Nilsitz Jagd Begruessung Durch Den Vogt

Kapitel 8: Begrüßung durch den Vogt (6. Ingerimm)

Ein neuer Morgen

Am Morgen des nächsten Tages war es dann soweit. Die offizielle Eröffnung der Feierlichkeiten stand an. Der Vogt von Nilsitz, welcher sich schon zuvor unter seine Gäste gemischt und mit einigen von ihnen gesprochen hatte, trat nun mit einem sehnigen, dünnen Mann, der wie ein Jäger gekleidet war, an den Rand der Lichtung, wo sich der Firun Schrein befand.  Borindarax, der Sohn des Barbaxosch, Urenkel des Mogmarog vom Eisenwald aus der Faxaraschsippe trug standesgemäß ein zwergisches, langes Kettenhemd und einen moosgrünen Wappenrock mit dem goldenen, steigenden Gebirgsbock Nilsitzs auf der Brust. Darüber lag die aus fingerdicken Eisenteilen zusammengefügte Amtskette.  Der große Mann, welcher sich an seiner Seite befand kaute nervös auf seinen Lippen, was nur unvollständig von seinem struppigen Vollbart verborgen wurde. Seine Haare glichen dem Bart, sie standen widerspenstig in alle Richtungen ab, so als hätte jeder Kamm längst verzweifelt aufgegeben. Die grünlichbraunen Augen blickten aufgeregt von einem Gast zum anderen. Er schien große Menschen- und Zwergenansammlungen wie diese nicht gewöhnt zu sein. Man könnte sich ihn an einem Lagerfeuer in der Wildnis vorstellen, oder auch in einer abgelegenen Herberge im tiefen Wald oder den Bergen. Dort würde er wahrscheinlich die Ruhe und Zuversicht ausstrahlen, die einem Geweihten der milden Herrin Ifirn für gewöhnlich gut zu Gesicht stand. Doch hier, bei einer solchen Feierlichkeit, fühlte er sich fehl am Platz. Zu viele Augenpaare, die sich auf ihn richteten. Daran konnte auch sein Gewand aus kunstfertig besticktem weißem Leder nichts ändern. Auch die Schwanenflügel, die er an einem Umhang festgenäht hatte und an seinem Rücken wie Flügel wirkten, sobald er die Arme hob, ließen ihn sich nicht ehrwürdig und erhaben fühlen. Aufgeregt nestelte er daher an seinem Jagdmesser an seinem Gürtel herum und prüfte sicher zum zehnten Mal, ob es noch da war. Doch die Aufmerksamkeit der Gäste wanderte schnell wieder zum Angroscho an der Seite des Geweihten, als dieser feierlich die Arme ausbreitete, um sodann das Wort an die Anwesenden zu richten. “Werte, hohe Herrschaften, Freunde, Brüder und Schwestern, es ist mir eine große Ehre und noch größere Freude euch alle zu meinen Gästen zählen zu dürfen. Die Anzahl der Zusagen hat mich überrascht, meine kühnsten Hoffnungen übertroffen und ich bin überwältigt euch alle hier versammelt zu sehen. Dies spricht dafür, dass das Thema, der Grund dieser Zusammenkunft viele bewegt, ihnen - euch - wichtig ist.“ Bei diesen Worten schweifte der Blick des Vogts fast schon ehrfürchtig über die Menge der Umstehenden, was eine kurze Pause entstehen ließ. "Mein ganz besonderer Dank gilt dem Sohn des Murgasch. Ohne sein Fachwissen, seinen Fleiß, seine Motivation und Detailversessenheit, wäre der Bau nicht möglich gewesen, nicht in dieser Art und Weise.  Gleichzeitig will ich mich aber bei Muragosch entschuldigen. Ich muss den versammelten, hohen Herrschaften gestehen ein anstrengender Bauherr gewesen zu sein. Gute Nerven seinerseits waren wohl obendrein dringend von Nöten.“ Borax schmunzelte ungeniert und nickte dem alten Baumeister zu, der unter den Zuhörern stand. Dieser winkte jedoch nur amüsiert unter einem kurzen Auflachen ab.  „Nicht vergessen werde ich zudem die unermüdliche Arbeit all der Handwerker“, fuhr der Vogt fort. „Sie haben über viele Monde mitgeholfen das Bauwerk neu zu erschaffen. Auch ihnen gebührt mein Dank.“  Wiederum ließ Borindarax von Nilsitz eine Pause entstehen, bevor er weitersprach. „Doch genug der vielen Worte. Heute Abend wird es hierzu noch ausreichend Gelegenheit geben. Nur eine Bitte habe ich: Vergesst eure Vorurteile und überwindet das, was vermeintlich zwischen euch steht - ganz im Sinne der Väter der Lex Zwergia, denn wegen ihr sind wir hier versammelt. Ohne sie gäbe es diese Nähe unserer Rassen nicht. Füllen wir sie mit neuem Leben und knüpfen wir neue Bande.“  Nach dieser knappen Begrüßung blickte Borindarax an seine Seite, wo der großgewachsene Geweihte stand.  “Ich möchte euch nun seine Gnaden, den Geweihten der milden Tochter des Weißen Mannes vorstellen, Bruder Mikail.  Ich lernte ihn auf einer bemerkenswerten Feier am Hofe des Barons von Eisenstein in Obena kennen.” Borindarax schmunzelte, offensichtlich kurz in Erinnerungen schwelgend. “Und schon damals bat ich ihn am heutigen Tag mein Gast zu sein und unserer Jagd seinen Segen zu geben. Vorher noch einige, kleine Hinweise. Wenn es jemandem von euch an etwas mangeln sollte, so lass es mich, oder das Personal wissen.  Nach der kleinen Messe wird es unter dem Geweih ein kleines, stärkendes Mahl geben.” Der Vogt deutete stolz zu dem großen Doppeltor der Jagdhütte, wo gerade erlesene Speisen und erfrischende Getränke, es gab auch ein großes, aufgebocktes Bierfass, aufgetragen wurden. “Danach werden alle Zeit finden ihre Zimmer zu beziehen, so sie dies noch nicht getan haben und Gelegenheit haben sich von der Anreise zu erholen. Platz für Zelte gibt es ausreichend am Rande der Lichtung. Die vielen, bunten Banner die ich bereits gesehen habe erfüllen mein Herz mit Stolz.  Ein Stundenglas bevor heute Abend das Bankett beginnt, werden auf den Gängen Glocken läuten und darum bitten sich in der großen Festhalle einzufinden.” Borax nickte dem Ifirngeweihten noch einmal zu, um ihm zu zeigen das er am Ende seiner Rede war. “Hiermit wünsche ich uns allen einige schöne Tage in den Wäldern Nilsitzs und eine firungefällige, erfolgreiche Jagd ab dem morgigen Tag.  Das Wort hat nun seine Gnaden und ich bin davon überzeugt, dass er es vermag uns in die richtige Stimmung zu versetzen, auf das wir dem Gott der Jagd durch unser Handeln Freude bereiten werden.” Bruder Mikail wurde blass. Er konnte nichts über seine Lippen bringen, jetzt, da es von ihm erwartet wurde. Er hob seine Arme zum Segen und suchte nach Worten. Ein kleiner Schweißtropfen rann seine Schläfe hinab und verfing sich hoffnungslos in seinem Bart. „Helft einander, so ihr in Nöten seid. Tötet kein Getier ohne Not oder aus Grausamkeit heraus. Ja, und, äh“ er stotterte, zerkaute beinahe seine Unterlippe und blickte schließlich in die Wälder jenseits der Zuschauer. Dies schien ihn ein wenig zu beruhigen. „Möge der Alte vom Berg und die Schwanengleiche Eure Jagd segnen.“ Schloss er, bevor er sich umdrehte und zügig in Richtung des Waldrandes aufmachte.  Der Vogt überspielte die kleine Unsicherheit des Geweihten, lächelte und ging dann demonstrativ mit ausgebreiteten Armen in Richtung der Jagdhütte, um seine Gäste zum nun aufgetischten, kleinen Mahl zu dirigieren. „Kommt. Ich denke viele von euch sind durstig, ebenso wie ich.“

Reitschweinhoffnung

Bei dem Weg zum Platz unter dem Geweih vor der Jagdhütte fiel vor allem ein Paar auf, das es mit der Verständigung unter den Rassen anscheinend sehr genau nahm. Es war der Oberst der Eisenwalder - Dwarosch, Sohn des Dwalin, der die blinde Geweihte Marbolieb am Arm führte und ihre Tochter liebevoll auf dem Arm hielt. Das kleine Mädchen fand fortwährend Gefallen daran, mit den kleinen Metallkuben, -kugeln und -kegeln zu spielen, die in dem prächtigen, schwarzgraumelierten Bart eingeflochten waren. Das dabei immer wieder ausgerufene “Dado, Dado”, war einigen Gästen schon vom Vortag bekannt und zauberte hier und da ein Lächeln in die Gesichter der Menschen und Zwerge drum herum.  Mit großen, kugelrunden Augen betrachtete Mirla den prachtvollen Bart des Zwergen und lachte in Dwaroschs Gesicht. “Dado. Hopp-hopp - gobbigob! Ja?” Hoffnung und strahlende Erwartung zeichnete sich in die kindlichen Züge des kleinen Mädchens, als sie zwei Handvoll Bart ergriff und probehalber - und unübersehbar auffordernd - schüttelte. Dwarosch schien jedoch nicht zu wissen, was seine Ziehtochter da von ihm verlangte und sah leicht irritiert zu Marbolieb herüber.  “Hopp- hopp- gobbigob”, wiederholte er die Worte Mirlas mit fragendem Unterton, aber einem breiten Lächeln um den Mund. “Ist das ein Kinderreim?” “Sie hat gestern zwei tapfere Recken gefunden, die für sie ein Goblinsches Reitschwein gemimt und sie auf den Schultern im Laufschritt durch das Lager getragen haben.” erklärte die Geweihte mit einem strahlenden Lächeln. Ihre Augen leuchteten, und ihr Griff um den Arm des Zwergen wurde unwillkürlich etwas fester. “Ich habe sie selten so glücklich lachen hören.” “Gobbihobb!” beharrte Mirla, mit einem unüberhörbar befehlenden Unterton. “Hopphopp! Da!” Sie wibbelte auf Dwaroschs Arm und zeigte in die Gruppe der Umstehenden. Etwas verwundert über diese Eröffnung schüttelte Dwarosch zunächst ungläubig den Kopf. Dass sich dabei seine Augenbrauen zusammengezogen und sein Gesicht kurzzeitig einen sehr ernsten Ausdruck bekam, beruhte auf der Tatsache, dass der frühere Söldner in seinem langen Leben mehrfach hatte gegen besagte Reitgespanne hatte kämpfen müssen. Diese zum Teil blutigen Gedanken verdrängend, hielt Dwarosch an und wies Marbolieb mit einem sanften Druck seiner Hand an ihrem Unterarm an, es ihm gleichzutun. Dann hob er Mirla auf seinen breiten Stiernacken und griff mit der Linken nach ihrem Bein, um sie im Notfall halten zu können. Drei, viermal federte Dwarosch in den Knien und ließ seine Ziehtochter auf ihm wippen, bevor er wieder Marboliebs Arm ergriff und mit ihr den Weg fortsetzte. “Aber wage es ja nicht mich eine wildgewordene Bache zu nennen”, sagte er gut gelaunt zu der Geweihten an seiner Seite. “Bei den Kindergeschichten der Angroschim sind die Reittiere der Helden eher Gebirgsböcke oder riesige Bären.” “Hopp, hopp!” Jauchzte Mirla angesichts Dwaroschs Mühen und ihre Füßchen trommelten begeistert gegen seine Schultern. “Mehr hopp!” bat sie, und die Enttäuschung darüber, dass es nach den ersten verheißungsvollen Hopplern keinen Schweinsgalopp gab, lag deutlich in ihrer Stimme. “Hopp Hopp, Dado! Viel Hopp!” Marbolieb lachte angesichts der Begeisterung ihrer Tochter, ein freies, glückliches Lachen, dass Dwarosch in den vergangenen Monden fast nicht mehr an ihr gehört hatte. “Angefangen hat es glaube ich der Herr von Tannenfels. Er kann Dir bestimmt sagen, was es mit ‘Gobbihopp’ auf sich hat. Aber ich glaube, das was du getan hast, ist nicht, was sie will.” Wie zur Bestätigung lehnte sich Mirla nach vorn und erklärte in einem Tonfall, der eines Entdeckers würdig war “Schneller Hopp!” Der Oberst lachte donnernd. “Ja, das kann ich mir lebhaft vorstellen. Wenn es nach Mirlaxa ginge, würde ich vermutlich rennen, als sei der Orken hinter mir her.” “Hopp?” Fragend und voller Hoffnung klang die Frage des kleinen Menschenkindes. Doratrava war gerade auf einem ihrer vielen Wege an diesem Tag, als sie an dem ungleichen Paar mit dem Kind vorbeikam. Nanu, ein Menschenkind auf den Schultern eines Zwergen? Aber offensichtlich war es glücklich dort oben, wenn die Gauklerin auch eine ungnädige Note in der Stimme des Kindes vernommen zu haben glaubte. Auch der Zwerg sah jetzt nicht ganz so zufrieden mit seinem Schicksal aus. Spontan beschloss sie, ein wenig zur Auflockerung der Situation beizutragen. Sie sorgte also dafür, dass ihr Weg sie noch näher an die drei heran brachte, dann schwang sie sich unvermittelt mit einem laut ausgerufenen “Hopp!” auf die Hände und lief mit den Beinen wippend an der Gruppe vorbei. Nach ein paar Schritt stieß sie sich vom Boden ab und landete sicher wieder auf den Füßen, um sich dann zu dem Kind und seinen so unterschiedlichen Begleitern herumzudrehen. “Na, kleine Dame, kannst du das auch?” rief Doratrava in heiteren Tonfall, wobei sie verstohlen die schäbig aussehende … Geweihte? - musterte, vermutlich die Mutter. Aber der Zwerg? Mirla betrachte die herumhopsende Frau mit großen, kugelrunden Augen. “Dado, da! Auch!” beschied sie den Oberst. “Ja sicher”, wiederum lachte Dwarosch. “Ich fürchte ich bin für derlei Dinge nicht geschaffen.” Er blickte an sich herab und legte grinsend den Kopf schief. “Der Bauch verschiebt den Schwerpunkt. Das ist sehr ungünstig. Aber warte. Die Frau hat ja dich gemeint und zum Glück nicht mich.” 

Erneut hielt der Oberst an, diesmal um Mirla von seinem Schultern zu nehmen. Er stellte sie sachte vor sich auf den Boden, nur um sie dann an der Hüfte zu packen und so umzudrehen, dass der Kopf nach unten zeigte. Instinktiv streckte das Mädchen die Hände aus, um sich am Boden abzustützen. Kopfunter hing Mirla in Dwaroschs Händen, betastete den Boden und zerknautschte überlegend das Gesicht. Nach einigen Atemzügen baumeln wurde ihr dies dann aber doch unangenehm. “Hoch. Und hopp!” verlangte sie. “Was soll Mirla auch tun?” Marbolieb hatte, als Dwarosch nach Mirla griff, ihre Händen in den weiten Ärmeln ihrer Robe vergraben. Etwas verloren stand sie da, versuchte herauszufinden, wer nun gerade was tat und drehte ihren Kopf fragend in Richtung der Gauklerin.  “Und was treibt ihr da?”  Doratrava kniff die Augen zusammen und betrachtete sich die junge, dunkel gekleidete vermutliche Geweihte genauer, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen, wenn man vom Zustand der Kleidung absah. Dennoch schien die Frau blind zu sein, anders war ihr Verhalten nicht zu erklären. Vermutlich aber doch eine Borongeweihte - die Stickereien am Saum ihrer Kapuze und ihrer Ärmel wiesen darauf hin, auch wenn sie kein Amulett trug. Dafür blitzte an ihrem Hals eine massive, zwergisch aussehende Halskette aus Silber auf. “Ähm, entschuldigt, Euer … Gnaden?” erhob die Gauklerin ein wenig verlegen ihre Stimme, unsicher, wie sie mit der Situation umgehen sollte. “Ich habe nur zufällig die ‘Forderungen’ des Kindes mitbekommen und wollte es ein wenig aufheitern und ablenken, damit der … Euer Begleiter … ein wenig Luft bekommt. Er schien mir leicht überfordert.” Die Verlegenheit der Gauklerin steigerte sich. “Äh … ich kann mich natürlich auch täuschen. - Ach ja, ich bin Gauklerin, ich bin nur ein paar Schritte auf den Händen gelaufen. Das hat Euer Kind wohl mit ‘Auch!’ dann von Eurem Begleiter verlangt, welcher statt dessen die Kleine auf den Kopf gestellt hat. Wenn mich nicht alles täuscht, war ihr das aber nicht so recht.” Doratrava wedelte nutzloserweise mit den Händen. “Aber keine Angst, das Kind befindet sich wieder in aufrechter Position und hat die Befehlsgewalt zurückgewonnen.” Ihr zaghaftes Lächeln galt nun eher dem Zwerg.  Der Groll auf den Zügen des Zwergenoberst war deutlich, als er die Kleine wieder vom Boden hochhob und auf seine Schultern setzte, um den Weg wieder aufzunehmen. Nach seiner Meinung hatte sich die Gauklerin deutlich im Ton vergriffen. Dieses Missfallen versteckte er nicht, als er Marbolieb wieder an die Hand nahm. Mirlas ‘Hopp?’ klang denn auch eher fragend als fordernd, als sie wieder auf ihrem Ausguck Platz fand.

