Tiergefährten - Kapitel 4

Spurensuche

Kapitel 4 der Briefspielgeschichte Tiergefährten

Bedächtig nickte Mafaldo. “Es gibt einen Wächter, der das Tor zu unserer und dieser Welt bewacht. Sein Name ist Salgar und er gehört zu den Dryaden. Ich vermute, er ist derjenige, der die Menschenfrau mit dem Kind und eure Gefährtin”, damit blickte er auf Akka,” mitgenommen hat. Zu meiner Enttäuschung sehe ich ihn hier nicht. Ich kann von Glück sagen, dass ihr zahlreich meinem Hilferuf gefolgt seid, so könnte die Suche schneller gehen.” Dann wanderte sein Blick zu den anderen Rabenmännern. “Es gibt nur drei Orte wo er sein kann: Bei Hofe der Lilienkönigin, bei der Schmiede der Biestinger oder am See des Lebens. Ich schlage vor, wir bilden Gruppen und versuchen eine Spur oder die Vermissten zu finden. Ich werde zum See des Lebens gehen und dort jemanden um Rat fragen. Corax, du gehst zur Königin und du, Caligo, zur Schmiede.” Dann wandte er sich wieder zu den anderen. “Wem möchtet ihr euch anschließen?”

Das junge Mädchen, das ihre Aufregung nicht verbergen konnte, tänzelte und wippte auf der Stelle, ihr Kopf mit den weit aufgerissenen Augen wandte sich ruckartig und nacheinander jedem der drei Raben zu. Alle drei Orte klangen so aufregend, so interessant! Sie konnte nur zu dem einen gehen. Als sich die Gänsefrau und der Krötenmann Mafaldo anschloss, reduzierte Tharga ihre Auswahl, doch ihre Aufregung wurde deswegen nicht geringer. Biestinger? Lilienkönigin? Biestinger? Lilienkönigin? Sie verspürte einen unbändigen Bewegungsdrang, um den Stress, den ihr diese Entscheidung abnötigte, abzubauen. Noch immer ruckte ihr Kopf unentschlossen zwischen Corax und Caligo hin und her.

Dem wortkargen Rotlöckchen stand nicht der Sinn nach allzu viel Gesellschaft, weshalb der Hof dieser Lilienkönigin ihn nicht wirklich reizte. Ja, er kannte diese sogenannten ´Höfe´ - immer voll mit Zweibeinern und immer musste er für Frenya seine acht Augen offen halten. Meist saß er dabei in einem dunklen Winkel, oder an der Decke, während sie mit anderen Zweibeinern sprach, für die sie nichts als Verachtung übrig hatte. Jetzt, da Rotlöckchen selbst als Zweibeiner ausharren musste, würde er die Gelegenheit nutzen und jenen Ort wählen, der am unscheinbarsten war. Eine Schmiede … hm … wenigstens war es dort warm.

Aslan war dabei aus einem anderen Holz geschnitzt. Er war zwar keine dieser jämmerlich verweichlichten Hauskatzen, doch störte er sich an der Gesellschaft anderer nicht. Außer sie machten ihm seine Beute streitig … oder störten seinen Schlaf, wie diese schnatternden Gänse zuvor. Nun da er aber schon einmal in dieser Welt war, konnte er sich ja auch amüsieren. Und wo ginge das besser als am Hofe einer Königin. Dass es eigentlich darum ging diesen Hüter Salgar zu finden, um auf die Spur der Zweibeiner-Frau mit dem Welpen zu gelangen, schien der selbstsüchtige Kater bereits ausgeblendet zu haben.

Ein leichtes Zucken der Hand Akkas in der ihren verriet Relindis, wohin es die menschgewordene junge Gans sofort zog. An welchen Ort unter den drei genannten würde eine wohlmeinende Kreatur, die sich der Neuankömmlinge in ihrer Welt annahm, eine Menschenfrau mit ihrem Küken und eine Gans wohl eher führen als an einen See, der sich See des Lebens nannte. In diesem Namen schwang soviel Verheißung, dass sich Akka versprach, dort auch die Verschwundenen wiederzufinden. Oder wenigstens eine Spur zu diesen.

Auch Relindis lockte bereits der Klang dieses Ortes. Da sie darüber hinaus keine Anhaltspunkte dafür sah, dass einer der anderen Ort vielversprechender wäre, und sie ohnehin so viele waren, dass sie sich aufteilen und an allen der genannten Orte nachsehen konnten, ließ sich die junge Geweihte bereitwillig von Akka, die ihr unter all den fremden Tieren nicht nur am vertrautesten war, sondern wie ein Fingerzeig ihrer Göttin erschien, in Richtung Mafaldos ziehen.
So menschenähnlich die Gestalt Akkas auch geworden war, so watschelnd war - nicht nur den Schwimmhäuten zwischen ihren Zehen geschuldet - noch immer ihr Gang, bei dem ihr ganzes Hinterteil geradezu aufreizend hin und her wackelte. Was viele Menschen sicherlich belustigt hätte, kam Relindis in diesem Augenblick und in dieser fremdartigen Welt aber ganz selbstverständlich und natürlich vor.
Sie machte sich eher Gedanken, was es mit jenem Kinde auf sich hatte, das sie so gar nicht einordnen konnte. Wahrscheinlich war es in Not oder gar Gefahr gewesen, und die herzensgute Elvrun hatte sich seiner, selbstlos wie sie war, angenommen. Und jetzt würden sie alle ihr helfen.
“Wir kommen mit Dir.” sprach Relindis Mafaldo an. Während sie kurz darauf warteten, wer sich ihnen noch anschließen würde, drängte bereits die erste Frage aus ihr an den Rabenmann heran: “Weißt Du, was geschehen ist, dass sich dieses Tor hierher geöffnet hat?”

