geboren wurde. Aber jetzt? Jetzt war er allein. Sein Leben war grau geworden. Rondragard hatte sich gegen ihn gewandt und hatte beim Heiler eine Ausbildung begonnen. Im Dorf wurde gemunkelt die beiden hätten ein Verhältnis, obwohl er verheiratet und seine Frau hochschwanger war. Doch sie scherte sich nicht. Nicht um ihr Ansehen, nicht um sein Ansehen. Es war ihr egal. Alles, was er erreicht hatte, war ihr egal. Hatte er nicht alles für sie getan? Er war wochenlang unterwegs gewesen, um in den umliegenden Gütern einen Ehemann für sie zu suchen. Einen, der ihrem Stand angemessen war und in der Lage sie zu versorgen. In Gratenfels, und später auch in Elenvina, hatte er sogar bei wohlhabenden Händlern, Geweihten und Ministerialen angefragt und sie hatte sie alle verschmäht, teilweise brüskiert. Zu guter Letzt hatte sie es gewagt sich heimlich in der Nacht davon zu stehlen und fortzulaufen. Einige Dörfler munkelten hinter vorgehaltener Hand er hätte sie erschlagen und verscharrt oder sie verkauft. Er wusste das, es ärgerte ihn und er hatte sich bei Junker Answin beschwert, doch dieser scherte sich nicht. Es ärgerte ihn, enttäuschte ihn, machte ihn traurig. Störrische – dumme – kleine - Eselin. Seine - Eselin. Seine Rondragard.

Frühjahr 1010
 

Es war ein regnerischer Tag als bei Ustika die Wehen einsetzten. Sie war die älteste Tochter des Herrn von Rickenbach, der wie üblich nicht im Lehen, sondern irgendwo im Kaiserreich für seinen Orden unterwegs war. Ustika war keine Kriegerin, sie hatte von ihrer Mutter die Haushaltsführung und die Verwaltertätigkeit erlernt. Und sie würde nun dem Lehen den ersehnten Erben schenken, der auf sie als Erbin ihres Vaters folgen sollte. Ihre Zwillingsschwester Koarmin hatte bereits zwei Jahre zuvor einen kleinen Jungen zur Welt gebracht, der mit seinem jüngsten Onkel gemeinsam Tante und Großmutter auf Trab hielt. Ihr Kind sollte mit ihnen aufwachsen, solange alle in Rickenbach lebten. Doch die Geburt dauerte schon zu lange. Viel zu lange. Ustikas Kräfte schwanden. Man hatte schon vcr Stunden nach der Hebamme geschickt, die nun eintraf und sehr besorgt mit Miranee sprach. Bleich und blass schickte sie darauf das gesamte Gesinde los, einen Arzt oder einen der Perrainegeweihten aufzutreiben. Doch als Gera schließlich nach einigen Stunden mit einer Perainegeweihten zurückkehrte, war es bereits zu spät. Weder Ustika noch ihr kleiner Sohn hatten die Strapazen der schwierigen Geburt überstanden.

So kam es, dass die gesamte Familie heimkehrte. Nicht zu einem Freudenfest, das die Geburt des kleinen Elian darstellen sollte. Nein, zwei Mitglieder der Familie mussten begraben werden. So wie alle Bediensteten nahm auch Gera an der Trauerzeromonie teil. Marhaus von Rickenbach, der Lehnsnehmer weinte nicht, trocknete die Tränen seiner Frau, die er unentwegt in den starken, muskelbepackten Armen hielt. Nur seine Miene drückte die tiefe Trauer aus, die er wohl im Herzen fühlte. Ob ihr Vater auch so aussah, wenn er an sie dachte? War es dieses Leid, das sie in ihrer Familie angerichtet hatte? Dachte auch Geras Vater, dass er sie für immer verloren hatte?

Kilian, der jüngste Spross der Familie, war gerade fünf Jahre alt und ebensowenig wie der zweijährige Hagrian verstand er, was der Tod bedeutete. Er hatte seine Hand in die seines Vaters gelegt und blickte ängstlich den Boroni an, der die letzten Worte für seine Schwester sprach. Hagrian, der auf dem Arm seines Vaters Torm alles verfolgte, musterte still und interessiert den Mann in der schwarzen Kutte. Und dann war da noch Merkan. Der ältere Sohn und jüngere Bruder der beiden Rickenbach-Schwestern. Ebensowenig wie Koarmin war er in den letzten Monden in seiner Heimat gewesen. Er hatte gerade seinen Ritterschlag erhalten und war als Heckenritter unterwegs. Gera sah ihn bei der Trauerfeier zum ersten Mal.