“Was ist es?” Marbolieb hatte die Stimme gesenkt, dass sie nicht weiter als bis an Dwaroschs Ohren drang. “Soll ich Mirla wieder nehmen?” Überdeutlich spürte sie die Anspannung in den Muskeln ihres Begleiters, die ihren Widerhall in seiner für ihr Empfinden gepressten und abgehackten Atmung fand. “Hat die Gauklerin etwas getan?” setzte sie hinzu, nicht sicher, ob es wirklich Mirlas Forderungen waren, die diesen Unmutsanfall ausgelöst hatten. Doratrava bemerkte, dass ihr Versuch, die Stimmung aufzuheitern, ganz offensichtlich gescheitert war. Allerdings hatte sie keine Ahnung, was ihr Fehler gewesen sein mochte. Leicht verwirrt musterte sie den Zwergen, dessen Laune offenbar noch weiter in den Keller gerutscht war. “Ich lasse mich von einer Fremden nicht als ‘überfordert’ betiteln”, knurrte Dwarosch als Antwort zurück und Marbolieb wusste, dass er so etwas immer persönlich nahm.  Ohne weiter auf die Sache einzugehen führte der Oberst Marbolieb weiter gen Jagdhütte zu den anderen, sich dort bereits langsam versammelnden Gästen. Marbolieb schluckte jede Entgegnung, senkte den Kopf und schlich schweigend neben dem aufgebrachten Oberst her. Er würde sich wieder beruhigen - irgendwann. Selbst für einen Angroscho war er ein ausgemachter Sturschädel. Dennoch hatte ihre bis gerade eben noch unbeschwerte Laune einen ordentlichen Ruck zurück auf den Boden der Tatsachen erhalten. Doratrava sah dem ungleichen Paar mit dem Kind kopfschüttelnd und ein wenig sprachlos nach. Was war denn das eben? Sie hatte doch nur gesagt, wie sie die Szene empfunden hatte, ohne jemandem etwas Böses zu wollen, ganz im Gegenteil. Als das Kind sich nochmals auf den Schultern des Zwergen umwandte und ihr zuwinkte, winkte sie lächelnd zurück. Wenigstens einem der drei hatte sie ein wenig Freude bereiten können.

Ansichten einer Gauklerin

Doratrava hatte die Rede des Vogts aus dem Hintergrund verfolgt. Außerdem hatte sie nun zum ersten Mal einen Firungeweihten gesehen, zumindest, soweit sie sich erinnern konnte. Der kam ihr aber recht … nun ja, schüchtern vor und gar nicht, wie jemand, der sich alleine wilden Tieren stellt. Aber was wusste sie schon von Firun. Dabei fiel ihr ein, dass sie heute auch noch mit den Jagdhelfern üben musste, was den Umgang mit dem Speer anging. Und in der Feierhalle ihre Aufführung proben, also die für das Abschlussfest. Heute Abend würde sie ja wohl tanzen dürfen, wenn der Vogt dabei blieb. Puh, so viel zu tun. Und Hunger und Durst hatte sie auch. Sie würde also erstmal ihre Bedürfnisse stillen und dann … ja … da fiel ihr der Ritter von gestern ein, wie war noch sein Name? Nivard von Birkenstein oder so? Und Gelda, die so jagderfahren aussah, trotz ihrer Jugend. Vielleicht könnten die beiden ihr viel besser zeigen, wie das mit dem Speer ging? Doratrava stärkte sich an den angebotenen Köstlichkeiten (keine Spinnensuppe, gut!), dann begann sie durch das morgendliche Zeltlager zu wandern auf der Suche nach Nivard oder Gelda. Nivard musste sich ein wohlwollendes Grinsen verkneifen. ‘Anderen geht es auch nicht anders als Dir’ dachte er sich, als er Bruder Mikails Gebet vernahm. Wenn ihm das andere Geschlecht den Schweiß aus den Poren trieb, so waren es für den Geweihten hier offenbar die Gläubigen… seltsam eigentlich für einen Götterdiener, aber verstehen konnte er den Ärmsten. Er straffte sich, und fügte den Worten des Firundieners sein eigenes stilles Gebet an: ‘Heiliger Kurim, segne auch Du diese Jagd. Leite uns sicher und im Einklang mit den Gesetzen des Herrn Firun durch die Wälder, schenke uns eine ruhige Hand und lenke unsere Pfeile treffsicher zu ihrem Ziele, auf dass unsere Beute unseren Hunger stillen und die Freude über unseren gemeinsamen Erfolg Frieden und Eintracht unter den Völkern spenden möge!’ Nun freute sich Nivard auf das heutige Bankett und die morgen anstehende Jagd, wenngleich er etwas Respekt vor seiner zweiten Aufgabe, ein wachendes Auge auf Elvans Cousine zu werfen, hatte. Sie machte ihm den Eindruck, nur schwer bewachbar zu sein.  Frisch gestärkt machte er sich auf den Weg zurück ins Lager, seine Jagdausrüstung nochmals für morgen durchzusehen. Außerdem hatte er in der Ferne die Farben und das Wappen seiner Baronin gesehen, der er noch seine Aufwartung machen sollte und wollte. In Gedanken verloren vor sich her schlendernd schrak er jäh auf, als er beinahe in eine ihm inzwischen bekannte, weißhaarige junge Frau gelaufen wäre, die offenbar direkt auf ihn zugekommen war. “Oh, verzeiht… äh… Ihr? ” Ha, da war ja der Krieger von gestern. Er schien ganz in Gedanken versunken und fast zu erschrecken, als Doratrava bis auf drei Schritt heran war. “Seht Ihr noch jemanden anderen?” fragte die Gauklerin sogleich schnippisch, aber mit einem Lächeln auf dem Gesicht. “Ich habe Euch gesucht. Oder auch Gelda.” fügte sie schnell hinzu, damit Nivard nicht auf dumme Gedanken kam. Dann wurde sie ein wenig verlegener. “Ähm, also, der Vogt hat gesagt, ich darf morgen bei der Jagd mitmachen. Weil ich aber nicht mit einem Speer umgehen kann, sagte er, ich solle mit den Jagdhelfern üben. Jetzt … jetzt ist mir der Gedanke gekommen, dass vielleicht Ihr oder Gelda das viel besser könnt?” Doratrava wurde schon wieder ein wenig blassrosa, als sie den Krieger erwartungsvoll ansah. Nivard wusste im ersten Moment nicht, was er von der Anfrage halten sollte. Im zweiten auch nicht. Doratrava konnte ihn geradezu denken sehen, sein Gesicht sprach Bände. Schließlich kam er offensichtlich zu einer Einschätzung der Lage - Nivard beschloss, dass er Doratravas Anliegen als genauso gemeint wie gesagt einstufen wollte und bewertete die Situation daher zunächst als ‘überwiegend harmlos’. Außerdem verlangte sie sein kriegerisches und jägerisches Können, führte ihn also methodisch über bestens vertrautes Terrain, so dass er sich der Herausforderung stellte, aus durch und durch ritterlichen Motiven: “Ähm, ja, sicherlich kann ich Euch zeigen, wie Ihr den Speer zu halten habt und Euch für die Jagd nutzbar machen könnt. Habt Ihr einen Speer zur Hand? Ansonsten hole ich kurz einen. Am besten gehen wir dann in Richtung Stallungen…” Nivard stutzte einen Moment und errötete leicht - hoffentlich interpretierte die elfenhafte Gauklerin jetzt bloß nicht mehr in diesen Vorschlag, als er tatsächlich und aufrichtig meinte… am besten gleich geraderücken: “Da hat es wahrscheinlich Strohballen, in die Ihr beherzt stechen üben könnt - ihr müsst den Speer nicht nur halten können, sondern auch ein Gefühl für die nötige Wucht bekommen… mit der richtigen Haltung können wir aber auch gleich hier anfangen - ganz wie Ihr mögt…” Innerlich kicherte Doratrava ein wenig. Die Verlegenheit des größeren, recht hageren Kriegers nahm ihr ihre eigene, worüber sie nicht unglücklich war. Laut sagte sie: “Oh, habt Dank, aber Ihr seid der Lehrer, also dürft Ihr bestimmen, wo wir hingehen.” Sie lächelte, wobei sie eine schelmische Note nicht ganz aus ihren Zügen heraushalten konnte. Irgendwie gefiel ihr dieses kleine Spiel, das lenkte sie ab von den schmerzlichen Gedanken der letzten Tage. “Einen Speer habe ich nicht, aber der Vogt sagte, den würde ich von den Jagdhelfern bekommen. - Sagt, kennt Ihr eigentlich Gelda näher?” fragte die Gauklerin nun recht abrupt, aber mit echtem Interesse in der Stimme. “Eigentlich gar nicht - ich bin ihr gestern gemeinsam mit Euch zum ersten Mal begegnet. Ihren Vetter Elvan kenne ich seit dem letzten Sommer - wir haben gemeinsam eine sehr … unglaubliche … Schiffsreise auf dem großen Fluss - und zugleich weit weg von diesem - erlebt… Seitdem darf ich ihn einen Freund nennen. Aber das ist eine längere Geschichte…” Nivard hatte das schelmische Aufblitzen in ihrem Lächeln und ihren Augen durchaus wahrgenommen. Sicherheitshalber entschied er sich für die Flucht nach vorne, hin zu den fachlichen Aspekten ihres Beisammenseins. “Wir wollten doch das Jagen üben!” Er deutete in Richtung der Stallungen: “Auf dem Weg kommen wir bei den Jagdhelfern vorbei, dann könnt Ihr Euch direkt mit einem Speer eindecken - wollen wir?” Doratrava vertraute sich der Führung Nivards an, machte aber trotzdem noch eine Bemerkung Gelda betreffend: “Hm, ich dachte nur, es machte den Eindruck … und die junge Dame sieht gar nicht so aus wie eine Adlige, eher wie eine waschechte Jägerin … aber gut, auf zu den Jagdhelfern und ihren Speeren!” Sie lächelte schon wieder verschmitzt. Nivard überlegte sich, was Doratrava damit meinte. Ob sie überhaupt etwas andeuten wollte? Wahrscheinlich war sie einfach nur neugierig, ganz ohne Hintergedanken… oder doch nicht? Bald darauf fand sich Doratrava mit einem Speer bewaffnet und in Nivards Begleitung bei den Stallungen ein. Spielerisch wirbelte sie die Waffe ein wenig im Kreis, rammte sie dann in den vom Regen der letzten Tage noch immer etwas aufgeweichten Boden und schwang sich halb um die nun senkrecht stehende Stange, bis diese sich zur Seite neigte und Doratrava ein wenig unelegant, aber kichernd mit dem Hintern voraus auf dem Boden landete. Doch schnell stand sie auf, als ihr aufging, dass ihr Verhalten vor einem Adligen vielleicht ein wenig kindisch anmutete. Die blasse Röte kehrte in ihre Wangen zurück, als sie zu Nivard aufsah. “Äh … also … wir können anfangen?” Nivard stand nun, obgleich er versuchte, dies zu unterdrücken, ein Grinsen im Gesicht: „Können wir auf jeden Fall. Ganz so … elegant...und künstlerisch… vermag ich aber nicht mit dem Speer umzugehen, fürchte ich. Dafür zeige ich Euch, wie man damit eine Wildsau zur Strecke bringt. Oder sich einen wütenden Keiler vom Leibe hält.“ Er besah sich die zierliche junge Frau. „Fangen wir am besten gleich mit letzterem an.“ Er griff den Speer mit beiden Händen und hielt ihn in einer seitlich orientierten Abwehrhaltung. „Am besten treibt Ihr als unerfahrene Jägerin einen angeschlagenen Keiler oder ein anderes Wildtier nicht alleine in die Enge… versprecht Ihr mir dies?“ Er hielt kurz inne – warum fragte er sie das? Er wunderte sich über seine eigene Bitte. „Falls Ihr trotzdem angegriffen werdet, müsst Ihr aber immer Acht darauf geben, dass das Tier Euren Speer nicht unterläuft. Ansonsten seht Ihr alt aus… Am besten so vor Euch halten, festen Stand suchen, kommen lassen und dann … zack - ausweichen und einen Passierschlag setzen, seht Ihr?“ Nun war Nivard zusehends in seinem Element und vergaß eine Zeitlang seine Schüchternheit, zeigte Doratrava zuerst einige Verteidigungsmaßnahmen und schließlich auch, wie man den Speer nutzte, um die Beute zu erlegen. Zuerst in ernsthafter Konzentration, zum Schluss in zusehends gelöster Heiterkeit wurde ein armer Heuballen wieder und wieder zur Strecke gebracht. „Aus Euch wird doch auch noch eine richtige Jägerin!“ ‚Wenigstens überlebt sie den morgigen Tag‘ dachte er sich dabei. ‚Und das ist auch gut so, irgendwie!‘ Nach den ersten unbeholfenen Versuchen nahm Doratrava die Übungen durchaus ernst. Das unterschied sich nicht viel davon, für eine Aufführung zu proben, wie sie es später noch in der Festhalle tun musste, nur dass bei einer solchen normalerweise niemand zu Schaden kam. Nivard stellte fest, dass die junge Gauklerin zwar keine Ahnung von den Feinheiten des Speerkampfes hatte, aber dafür eine unglaubliche Körperbeherrschung an den Tag legte, was vieles wett machte. Außerdem lernte sie schnell, zumindest die Übungen, welche der Krieger ihr vormachte, konnte sie bald fast perfekt imitieren. Als Nivard sein Kompliment vorbrachte, sah sie mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht auf und sah ihm mit rehbraunen Augen glücklich ins Gesicht. “Bei dem Lehrer …” Sie grinste ihn frech an. Er hätte schwören können, dass ihre Augen gestern noch eine andere Farbe hatten - wahrscheinlich irrte er sich, oder es lag am Licht... Nivard stutzte nur kurz - dann ließ er sich von Doratravas glücklichem Ausdruck anstecken und grinste zurück - zum ersten Mal hielt er dem Blick in ihre Augen stand, und die Röte in seinem Gesicht war zur Ausnahme einmal nicht seiner Schüchternheit, sondern der vorausgegangenen körperlichen Anstrengung geschuldet. "Jetzt verlangt es meine ausgedörrte Kehle aber nach einem Bier. Wie sieht es mit... Euch aus?" Nivard verharrte kurz, ehe er in geradezu ungewohnter Leichtigkeit nachschob: "Jetzt, nachdem wir gemeinsam die Jagd geübt und riesige Heukeiler bekämpft haben... sollen wir bei einem Umtrunk zum ‘Du’ übergehen... auch ohne Spinnensuppe?" “Na, das wird aber auch Zeit”, stimmte die Gauklerin in heiterem Tonfall zu. “Also … du hast das ernst gemeint mit dieser Spinnensuppe, also dass du die essen willst? Bier ist übrigens eine ausgezeichnete Idee!” “Ja natürlich, warum auch nicht? Ich möchte sie wenigstens probieren. Weißt Du, ich komme aus den Wäldern von Nordgratenfels. Dort weist man Firuns Geschenke nicht einfach so zurück. Nicht, ohne sie  gekostet zu haben. Und falls die Suppe tatsächlich so schmeckt, wie sie für  dich klingt, habe ich zukünftig wenigstens eine lustige Geschichte über zwergische Kochkunst zu erzählen… ihre Braukunst ist aber auf jeden Fall über jeden Zweifel erhaben… ah, da sind wir auch schon!” Doratrava schüttelte nur ungläubig den Kopf, enthielt sich aber jedes weiteren Kommentars. Während die beiden den nächsten Bierausschank aufsuchten, erhob Doratrava nochmals ihre Stimme: “So, sind wir jetzt eigentlich fertig mit Üben für heute? Ich … habe gehört, echte Wildschweine verhalten sich nicht ganz so ruhig wie Heuballen und stürmen schon mal auf einen Jäger zu … und dann?” Doratravas Tonfall blieb heiter, aber ihre Miene zeigte echtes Interesse und ein wenig Besorgnis.  “Wir können später noch einmal eine kleine Übungsrunde einlegen, wenn Du willst…” meinte Nivard anerkennend nickend, überrascht von Doratravas Eifer. “Wir müssen uns nur überlegen, wo wir ein bewegtes, wildschweingroßes oder wenigstens -hohes Ziel her bekommen…“ Er sah sich verstohlen um, um sich zu vergewissern, dass sie von keinem der Angroschim gehört wurden, dann fuhr er leiser fort: “Vielleicht können wir einen unserer zwergischen Gastgeber gewinnen... wenn wir einen Stock ohne Spitze verwendeten…” Er griff sich einen vollen Bierkrug, dann fuhr er ernster fort: “Du hast aber Recht: Wildschweine sind tatsächlich nicht ohne. Wenn eines auf Dich zukommt verhältst Du Dich genauso, wie ich es Dir zu Anfang gezeigt habe. Das wichtigste ist, ruhig Blut und einen kühlen Kopf zu bewahren… nie die Deckung unterlaufen lassen... rechtzeitig zur Seite - das ist für Dich ein leichtes… und Stich! Vor allem aber, bleib immer bei jemandem, der in der Jagd erfahren ist. Dann kommst Du auf jeden Fall heil zum Festgelage zurück. Zum Wohl!”

