Totenfest

Erzählung aus der Lichtkarz
(Orgils Heim, Gratenfels)


'Nebelmond' nennt man den Monat des Boron zuweilen, auch wenn es doch Phex sein soll, der Nebliges liebt. Mit Nebeln begann auch der erste Tag jenes Boronmonds, in dem diese Geschichte sich zutrug. Hellgraue Schleier trübten den Blick, dämpften die bunten Farben des Herbstes, wehten über Weg und Steg, und wer unterwegs war, spürte ihre Feuchtigkeit, wie von einem leichten Nieselregen.

Gunelde soll die Frau geheißen haben, von der ich erzählen will. Bleiben wir dabei. – Gunelde war auf dem Weg zur Nekropole, dem großen Boronanger bei den Salzbingenbergen nahe Kleinbürgen. Schon ihre Vorfahren ruhten dort, niemand wußte genau, wieviele Generationen. Es gab keine große Gruft mit Aufbauten, womöglich gar einer Kapelle, und wahrscheinlich war die Grablege der Familie schon mehrmals verlagert worden. Aber eine hölzerne Stele, geölt und geteert, um der Witterung zu trotzen, und gekrönt von einem schmiedeeisernen Boronsrad, stand inmitten der alten eingesunkenen und neueren, noch aufgewölbten Gräber. Alle zusammen umgab eine kniehohe, selten beschnittene Hecke aus Efeu.

Jedes Jahr am Totenfest pilgerte die Familie zu den Gräbern, brachte Kerzen, Herbstblumen, dazu kleine Kuchen, die sie in eine Schale am Fuß der Stele legte, und ganze Imbißkörbe mit, die sie in einem gemeinsamen Gedenk-Mahl leerte. Andere Familien hielten es ähnlich, wieder andere brachten nur Kerzen oder Blumen, standen schweigend oder betend an den Gräbern ihrer Verblichenen, oder sie zündeten zu Hause Lichter für sie an, legten beim Abendbrot noch einmal ein Gedeck für jüngst Verstorbene auf.

Gunelde ging in diesem Jahr allein. Ihre Eltern waren schon lange tot, drei ihrer Kinder hatten in den letzten Jahren ihren Platz bei der Stele gefunden, die zwei, von denen sie hoffte, daß sie noch lebten, waren weit fort, und vor einem dreiviertel Jahr hatte sie ihren Mann auf den Boronanger gebracht. Nicht nur die Nebel trübten ihren Blick und schlugen sich als Tropfen auf ihrem Gesicht nieder. Von dem Essen, das sie mitgebacht hatte, legte sie mehr auf die Gräber, als sie selber aß, vom Wein goß sie mehr auf die Erde, als sie selber trank. Wie von sehr weit fort hörte sie das Plaudern, ja Lachen anderer Familien, die heitere Erinnerungen an ihre Verstorbenen austauschten, von irgendwoher auch mehrstimmigen, etwas schrägen Gesang. Dann zogen die Nebel noch dichter auf und dämpften Plaudern, Lachen und Gesänge immer weiter, bis alles still war um sie herum.

Da formte sich im Nebel eine Gestalt, ein dunkelgrauer Schatten im Hellgrau, ein wenig dichter als die Schwaden, ein wenig fester vielleicht. Eine Nachbarin, um ihr Beileid zu bekunden? Ein anderer Trauernder, der um Feuer für seine Kerze bitten wollte? Aber niemand trat aus dem Nebel heraus, niemand sprach Gunelde an, nur näher kam die Gestalt, ganz nah ...

Klamme Kälte umfing Gunelde, aber sie spürte sie kaum, denn Hoffnung machte ihr warm. Leise sagte sie den Namen ihres Mannes, fragend erst, dann freudig. – Doch die rechtschaffenen Toten kehren nicht zurück. In Frieden ruhen sie in Borons Reich, der Schmerz derer, die sie zurückließen, rührt sie nicht mehr, und wenn doch, so verwehrt ihnen der Hüter der Seelen, den noch Lebenden Kunde zu bringen vom Jenseits oder auch nur einen kleinen Trost.

Was da kam, streckte Schattenarme nach Gunelde aus – knöcherne Klauen? Jetzt noch im Nebel verborgen, aber gleich ... gleich ...?

Doch Gunelde fürchtete den Tod nicht mehr, noch weniger die Toten. Nur eine letzte kleine Scheu hielt sie zurück, sich dem Schatten in die Arme zu werfen, vielleicht, weil der Besucher sich noch nicht zu erkennen gegeben hatte. Doch sie reichte ihm Wein, und der Schatten nahm den Becher und trank. Sie reichte ihm Brot und ein Stück Pastete, und der Schatten nahm alles an und in sich auf. Dann griff er nach der Kerze, die auf dem Grab brannte, und löschte sie aus.

An etwas Glut, die sie sich für diesen Zweck mitgenommen hatte, entzündete Gunelde die Kerze erneut, steckte sie zurück in die Erde. Wieder griffen die Schattenhände danach – und die Flamme verlosch.

Geduldig zündete Gunelde die Kerze abermals an ...

So ging es fort, bis Gunelde die Kerze ein fünftes Mal entzündet hatte.

Wieder griff der Schatten danach. Die Flamme flackerte, wie unter einem Lufthauch, doch brannte sie weiter. Finger aus Dunkelheit umfingen das Wachs, hoben die Kerze aus der Erde, ihr Licht beleuchtete wenig mehr als den Nebel ringsum und Guneldes Gesicht. Dunkelheit griff nach ihren Händen, kalt wie die Hand eines Toten, hoben sie an Lippen, die längst vergangen waren, ließen sie wieder sinken, kalt, doch unversehrt.

Die Nebel ringsum hatten begonnen zu wirbeln, um ein Loch herum, einen Tunnel. In diesen hielt der Schatten die Kerze, rauchig weiß leuchteten die Nebelwände. Ein wenig niedriger: da war ein Weg, wie aus Wolken geformt. Noch zögernd setzte der Schatten einen Fuß hinein. Wagte einen weiteren Schritt. Einen nächsten.

"Gehst nun auch du?", fragte Gunelde leise und schickte sich an zu folgen.

Da verharrte der Schatten, wandte sich noch einmal um, streckte ihr die freie Hand entgegen, nicht heischend diesmal oder dankend, sondern in Abwehr.

Durch den Nebel ging ein Lufthauch, strich durch Efeu an den Gräbern, wehte Laub eines nahen Baumes vor Gunelde ins Gras, und im Rascheln meinte sie zu verstehen: 'Noch nicht! Noch nicht!'

So blieb sie, wo sie war, sah dem Schatten nach, der in noch tieferem Dunkel verschwand, dunkler als jedes Schwarz. Nur das Licht der Kerze leuchtete noch eine Weile heraus, bald nur noch ein Funke, ein Lichtpunkt, schließlich nicht mehr als eine Erinnerung, die sich verlor.

Lange stand Gunelde noch da, auch als die Nebel sich auflösten und der Mond hinter den Wolken hervorkam, ihr die klamme Kälte in die Kleider kroch, die Füße taub wurden.

"Gunelde! Du hast ja gar kein Licht! Komm mit uns, wir gehen jetzt heim!" Nachbarn riefen sie so, und Gunelde nahm den leeren Krug, den leeren Korb, den Glutbehälter, in dem nur noch warme Asche lag, – die Kerze war fort – und kehrte mit ihren Nachbarn zurück ins Dorf.

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(C) fs, 11/2023