Nilsitz Jagd Nachtigall

Kapitel 19: Der Ruf der Nachtigall (8. Ingerimm) 

Der Ruf der Nachtigall

Mit jeder Stunde, die verging, wurde es anstrengender für sie. Die große Halle war erfüllt vom Lärm der Feiernden, und je weiter die Zeit voranschritt, desto lauter und eindringlicher wurden die Rufe, das Gelächter und sämtliche sonstigen Geräusche, die eine solche Zusammenkunft hervorbrachte. Zwei rüstige Angroschim in ihrer Nähe prosteten sich lautstark zu. Sie stießen ihre beiden Trinkhörner aneinander – bräunliches Bier schwappte über die Ränder und besudelte ihre Hände. Sie johlten vergnügt auf und raunzten sich etwas in der seltsam tiefen Sprache zu, die für Liana so fremd und dumpf klang. Die vielen Gespräche an den Tischen schienen ihr mehr und mehr wie das Summen eines Bienenschwarms in seinem Nest. Unnachgiebig drang all das an ihre empfindlichen, spitz zulaufenden Ohren. Irritierte sie. Strengte sie an. Das kontrastreiche Kaleidoskop von Gerüchen tat sein Übriges, ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Sinne zu benebeln. Etwa dieser furchtbare, vergorene und pappig riechende Gerstensaft, der hier in rauen Mengen floss. Oder Wein, dessen verdorbene Trauben säuerlich rochen und sich mit dem beißenden Gestank des Alkohols vermengten. Dazu noch schier unerträgliche Käselaibe, die aufgeschnitten umhergereicht wurden, gebratenes Fleisch, von dem das Fett troff, der Geruch von brennendem Holz, von Leder, Waffenfett und Schweiß – und allenthalben von verschiedenen Parfums, mit dem so manche Dame oder Herr versuchte, der Ausdünstungen des eigenen Körpers Herr zu werden und diese zu übertünchen. Liana kannte all das. Und sie besaß genug Selbstbeherrschung, um es bis zu einem gewissen Grad zu ertragen. Doch jetzt war es schlichtweg zu viel auf einmal. Die lauten Geräusche, das Summen des Bienenschwarms, die unangenehme Gerüche … schwerer und schwerer fiel es ihr, das auszuhalten. Sie hielt einen Moment inne und sammelte sich, darauf bedacht, sich nichts anmerken zu lassen. Und dennoch: In all diesem Chaos gewahrte sie mit einem weiteren ihrer Sinne – eher eine Art Gespür – etwas anderes. Etwas, das ihr Freude bereitete. Die Dame Morgenrot war sehr feinsinnig darin, solche Dinge zu erfassen, solche Empfindungen und Gefühle. Und wenn sie ihr gefielen, ließ sie sich auf ihre Weise gern darauf ein. Die Laune der Feiernden, ihre Euphorie, ihre Freude. Ihr Staunen, wenn sie der talentierten jungen Akrobatin zusahen und ihr begeistert zujubelten. Freundschaft und Verbundenheit, die sie pflegten – manche davon schon viele Jahrzehnte alt und so unverrückbar wie ein schwerer Stein, den man tief in die Erde gerammt hatte, auf dass er für die Ewigkeit das Fundament bilde für ein Haus. Die Ausgelassenheit, der sich die Gäste hingaben. All das nahm die Baronin von Rodaschquell in sich auf. Es ergriff sie. Und sie teilte es. Sie ließ ihren Blick schweifen über all die Menschen und all die Kinder des Berges, deren Gast sie heute war. Alteingesessene Adlige der umliegenden Baronien, rüstige Krieger der Angroschim, und all die vielen Mägde und Knechte … Sogar ihr missmutiger Vogt schien guter Dinge. Seine kleinen Augen glänzten, und ein gleichermaßen zufriedenes wie listiges Lächeln zeigte eine Seite an ihm, die kaum jemand kannte – es sei denn, er war soeben gehörig vom alten Korninger übers Ohr gehauen worden. Aber diesmal schien er einfach nur in ein Gespräch mit diesem garstigen, streitlustigen Trollpforzer vertieft. So sehr sie dieses Gefühl der Zufriedenheit auch genoss, ihre Ohren und vor allem ihre Nase verlangten flehentlich nach einem Augenblick der Ruhe und Klarheit. Sie drehte sich langsam, und unweigerlich fiel ihr Blick auf ihre treue Zofe, die Dame Malganahr. Eduina betrachtete ihre Herrin mit einem wissenden Lächeln. Schon seit einiger Zeit tat sie das. Ein Gesichtsausdruck, der gleichermaßen Güte wie Vorausahnung in sich vereinte. Noch ehe Liana etwas sagen konnte, erhob sich ihre Begleiterin: „Ich habe mich längst gefragt, wann Ihr zu viel von alledem hättet, Euer Hochgeboren.“ Schon oft hatte die Elfe sie gebeten, sie bei ihrem Namen zu nennen. Liana. Doch die unnachgiebige Edeldame aus Rommilys hatte dieses Ansinnen stets abgeschmettert. „Das schickt sich nicht für mich, Euer Hochgeboren“, war stets ihre Antwort, die so beiläufig und gutmütig-belehrend zu sagen pflegte wie Eltern, die ihrem Kind eine wichtige Regel erklären. Nun, es schien sich für sie aber offenbar sehr wohl zu schicken, der Baronin regelmäßig zuvorzukommen, wenn es ums Sprechen ging, dachte Liana amüsiert. Manche Edelhäuser hätten diese vorlaute Zofe längst vom Hof gejagt. Und schon mehrfach hatte das ein oder andere die Rodaschquellerin halb tadelnd, halb mitleidig gefragt, warum sie eben dies noch immer nicht getan habe. Nun, die Herrin von Rodaschquell war eben nicht wie andere Adlige … „Ich kann den Herrn Rondradin nicht sehen, oder Hochgeboren von Ambelmund. Wie schade. Wir wollten doch noch einige Weisen austauschen“, sagte Liana. „Ja, das ist bedauerlich, Euer Hochgeboren. Aber wenn Ihr Euch ins Musikzimmer begebt, mag es ja durchaus sein, dass der ein oder die andere Euch folgt.“ Es spielte keine Rolle für die Elfe. Sie sang nicht, um ein Publikum zu beeindrucken. Oder weil sie es irgendwem versprochen hätte. Sie sang, weil es für sie war, als würde sie Atem schöpfen. Sie schaute noch einmal lange in die laute Halle mit all ihren Feiernden. Sie ließ sich Zeit, kreuzte wohlwollend und freundlich den ein oder anderen Blick. Neigte hier und da noch einmal anmutig ihr Haupt. Ein Lächeln huschte kurz über ihre zarten Lippen. Langsam drehte sie sich um in Richtung der großen Pforte zur Halle und machte einige Schritte. Dann hielt sie inne. „In ein Zimmer hier in dieser Festung werden ich nicht gehen. Ich denke, draußen, etwas abseits, wäre ein viel besserer Ort." Eduina sah ihre Herrin mit schillernden Augen erneut mit diesem unverwechselbaren Blick an. Dieser Mischung aus Ergebenheit und Bewunderung, aber auch belehrend-herablassender Gutmütigkeit. „Ich weiß. Deswegen habe ich die Harfe schon vor einer Stunde ins Freie bringen lassen, an einen ruhigen, abgelegenen Platz am Waldrand. Wir warten nur noch auf Euch, Euer Hochgeboren.“