Schauspiel

Borix musste sich bei dem Gebet des Geweihten ein Lachen verkneifen, schließlich war das für die Kurzlebigen ein wichtiger Bestandteil einer Begrüßung. Er blickte daher mit zusammengepressten Lippen zu Boden und hustete leicht verräterisch. Aber dann kam die erlösende Aufforderung des Gastgebers, es stieß Tharnax mit dem Ellenbogen in die Rippen: “Los, sonst sind die besten Plätze weg!”  Angespornt durch seinen Freund beschleunigte der Bergvogt vor Arxozim seine Schritte und nötigte Borix dazu sich ihm anzupassen. “Egal was für Grüppchen sich bilden morgen, wir jagen gemeinsam oder”, fragte er leicht japsend, als sie die ‘rettenden’ Bänke vor der Jagdhütte fast erreicht hatten. Borix überlegte kurz, dann grinste er seinen Freund an: “Meinst Du das das wirklich gut wäre? Dann bekommen die anderen Gruppen ja keine Beute mehr!” Bevor dieser aber antworten konnte, fuhr er jedoch mit noch breiterem Grinsen und leicht näselndem Ton fort: “Euer Wohlgeboren, es würde mir eine unvergleichliche Ehre zu sein, Morgen auf der Jagd Euer Begleiter zu sein.” Dann ließ er sich auf einer der Bank nieder und winkte ein Schankmagd herbei: “Bring Bier, Mädel, für mich und meinen Freund! Kannst auch ruhig gleich zwei oder mehr Krüge für jeden bringen, dann musst Du nicht so oft laufen!” “Also ich hätte ja nichts dagegen, wenn du öfters hierher kommen würdest, um uns Bier zu bringen”, fügte Tharnax schnell gegenüber der Magd an. Doch diese zog bereits kopfschüttelnd von dannen. Tharnax zuckte daraufhin nur mit den Schultern. “Was hat die denn? Ich wollte doch nur nett sein.”  “Das wolltest Du, ja, ja”, lachte Borix. “Nur versteht nicht jeder Deine Art von nett sein.” Er nahm einen tiefen Zug aus seinem Humpen und fuhr dann fort: “Vielleicht solltest Du ihr beim nächsten Krug einfach mal zu zwinkern - aber mit dem richtigen Auge!” fügte mit einem schallenden Lachen an.  “Man macht keine Witze auf kosten eines Versehrten”, stellte Tharnax mit gespielter Verstimmtheit fest. Doch die gekränkte Miene konnte er unmöglich lange aufrecht halten. Schnell entglitten ihm die Gesichtszüge wieder, dann lachte auch Borix Freund mit.  “Nein. Heute keine Weibergeschichten”, stellte er entschieden fest. “Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen um den Tag mit sowas zu vergeuden. Heute Borix will ich mit dir trinken und morgen erlegen wir eine Riesensau!” “Dann sollten wir aber heute nicht zu viel trinken, denn sonst siehst selbst Du mit Deinem einen Auge die Wildsäue doppelt!” lachte Borix und stieß erneut mit dem alten Haudegen an, nachdem die Schankmagd ihnen zwei Humpen hingestellt und die beiden sich artig aber grinsend bedankt hatten. "Schluss mit den Albereien", beschloss Tharnax nachdem er sein erstes Bier bereits zur Hälfte geleert hatte.  "Sag mir lieber, wen von diesen plumpen Großlinge wir mit auf die Jagd nehmen wollen? Borindarax möchte ja, dass wir gemischte Gruppen bilden und ich gedenke diesen Wunsch zu respektieren." Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der anderen Gäste. "Sieh sie dir an und sag mir wer infrage kommt." Borix war sich nicht nicht was er darauf sagen sollte. Am liebsten hätte er natürlich keinen der Kurzlebigen mitgenommen, aber wenn Borindax das so möchte, dann würde er sich wohl diesem Wunsch fügen müssen. “Tja”, begann er dann nach einer Weile des Überlegens. “Ich weiß nicht so recht. Sollten wir jemanden mitnehmen, der gut jagen kann oder lieber jemanden der uns auf dem Weg unterhalten kann? Ein Frau oder ein Mann? Oder gar die Elfe?” Er konnte sich zu keinem Entschluss durchringen und wandte sich dann schulterzuckend wieder an Tharnax. “Du, ich habe keine Ahnung!”

Hustend verschluckt sich Tharnax an seinem Bier. "Hast du zuviel Gemüse gegessen, dass du weich wirst im Kopp?" Energisch schüttelte der Bergvogt den Kopf, nur um sich dann pikiert umzusehen und die Stimme zu senken. "Ich will keine Bäume streicheln oder einem Eber das Fell bürsten. Ich will das Vieh erlegen, ausnehmen und fressen. Mehr noch, ich will seinen Kopf an einer Wand hängen sehen. Meinst du da spielt das Spitzohr mit?"  Tharnax räusperte sich bevor er fortfuhr, wobei er sich mit der Hand mehrfach über seinen Bart fuhr, der ein wenig Bier abbekommen hatte bei seinem Hustenanfall.  "Nein, ich würde sagen wir nehmen jemanden mit der anständig was auf den Rippen hat und mit der Saufeder umzugehen vermag.

Stell dir doch Mal vor, dass unsere Bolzen treffen, der Eber aber trotzdem nicht umfällt und liegen bleibt. Das soll ja vorkommen. Die Dinger sind zäh und vor allem schnell.  Nein, ich will nicht über den Haufen gerannt werden. Wir brauchen jemanden, der dem Vieh im Ernstfall den Rest gibt. Nur dürfen wir es demjenigen natürlich nur nicht so verkaufen, sonst begleitet uns ja niemand." Borix überlegte lange bis er antwortete: “Tja, ich weiß nicht so recht - irgendwie sind mir von den Menschen nur die Gauklerin, die Elfe und das kleine Kind im Kopf geblieben. Aber von denen passt keine zu Deinen Anforderungen …” Er nahm noch einen Schluck aus dem Humpen.

“Die anderen habe ich mir noch gar nicht so richtig angesehen, ich dachte dass der Vogt die Gruppen zusammenstellt. Hätte ich das gestern schon gewusst als ich ankam, tja dann hätte ich mir die Menschen schon ein wenig genauer angesehen. Wer schwebt Dir denn vor?” fragte der daher nach seinem Resümee zurück. “Ich hab noch keine Ahnung”, gab Tharnax offen zu, bekam dann aber einen listigen, verschwörerischen Gesichtsausdruck und sprach leiser weiter. “Ich weiß jedoch wie unser ‘Auswahlverfahren’ aussieht. Genügend Standfestigkeit wird sich heute Abend schon zeigen. Diejenigen, die als letzte am Bierausschank stehen fragen wir einfach, ob sie uns begleiten. Ich wette die Rechnung geht auf!”

Morgenmahl

Inzwischen hatten auf Marbolieb, die kleine Mirla und der Oberst der Eisenwalder die Tische und Bänke erreicht, die vor der Jagdhütte aufgestellt waren.  Der Geruch von frisch gezapften Bier, salzigem Gebäck, nicht zuletzt aber auch seiner beiden, alten Kameraden, die bereits einen Platz ergattert hatten und grüßend ihre Krüge hoben, ließen Dwaroschs Stimmung schnell wieder steigen, so dass er der kleinen Familie ebenfalls einen Platz suchte, an dem sie sich niederließen. “Möchtest du Tee oder Bier”, fragte er Marbolieb knapp, noch während er ihre Tochter auf seinem Oberschenkel, praktisch zwischen ihnen platzierte, um sich dann eine von den Teigstangen zu nehmen und sie Mirla in die Hand zu drücken. Das kleine Mädchen griff nach dem Gebäck, warf dem Oberst einen grübelnden Blick zu und strahlte dann über beide Backen, als sie einen großen Mundvoll abbiss und kaute. Ihr schmeckte es offensichtlich, zumindest erklärte sie mit einem glücklichen Lachen ‘Mam!’. Die Boroni dagegen beschränkte sich auf ein “Tee, bitte”, ehe sie, eine Hand um ihre Tochter gelegt, ihre Kapuze ein Stück weiter Richtung Nasenspitze zog. Nachdem Dwarosch für sich einen Humpen und das Gewünschte für Marbolieb bestellt hatte, griff er zu dem bereitstehenden Schälchen mit Schmalzgebäck, fischte sich ein großes Stück heraus und legte es in Marboliebs Hand. 

“Probier das, Räblein.” Jäh aus ihren Gedanken gerissen zuckte Marbolieb erschrocken zusammen und konnte gerade noch verhindern, dass ihr das Gebäckstück auf den Tisch fiel. Sie nickte wortlos und hob das frische Gebäck zum Mund, als müsse sie sich daran erinnern, was damit zu tun sei. Schließlich enthob sie ihrer Tochter der Entscheidung, die sich, mit vollen Backen kauend und mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht, zu der Geweihten umdrehte, nach dem Gebäck angelte und es sich kurzerhand in den Mund stopfte. “mmh!” erklärte sie mit prallgefülltem Mund, mehr als zufrieden mit der augenblicklichen Situation. "Es ist genug für alle da, Mirlaxa", brachte der Zwerg daraufhin lachend hervor. "Du kannst deiner Mutter doch nicht einfach das Gebäck stibitzen." "Den Appetit hast du jedenfalls eher von mir als von deiner Mutter", kommentierte der Oberst breit grinsend und gab Marbolieb ein neues Stück der Leckerei. Diesmal achtete er auch darauf, dass diese nicht erschrocken war von der plötzlichen Berührung und gab ihr obendrein einen Kuss auf die Wange, als sie in das Schmalzgebäck biss. Marbolieb verharrte, und für einen Augenblick kroch eine verdächtige Röte in ihr Gesicht. Angelegentlich und mit kleinen Bissen vernaschte sie die Leckerei, während sie mit der Hand, die bislang Mirla umfasst hatte, nach dem Arm des Zwergen suchte und diesen leicht drückte.

Geweihte am Morgen

“Boron zum Gruße, Euer Gnaden”, kam es da fröhlich vom Nebentisch. Es fehlte zwar das Klirren des Kettenhemdes, aber dies war eindeutig die Stimme des Rondrageweihten vom Vortag. 

“Rondra zum Gruße.” Bei der bekannten Stimme hob die Geweihte den Kopf und wandte sich in die Richtung, aus der die Ansprache kam. “Euer Gnaden Rondradin. Wie geht es euch?” “Mir geht es sehr gut, was vor allem an dem Gespräch gestern liegt. Nochmals Danke dafür, dass Ihr Euch meine Sorgen angehört habt.” Nicht sichtbar für Marbolieb errötete Rondradin. Er sah hinüber zu Mirla, welche das Gebäckstück mit beiden Händen umklammerte und herzhaft darauf herum kaute. “Wie es scheint, ist Mirla heute noch nicht auf Abenteuer ausgezogen.” Eine ausreichende Anzahl Zapfen sollte das Mädchen nun besitzen, wenn man bedachte, welche Menge sie gestern vom Spaziergang mitgebracht hatten. “Sie ist sehr glücklich mit ihrem Schatz.” bestätigte Marbolieb. Bedachte man, dass sie seitdem bei jedem Schritt befürchten musste, auf einen der kostbaren ‘Tapfen’ zu treten, musste die Beute ihrer Tochter gewaltig sein. Kurz flackerte ein Lächeln über ihre schön geschwungenen Lippen und erlosch wieder, so rasch, wie es gekommen war.  “Darf ich Euch meinen Begleiter vorstellen? Oberst Dwarosch, Sohn des Dwalin, vom Isenhager Garderegiment. Dwarosch, das ist seine Gnaden Rondradin Wasir al'Kam'wahti von Perainefurten. Sie legte ihre freie Hand vorsichtig wieder auf den Tisch, mit der sie gerade in Rondradins ungefähre Richtung gewunken hatte. Rondradin stand auf und verbeugte sich vor dem Angroscho. “Es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen, Oberst.” Kurz huschte ein Anzeichen von Überraschung über sein Antlitz, aber ansonsten ließ er sich nichts anmerken.   “Euer Gnaden.” Dwarosch beschränkte sich darauf kurz das Haupt zu beugen und den Bierkrug zu heben, den er inzwischen vor sich auf dem Tisch stehen hatte. “Ganz meinerseits. Lassen wir heute die Förmlichkeiten beiseite. Kommt, setzt euch lieber zu uns und trinkt etwas.”

Das ließ sich der Geweihte nicht zweimal sagen, nahm seinen Bierkrug und setzte sich gegenüber der kleinen Gruppe an den Tisch. “Habt Dank. Wenn wir die Förmlichkeiten heute beiseite lassen, dann nennt mich doch bitte Rondradin oder Wasir.” Mirla hatte ihn mittlerweile bemerkt und Rondradin winkte ihr grinsend zu.  Der Oberst hob erneut seinen Humpen und die beiden Männer stießen an.  “Perainefurten”, wiederholte der Zwerg den Teil des Namens des Rondrianers, der die Stadt benannte, in der er seine Weihe empfangen hatte. “Was führt euch ausgerechnet in die Nordmarken? Man möchte meinen, dass Weißtobrien keinen Geweihten der Leuin entbehren kann.” 

Der Rondrianer setzte nachdenklich den Bierkrug ab. Es dauerte einen Moment, bevor er zu einer Antwort ansetzte. “Jemand war der Ansicht, dass nicht nur in Tobrien Geweihte der Leuin gebraucht würden. Wenn Ihr einen Beweis dafür benötigt, dass hier etwas im Argen liegt,, schaut Euch nur die Geschehnisse der letzten beiden Götterläufe in den Nordmarken an. Die Concabellaaffäre, die Bluthochzeit, das Nest unter Albenhus”, zählte der Geweihte leidenschaftlich auf. “In den letzten vier Götterläufen, die ich in den Nordmarken verbrachte, hatte ich mehr Auseinandersetzungen mit den Gegenspielern der Zwölfe, als während meiner Zeit auf dem Kleinwardstein.”