“Der Wächter. Salgar, er kann es öffnen oder schließen.”, sagte er mit traurigen Blick.

So fremdartig ihr der Rabenmann auch erschien konnte Relindis doch den Schmerz in seinen Augen wahrnehmen. Was mochte nur geschehen sein? "Und weißt Du, warum Salgar das Tor geöffnet haben könnte?" fragte sie daher, ganz leise und behutsam nach. "Hat es etwas mit dem Kind zu tun, dessen sich meine Schwester im Glauben angenommen hat?"

“Sie war traurig. Das konnte ich spüren. Dryaden sind sehr anfällig für Emotionen und können nicht anders, als ihren Launen zu folgen. Nur er kann uns sagen, warum er das Tor geöffnet hat.”

"Traurig..." wiederholte Relindis nachdenklich, ihren Blick in die Ferne schweifend. "Sicher des Kindes wegen. Was mag diesem nur zugestoßen sein?" fragte sie mehr sich selbst als den Rabenmann. Elvruns mitfühlendes Wesen war in der Tat nicht zu übertreffen - wenn das Leid eines Kindes selbst am Tage ihrer eigenen Hochzeit solch starke Empfindungen bei ihr auslösen konnte...
Sie merkte auf, als der glubschäugig-warzige Onyx, der so eigentümlich duftete, angewatschelt kam.
Akka hatte derweil bereits registriert, dass der Schwarm sich in drei saubere Rotten geordnet hatte. "Wollen wir? Wollen wir? Wo lang? Wo lang?" schnatterte sie in Menschenzunge vor sich hin, ihre Augen auffordernd auf den Leitvogel gerichtet.

“Lilienkönigin, Lilienkönigin!” posaunte Maya prompt heraus und meldete sich eifrig. “Ich will zur Lilienkönigin!” bekräftigte sie noch mal und ihre Flügel vibrierten aufgeregt. “Ich bin dabei!” Schließlich waren Lilien wunderschöne Blumen mit leckeren Pollen, dachte Maya. Und von einer Königin hatte sie ja auch schonmal etwas mitbekommen. Diese Honigbienen und auch die Hummeln waren immer ganz verrückt nach dieser Königin, auch wenn Maya diese noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Kurz überlegte sie, ob das vielleicht sogar ein und dieselbe Königin sein könnte, oder gab es mehr als nur eine? So viele faszinierende Fragen...
Gespannt überlegte Maya, was sie wohl von der Königin halten würde, wenn sie dieser tatsächlich begegnete. Ob sie genauso begeistert sein würde wie diese Honigbienen immer erzählten?

Die noch immer unentschlossene Tharga sah sich durch Mayas Entscheidung vor vollendete Tatsachen gestellt - zu ihrer Erleichterung, da sie selbst nicht wirklich entscheidungsfreudig war. Ihre Intelligenz ließ sie erkennen, dass eines der Rudel - jenes, das zu den Biestingern ging - kleiner war als die anderen. Gerne hätte sie die Lilienkönigin gesehen und ihren Hof, ihre neue Freundin Maya begleitet, doch nun waren es wohl die Biestinger, zu denen ihr Weg sie führte.
Nun, Biestinger, das klang gefährlich. Vielleicht würden ihr Kampfesmut, ihre scharfen Zähne dort dringender gebraucht werden!

Gerne hätte Onyx Maya begleitet. Mit unergründlich nichtssagendem Blick schob er seine Zunge im Mund hin und her. Er hatte Hunger und Wasser war behaglich. “Ich komme auch zum See mit.” Wie sehr vermisste er seine Herrin. Sie war ein einfaches Bauernmädchen und verstand ihn einfach. Dieser Trupp war entweder zu hektisch, zu eingebildet oder beides. Bedächtig wankte Onyx zu Mafaldo.

“Wann gehts los, wann gehts los?”, wandte sich die noch immer auf der Stelle wippende Tharga mit begeistertem Gesicht an den alten Albino.

“Hihihi”, kicherte der Alte und tätschelte die Stirn des ungeduldigen Mädchens. So hatte er es des öfteren bei den Menschen gesehen. “Aber, aber nur nicht so ungeduldig. Zunächst einmal musst Du die richtige Gruppe finden”, er deutete auf den Rabenmann mit den breiten Schultern und den grünlich schillernden Federn, “dort steht Dein Begleiter. Ich werde mit Aslan und Maya zur Königin gehen. Caligo dort geht mit Dir und dem Geheimniskrämer zu den Biestingern. Aber ich habe eine Aufgabe für Dich. Möchtest Du eine Aufgabe haben?”