Während das Bankett in der Jagdhütte seinem Höhepunkt entgegen strebte und ein geselliger Abend seinen Lauf nahm, wartete Wunnemine von Fadersberg darauf, dass der Edle von Wasserthal wieder auftauchte - immerhin war sie trotz so manchen Trunkes und des langen Tages, der in ihren Knochen steckte, noch ihrer gestrigen Verabredung eingedenk. Der junge Rondrageweihte blieb jedoch spurlos verschwunden - hatte ihn etwa die Courage verlassen angesichts der erneuten gesanglichen Herausforderung? Nein, das glaubte sie nicht, zumal keinerlei Grund dazu bestand, wie er gestern bewiesen hatte. Wahrscheinlich waren die Jagd, die Begegnung mit dem Troll und die anstehende Vermählung ins Haus Rabenstein mehr als genügend Erlebnisse für einen Mann und einen Tag, so dass es nicht auch noch eines wein- und bierseligen Liederabends bedurfte. Rondradin hatte ihr vollstes Verständnis, und Unrecht war es ihr auch keineswegs, zumal auch die anderen vorgesehenen Teilnehmer nicht auf die Umsetzung der gestern gefassten Idee pochten. So prostete sie ihm, wo auch immer er war (wahrscheinlich von Borons Schlaf wohlig empfangen) mit ihrem letzten Becher im Stillen zu, leerte diesen und machte sich dann mit einem leichten Schwanken auf den Weg zu ihrem eigenen Zelt. Gerade wollte die Baronin von Ambelmund die Plane zu ihrer provisorische Unterkunft beiseite schlagen, um sich zur verdienten Ruhe zu betten, da vernahm sie leise Töne, die so gar nicht zum nächtlichen Zeltlager passen wollte. Es war der hohe, fast sphärische Klang einer Harfe, die unzweifelhaft von kundiger, wenn nicht gar meisterlicher Hand gezupft wurde und aus einer Richtung kam, die nicht mit der Jagdhütte übereinstimmte.  Wunnemine hielt inne und lauschte eine Weile, bis schließlich eine Stimme in die den Saiten des Instrumentes entlockten Musik einstimmte und mit ihr zu etwas… zauberhaften, etwas verzaubernden wurde. Es begann mit einem undeutbaren Gefühl tief in ihrem inneren und wurde zu einem Gedanken, einem Bild, einer Analogie, die Wunnemine mit dem verband das sie hörte:  Die Nachtigall rief. Hätte jemand zu dieser späten Stunde in ihr Antlitz gesehen, hätte dieser ein verklärtes Lächeln auf die sonst zuweilen hart blickenden Züge der Baronin treten sehen. Auf leisen Sohlen - jedenfalls so leise es ihr in ihrem Zustand noch möglich war - schlich sie, den Klängen folgend, in Richtung Waldrand. Keinesfalls wollte sie durch ein unbedachtes Geräusch die Magie dieses Augenblickes stören. Schemenhaft nur nahmen ihre Augen die Musizierenden in der Dunkelheit wahr, dafür aber weckten die Harfenklänge die farbigsten Bilder in ihr, während der Gesang Lianas ihr Herz in Schwingung versetzte. Langsam ließ sie sich ins Gras sinken, ohne allzusehr von der kühlen Nässe des Taus Notiz zu nehmen, der sich bereits darauf abgelagert hatte. In Andacht lauschend wurde sie von der Nachtigall über Wälder und Wiesen und das schlafende Land getragen.