Marbolieb lauschte dem Zwiegespräch zwischen Oberst und Diener der Leuin schweigend, nichtsdestotrotz aber sehr aufmerksam. Die Frage, die ihr Begleiter hier gestellt hatte, interessierte sie ebenfalls, doch hatte Ihr Bruder im Glauben hier einen sehr validen Punkt getroffen. Was in den vergangenen beiden Götterläufen in den Nordmarken geschehen war, war alles andere als belanglos gewesen, und auch wenn die Geschehnisse selten ihren Weg in den Klatsch und Tratsch des Adels gefunden hatten (den Göttern sei Dank!), so lief ihr bei den Gedanken daran ein eisiger Schauder über den Rücken. Sie fröstelte, und über ihre Armen krochen Gänsepusteln.

Alte Geschichten

Rondradin verstummte als er die Reaktion der Boroni bemerkte. Er atmete tief durch und sagte dann in einem ruhigen und sanften Tonfall,  “Verzeiht, wenn ich Euch erschreckt habe.”  Dwarosch griff unterdessen wieder nach der Hand Marboliebs und drückte diese sachte im Bestreben, ihr ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Er wusste, dass die Geweihte zu dieser Aufzählung noch ein anderes Ereignis im Geiste hinzufügte, von dem der Rondrianer höchstwahrscheinlich nichts wissen konnte. Das, was sich inzwischen vor mehr als einem Götterlauf in Rabenstein abgespielt und schließlich zur Blindheit der Geweihten geführt hatte war nämlich ebenfalls zu diesen äußerst beunruhigenden Geschehnissen zu zählen. Rondradin hatte recht. Das vermeintlich sichere Herzogtum wurde von einer Serie düsterer Ereignisse heimgesucht. “Marbolieb und ich waren in Hlutharswacht”, erklärte Dwarosch. “Der Baron ist so etwas wie ein Freund, seitdem wir in Mendena Seite an Seite gefochten haben. Wir hatten die Hochzeitsfeier allerdings glücklicherweise bereits vor den blutigen Ereignissen verlassen.  Jedoch mussten wir bereits im Travia gegen eine andere Saat des Grauens bestehen, die nicht weit von hier, drüben in Rabenstein aufging”, blieb der Oberst mehr vage in seiner Äußerung zur Begründung von Marboliebs Reaktion auf den Bericht des Rondrianers. Es stand jedoch für Rondradin außer Frage, dass der Oberst ihm beipflichtete, was seine zuvor geäußerte Bemerkung betraf. Auch in den Nordmarken wurden tapfere Götterdiener gebraucht. Marbolieb hielt den Kopf weiterhin gesenkt und ließ die Worte des Zwergen einige Atemzüge lang nachklingen.

“Ihr habt mich nicht erschreckt, Euer Gnaden Rondradin.” flüsterte sie schließlich. “Ich war in Mendena dabei und habe seitdem Dinge erlebt, die ich keinem Laien zumuten möchte. Ich stimme Euch zu - es ist notwendig, dass Ihr hier seid.” Ihre Hand, die jene des Zwergen umklammerte, hatte indes aber nicht losgelassen, sondern umfasste sie eher noch fester.

Eine Saat des Grauens in Rabenstein? Einmal mehr schämte Rondradin sich wegen des Streits mit dem Baron von Rabenstein. Hätte es diesen nicht gegeben, vielleicht hätte er im Travia helfen können. Die Reaktion Marboliebs und die Art, wie sie die Hand Dwaroschs umklammerte …, bei den Zwölfen, hatte sie ihr Augenlicht etwa dort …? Eine tiefe Schamesröte zeigte sich in seinem Gesicht. Er nahm sich fest vor, heute den Baron aufzusuchen und diesen Streit endlich zu begraben.

Er sah sowohl Dwarosch als auch Marbolieb ernsthaft an und nickte langsam. “Solltet Ihr zukünftig jemals Hilfe benötigen, zögert nicht, mich in Wolfstrutz aufzusuchen.”  “Ich danke Euch.” Noch immer war die Stimme der Boroni sehr sanft und sehr leise, einen Schritt weitab des Tisches schon nicht mehr zu verstehen. Ein kleines, fragendes Lächeln zuckte kurz um ihre Lippen, entschied sich dann aber, dass hier kein guter Ort sei. “Wir werden es Euch wissen lassen, wenn ich das nächste Mal in eine solche Situation gerate, nicht wahr, Dwarosch?” Doch ein Lächeln - ein halbes nur, und kein wirklich fröhliches, aber immerhin.

“Beim letzten Mal hatte ich nicht die Gelegenheit, um Hilfe zu ersuchen. Ich bin sehr froh, dass Mirla damals im Tempel verblieb und ihr nichts geschah - mir blieb das leider verwehrt. Doch es wäre schön, zu wissen, dass ich mich auch an einen Bruder im Glauben wenden kann.” Ihre Hand allerdings hielt die ungleich breitere Pranke des Zwergen nach wie vor eisern umfasst und der Zwerg legte nun auch seinen breiten Arm um die zarte Taille der Geweihten. Zumindest hatte sie jemanden gehabt, der ihr beigestanden hatte und es, so schien es, noch immer tat. Es war schön zu sehen, dass es auch andere ‘ungewöhnliche’ Paare gab. Unbewusst schlich sich ein Lächeln auf des Geweihten Gesicht, als er das ungleiche Paar vor sich betrachtete. 

Ein Lächeln indes, das nur der Oberst bemerkte. Die Boroni, unsicher, ob noch jemand etwas zu dieser Geschichte zu fragen  gedachte, senkte die Lider und genoss einige Herzschläge lang die warme, lebendige und unbedarfte Gestalt ihres Kindes neben sich und die solide, ruhige Präsenz des grummeligen, nichtsdestotrotz aber auch überaus standhaften, sturen und anscheinend so unbeirrbaren Zwergen. Dass letzterer Punkt nur auf den äußeren Schein traf, wie bei so vielen Masken, die die Personen um sie herum zur Schau trugen, war ihr ureigenstes Geheimnis. 

Dwarosch bemerkte, wie sich die kleine, schmale Gestalt Marboliebs unwillkürlich an ihn lehnte, eine winzige Gewichtsverlagerung nur, aber für ihn deutlich spürbar. Fast zu lange geriet das gemeinsame Sinnieren, ehe sich die Geweihte auf ihre Manieren besann. “Weilt ihr die meiste Zeit in Wolfentrutz, Euer Gnaden?”

“Es handelt sich um die in der Baronie Meilingen befindliche Burg Wolfstrutz. Sie liegt direkt am Zufluss der Waha in den Großen Fluss. Sobald der Umbau in voraussichtlich drei Götternamen abgeschlossen ist, werde ich dort dauerhaft meinen Wohnsitz beziehen. Bis es soweit ist, mache ich dort immer wieder halt und kümmere mich ansonsten um die Probleme, die mir auffallen oder die an mich herangetragen werden. Allerdings findet sich in Wolfstrutz Vogt Guntwin Baudächle, der immer weiß, wie er mich auch kurzfristig erreichen kann, sollte ich nicht zugegen sein.” Der Geweihte nahm einen Schluck Bier.

“Darf ich euch eine persönliche Frage stellen?” Dabei sah er sowohl Marbolieb als auch Dwarosch an. Der Oberst nickte nur knapp auf die Frage hin und nahm seinerseits einen Schluck Bier. Die Boroni, die nur eine knappe Bewegung des Oberst spürte, nickte ihrerseits, setzte aber sicherheitshalber noch ein ‘gewiss, Euer Gnaden’ hinterdrein. “Was geschah damals in Rabenstein? Was war diese Saat, von der Ihr spracht?” Platzte es aus ihm heraus. Dabei hatte er ganz vergessen, dass auch Mirla mit am Tische saß. Als er seinen Fehler erkannte, warf er noch ein. “Aber vielleicht sollten wir zu einem anderen Zeitpunkt darüber reden, wenn Ihr dies den überhaupt wollt.” Er tat einen tiefen Zug aus seinem Krug. “Wollen wir über etwas anderes reden? Habt Ihr denn Fragen an mich?” Die Boroni schüttelte den Kopf und grub ihre Zähne in die Unterlippe. Das Thema war ihr  merklich nicht angenehm.

“Es war Ende Travia, Calmir war bereits eingeschneit, als eines Abends jemand an die Tempeltür klopfte. Als ich an die Tür trat, erhielt ich einen Schlag über den Kopf - und danach habe ich nur noch zerrissene Erinnerungen an keine besonders angenehme Behandlung in einem Gewölbe.”  Sie schluckte und suchte nach den rechten Worten, ihre Stimme ein leises Flüstern. “Irgendwann stand ich an der Grenze zwischen den Welten und spürte, wie durch mich hindurch zwei der Spiebtsphärigen in unsere Wirklichkeit brachen. Als ich es nicht mehr aushalten konnte, verstummte es plötzlich.” 

Marboliebs nach vorn gezogenen Schultern berichteten deutlichst davon, dass sie gerade weder hier sein noch diese Geschichte erzählen wollte. Mit einem jähen Aufheulen beschwerte sich Mirla über die mit einemmal beklemmend enge Umklammerung ihrer Mutter. Die Priesterin hatte den Kopf bis fast auf die Brust gesenkt, so dass kaum noch ihre Lippen unter ihrer Kapuze zu sehen waren. Sie verstummte, ihre kurzgeschnittenen Fingernägel schmerzhaft in die Hand des Oberst gegraben.

“Marbolieb wurde entführt”, ergänzte der Oberst mit noch dunklerer Stimme als vorher. “Es war eine Paktiererin, die wohl schon sehr lange Zeit ihr Unwesen treibt. Sie hetzte Massen an Untoten auf mich und meine Soldaten, die wir den Spuren der Entführer durch den Schnee folgten. Es waren menschliche Kadaver, wie auch die von Tieren. Ich verlor drei meiner besten Leute und dem Rest von uns ist es nur unter Aufbringung aller Kraftreserven gelungen, das finstere Ritual aufzuhalten, in dem Marbolieb geopfert werden sollte und welches für ihre Blindheit verantwortlich ist.” 

Dwarosch drückte die Geweihte noch fester an seine Schulter und küsste ihren Haaransatz. Die entrüsteten Geräusche einiger Zwerge in näherer Umgebung, die diese Geste hervorrief, fanden dieses eine Mal kein Gehör - zeigen aber, dass unter den erzkonservativen Angroschim die Wahl des Oberst längst nicht überall auf helle Begeisterung traf. Marbolieb selbst kroch eine tiefe Röte über ihre gebräunte Haut und sie schlug die Augen nieder. “Mehrere andere Menschen, sowie Füchse, die heiligen Tiere des Herrn Phex, wurden innerhalb der Zeremonie ausgeblutet”, fuhr der Oberst fort. Seiner Kehle entfuhr ein dunkles Grollen. Wut und Zorn sah der Rondrianer nun in der Miene des Zwergen. “Die verfluchte Dämonenbuhle starb durch geweihten Stahl. Mein Spieß durchbohrte sie und ließ sie zu stinkenden Maden zerfallen.”

Schweigend hörte sich Rondradin die Schilderung der Ereignisse von Marbolieb und Dwarosch an. In seinem Blick, den freilich nur der Zwerg lesen konnte, spiegelten sich Schmerz, Mitleid und Zorn. “Ich muss mich bei Euch beiden für meine Bitte entschuldigen, die so entsetzliche Erinnerungen wieder hervorbrachte. Trotzdem danke ich Euch dafür, dass Ihr mit mir diese Erinnerungen teilt.” Auch wenn der Geweihte versuchte ruhig zu bleiben, so konnte man erkennen, dass ihn die Geschichte mitgenommen hatte. Dagegen waren seine Probleme, die er gestern Marbolieb geschildert hatte, geradezu lachhaft. Aber hatte nicht auch sie gestern etwas erzählen wollen und hatte sich dann doch anders entschieden? “Schwester Marbolieb, ist dies die Geschichte, die Ihr gestern verworfen hattet, als ich Euch anbot, Euch etwas von der Seele  zu reden?”  Marbolieb hatte den Kopf gesenkt und ließ kaum erkennen, ob sie die Frage überhaupt gehört hatte. Der Oberst spürte, wie sich ihre Nägel tiefer in seine Hand gruben. Sie holte tief und zitternd Luft und atmete sehr tief und kontrolliert aus. Viermal, fünfmal. Dennoch vertraute sie ihrer Stimme nicht und beschränkte sich schließlich nur auf ein knappes Nicken.

Dwarosch seufzte schwer. Auch ihn ließen die Erinnerungen an den zurückliegenden Schrecken alles andere als kalt. "Lasst uns die dunklen Kapitel der jüngsten Vergangenheit für das erste schließen. Heute ist nicht der rechte Tag sich damit zu befassen”, sprach er nun wieder ruhig, kontrolliert und wechselte dann bewusst das Thema. “Sagt mir lieber, welcher Strömung innerhalb der Kirche der Leuin ihr angehört und wie ihr persönlich zu ihrem Sohn steht?"

Der Geweihte war überaus dankbar für den Themenwechsel. “Zwei interessante Fragen und gar nicht so leicht zu beantworten.” Nachdenklich wog Rondradin seine nächsten Worte ab. “Ich habe mich zu keiner der Strömungen bekannt. Tatsächlich vertrete ich Aspekte verschiedener Strömungen, namentlich der Salutaristen und der Traditionalisten. Dabei bin ich nicht der einzige. Strategie und Taktik sehe ich als notwendige Mittel auf dem Schlachtfeld an und mit Bogenschützen kann ich mich auch noch anfreunden. Ein jeder kann persönliche Ehre erringen, auch abseits des Schlachtfeldes. Allerdings vertrete ich auch die Position, dass Dilettanten nichts auf dem Schlachtfeld zu suchen haben. Schlachten sollten zwischen geschulten Kämpfern ausgetragen werden, Bauern mit improvisierten Waffen gehören jedenfalls nicht dazu. Mit Kor oder seinen Geweihten hatte ich nur oberflächlichen Kontakt, von daher konnte ich mir noch keine fundierte Meinung dazu bilden. Warum fragt Ihr?” 

“Der schwarze Mantikor und ich...”, Dwarosch zögerte, schien seine zunächst vorgesehene Antwort noch einmal zu überdenken und bekam dabei einen leicht spöttischen Gesichtsausdruck. “Sagen wir uns verbindet eine Art Hassliebe. Um das zu erklären muss ich jedoch weiter ausholen. Nun, ich war über zehn Dekaden Söldner, diente den Korknaben davon allein über fünfzig Jahre. Ich spüre SEINE Gegenwart seit Ende meiner Jugend, rieche SEINEN fauligen Atem wann immer ich eine Waffe in Händen halte oder eines Kampfes ansichtig werde. ER ist ein Teil meines Lebens, ob ich nun will oder nicht. ER hat diese Wahl getroffen, nicht ich. Nach der Schlacht an der Trollpforte schwor ich meinem bisherigen Leben ab, war gebrochen an Leib und Seele, trug gar den Zweifel des Jenseitigen Mordbrenners in mir. Das weiß ich heute.

Die Todessehnsucht veranlasste mich mich schließlich mich freiwillig zum Feldzug gegen den Reichsverräter Haffax zu melden. Der Zufall wollte es, dass ich auf dem Weg nach Mendena Marbolieb kennenlernte und sie mich in unzähligen Gesprächen und Gebeten heilte, ja befreite von den Einflüsterungen des Söldners der Niederhöllen. Sie gab mir meinen Glauben wieder, meinen Mut, meine Stärke, ja auch meinen Lebenswillen. Kurz darauf wurde ich zum Oberst der Eisenwalder ernannt und arrangierte mich mit Kor. Seither diene ich IHM soweit es in meiner Macht steht.