Er blieb einige Woche auf dem Gestüt. Dort hatte er sich einquartiert. Anders als seine Schwester und sein Vater, die Rondra als Priester und im Adaritenorden dienten, wirkte er nahbarer. Er lächelte ihr stets freundlich zu, auch wenn sein Blick immer wieder von Trauer durchzogen schien und dennoch- ihr Herz schlug dann jedesmal ein wenig schneller. Er sah gut aus. War groß und hatte die imposante Gestalt seines Vaters und das volle Haar seiner Mutter, wenngleich es aschblond und nicht flachsblond war wie das ihre. Schöne grüne Augen, die stets ein wenig mehr zu leuchten schienen, wenn er sie anlächelte.

Eines Abends, Gera hatte noch einmal nach einer der trächtigen Zuchtstuten geschaut, traf sie ihn in der kleinen Laube, im Garten des Gestüts. Ein Pfiff hatte sie herbeigelockt. „Oh, ihr seid es.“ Sie war ebenso überrascht wie sie klang. „Ich hatte einen der Stallburschen erwartet.“ Merkan lächelte. „Trefft ihr euch öfters hier?“ „NEIN!“ fuhr es aus ihr heraus. Und ihr Kopf wurde knallrot, wie sie an ihren glühenden Wangen spürte. Er lachte leise auf. „Ich habe dich nur ärgern wollen… Und bitte, nenn mich Merkan- zumindest, wenn meine Mutter nicht anwesend ist.“ Zwinkerte er ihr zu und trat einen Schritt auf sie zu. Er hatte sie vom ersten Moment an bezaubernd gefunden. Auch wenn es unpassend war, sich auf der Beerdigung der eigenen Schwester zu jemandem hingezogen zu fühlen. Und im Sonnenlicht, wenn nicht die Düsternis des Boronschreins auf ihren Zügen und seinem Gemüt lag, hatte sich sein Empfinden in Begehren gewandelt. Ihre ebenmäßigen Züge, die helle Haut und die blonden Haare, ein kräftiger Körper mit breiten Hüften und einer schlanken Taille, und ihre zupackende Art hatten ihn eingenommen. Und ihre Unschuld. Ein seltenes Juwel. „Du bist schön.“ Seine Hand strich ihr übers Haar. Ein wenig verspannte sie sich, doch sie wich nicht zurück. „Junger Herr… Merkan.“ Fragend und verunsichert klang ihre Stimme. „Ich möchte dich gerne küssen. Gestattest du mir einen Kuss? Schenkst du ihn mir?“ Immer noch wich sie nicht zurück. Merkans Hände strichen ihr über die Wangen und er hielt ihr Gesicht in seinen Händen. Es war gerötet und fühlte sich warm an unter seinen Händen. Dann senkten sich seine Lippen auf die ihren und in ihrem Inneren zerplatzte etwas, das heiss und feucht durch ihre Adern fegte. Dann liess er sie los. „Verzeih mir.“ Hörte sie ihn dumpf sagen. „Ich werde morgen aufbrechen. Rajo wartet schon sehnsüchtig auf unseren Aufbruch. Gemeinsam wollen wir ins Horasreich reisen. Uns als Heckenritter verdingen.“ Er fand in ihren Augen das Aufglimmen von Feuer und Gier. „Ich wollte dich vorher unbedingt küssen, meine Kleine. Du bist so…schön. Auf eine geheimnisvolle Weise.“ Und erneut sanken seine Lippen auf die ihren, doch diesmal überraschte sie ihn, denn sie umfing seine Lippen mit den ihren, knabberte an ihnen, leckte daran. Suchend, erkundend. Mit dem Hunger einer noch unschuldigen Frau, die sich ihrer Begierden noch nicht bewusst ist. Er drückte sie ein Stück weg und rang nach Atem. Sein Geschlecht quälte ihn. Es pochte an seinen Lenden. „Wenn wir nicht aufhören, meine Kleine, dann … werde ich dich verführen, nach allen Regeln der Kunst, die Rahja uns nach Dere brachte. Möchtest du das?“ Gera aber war schon wie in Trance, sie überwand die Distanz zu ihm und küsste ihn nun ihrerseits. Wild, ungestüm. Schlang ihre Arme um seinen muskulösen Körper, nur noch getrieben von Begierde und dem Wunsch, sich zu vereinigen. Kein Mann hatte das je in ihr ausgelöst. Und dieser hier würde sie morgen verlassen…