Tharga nickte eifrig, geradezu enthusiastisch.

“Vielleicht gelingt es Dir ja dem stummen Knaben seinen Namen zu entlocken. Es ist schon ziemlich unhöflich, sich nicht vorzustellen, findest Du nicht?”

Kaum waren die Worte des Alten verklungen, lief Tharga - viel zu schnell - auf den jungen Mann mit der rotlockigen Mähne zu und kam vor ihm zu stehen. Sie stubste ihn mit einem Finger an die Schultern. “Hallo! Du, wie heißt Du? Ich heiße Tharga. Und Du?” Wieder wippte das Mädchen ungeduldig von Fersen auf Fußballen, wechselte die Position und lief vor dem jungen Mann auf und ab, ständig in Bewegung.

Ohne eine Regung auf seinem Gesicht musterte der junge Mann das aufgekratzte Mädchen. Erst wollte er diese Begegnung lediglich stumm aussitzen, doch würde sie das wohl nicht auf sich sitzen lassen. “Rotlöckchen nennt mich meine Gefährtin”, meinte der Rotgelockte deshalb knapp. “Du kommst auch mit zur Schmiede?” Insgeheim hoffte er auf eine Verneinung, erhielt jedoch ein enthusiastisches Nicken zur Antwort.

Dann drehte sich Tharga zu Corax um und rief über die ganze Wiese hinweg: “Er heißt Rotlöckchen! Geht’s jetzt los?”

Die schwarzen Augen des Rothaarigen lagen auf dem Mädchen. Wäre er nicht kalt und gefühllos, wie Spinnen nun einmal waren, es wäre ihm ein Seufzen entkommen. So nahm er die Präsenz dieses Energiebündels lediglich stoisch hin.

“Ja, Tharga, jetzt geht´s los”, nickte der Alte, breitete seine Flügel aus, um sie auszuschütteln und bot Maya seinen Arm an: “Herr Aslan, Frau Maya, hier geht´s lang.” Nach ein paar Schritten blieb er dann stehen, blinzelte und meinte: “Dummerchen! Das ist doch der Weg zum See. Wir müssen dort lang.” Er wechselte die Richtung und führte die beiden auf den Pfad zum Hof der Lilienkönigin.

Caligo betrachtete derweil den hübschen, aber auch langweiligen Knaben und das hyperaktive Mädchen. Man konnte deutlich das `Warum ich?` sehen, das durch seinen Kopf raste. Mit einem leisen Seufzen drehte er sich um und sagte, ohne sich zu den beiden umzudrehen: “Zur Schmiede geht´s hier lang.” Dann ging er los, ohne abzuwarten, ob die beiden ihm folgen würden.

“Na dann … keine Müdigkeit vorschützen …”, Aslan grinste zufrieden, “... lassen wir die Lilienkönigin nicht warten.” Ja, das gefiel dem geltungssüchtigen Kater. Der Hof einer Königin war für ihn angemessen, wie er befand. Hoffentlich gab es dort auch was anständiges zu essen.

Rotlöckchen hingegen wirkte eher weniger begeistert, wenn man aus seinem Antlitz überhaupt etwas abzulesen vermochte. Er beschränkte sich auf ein knappes Nicken und folgte dann Caligo.

Es dauerte nicht lange, da hatte Tharga ebenfalls zum Raben aufgeschlossen und wurde nicht müde, ihm Fragen zu stellen, gleich darauf vorauszueilen, um den Weg zu erkunden, und dann wieder zurückzukehren um die nächste Auskunft einzuholen. Es war unübersehbar, dass das Mädchen sich auf die Aufgabe freute, die ihr gestellt worden war, aber gleichzeitig viele Gedanken dazu anstellte, die sie zum Leidwesen ihrer Begleiter sogleich mit diesen teilte. Als die Antworten, die sie erhielt, immer einsilbiger wurden, begann sie ihrerseits aus ihrem Leben zu berichten, das ganz offensichtlich bisher nur sehr kurz gewesen und sehr insignifikant verlaufen war.

‘Nun gut, es geht wirklich los’, dachte Maya und spürte, wie ihr Herz aufgeregt zu pochen begann. Mit einem freudigen Lächeln winkte sie Tharga zum Abschied. “Wir sehen uns sicher bald wieder, liebe Tharga!”, rief sie ihrer Freundin hinterher.
Dann drehte sie sich um, streckte den Arm in Richtung des ihr unbekannten Ziels aus und verkündete lauthals: “Lilienkönigin voraus!” Mit eiligem Schritt, welcher durchaus einige Hüpfer beinhaltete, begann sie Corax und Aslan zu folgen. Ohne dass sie es bewusst wahrnahm, summte sie wieder eine kleine Melodie vor sich hin...

Am Hofe der Lilienkönigin

(Corax, Aslan, Maya)


Am See des Lebens

(Mafaldo, Onyx, Relindis, Akka)


Die Schmiede der Biestinger

(Caligo, Rotlöckchen, Tharga)