Warum ich euch das alles erzähle?” Dwarosch schlug kurz die Augen nieder und schüttelte den Kopf. “Ich hatte immer ein nunja eher negatives Bild von Dienern der Leuin. Naja, wir Söldner sind in den Augen vieler eurer Brüder und Schwestern auch nicht gut gelitten, wenn man es vorsichtig ausdrücken will. Doch ich lernte auf dem Weg nach Mendena jemanden kennen, der mein Bild zurechtrückte. Hagrian von Schellenberg war ein Löwe und ich hätte ihn gern meinen Freund genannt. Im Leben war er mir ein Waffenbruder. Nun, da er tot ist, denke ich oft an unsere Dispute zurück und sehe, dass wir aneinander gewachsen sind. Der Glaube an Rondra und ihren Sohn widersprechen sich nicht. Beide haben ihre Berechtigung auf dem Schlachtfeld, das ist meine tiefe Überzeugung. Ohne das Wiedererstarken der Kirche der Leuin werden auch zukünftige Konflikte ausufern, so wie die Schlachten der Borbaradkrise, in denen die Aspekt Kors unabdingbar waren, um den Krieg am Ende zu gewinnen. Es ist am Ende an uns die Schlachten von morgen so zu gestalten, dass weniger Gräuel geschehen. Auch Krieg sollte sich Regeln unterwerfen, die von zivilisierten Völkern und Rassen gemacht werden, um Leid zu begrenzen.”

Der Oberst nickte, wie um seine Worte zu unterstreichen und nahm dann einen tiefen Schluck aus seinem Humpen, bevor er weitersprach. “Kor zu Ehren habe ich ein Schwertkreuz aus den Waffen besiegter Schwarzamazonen zuammenschmieden lassen, welches nun unweit des Eslamsbrücker Tores von Mendena an der Stadtmauer befestigt ist. Doch bedeutender ist der neue Tempel ‘der Bestie der immerwährenden Dunkelheit’ in Senalosch, welcher seit diesem Rondra geweiht ist. Das Allerheiligste ist gleichzeitig ein Kriegerdenkmal und dient als Gedächtnisstätte für die Hinterbliebenen.

Wenn ihr nach der Jagd noch nichts vorhabt, so lade ich euch ein uns nach Senalosch zu begleiten. Am 10. Ingerimm begehen wir den Festtag des Isenhager Donnergrollens und werden zu Ehren der Gefallenen einen großen Gottesdienst im Tempel feiern. Viele Veteranen des Feldzuges werden kommen.”

Schweigend hatte Rondradin der Rede Dwaroschs gelauscht. Ab und an nickte er und als der Oberst auf das Zusammenwirken Rondras und Kors kam, begannen seine Augen regelrecht zu leuchten. “Ihr hattet wahrlich Glück, auf Schwester Marbolieb zu treffen. Sie verfügt über eine besondere Begabung, was die Heilung von Seelen anbelangt.” Rondradin lächelte warm und fuhr fort. “Hagrian von Schellenberg habe ich leider nur flüchtig kennenlernen dürfen. Wenn Ihr einmal Geschichten über ihn erzählen wollt, wäre ich ein dankbarer Zuhörer.  Ich würde gerne mehr über ihn erfahren. Ihr habt davon gesprochen, dass eure Dispute dazu geführt haben, dass Ihr über das Zusammenwirken von Kor und Rondra im Krieg und auf dem Schlachtfeld nachgedacht habt. Eure geäußerte Ansicht finde ich sehr interessant, ähneln sie doch auch meinen Gedanken dazu. Ja, es gibt gewisse Notwendigkeiten im Krieg, aber es müssen auch gewisse Regeln gelten, gerade was den Umgang miteinander angeht. Seht Euch nur die Schlacht am Schönbunder Grün vor neun Götterläufen an. Dort gab es nur ein großes Lazarett, welches Verletzte beider Parteien versorgte. Vormalige Gegner brachten sich gegenseitig ins Lazarett.” Ein inneres Feuer loderte in den Augen des Geweihten auf. Kurz schien es, als wolle er noch mehr dazu sagen, aber er blieb still. Schließlich fuhr er deutlich ruhiger fort.  “Eure Einladung zum Gottesdienst nehme ich gerne an, es ist mir eine Ehre.”

Mit einem gutmütigen Lächeln und einem zufriedenen Nicken quittierte der Oberst die Antwort des Rondrianers. Er freute sich über die Zusage Rondradins nach Senalosch zu kommen. Darauf hob er erneut den Humpen und stieß mit ihm an. Dwarosch würde ihn auffordern einige Worte, ein Gebet zu sprechen im Tempel des Mantikor. Das hätte Hagrian sicher gefallen, dachte der Zwerg bei sich - ein Gedanke, welcher Ausdruck der Wertschätzung war, die der Oberst für den Toten empfand.

Marbolieb hatte während Dwaroschs Rede vorsichtig ihre Hand von der Pranke des Zwergen gelöst. Sie hatte ihm sicher wehgetan. Flüchtig vergewisserte sie sich, dass Mirla sicher dort saß, wo sie hingehörte - auf dem Schenkel des Oberst - und steckte ihre Hände tief in die weiten Ärmel ihrer Robe, den Blick weiterhin gesenkt. Mirla dagegen war mehr denn erleichtert, dem klammernden Griff entronnen zu sein, linste vorsichtig zu ihrer Mutter und hechtete sich dann mit einem strahlenden Lächeln auf den Tisch in Richtung der Schmalzgebäckschüssel, ergriff sich triumphierend eine große Beute, wedelte damit und rutschte, bis über beide Backen grinsend, in Richtung des Rondrageweihten, nur um den triefenden Gebäckkringel unter sein Kinn zu schwenken. “Gobbihopp? Mam!”

Lachend nahm dieser den Kringel entgegen und teilte ihn in zwei gleich große Stücke. Eine Hälfte reichte er wieder Mirla mit einem Augenzwinkern und biss herzhaft in seine Hälfte des Kringels. Mit der anderen Hand strubbelte er durch das Haar der Kleinen. “Gleich, meine kleine Ritterin. Vorausgesetzt, Ihr erlaubt es.” Der letzte Satz richtete sich an das Paar ihm gegenüber. Die Boroni nickte. “Habt Dank dafür.”  Ihre Stimme war leise und flach, und sie hatte kein einziges Mal den Kopf gehoben. Doch für Mirla war diese Feier ein einziges Freudenfest - und Marbolieb war dem Geweihten, der ihr dieses Vergnügen bereitete, von Herzen dankbar. Zuhause hatte sie kein Reitschwein - und dass der Oberst mit ihr auf den Schultern durch die Gegend laufen würde, war kein Bild, das sie sich ansatzweise vorzustellen vermochte. Wobei ehrlicherweise aber auch gesagt werden musste, dass bislang einfach noch niemand auf den Gedanken verfallen war, sich als Reittier für das Mädchen anzudienen.

Mirla waren diese Gedanken fremd. Sie strahlte Rondradin mit all der vorbehaltlosen Freude an, zu der nur ein kleines Kind fähig war, und biss in ihren Teigkringel, dass ihr das Schmalz über das Kinn lief und auf ihr Hemd tropfte. “Hopp, hopp, gleich!” sang sie fröhlich. Nun lachte auch der Oberst. “Sicher Mirlaxa. Wie ihre kleine Majestät befiehlt.”

Mit einem Griff unter die Achseln des Kindes hob Dwarosch Marboliebs Tochter spielerisch leicht in die Luft und reichte sie dem Rondrianer über den Tisch und die Bierkrüge hinweg. “Ich mag Pferde nicht besonders”, gestand er. “Die robusten Ponys auf denen wir Angroschim zumeist reiten habe ich auch nicht viel lieber. Naja, in Zukunft werde ich mit Mirlaxa wohl dennoch mal ausreiten müssen. Mein Hintern wird es schon verkraften.”

Rondradin setzte Mirla auf seine Schultern und erhob sich von der Bank. "Gut festhalten, da oben." ermahnte er das über beide Backen strahlende Mädchen. “Bringt die Kleine nicht noch auf Ideen.” erwiderte Rondradin lachend. “Derzeit genügt es, wenn man sie auf die Schultern nimmt und dann losrennt. Wobei es wichtig ist, auch Haken zu schlagen, damit es nicht langweilig wird.” Als er sich schon verabschieden wollte, fiel sein Blick auf Marbolieb, die zusammengesunken neben Dwarosch saß. Mirla immer noch auf den Schultern tragend, ging der Geweihte neben seiner Glaubensschwester in die Knie. "Marbolieb, fasst Mut. Ihr habt einen Mann an eurer Seite, der euch bedingungslos liebt und eine fidele kleine Tochter, die euch nicht weniger liebt. Seid Euch gewiss, dass es noch mehr Leute gibt, die Euch in Freundschaft zugetan sind und Euch gerne den Rücken stärken, so Ihr sie braucht." flüsterte er beruhigend in das Ohr der Boroni. "Mirla und ich machen jetzt einen ausgedehnten Ausflug und kommen dann wieder zurück." Ein Versprechen, der Geweihten etwas Zeit und Ruhe zu geben, damit diese wieder zu sich selbst finden konnte. 

Die zierliche Borongeweihte nickte knapp und tastete kurz und wortlos nach dem Arm des Geweihten, berührte ihn kurz und zog die Hand wieder zurück. Marbolieb holte tief Luft und wandte sich dem Oberst an ihrer Seite zu. “Sag, was gibt es noch zu trinken?” bot sie die Rückkehr zu einem neutralen Thema an.

“Ich kann dir eines der eher malzigen Biere bestellen wenn du möchtest Räblein”, schlug der Zwerg vor. “Die sind eher süßlich und weniger herb. Die haben eines aus Angbar hier, dass auch nicht so stark ist wie das Doppelbock, welches ich mit Vorliebe trinke.”

Fremdgesteuert

Nach kurzer Pause fügte Dwarosch hinzu. “Ich habe mit dem Rabensteiner gesprochen.” Deutlich erkannte Marbolieb den plötzlichen Ernst in der Stimme des Zwergen. Indes erhob sich Rondradin und verbeugte sich tief vor dem Paar. Während Mirla sich an den kurzen Haaren des Geweihten festklammerte und dabei gluckste, verabschiedete sich Rondradin. “Ich verabschiede mich vorerst, denn eine edle Maid wünscht einen Ritt durch den Wald.” Damit drehte er sich um und rannte los. Der kindliche Schlachtruf “Gobbihobb! Schnell!” hing noch kurz in der Luft, dann waren Mirla und ihr Reittier auch schon verschwunden.

“Ein Bier bitte.” Marbolieb schenkte dem davoneilenden Duo ein leises Schmunzeln und tastete nach der Hand des Oberst.  “Und was sagt er?” Ihre Stimme war leise  geworden, aber Dwarosch kannte sie gut genug, die Spannung darin zu bemerken.

Dwarosch hob die Arm und winkte Mirlaxa zum Abschied. Seine Miene dabei war jedoch nicht mehr so heiter wie zuvor. Nachdem dass ungewöhnlich Gespann enteilt war, bestellte er Marbolieb das Gewünschte, bevor er sich wieder der Geweihten zuwandte und von neuem die Stimme senkte, um nur ihr seine Worte angedeihen zu lassen. “Du kannst bis zum Herbst in Senalosch bleiben. Bevor die Pässe geschlossen sind solltest du jedoch zurück nach Calmir.” Marbolieb atmete tief ein. “So früh schon.” Bestürzung sprach aus ihrer Haltung, mehr noch als aus ihren Worten. Sie grub ihre Zähne in die Unterlippe und senkte den Kopf, die Hände fest um ihre eigenen Oberarme geschlungen. Einige Atemzüge lang verharrte sie so, ehe sie schließlich kaum merklich nickte. “Danke, dass Du es mir gesagt hast.” Mit einem Mal war ihre Stimme brüchig, wie die einer alten Frau.

Der Oberst seufzte schwer. “Mir ist dies auch viel zu früh, Räblein! Mirlaxa und dich über den Winter allein in Calmir zu wissen wird mir keine Ruhe lassen.” Dwarosch schnaubte, so leicht wollte er scheinbar nicht aufgeben. “Können wir in Punin darum ersuchen, dass du in Senalosch bleiben kannst, um den Menschen dort zu helfen? Inwieweit hat der Rabensteiner überhaupt das Recht, über dich zu bestimmen? Du bist immerhin länger geweiht als er.” Marbolieb seufzte. “Er dient der Kirche schon länger als ich. Er hat in Punin nach einer Geweihten für Calmir ersucht und er traf die Wahl unter mehreren Priestern.” Sie rieb sich ihre Arme unter ihrer fadenscheinigen Robe, als fröstele sie an diesem warmen Ingerimmabend. Es dauerte einige Atemzüge, bis sie mit leiser, sanfter Stimme weitersprach. “Den Winter verbringt er in Punin. Er würde es wohl wenig gut aufnehmen, wenn er dort über Dein Ersuchen zu entscheiden hat.” Sie verstummte, in der Hoffnung, dass Dwarosch diese Schwierigkeiten ebenfalls verstände. Ein ungläubiges Ausatmen des Oberst nahm ihr diese Hoffnung indes sehr rasch. “Was würdest Du tun, wenn sich ohne Dein Wissen einer Deiner Soldaten beim Herzog um eine Versetzung bemühte?” versuchte sie sich an einer Erklärung. Die Geweihte schluckte, nicht gewillt, ihren Emotionen Raum zu überlassen.

Der Oberst schnaubte erneut unwillig. Natürlich würde ihm dies missfallen, mehr noch, es würde ihn in Rage versetzen. Eines jedoch irritierte ihn. “Warum meinst du hat ausgerechnet er über mein Ersuchen zu entscheiden? Er ist ein ‘einfacher Geweihter’, oder bekleidet er bereits jetzt ein höheres Amt in der Kirche des Raben?”

Die kleine Boroni hob den Kopf in Richtung ihres Gefährten. “Ich weiß nicht, was er ist, Dwarosch. Aber in jedem anderen Fall, den ich kenne, hat die Kirche entschieden, wen sie entsandte. Und seit ich Priesterin wurde, ist er im Tempel. Jeden Winter.” Dwarosch schloss die Augen. Hilflosigkeit war eines der Gefühle, die er am meisten hasste. Es kostete ihn innere Kraft, sie niederzuringen.

“Hast du einen anderen Einfall?”, fragte er mit rauer Stimme, jedoch sanftem Klang, der ihr verriet, dass er dankbar wäre für jeden Zweig, der ihm gereicht wurde. Marbolieb schlug die Augen nieder. Sie wollte ihm die Hoffnung nicht nehmen, wusste aber nicht, wie sie dies mit leeren Händen bewerkstelligen sollte. Und so schüttelte sie nur den Kopf, langsam und traurig, und legte ihre schlanke Hand in seine. “Wir haben den ganzen Sommer,” bot sie ihm schüchtern an.

Ein Seufzen entrann Dwaroschs Kehle. Da war sie wieder, die Hoffnung darauf, dass die Zeit Marboliebs Blindheit würde heilen können. Der ‘Gebirgsbock’, jener im Isenhag weit bekannte Geode, der die Geweihte mittels seiner Magie von der Schwelle des Todes zurückgeholt hatte, vertrat zumindest diese Hoffnung. Dwarosch hielt sich daran fest, wann immer er konnte dieser Tage. Der Oberst nickte. “Wir werden ihn nutzen”, versprach er. “Vielleicht müssen wir Rat bei den Geweihten der Peraine einholen und noch einmal mit Gargamil sprechen. Es muss einen Weg geben.”

Die Geweihte sann einige Lidschläge lang über die Worte Dwaroschs nach. “Mein armer Liebster” flüsterte sie und tastete sanft nach seiner Wange, berührte sie, leicht wie das Streicheln einer Feder, ehe sie ihre Hand wieder senkte. “Gräme Dich nicht wegen meiner Blindheit. Sie wird bleiben oder gehen,  wie die Götter es wollen.” Ein trauriges Lächeln huschte über ihre Gesicht. “Doch von Belang ist sie nicht.” “Doch, das ist es - für deine Sicherheit und mehr noch für Mirlaxa”, entgegnete Dwarosch tonlos. Er wollte nicht streiten, wusste er doch nur zu gut, dass dies zu nichts führte. Mit einer Frau zu diskutieren war schon schwierig, mit einer Geweihten des Herrn Boron war dies scheinbar … unmöglich. “Bitte, lass uns zumindest alles versuchen. Tu es mir zuliebe.” Das Lächeln, das keines war, tanzte weiterhin auf Marboliebs Lippen. “Wenn es Dir Frieden schenkt, gerne.” Sie ließ ihre Fingerspitzen auf dem dicht behaarten Handrücken des Oberst ruhen. “Ich werde alles für Mirlas Wohlergehen tun. Hab’ keine Angst.” Der Zwerg schien sich etwas zu entspannen. Er drehte seine Hand und griff nach der ihrigen. “Das ist gut”, sagte er sanft und neckte sie, indem er sie leicht mit der Schulter anstupste. 