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Ein Götterlauf war nun vergangen. Maldoram stand am Dorfrand und starrte in die Ferne. Hatte er überhaupt den richtigen Weg gewählt? War sie in diese Richtung gelaufen oder in eine andere? Eisiger Wind kam von den Bergen herab und streckte seine Klauen nach ihm aus. Wie lange stand er schon hier? Seine Füße fühlten sich schon eisig an. Der Wind leckte ihm gierig über die Wangen und brauste jubelnd auf, als sich eine Träne Bahn brach und das Augenlid verließ. Maldoram seufzte schwer und warf noch einen wehmütigen Blick in die aufkommende Dunkelheit, bevor er seinen Umhang fester um sich schlang. Der Horizont blieb unverändert. Er drehte sich um und schlug den Weg zum Boronanger ein. Hier ruhte seine geliebte Ermenhild in der kalten Erde. Sie war Rahjas Geschenk an ihn gewesen. Seine treue Ehefrau und Mutter seiner Kinder. Wie sehr er sie vermisste. Sie hätte sicherlich gewusst, wo man Rondragard finden könnte. Doch würde er nie wieder einen Rat aus ihrem Munde hören. Sie starb und nahm einen Teil seiner Seele mit über das Nirgendmeer. Vielleicht war das der Grund, warum seine Tochter kurz darauf verschwand. Zuerst war er wütend gewesen, dann verletzt und traurig. Aber als sie bereits eine Woche fort war und klar wurde, dass es keine Trotzreaktion eines wütenden Mädchens war, da machte er sich Sorgen und bereitete sich darauf vor sie zu suchen. 

Doch dazu kam es nicht. Am morgen erreichte ein Bote das Dorf und brachte Maldoram einen versiegelten Brief. Das Wachs war schwarz und zeigte ein gebrochenes Rad. Die Nachricht kam aus Obena und kündete vom Tode seiner Mutter. Als ältestes Kind und neues Familienoberhaupt musste er sofort aufbrechen, um der Beisetzung noch beiwohnen zu können. Er bat Junker Answin darum eine Suchaktion zu organisieren. Doch bei seiner Rückkehr hieß es, sie hätten Rondragard nicht finden können.

Heute wusste er, dass er sich besser an Aurelia, Answins junge Ehefrau, gewandt hätte, oder an Angrobas den Heiler. Die beiden hätten sicherlich eine ernsthafte Suche auf die Beine gestellt.

Frühsommer 1010

Ise lächelte, doch ihr junger Zögling sah sie entsetzt an. „Schwanger?“ Tausend Gedanken rauschten durch ihren Verstand. Merkan und die wunderschöne Nacht mit ihm. Seine Warnung das Rahjalieb nicht zu vergessen. Und die Stute, die noch in der Nacht gefohlt hatte. Sie hatte bis zum Ende des nächsten Tages zu tun gehabt und war dann selig und totmüde in ihr Nachtlager gefallen. Sie hatte es vergessen. „Kann man…“ Gera senkte das Haupt. Wie konnte sie sich erdreisten einer Tsageweihten eine solche Frage zu stellen. Ise strich ihr über die blonden Haare. „Ein Kind ist ein Geschenk. Hörst du? Tsa schenkt es dir, weil du bereit bist.“ Gera schluckte. Nach der Beerdigung vor wenigen Monden hatte sie sich ein Herz gefasst – und einen Entschluss. Sie wollte zurück nach Hause. Sie hatte einen Brief an ihren Vater geschrieben. Und ihn zerissen. Ebenso wie den zweiten, den dritten und vierten. Mit dem siebten schließlich war sie zufrieden gewesen-so zufrieden zumindest wie es ihr möglich war- und sie trug ihn seit ein paar Tagen bei sich, hatte ihn bei nächster Gelegenheit aufgeben wollen. Doch dieses .. Kind veränderte alles. Sie konnte unmöglich mit einem Bastard unter dem Herzen nach Hause kommen. Das würde ihrem Vater das Herz brechen. Sie würden über ihn reden. Es würde seinen Ruf beschädigen. Seinen Ruf, den Ruf der Familie, der Ruf, der ihm stets wichtiger gewesen war als alles andere! Tränen liefen ihr über die Wangen, während sich ihr Mund mit Galle füllte.