Der Trollpforzer

Für etwas Unmut, zumindest bei den heimischen Gästen aus dem Isenhag, sorgte derweil der Auftritt des Junkers von Trollpfortz, welcher sein Zelt zu nächtlicher Stunde aufgeschlagen und sich während der Ansprache des Vogts im Hintergrund gehalten hatte. Nun aber, auf dem Weg aller Gäste zur Jagdhütte, drängte er sich fast rüpelhaft vor, um Borindarax von Nilsitz ein Geschenk, einen Wandteppich mit firiungefälligem Motiv, von zwei seiner finster anzusehenden Begleitern zu überreichen zu lassen.  Der Vogt brauchte zunächst einen Moment sich zu sammeln, als sich die drei Gestalten ihm und seinem Leibwächter Boindil in den Weg stellten, doch als er den Trollpforzer dann als seinen Vasallen erkannten, freute er sich über dessen Erscheinen, welches nicht selbstverständlich war, galt er doch als unbeliebt.  Der zwei Schritt große Hüne mit ungepflegten Vollbart und nahezu zusammengewachsen Augenbrauen, war darüber hinaus als Wilderer verschrien und niemand mochte sagen, ob an diesen Gerüchten etwas dran war. Beweisen hatte man ihm bisher jedenfalls nichts können, trotz diverse Anschuldigungen von Gemeinen.  Sein Wappen, den schreitenden, silbernen Troll mit Keule jedenfalls, stellte er trotzalledem voller Stolz zur Schau und gesellte sich nach der Überreichung des Präsentes voller Unverfrorenheit unter die Gäste am Bierausschank. Ach ja, als Trunkenbold war er auch verschrien. 

„Welch ungehobelte Manieren”, entfuhr es Eduina, der auffallend attraktiven und spitzzüngigen Zofe der Baronin von Rodaschquell. Mit einem energischen Kopfschütteln sah sie entrüstet zum Trollpforzer. Der imposante Ritter an ihrer Seite, Darian von Sturmfels, zog eine Augenbraue hoch und kommentierte die Verärgerung der Zofe mit einem schiefen Grinsen. Es war ihm und Eduina gar nicht aufgefallen, dass Liana nicht mehr in ihrer unmittelbaren Nähe stand. 

Solche Versammlungen waren oft mit innigen Schwüren oder gar Gebeten verbunden, die der Elfe in dieser Form nur wenig bedeuteten. Es schien ihr jedoch nicht richtig, inmitten all derjenigen zu stehen, die an solchen Gebeten teilnahmen. Deswegen war sie langsam, sachte und unauffällig in Richtung Eingang gegangen, wo sie etwas Abseits, aber mit Freuden Borindarax zugehört hatte. Dieser Vogt war so anders als viele Zwerge, die sie in den Jahren auf Rodaschquell kennengelernt hatte. Viele von ihnen waren freundlich und gar nicht so mürrisch, wie oft behauptet wurde. Und dennoch blieben sie oft gern unter sich. Dieser Vogt jedoch beschwor die Einigkeit der Bewohner der Grafschaft, ja, der Nordmarken…  Noch immer sinnierte sie über die Worte, als etwas brüsk ein sehr grobschlächtiger Gast mit einem seltsamen Trollwappen sich einen Weg durch die Leute bahnte auf dem Weg zum Bierschank draußen - und damit geradewegs auf sie zu ...  Der grobschlächtig wirkende Mann grunzte etwas abfälliges in Richtung seiner düster  dreinschauenden Begleiter, woraufhin alle drei lachten, während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnten.

Spät bemerkte der Grobian die Elfe, nur um abrupt und mit  unwillig zusammengezogenen Augenbrauen vor ihr stehenzubleiben. “Gibt es einen Grund dafür, dass ihr mich so anstarrt”, fragte der Trollpforzer mit tiefer, rauer Stimme. Das “...Hochgeboren”, schob er nicht minder kratzbürstig hinterher, als ihm bewusst wurde, dass das Spitzohr nur die Baronin von Rodaschquell seien konnte. Sie roch seinen schlechten Atem, die Ausdünstungen seines ungepflegten Körpers, und beides widerte sie an. Aber noch viel mehr als das ekelte sie sich ob seiner groben, ja streitsüchtigen Art. Es kostete sie einige Überwindung,  diesen Menschen zu ertragen, und sie nahm sich zusammen, um sich nicht die leiseste Blöße zu geben.

Während er so vor ihr stand und sie herausfordernd anglotzte, machte sie einen Schritt zur Seite, so dass sie nun nicht mehr vor ihm, sondern neben ihm stand. Langsam folgte er ihr missmutig mit seinem zotteligen Haupt. Anmutig hob die Elfe ihren rechten Arm, fuhr mit ihrer Hand den Saum ihres Kleides am Kragen entlang, während ihre schönen und seltsamen Augen geradezu aufleuchteten, als sie ihn direkt ansah.

“Was lässt Euch glauben, ich hätte Euch angestarrt?”, sagte sie sanft, leise und völlig ohne Hohn oder Herablassung, und dennoch mit einer Kühle, die Außenstehende ihr nicht zugetraut hätten. Da sie ihn nicht kannte, verzichtete sie auf eine Anrede. “Ich hab Augen im Kopf”, war das einzige, was Thankred dazu zu sagen hatte. Die Frage an sich war für ihn schon absurd und das sahen seine beiden Begleiter offenkundig ebenso, denn sie grinsten in sich hinein. Das Lächeln Darians erstarb in dem Augenblick, als er bemerkte, dass dieser ungehobelte Klotz sich seiner Herrin genähert hatte. Er war ihr nach seinem Ermessen deutlich ZU nah. Warum bei allen Zwölfen bleibt sie nicht in meiner Nähe?, fluchte er innerlich. Aber mehr noch schalt er sich selbst, da es ihr offenbar immer wieder gelang, sich unbemerkt zu entfernen … .

Es kam Bewegung in den Ritter. Schnell bahnte er sich einen Weg durch die adligen Gäste, die ihm im Weg standen, und baute sich dann trotzig vor dem Trollpforzer auf.  Der grobschlächtige Hüne überragte den Sturmfelser, der selbst recht groß war, noch einmal deutlich. Doch Darian war von imposanter Statur, und die Anspannung in seinen Muskeln und der harte, herausfordernde Ausdruck in seinen Augen ließen keinen Zweifel daran, dass er durchaus bereit war, es mit dem Kerl aufzunehmen. “Ihr seid der Dame Morgenrot zu nahe. Entfernt Euch”, sagte er kalt  - darauf vorbereitet, dass der Trollpforzer womöglich eine Dummheit begehen mochte … .

Doch dieser lachte nur herzhaft und wedelte kurz mit der Rechten, als seine beiden Begleiter vorpreschen wollten, um sich zwischen ihren Herren und den Ritter zu stellen. “Eigentlich wollte ich meinen Weg eben gerade fortsetzen, da ‘ihre Hochgeboren’ so freundlich war auf Seite zu treten, doch nun steht ihr mir im Weg”, entgegnete der streitbare Junker belustigt. Der Ritter betrachtete den Junker mit einem spöttischen Grinsen und blickte ihm fest in die Augen, drehte sich halb zur Seite und wies einladend in Richtung der Pforte. “Nun, der Durchgang ist breit genug und ich bin sicher, Ihr findet den Ausgang auch ohne meine Hilfe. Wenn dem nicht so sein sollte, helfen euch Eure beiden …. Begleiter…” - er gab dem Wort einen besonders höhnischen Ton - “sicherlich gerne weiter.”

“Da auch ihr mir artig Platz gemacht habt, sehe ich dafür keinen Grund”, höhnte der Trollpforzer und schritt an Rodaschqueller Ritter vorbei, seine zwei Schatten folgten ihm.  “Nehmt euch vor den Trollen im Wald in acht”, sagte er mit einem undeutbaren Unterton, als er Darian bereits passiert hatte. “Sie reißen Leuten die sie nicht mögen gerne Arme und Beine aus.”

Die Baronin und ihr Ritter

Der Ritter zog die Stirn kraus und zeigte einen reichlich irritierten und zugleich amüsierten Gesichtsausdruck. Diese aufgeblasene Trollfurz! Er hätte eine ordentliche Tracht Prügel verdient, und bei Rondra, die soll ... Noch bevor er ihm nachgehen oder etwas erwidern konnte, spürte er eine sanfte Hand auf seinem Arm. Er drehte sich um. Die Baronin sagte nichts, sondern sah ihn nur wissend, ruhig und gütig an. Nur zu gut war ihr bewusst, dass ihr Ritter ein Hitzkopf war, mit Feuereifer dabei, wenn es darum ging, ihre oder seine Ehre zu verteidigen, wann immer er eines davon verletzt sah. Sie war ihm durchaus dankbar für seine Loyalität. Auch wenn es ihr insgeheim missfiel, dass es ihm so schwer fiel, die Beherrschung zu wahren. Ihre Augen sprachen nur zu beredt, dass sie wünschte, er möge ablassen. Darian senkte mit einem verstehenden Lächeln seinen Blick und deutete ein Nicken an. Der Trotz und die Streitsucht, die in ihm aufgekeimt waren, schmolzen dahin.

Doch Ruhe kehrte damit nicht ein.  “Trolle? Bisweilen verirren sie sich auch in große Jagdhäuser, sagt man. Doch glücklicherweise riecht man sie und den Ungemach, den sie mit sich bringen, schon drei Meilen gegen den Wind.”

Es war Eduina, die laut und deutlich vernehmbar die rüde Drohung des Trollpforzers kommentierte und mit hochgezogenen Augenbrauen und einem spitzen, amüsierten Lächeln geradewegs auf die Pforte zuschritt. Einem Lächeln, das sehr gut die Angst überdeckte, die ihr dieser Hühne durchaus einfloss. Aber Bei allen Zwölfen: Ein derart unverschämtes Gebaren gegenüber ihrer Dame konnte sie diesem Rüpel nicht so einfach durchgehen lassen! Für diese Entgegnung drehte sich der Junker jedoch nicht einmal mehr um, war sie doch von einem Weib gesprochen und deren Worte hatten für ihn zumeist eh keinerlei Relevanz. 

Bierdurst

Aufmerksam hörten die Altenbergs der Rede des Vogtes zu und schmunzelten leicht bei der Ansprache des Geweihten. “Nun das war kurz und auf dem Punkt gebracht, würde ich sagen.

Nun los Kinder, lasst uns eine Platz vor der Jagdhütte suchen und das Bier unseres Gastgebers probieren.”, sagte Doctora von Altenberg und schob ihren Sohn und Nichte voran. Für den heutigen Tag hatte die Doctora ein rotes Kleid gewählt, das an Ärmel und Saum von grün-gefärbten Fell geziert war. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der von einer schönen Haarklemme, die mit grünen Edelsteinen verziert waren, zusammengehalten.

Ihre Nichte Gelda hatte jetzt auch ein Kleid an, das aus einem grünen Leinenrock  mit einem grünen Wildledermieder bestand. Saum und Schulterträger hatten golddurchwirkte Stickereien die Jagdwild nachempfunden waren. An einem schmalen Gürtel trug sie wieder ihren Hirschfänger in einer Scheide. Ihr kupferrotes Haar hatte sie kunstvoll um ihren Kopf geflochten. Elvan, der Schreiber, trug einen blauen Wildlederwams, enggeschnittene, graue Beinkleider mit festen Stiefel. Eine lederne Dokumentenrolle hing um seiner rechten Schulter. Das Dreiergespann steuerte eine der Bänke an, wobei die Doctora darauf achtete, in der Nähe des Vogtes zu sitzen. Während Gelda vorsichtig zu den Zwergen rüber lugte, schaute Maura sich nach der Rabensteiner Baronin um. Elvan winkte, um die Aufmerksamkeit der Magd zu bekommen. Die Neugier auf das lokale Bier war groß. 

Lange musste er nicht warten und die Magd brachte drei große Humpen mit Bier mit prächtiger Schaumkrone. Gelda griff sich einen Humpen und verließ die Bank mit den Worten : “Ich bin gleich wieder da.” Die junge Dame schlenderte langsam zu der Bank an dem Vogt Borindarax es sich gemütlich gemacht hatte. Auf dem Weg dorthin, sah sie die Gauklerin Doratrava und den Krieger Nivard. Sie prostete beiden zu, sprach aber dann den Vogt direkt an. “Ich grüße Euch, Meister Borindarax. Ich hatte noch keine Gelegenheit mich vorzustellen. Mein Name ist Gelda von Altenberg. Der Edle Herr Elvan von Altenberg ist mein Vetter. Ich wollte mich persönlich bei Euch bedanken, für diese schöne Veranstaltung und ich freue mich schon sehr auf die morgige Jagd. Ich würde mich gerne einer Jagdgesellschaft anschließen, könnt ihr mir da jemanden empfehlen?”, fragte sie und stellte dabei den Humpen ab.

Gelda und Doratrava

Doratrava war auf Gelda aufmerksam geworden, als diese herübergeprostet hatte. Sie stieß Nivard an, deutete auf die junge Frau und kam mit ihrem Bier herüber, Nivard im Schlepptau. “Zum Wohl” prostete Nivard in die Runde und gesellte sich mit Doratrava zu Borindarax und Gelda. Er hatte auf dem Weg mit halbem Ohr vernommen, dass die junge Altenbergerin den Vogt zur Jagd befragte, und war ebenfalls gespannt über dessen Auskunft zum Ablauf des morgigen Tages. In welcher Gruppe er wohl jagen gehen würde? Wenn er Elvans Bitte nachkommen wollte, musste er sich auf jeden Fall der mit Gelda anschließen. Seine neue (und erste) “Schülerin” wäre da womöglich auch dabei. Vielleicht konnte er Elvan doch auch noch zur Jagd überreden - das könnte doch ganz lustig werden. Im Sinne der Völkerverständigung gehört sicherlich auch der eine oder andere Angroscho in die Jagdgesellschaft - außerdem wäre etwas Ortskunde nicht schlecht in diesen Wäldern… und Wehrhaftigkeit, wer weiß, was man so alles im Dickicht aufschreckt…

Borindarax von Nilsitz wandte sich indes Gelda von Altenberg zu. “Vielen Dank edle Dame. Es erfreut mich zu hören, dass es euch gefällt.” Fast beiläufig hob er seinen Arm mit dem Bierkrug, um anzuzeigen, dass er seine Umgebung im Auge hatte. Nach einen tiefen Schluck sprach er weiter. “Hm, empfehlen wäre zu viel gesagt, dazu kenne ich mich in der Waidmannskunst zu wenig aus. Was mir aber zu Ohren gekommen ist, ist dass der Junker von Trollpfortz sich vortrefflich auskennt in den Wäldern. Thankred ist hier heimisch und ein leidenschaftlicher Jäger. Allerdings gilt er als eher schroff und steht nicht im Ruf ein ausgewiesener Menschenfreund zu sein. Wenn ihr aber nur der Jagd und nicht der schönen Worte frönen wollt, so könnte er die richtige Wahl sein.

Dann haben wir da meine beiden Brüder Borix und Tharnax.” Der Vogt nickte in Richtung der beiden Angroschim, die nicht weit entfernt saßen und anscheinend angeregt und gestenreich diskutierten. “Wie ich vernommen habe werden sie definitiv gemeinsam auf die Jagd gehen. Sie dürften auch noch ‘Verstärkung’ benötigen.”

Doratrava sah unschlüssig zu Nivard und dann zu Gelda. “Hm, mit einem mürrischen, ungehobelten Klotz habe ich keine Lust zu jagen. Sollen wir uns den Zwergen anschließen? Die waren doch ganz lustig bisher. - Ach, Gelda, Nivard hat mir vorhin gezeigt, wie man mit dem Speer umgeht. Wir müssen das aber noch mit einem beweglichen Heuballen probieren, willst du - ups, wollt Ihr - äh, haben wir gestern ‘du’ oder ‘ihr’ gesagt? Egal, willst du mitmachen?” Doratrava lächelte etwas verlegen, aber erwartungsvoll.

"Das klingt mir nach einem guten Vorschlag!” griff Nivard Doratravas Worte auf.  “Ich würde mich sehr freuen, mich ebenfalls Euren Brüdern anschließen zu dürfen und an der kundigen Seite zweier Angroschim die Wälder auf der Pirsch zu durchstreifen" meinte Nivard in Richtung Borindarax, letzteres, um Doratravas vielleicht etwas unbedarft gewählte Worte 'Zwerge' und 'lustig' auszugleichen. Nach den vorangegangenen Übungen und mit dem ersten, alles andere als zwergenhaften und bereits mehr als halb entleerten Bierhumpen in der Hand ergänzte er, trotz weiblicher Gesellschaft recht zutraulich, in Richtung des Vogts von Nilsitz: "Die Dame Doratrava hat sich in Sachen Jagdtechniken mit dem Speer als sehr gelehrige Schülerin erwiesen und wird Eure Brüder auf der morgigen Jagd sicherlich nicht ausbremsen. Ich selbst bin in der Jagd recht erfahren. Und auch Ihr seid eine versierte Jägerin, wie mir Euer Cousin berichtete, nicht wahr Gelda?" rührte er, nun wieder etwas vorsichtiger zur jungen Altenbergerin  blickend, die Werbetrommel.

“Mir wären die Zwerge auch lieber, immerhin ist es ja Euer Wunsch das unsere Völker aufeinander zu gehen, nicht wahr?” Gelda drehte sich zu Doratrava und Nivard und schaute beide abschätzig an. Eigentlich hatte sie gedacht, dass die Gauklerin keine Interesse an ihrer Gesellschaft hatte und war noch ein wenig nachtragend. Aber genaugenommen war sie enttäuscht von der Rahjageweihten, die so wenig Interesse, an die für Gelda wichtigen Frage über die Liebe zwischen Mensch und Zwerg und deren möglichen Bindungen, hatte. Sie entschied, dem ganzen nochmals eine Chance zu geben. “Der Speer ist eine gute Wahl. Ich bin allerdings besser mit dem Bogen.“ Die Altenbergerin griff wieder nach ihren Humpen und stieß mit den beiden an. “Ich würde gerne mit euch beiden jagen gehen. Lasst uns Meister Tharnax fragen, ob wir uns ihm anschließen können.” Sie verneigte sich kurz vor dem Vogt und ging mit der Gauklerin und dem Krieger zu Tharnax und Borix. Dort angekommen, ließ sie Nivard den Vortritt. 

Doratrava spürte die Reserviertheit der jungen Dame, konnte sie sich allerdings nicht recht erklären. Hatte sie unbewusst irgend etwas getan, um sie zu verärgern? Sie zucke innerlich die Schultern. Wenn dem so war, konnte sie es jetzt nicht mehr ändern. Man würde sehen. Hm, außerdem hatte Gelda das mit der Übung mit ‘bewegten Heuballen’ auch noch nicht recht registriert. Na ja, Doratrava beschloss, jetzt erstmal abzuwarten, was die Adligen und die Zwerge miteinander ausmachten.

Auf die Frage Nivards an die beiden Angroschim erhielt dieser keine schnelle Antwort. Der Bergvogt von Arxozim machte zunächst eine wenig begeisterte Miene und schien unschlüssig, was er auf die vielen Worte des Menschen hin antworten sollte. Ebenso ging es wohl Borix neben ihm, denn dieser zuckte nur leicht mit den Schultern, als Tharnax ihn fragend ansah.

Wahl der Waffen

‘Na da scheinen sich unsere Überlegungen ja wie von selbst aufzulösen’, dachte Borix leise in sich hinein schmunzelnd. ‘Erst macht man sich einen Kopf, wenn man von den Menschen mitnehmen könnte, da kommen sie schon herbei gelaufen und fragen.’  Der Koscher nahm sich derweil ein Herz. “Borix und ich wollen Schwarzwild jagen gehen. Wir sind beide geübt im Umgang mit der Armbrust und weniger mit der Saufeder. Wer uns mit dieser oder einem Stoßspeer begleiten möchte, der möge es tun. Einem weiteren Schützen können wir auch brauchen, aber damit wären wir meiner Meinung nach auch komplett. 

Bei einer verhältnismäßig kleinen Gruppe steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch jeder auf seine Kosten kommt. Und dies ist ganz in unserem Sinne.”

Nivard war sich unschlüssig. Etwas zögerlich, dabei zwischen den Zwergen und den beiden jungen Frauen hin und her blickend, fing er an: “Sowohl mit dem Bogen als auch dem Stoßspeer könnte ich Euch behilflich sein, bin in den Wäldern zu Hause und im Fährtenlesen etwas bewandert. Doch möchte ich weder Euren Jagderfolg durch eine zu große Zahl an Begleitern gefährden noch eine der beiden Damen hier, die sich besonders freuen würden, an Eurer ortskundigen Seite auf die Pirsch zu gehen, um dieses Vergnügen bringen.”

“Nivard hat mir gezeigt, wie man mit dem Speer umgeht. Und Dolche werfen kann ich auch”, fügte Doratrava erwartungsvoll lächelnd hinzu. Dass noch die Übung mit den ‘bewegten Heuballen’ ausstand, verschwieg sie geflissentlich. “Ich bin recht geübt mit dem Bogen, obwohl mir die Armbrust auch nicht fremd ist. Ich denke, wenn wir drei uns Euch anschließen, wären wir doch eine kleine Gruppe”. Gelda lächelte zufrieden. “ Wir werden Euch nicht enttäuschen.” Dann drehte sie sich zu Doratrava und flüsterte ihr zu:”Und wir können nachher noch ein wenig üben. Da freu' ich mich drauf!” Doratrava nickte, ebenso erfreut, dass die kleine Missstimmung zwischen ihnen beiden offenbar der Vergangenheit angehörte. Mal sehen, was die junge Frau ihr zeigen konnte und ob es sich von Nivards Unterweisungen unterschied. 

“Nun fünf scheinen mir eine gute Zahl zu sein”, antwortete der Zwerg und nahm noch einen tiefen Schluck. “Aber ihr wollt doch sicher nicht morgen in diesen Kleider jagen?” frug er die beiden Frauen mit einem Blick auf die doch nicht so reißfesten Kleider. “Bei einer Saujagd geht es schnell mal vom Weg ab und quer durch Unterholz und Dornengestrüpp, das würden die Kleider nicht lange aushalten.” 

Die Gauklerin sah an sich herunter; sie trug ihre gewöhnliche Straßenkleidung, also leichte Stiefel, Lederhose, Leinenhemd, Umhang. Damit konnte man auch schon mal abseits eines Weges unterwegs sein, ohne sich gleich irgend etwas zu zerreißen, aber gut, Dornengestrüpp wäre wohl zuviel. Doratrava beschloss, vielleicht später doch mal die Jagdhelfer zu fragen, was man da machen konnte. Sie selbst hatte leider nichts Festeres dabei.

“Ich würde vorschlagen, dass wir noch vor dem Festgelage üben und ich muss unbedingt dann aus diesem Kleid raus, das behindert mich nur zu sehr. Kannst du mit dem Bogen umgehen? Wenn nicht kann ich dir das beibringen, das ist gar nicht so schwer. Nivard, du kannst das bestimmt oder? Nivard stutzte kurz, ob des formlosen Übergangs zum Du zwischen Gelda und ihm, entschloss sich dann aber, dies mit einem Lächeln anzunehmen und nickte bestätigend auf Geldas Frage. Auf der herzöglichen Kadettenakademie hatte er für den Fernkampf zwar die Armbrust schätzen gelernt, auf der Jagd bevorzugte er aber immer noch den Bogen, wie er es in der Heimat gelernt hatte. Nun, Meister Thanax, Meister Borix, dann wollen wir Euch nicht weiter stören. Wir treffen uns dann spätestens zur Jagd.” Sie nahm nochmals einen Schluck von ihrem Bier. “Wenn ihr wollt, könnt ihr gerne mit uns trinken.” Damit meinte sie den Krieger und die Gauklerin und wies auf die Bank, wo Maura und Elvan von Altenberg saßen.

“Gern”, antwortete Doratrava, während sie den Zwergen freundlich zum Abschied zuwinkte. “Also, mit dem Bogen umgehen kann ich nicht. Ist das nicht ein bisschen viel für heute, wenn ich das auch noch lernen soll? Sollten wir uns nicht auf den Speer konzentrieren?” Allerdings müsste sie mit einem Bogen nicht so nah heran, das hatte auch etwas für sich. Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als sie den anderen Tisch erreichten und die Gauklerin der älteren Frau und dem jungen, wenig jagderfahren oder kriegerisch aussehenden Mann etwas verlegen zunickte. Sie hatte die beiden gestern zwar schon einmal flüchtig in Geldas Begleitung gesehen, aber die Namen vergessen, wenn sie diese überhaupt gekannt hatte, und konnte sie deshalb jetzt nicht angemessen begrüßen, was sie auf Hilfe von Gelda hoffen ließ. Verstohlen sah sie sich um, nicht dass sie Nivard unterwegs verloren hatten.

Nivard folgte den beiden jungen Damen bereits in Richtung der Altenberger, wenngleich in einigen Schritt Abstand, da er sich zuerst nochmals prostend bei ihren angehenden zwergischen Jagdgefährten bedankt und bis spätestens morgen verabschiedet hatte. Der junge Krieger freute sich auf den nächsten Tag und die Pirsch. Mit dieser Truppe würde ihnen Firuns Segen sicher zuteil sein. Und mit zwei Angroschim an der Seite fühlte er sich auch sicherer angesichts der weiblichen Begleitung - zu Doratrava hatte er inzwischen zwar Zutrauen gefunden, aber Gelda war ihm noch nicht so ganz geheuer. Schade, dass Elvan nicht mitkommen wollte. Aber sicher wäre es den beiden Zwergen alles andere als Recht, wenn ihre Gruppe noch um einen weiteren, in diesem Falle von der Jagd gänzlich unbeleckten Menschen erweitert würde.

Nivard setzte sich. Im selben Moment stellte eine diensteifrige Schankmagd bereits den nächsten schäumenden Krug knallend vor ihm ab, und entriss ihm den nahezu leeren Vorgänger. Er ergriff diese Gelegenheit, um das Gespräch möglichst direkt in eine unverfängliche Richtung zu lenken, und erhob seinen Krug: “Auf die Jagd und unsere Jagdgemeinschaft!” Damit es ja nicht schon wieder ums Heiraten gehen möge. Und falls doch, näherte sich wenigstens sein Mut, dem Zwergenbräu sei Dank, mit jedem Zug etwas demjenigen an, den er sonst hatte, wenn es “nur” um die kriegerischen Dinge ging… Nivard merkte es bereits, wie sonst hätte er in ungewohnter Entspannung fortfahren können: “Na, Elvan, magst Du Dich vielleicht auch unseren Jagdübungen anschließen? Die Dame Doratrava hier zu meiner Rechten ist bereits auf dem Weg zu einer veritablen Schwarzwildjägerin … .” Verlegen blickte Doratrava kurz zu Boden ob es Lobs und der Titulierung als ‘Dame’. Wenigstens hatte sie sich mittlerweile so weit an die Umgebung und die Leute gewöhnt, dass sie nicht jedesmal blassrosa anlief, wenn man sie in Verlegenheit brachte. Sie wedelte abwehrend mit den Händen. “Nivard übertreibt maßlos, Herr … Elvan?”, wandte sie sich an den jungen Mann und blickte dann zu der älteren Frau. “Ihr seid mit Gelda verwandt?” 

Maura musterte die junge Gauklerin. “Es freut mich Eure Bekanntschaft zu machen, Edle Dame. Meine Nichte Gelda hat schon von Euch erzählt. Ihr seid also eine geübte Schaustellerin? An welchen Höfen konntet Ihr den schon die Leute begeistern? und aus welchem Hause stammt ihr, ich glaube Gelda hatte vergessen es zu erwähnen.”

Ein wenig überfahren öffnete die Gauklerin den Mund, um irgend etwas wahrscheinlich Zusammenhangloses zu stammeln, wurde aber glücklicherweise der Notwendigkeit enthoben. Bevor Doratrava antworten konnte, fiel Gelda ihr ins Wort. “Sie stammt aus dem Kosch und wir werden morgen zusammen mit Meister Tharnax und Borix jagen.” Die Doctora kniff die Augen kurz zusammen, dann strahlte sie wieder. “Das hört sich ja fantastisch an, darauf sollten wir anstoßen!” Sie hob den Humpen, wartete bis alle es ihr gleich taten und trank. Es schien, das sie auf keine Antwort der Gauklerin mehr warten würde. Es war allerdings Elvan, der weiter sprach. “Ich würde Euch ja gerne begleiten, aber ich lasse das lieber. Nachher spieße ich mich noch selber auf und so ein Wildschwein schmeckt bestimmt besser als ich.” Nun lächelte er Doratrava an. “Falls Ihr es Euch noch anders überlegen solltet, könnten wir zusammen die Jagd als Zuschauer betrachten. Werdet ihr etwas von Eurer Kunst darbieten? fragte er neugierig. 

“Oh, ich bin neugierig und habe schon kräftig mit dem Speer geübt, ich werde es mir also vermutlich nicht anders überlegen”, erwiderte Doratrava mit heiterer Stimme. “Aber danke für das Angebot, man weiß ja nie …” Sie zwinkerte Elvan zu. “Und ja, heute Abend bei der Feier werde ich für euch tanzen …” Plötzlich erstarb ihre Stimme und ihr Gesicht bekam einen sorgenvollen Ausdruck. “Ähm … ich habe ganz vergessen, den Vogt nach Musikern zu fragen … ich kann schon tanzen ohne Musik, aber das ist dann bei weitem nicht so … eindrucksvoll?” Sie sah ihre Tischgenossen hilfesuchend an. “Wisst ihr, ob es hier Spielleute gibt? Ich habe noch keine gesehen … .”

“Ich kenne zwar keine Spielleute hier, aber Nivard hat eine schöne Stimme. So schön, das er sogar Flussfeen für sich gewinnen konnte”, sagte Elvan und legte dabei seinen Arm um den Krieger und schob ihn leicht näher zu Doratrava hin. “Eine schöne Stimme ist doch auch Musik, oder?”

Doratrava sah Nivard überrascht und etwas skeptisch an. “Nun …”, meinte sie dann zögernd, “das käme auf einen Versuch an. Und auf die Lieder, die er singen kann. Äh … Flussfee?” Erst jetzt kam der Gauklerin zu Bewusstsein, was Elvan da gesagt hatte.

Trotz des zweiten Humpen Biers färbten sich Nivards Wangen wieder ein wenig ein. Er freute sich einerseits, dass mit Elvan auch ein menschlicher Zuhörer so nachhaltig Gefallen an seinen Liedern gefunden hatte, die er in der Kaverne des Muschelfürsten erstmals vor Zuhörern zu intonieren gewagt hatte.  Andererseits fürchtete er, dass seine Fertigkeiten und sein Repertoire nicht hinreichend für ein gesellschaftliches Ereignis wie das hiesige sein könnten.