Winter/Frühjahr 1011

Die Herrin war ungehalten gewesen, als sie ihr offenbart hatte, ein Kind zu erwarten. Doch anders als sie vermutet hatte, warf sie sie nicht hinaus. Gera sei als Freie auch frei in ihrer Entscheidung in Traviaungefälligkeit ein Kind auszutragen und solange ihre Arbeit nicht unter dem Kind litt, dürften beide bleiben. Das hatte Gera sehr erleichtert.

Den Brief an ihren Vater hatte sie dennoch am selben Tag in den Ofen geworfen. Und einen neuen geschrieben. Den hatte sie einigen Händlern mitgegeben, damit sie ihn an ihrer Statt aufgeben sollten. In Elenvina. So würde ihr Vater nicht wissen, wo sie war.

Sie dachte an ihn, während sie in den Wehen lag. Ise war bei ihr und einige der Mägde. Was ihr Vater sagen würde? Wie sehr er sich schämen würde. Für sie. Für die Familie. Es war die richtige Entscheidung gewesen. Mit einem letzten Schrei presste sie ihr Kind ins Leben. Es war ein gesundes Baby. Ein Junge. Sie wollte ihn Milian nennen. Sie drückte ihn an sich. An ihre Brust. Und wollte ihn nie wieder loslassen. Als diese Gefühle sie durchströmten, dachte sie traurig an ihre Mutter und schämte sich, weil sie nun nachvollziehen konnte, was sie ihrem Vater angetan haben musste. Tränen traten in ihre Augen. Sie würde ihn niemals wiedersehen. Wie nah Glück und Trauer doch aneinander lagen.

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„Ein Brief aus Elenvina? Für mich?“, ungläubig blicke er Basilissa an. Die junge Frau lächelte ihn freundlich an. „So wahr ich hier stehe“, sagte sie und reichte ihm das Schreiben. Sie war selbst gerade erst von ihrer Ausbildung in Gratenfels zurückgekehrt und hatte beschlossen in ihrem Heimatdorf ein eigenes kleines Kontor zu eröffnen. Mit dem richtigen Mann an ihrer Seite könnte sie vielleicht sogar eine Handelsdynastie gründen. „Einer meiner Lieferanten hat ihn mir mitgebracht und da dachte ich, ich bringe ihn gleich vorbei“, plauderte sie, „Ich hoffe es sind nur gute Nachrichten.“ Sie verabschiedete sich nach einer kleinen Weile. Maldoram ging ins Haus und betrachtete den Brief. Er war einfach verklebt und ungesiegelt. Wen kannte er, der ihm auf diese Weise eine Nachricht zukommen ließ? …

Langsam segelte der Brief zu Boden. Der Ritter fühlte sich elend. Er glaubte jemand hätte eine eiskalte Faust in seinen Bauch gerammt und würde nun seine Organe einzeln zerquetschen. Er ging in die Küche und nahm sich dort einen Krug Axtschlag, den er eigentlich für besondere Gäste aufgehoben hatte, ohne Ivette auch nur eines Blickes zu würdigen ging er in seine Kammer und leerte ihn dort, während er immer wieder den Brief las, zerknüllte, durch den Raum warf und dann wieder las. Irgendwann übermannte ihn der Alkohol und er schlief ein.

Sommer 1013

„Was?“ Gera sah die Lehnsinhaberin entsetzt an. Ihr Kopf wurde knallrot. „Habe ich nicht recht?“ Die Stimme der Albernierin klang hart. Die junge Frau senkte den Blick, suchte nach einer Antwort. Einer, die all die Vermutungen entkräften und eine stimmige Erklärung abgab. So sehr sie sich aber mühte, um so mehr füllte sich ihr Haupt mit Leere. Drückender Leere. Und dem Keim von Angst. Ihr Sohn. Konnte man ihn ihr nehmen? Konnte man sie beide rauswerfen?

„Mädchen glaubst du, ich würde meinen eigenen Enkelsohn nicht erkennen? Er mag dir ähneln. Doch die Ähnlichkeit zu Merkan ist gleichfalls unverkennbar….. Zumindest für seine Mutter.“ Miranee hatte seit einigen Monaten den Verdacht gehegt und den kleinen blonden Jungen heimlich sehr genau beobachtet. Letztlich war es ein unbestimmtes Gefühl, das sie veranlasste, das junge Mädchen auf ihren Verdacht anzusprechen. Und die Reaktion Geras bestätigte alles, was sie befürchtet hatte. Mit gerunzelter Stirn musterte sie nun das Kind mit den langen, blonden Haaren. Sie war hübsch, wenngleich nicht so offenkundig wie andere es waren, denen Männer verfielen.

„Du bist zu gebildet um ein einfaches Bauernkind zu sein. Das wusste ich gleich. Eine Freie. Aus gutem Elternhaus.“ Sie machte eine Pause und musterte mit ihren blauen, eisigen Augen die Mutter ihres Enkelsohns. „Möchtest du mir nun endlich sagen, wie dein vollständiger Name ist? Womöglich kann man eine … Einigung erzielen?“ Womöglich sah nur sie es bereits jetzt, aber es war sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis es auch anderen auffiel. Und auf diesen Tratsch konnte sie gut verzichten. Sie schüttelte missbilligend den Kopf. Wie konnte Merkan nur so dumm sein… Im Horasreich. Ja, da hätte er sich verausgaben können. Aber zuhause.

„Können.. wir nicht… tun als sei es …“ Die Stimme Geras brach. Die Angst stach aus ihrer Stimme. Die elegante Dame, die oft so deplatziert wirkte, wenn sie über das Gestüt wachte, seufzte. Man konnte immerhin sicher sein, dass dieses Baby nicht aus Raffsucht gezeugt worden war. „Nein.“ War die schlichte Antwort.

Frühjahr 1013

Wütend sah sie das Gesicht des jungen Mannes an. „Es ist wahr.“ Sagte er schlicht. Seine Stimme vibrierte vor Zorn. Er hatte ihre Handgelenke gepackt, um sie zu hindern zu fliehen. Es schmerzte, aber trotzig erduldete Gera die Schmerzen. „Ja“ Wut schwang nun auch in ihrer Stimme mit. Er hatte sie abgepasst, als sie alleine auf der weiten, hinteren Weide nach einem Jungpferd suchte, das sich vermutlich verletzt hatte. Sein Griff wurde noch härter und seine Wangen färbten sich in ein tiefes Rot. „Rahjalieb. Ich hatte es dir deutlich gesagt.“ Schrie er sie erbost an: „Ich hätte es mir auch anders gewünscht.“ Brüllte sie zurück, versuchte sich erneut loszureissen. Ohne Erfolg. Der Griff seiner Waffenarme war unerbittlich. „Ich verabscheue Menschen wie dich. Menschen die freiwillig lernen, zu töten. Die sich daran ergötzen, andere bluten zu lassen.“ Gera spürte ihre Hände kaum noch. „Ihnen Schmerzen zuzufügen.“ Wütend spie sie dem Mann, zu dem sie sich so hingezogen gefühlt hatte, ihre Wut entgegen. Zorn geboren aus Angst, die mächtige Familie würde ihr ihren Sohn wegnehmen. Sie hinauswerfen und ihn in Rickenbach behalten. „Glaub nicht, dass ich es darauf angelegt hatte, ausgerechnet mit jemandem wie dir ein Kind zu bekommen!“. „Und ich verabscheue, Lügnerinnen. Heuchlerische Metzen.“ Mit einem Ruck stiess er sie von sich. Sein Herz raste wie verrückt.

Der Brief seiner Mutter hatte ihn erreicht, Monde nachdem die ihn abgeschickt hatte. Wäre er ehrlich zu sich selbst, würde er sich eingestehen, froh gewesen zu sein, einen Grund zu haben zurück in die Nordmarken zu kommen. Rajodan war mit ihm gekommen. Er hatte vor einiger Zeit eine schöne, junge Nordmärkerin kennengelernt und wollte in ihrer Heimat um sie werben. Es war Zeit für den Baronet eine Frau zu finden und die Dynastie zu sichern. Das hatte Merkan für seine Familie nun ja bereits erledigt, dachte der junge Mann säuerlich.

Gera konnte dem Stoß des Mannes nichts entgegensetzen, und fiel nach hinten. Die tauben Handgelenke bewegungsunfähig. Also blieb ihr nichts, als sich seitlich abzurollen. Sie krachte schmerzhaft auf ihre Schulter. Beißende Stiche bohrten sich in Oberarm, Brust und Hals. Raubten ihr kurz den Atem. Der Groll allein liess sie ihren Körper aufrichten und Merkan böse anblitzen. „Brutaler Haudrauf. Hoffen kann man nur, dass Milian nicht allzuviel von dir mit bekommen hat.“ Der Angesprochene bemerkte in seiner Rage nicht, dass er das junge Mädchen verletzt hatte. Er deutete mit ausgestrecktem Finger auf die am Boden Sitzende. „Und wag es dich, mit meinem Kind irgendwo hin zu gehen. Fort. Von. Hier.“ Damit drehte er sich um und liess sie zurück. Mit all ihrer Wut. All ihrem Zorn. Ihrer Angst. Ihren Zweifeln. Ihrem Schmerz. Und ihren langsam aufsteigenden Tränen.

Sommer 1017

Milian und Lupius tobten über den Innenhof des Gestüts. Gekonnt schlugen sie Haken um die Pferdeleiber, die man zum Satteln dort hingeführt hatte. Der blonde Schopf ihres Sohnes wippte beim Laufen auf und ab, neben ihm die dunklen Locken seines Vetters. Jeder wusste es. Jeder wusste, wer Milians Vater war. Der Junge hatte zuviel von dem Ritter, als das man seine Verwandtschaft hätte verheimlichen können, selbst wenn man gewollt hätte.

Hohn und Spott seitens des Gesindes waren weitestgehend ausgeblieben. Miranee ni Bennain hatte mit wenigen Blicken klar gemacht, dass sie so etwas nicht dulden würde. Auch wenn die blonde Albernierin mit ihren kalten, blauen Augen oft distanziert wirkte, löste sich diese Haltung, wenn ihre Enkelkinder in der Nähe waren. Die drei Kinder ihrer zweitältesten Tochter hatten einen besonderen Platz im Herzen der Hochadeligen, die so oft deplatziert wirkte, wenn sie über die Koppeln strich. Und auch Milian hatte ihr Herz im Sturm erobert. Geras kleiner Sohn war charmant und scheinbar ohne Scheu vor Menschen. Sein Einzig vor dem Sohn seiner Großmutter hatte er Respekt. Der aschblonde Mann, der ihm selbst in den Gesichtszügen so ähnelte, ängstigte den kleinen Jungen. Selten hatte der Mann mehr als harsche Worte für das Kind übrig.

Merkan konnte es selbst nach den Jahren, in denen er nun wieder in Rickenbach lebte, kaum fassen, dass dieses Kind seines sein sollte. Dass es so war, war kaum zu übersehen. Er aber sah nur Gera in dem Kleinen. Ihre blauen Augen strahlten ihm jeden Tag aus seinem eigenen Gesicht entgegen. Und das war mehr als… gruselig… die Zuneigung, die er für Milian empfand machte ihm zusätzlich Angst. Seine Mutter, die aus irgendeinem Grund überzeugt war, dass Gera dem Adel entstammte, forderte immer hartnäckiger die Legitimierung des Kindes. Merkan habe ja scheinbar ohnehin keinerlei Interesse an einer traviagefälligen Eheschliessung, so dass sie wohl seinerseits auf keinerlei weitere Enkelkinder hoffen konnte. Womöglich hatte die Mutter des jungen Ritters auch die sehnsüchtigen Blicke ihres Sohnes bemerkt, die er immer wieder der erblühten, jungen Frau zuwarf.

Merkan selbst verdrängte den eigentlichen Grund, weswegen er bei jedem Käufer, der mit der jungen Zureiterin sprach, hektische Gründe fand, sich in ihrer Nähe zu postieren. Gera hingegen suchte alles dies zu verhindern. Sie fürchtete den Tag, an dem jemand sie erkannte. Und der Kontrollzwang des neuen Gestütsverwalters war ihr lästig und machte sie auch wütend. Immerhin – er war wesentlich kompetenter als sein trunksüchtiger Vorgänger. Dennoch. Er untergrub ihre Autorität und das störte sie. Sie hatte sich hier in Rickenbach etwas aufgebaut. Nur aus ihrem Können heraus. Ihre Fähigkeiten in der Heilkunde waren so gern gesehen und angenommen worden, dass sie einen kleinen Schuppen zugewiesen bekommen hatte, wo sie Kräuter trocknen und verarbeiten konnte. Der Geruch nach Salbei und Lavendel lag seit einigen Sommern darüber, wenn sie Salben für die Pferde herstellte. Und seit die kleine Imma geboren worden war, rührte sie dort auch für das brünette Mädchen Salben zusammen. Es hatte etwas gedauert, bis sie die richtige Zusammensetzung aller Kräuter und Tinkturen ausgetüftelt hatte. Doch seitdem war es ihr zu einer angenehmen Routine geworden dem Kind die Schmerzen zu nehmen, die es wegen ihres kaputten Fußes ertragen musste. Wenn Imma ihr entgegen lachte, fühlte sie stets einen kleinen Stich im Herzen, denn sie hatte dieselben grünen Augen wie ihr Großvater und ihr Onkel. Sie grün wie die Eisensteiner Wälder im Frühjahr, mit diesem besonderen Funkeln, wenn sich ein Lächeln hineinstahl.

Das Rickenbacher Dorffest stand an. Wie jedes Jahr. Es wurde gefeiert. Es wurde getanzt. Aufgespielt. Getrunken. Die ganze Dorfgemeinschaft freute sich das gesamte Jahr darauf, dass die Tage anbrachen. Und zehn Monate später war Gera stets beschäftigter als sonst, denn Hebammen und Geweihte suchten sie um Unterstützung an.

Das Gesinde fuhr gemeinsam auf einem Wagen zum Dorfplatz, während Merkan hinterher ritt. Seine Mutter entzog sich dem proletarischen Treiben stets elegant. Sie fand sich für den ersten Tanz ein, trank ein Glas Wein aus der Rickenbacher Winzerei und zog sich dann in die Burg zurück. Wie stets nahm sie die kleinen Kinder mit, die auf der Hyndansburg bestens versorgt und betreut wurden. Auch in diesem Jahr waren Tempel und Dorfplatz besonders schön geschmückt worden. Der Perainetempel und die angrenzten Häuser waren mit bunten Blumengirlanden geziert und in duftende Öle eingelegte Kerzen standen in den Fenstern bereit. Sie würden entzündet, sobald die Sonne hinter den Hügeln veschwunden wäre. Und es dauerte nicht lange, da war Gera betrunken. Nicht allzu sehr. Aber ausreichend, um dem Vater ihres Kindes einen längeren Blick zuzuwerfen. Der hatte nicht viel weniger getrunken und ein breites Lächeln zog sich über seine Züge. „Wollen wir tanzen?“ fragte er grinsend. Und noch ehe sie eine Antwort geben konnte, hatte er ihre Hand gegriffen und sie zu sich gezogen. Die halbe Nacht tanzten sie, Lied um Lied. Nicht einmal um der angenehmen Dumpfheit des Betütteltseins Futter zu geben, liessen sich beide los. Als hätten sie Angst, dass sie sich –einmal getrennt- nicht an demselben Punkt wiederfinden würden, der sie nun so warm und weich umhüllte. Und sie blieb am Ende der Nacht nicht mehr übrig vom Betrunken sein, nicht mehr blieb als das Gefühl bei dem Menschen zu sein, bei dem man sein wollte.

-- Main.CatrinGrunewald - 04 Feb 2020