“Hab Dank, Elvan! Aber Du übertreibst, was meine Sangeskunst angeht…” versuchte er abzuwiegeln. Mit entschuldigender Miete blickte er in Richtung Doratravas: “Nun, ja, zur einen oder anderen Weise, die ich zumeist von albernischen Spielleuten oder auf der Flöte von den Schafshirten Ambelmunds vernahm, vermag ich vielleicht eines meiner Gedichte gesungen zum Besten geben und damit auch, abseits unserer Welt, das Gefallen einer Holden der Fluten finden, das ist wahr.” Nivard durchlief wie so oft, wenn er sich an die Ereignisse im letzten Sommer erinnerte, ein kurzer Schauer und seine Augen nahmen für einen Moment einen verträumten Glanz an.  “Ich fürchte aber, dass meine Lieder und meine Stimme kaum dazu geeignet sind, auf einem großen Fest wie diesem mit so vielen Gästen überhaupt vernommen zu werden oder Deine Darbietungen angemessen zu untermalen - wahrscheinlich werden sie Dir zu leise und… ja, melancholisch… erscheinen. Außerdem fürchte ich, dass Melodien und Texte, die ein Feenwesen verzaubern mögen, in den Ohren unserer… etwas robusteren... Gastgeber womöglich kaum Gefallen finden werden…” Nivard hoffte, damit hinreichend weit vom Feenthema abgelenkt zu haben - immerhin hatten sie ja Stillschweigen über der Ereignisse des letzten Sommers geschworen.

Doratrava musste bei der letzten Bemerkung des Kriegers grinsen. Nichtsdestotrotz hörten sich die Ausführungen Nivards jetzt nicht danach an, als wäre er heute Abend eine große Hilfe. “Na, immerhin hast du nicht gleich abgelehnt”, neckte sie den Krieger dennoch ein wenig mit schelmischem Lächeln, um gleich fortzufahren: “Wenn ich niemanden anders finde, werde ich darauf zurückkommen. Aber ich denke, ich muss jetzt aufhören zu trinken und mal im Lager herumsuchen, ob es irgendwo jemanden gibt, der mich begleiten kann …” Plötzlich hielt die Gauklerin inne. “Da fällt mir ein: habt ihr nicht auch heute Morgen die Elfe gesehen? Die kann doch bestimmt ein Instrument spielen! Ich gehe mal gleich los, vielleicht finde ich sie ja. Und danach können wir wieder mit Heuballen spielen.” Doratrava nahm einen letzten Schluck aus ihrem Krug und machte versonnen lächelnd Anstalten, aufzustehen.  Nivard entspannte sich wieder. Er hatte gehofft, aber fast nicht damit gerechnet, dass die ihm sonst so zielstrebig erscheinende Gauklerin seine Argumente direkt schlucken würde. Neben den dargelegten Gründen war ihm, anders als in der Kaverne des Muschelfürsten, in der sein Herz zeitweilig vor seinem Verstand die Führung übernommen hatte, vor allem nicht danach, seine Lieder vor den Augen des hier versammelten Adels zum Besten zu geben. So viel Bier konnte er vermutlich gar nicht trinken… zumindest nicht, ohne gleichzeitig seine Sangesfertigkeit einzubüßen.

“Die Elfe anzusprechen kann eine Idee sein. Vielleicht fragst Du aber auch mal bei den zwergischen Jagdhelfern nach. Ich habe gehört, zwergische Musik sei… raumfüllend. Auf jeden Fall findet diese sicherlich unter... vielen... der Anwesenden Gefallen. Und die anderen erfreuen sich am Anblick Deiner Kunst.”

Hm, ob die Zwerge ihrer Tanzkunst etwas abgewinnen konnten, hatte Doratrava noch gar nicht überlegt. Sie würde da wohl noch ein paar kleine ‘Modifikationen’ einbringen müssen … .

Sie nickte Nivard zu. “Ja, das ist ein guter Gedanke. Jetzt, wo du es erwähnst, fällt mir ein, dass sich Elfen und Zwerge ja eigentlich gar nicht so gut vertragen sollen, zumindest habe ich das schon öfters gehört. Ich glaube, da muss ich dann wohl erstmal unsere Gastgeber fragen.” Was sie nicht davon abhalten würde, der Elfe dennoch ihre Aufwartung zu machen, und wenn es nur aus Neugier war. “Wir sehen uns später, ich sehe zu, dass es nicht so lange dauert. Heuballen und so.” Sie grinste und winkte zum Abschied, bezog auch die Altenberger und vor allem Gelda in die Geste mit ein. Nivard grinste zurück. “Da rauscht sie von hinnen.” meinte er noch leise, als er ihr kurz hinterherblickte. Dann wandte er sich den von Altenbergs zu. Um sicher zu gehen, dass sich das Gesprächsthema nicht gleich wieder seinem Familienstand zuwandte, erhob er seinen Krug: “Auf die Jagd und die Künste!” und nahm einen kräftigen Zug des vollmundigen Gebräus.

Er musste aufpassen, dass nicht bereits der helllichte Tag zum Gelage wurde - spürte er doch schon, wie ihm das Bier in den Kopf zu steigen begann. Der junge Krieger beschloss, auf die innewohnende Warnung zu hören. “Ich muss auch bald, nach diesem Bier, weiter. Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, der Baronin von Ambelmund, der Lehnsherrin meiner Familie, meine Aufwartung machen, und will diese Scharte unbedingt noch vor dem Festgelage auswetzen. Und später warten ja noch die Heuwildschweine auf uns, wie Ihr vernommen habt. Komm Elvan, an denen kannst Du Dich doch auch mal versuchen!?”

“Ach lass gut sein, das ist wirklich nichts für mich.”, winkte der Schreiber ab. “Und mit Gelda bist du in bester Gesellschaft. Ich habe da noch einige Kalligraphien die ich noch beenden möchte. Ich habe vor, sie dem Vogt zu schenken.” Seine Mutter Maura schaute Elvan mit stolzen Blick an. “Elvan ist ein wirklicher Meister seines Faches geworden. Und wie es ausschaut, seit ihr ebenfalls Euch zu machen. Nun, junger Krieger, lasst Euch nicht aufhalten von uns. Eine Baronin lässt man nicht warten”, sagte sie freundlich, aber mit Nachdruck. “Doch bevor du gehst”, sagte Gelda,” kannst du mich abholen, wenn du und Doratrava so weit seid? Ich werde bei unserem Zelt sein.” Nun lächelte sie ihn an, mit einer Zuneigung, die er bei ihr noch nicht wahrgenommen hatte.

"Mach ich, auf jeden Fall." Nivard lächelte zurück, mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, die er bei sich so ebenso nicht kannte. Auf seinen Wangen fühlte er dennoch die Wärme aufsteigen. War das alleine die Wirkung des Zwergenbräus? Er erhob sich und empfahl sich mit einer Kurzen Verbeugung in Richtung Maura. Ehe er sich ganz in Richtung Zeltplatz aufmachte, meinte er noch zu Elvan: "Bevor Du Deine Kalligraphien dem Vogt schenkst, musst Du sie mir unbedingt noch zeigen - ich bin neugierig, Deine Künste zu bewundern." Und zu Gelda: "Bis später!", während nochmals ein Lächeln über sein Antlitz huschte.

Tharnax und Borix

So plötzlich wie die drei an ihren Platz getreten waren, waren sie auch schon wieder verschwunden und Tharnax und Borix saßen wieder alleine mit ihren Krügen.  “Dann haben wir also unsere Jagdbegleiter gefunden!” freute sich Borix. “Was war ja mal eine einfache und schnelle Suche. Wenn die Wildschweine morgen genauso aus den Büschen kommen, wenn wir an sie denken, dann wird uns Morgen Abend keiner den Titel des Jagdkönigs streitig machen.”  Erneut lachte Tharnax auf. “Ich fürchte nur leider, bei dieser Rechnung zieht die Sau beziehungsweise der Eber einen Strich drunter und trägt maßgeblich zum Ergebnis bei. Sei's drum, lustig wird es allemal.  Unser ‘Auswahlverfahren’ werde ich dennoch nur des spaßeshalber angehen.”

Musiksucher

Doratrava eilte durch das Lager und fragte sich zu den Jagdgehilfen durch, was erfreulich schnell gelang. Dort angekommen steuerte sie zielsicher auf den ersten Zwergen zu, der ihr unterkam, um ihn sogleich anzusprechen. “Hallo, guten Tag, ich bräuchte ein paar Auskünfte: kann hier jemand ein Instrument spielen? Macht es Zw … äh, Angroschim etwas aus, wenn eine Elfe heute Abend auf dem Fest musiziert? Ist das, was ich anhabe, für die Jagd geeignet? Aber wenn nicht, ich habe ja auch nichts anderes ...“ Sie lächelte den überrumpelten Angroscho entwaffnend an, als ihr nachträglich zu Bewusstsein kam, dass sie es vielleicht hätte etwas langsamer angehen sollen ...  Dieser Meinung war der in robustes Leder gekleidete Zwerg mit den stahlgrauen Augen auch. “Eins nach dem anderen”, stieß er mit grässlichen Akzent hervor, nur um dann die Arme vor der Brust und seinem zu einem einzelnen, dicken Zopf geflochtener Bart zu verschränkten und sich ganz der Gauklerin zuzuwenden. “Meines Wissens nach werden heute Abend Musiker in der Jagdhütte aufspielen. Eine Elfe wird nicht dabei sein, die wäre mir bei den Proben aufgefallen.” Klang seine Stimme genervt? Doratrava war sich nicht sicher. Ungerührt dieser Frage fuhr der Angroscho fort.

“Mir ist es ziemlich gleichgültig in was für Sachen die ach so feinen Herrschaften in den Wald gehen. Ich würde nur bequeme Kleidung empfehlen, die nicht beim ersten Dorngebüsch zerreißt und vor allem nicht behindert. Es ist ja nicht auszuschließen, dass sich die Rollen von Jäger und Beute kurzzeitig vertauschen. Reicht euch das als Antwort?”

‘Aha, also einer von der bärbeißigen Sorte’, dachte Doratrava bei sich, aber sie hatte es ja auch nicht besser verdient. Nun, bequem war ihre Straßenkleidung auf jeden Fall, und behindern würde sie auch nicht, also begnügte sie sich mit der diesbezüglichen Antwort. Das mit den Musikern war allerdings neu für sie. “Wo finde ich die Musiker denn?” fragte sie also postwendend. Sie bekam immerhin eine Antwort, wenn auch eine mürrische. Doch bevor sie nach den Musikern suchte, wollte sie zunächst dennoch nach der Elfe sehen, zumal der Angroscho erwähnt hatte, dass die Spielleute erst gegen Abend eintreffen würden. Sie bedankte sich also artig, was ihr nur ein unbestimmtes Grunzen einbrachte, und begab sich eilig zur Jagdhütte, hatte die Elfe, also die Baronin von Rodaschquell, wie wohl deren Titel war, dort Unterkunft gefunden.

Da sie nun schon einmal hier war, suchte Doratrava auch noch die Handwerker auf, um die ihr im Laufe des Tages eingefallenen ‘Modifikationen’ zu besprechen, als sie aus den Augenwinkeln eine in ein elegantes Kleid gewandete Gestalt erblickte, kaum größer als sie selbst, deren Blick aus amethystfarbenen Augen in ihre eigenen gleißend rubinroten fiel, was die Elfe im Schritt stocken ließ. Unwillkürlich fühlte Doratrava sich von diesem Blick gefangen und in den Bann gezogen, sie wandte sich wie von selbst der elfischen Baronin zu, deren Gestalt zu erzittern schien … oder war es nur die Luft um sie herum? Oder etwas ganz anderes?

Erstaunen. Irritation. Verwunderung. Und dann: Erinnerung. Sehnsucht. Schließlich: eine gewisse Neugierde. Die Elfe durchlebte in einem einzigen Augenblick viele Empfindungen zugleich. Der Anblick der jungen Frau dort vor ihr weckte etwas in ihr. Etwas hatte sie… berührt. Sie hatte etwas gespürt. Etwas, das sie in der Menschenwelt für gewöhnlich nicht finden konnte.

Doratrava und Liana

Sie machte einen zögerlichen Schritt auf die Gauklerin zu. Längst hatte Liana ihre Reisekleidung mit einem eleganten, leuchtend blauen Kleid getauscht. Die Seide schillerte leicht silbrig und umspielte ihre anmutige Gestalt wie fließendes Wasser. Anstelle des Federhutes trug die Rodaschquellerin nun ein zierliches, mondsilbernes Diadem mit einem merkwürdigen, ovalen Stein in der Mitte, kaum größer als ein Daumennagel. Er leuchtete in verschiedenen Farben, die sich miteinander vermischten. Fast wie ein Opal, doch viel intensiver, lebendiger. Es war eher wie ein Strudel aus Farben.

Liana dachte nicht darüber nach, wie sie mit diesen Empfindungen umgehen sollte. Das musste sie nicht. Was sie tat, geschah nicht in vollem Bewusstsein, sondern unweigerlich, intuitiv und voller Selbstverständlichkeit. Wie ein Atemzug, dem man sich nicht verwehren kann. Ihre Amethyste tauchten ein in das Rot der Rubinaugen, sie leuchteten auf, fast hatten sie etwas Hypnotisches, und Doratrava blickte fasziniert in das schöne Antlitz …. und dann sah Liana sie wirklich an.

Wie angewurzelt blieb Doratrava stehen, an ihren Platz gebannt von den Augen der schönen Elfe in dem prächtigen Kleid, welche sie zu verschlingen schienen. Sie sah nichts anderes  mehr und verlor jegliches Zeitgefühl … Liana dagegen sah. Allerdings setzte der Geist der Gauklerin ihr einen unerwartet hohen Widerstand entgegen, wobei die Elfe erkannte, dass dies nicht willentlich geschah. Dennoch verschwammen die Eindrücke, welche nach der Überwindung des Widerstandes mit einer unvermuteten Wucht auf Liana einströmten, zu einer brandenden Woge, für einen Moment durchzuckte Liana die Angst, darin zu ertrinken, was völlig untypisch für diese Art zu sehen war. Doch dann war die Woge vorbei, und die Elfe holte etwas benommen tief Luft. Zurück blieben lediglich vage Eindrücke: Verschlossenheit, Verlorenheit, aber auch Lebensfreude, Impulsivität, Intuition. Eine mindestens fähige Tänzerin und Akrobatin, nicht ganz ungefährlich, denn auch Messerwerfen gehörte zu ihrem Repertoire. Seltsame Anklänge von mandra, nicht näher fassbar. Ein kaum wahrnehmbarer Hauch wie vom Flügelschlag eines Schmetterlings. Dann musste Liana blinzeln, der Bann war gebrochen.  Sie brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln, zu fassen, einen Moment, um die Eindrücke ordnen zu können. Der Stein in dem kostbaren Reif aus Mondsilber leuchtete nun in einem satten Orange. Wie die Strahlen der Sonne an einem lauen Sommerabend. 

Diese junge Frau schien ihr so … seltsam. So fremd und unerwartet an diesem Ort hier, und insgeheim doch vertraut. Und sie trug so widersprüchliche Züge in sich. Diese traurige Verlorenheit mochte so gar nicht zu dieser Lebensfreude passen, die Liana spüren konnte.  Sie musterte die Frau nun etwas genauer, da sie nun wieder Herr ihrer Sinne war und ihre ersten, durch das Mandra gewonnenen Eindrücke wieder verblassten. Auch war sie  neugierig, ob ihr Gegenüber ebenfalls etwas gespürt haben mochte und betrachtete Doratrava freundlich und abwartend.

Auch die Gauklerin war einen unbestimmten Moment lang mitten in der Bewegung völlig erstarrt dagestanden, wie ein paar der Umstehenden erstaunt bemerkten. Irgendwie fehlten ihr die letzten Augenblicke - oder war es länger gewesen? Doratrava konnte sich jedenfalls nur noch an die violetten Augen der Elfe erinnern, und dann an nichts mehr konkretes, da waren nur ein paar verschwommene, verwaschene Bilder von anderen Elfen in einer seltsamen Umgebung gewesen, die eine merkwürdige Vertrautheit ausgestrahlt hatte. Doch wie bei einem Traum verblassten diese Bilder schon wieder, umso mehr, je intensiver sie diese festhalten wollte. Schließlich riss sie sich innerlich seufzend von den vagen Bildern los und sah Liana wieder bewusst an, doch fühlte sie sich ein wenig wackelig auf den Beinen. “Was … hast du … habt Ihr etwas mit mir gemacht?” brachte die Gauklerin mühsam und stockend hervor. “Ich wollte nur … bist … seid Ihr … woher … ?” Hilflos brach Doratrava ab.

Die Baronin ging nun schnell einige Schritte auf die junge Frau zu, so dass sie nun unmittelbar vor ihr stand, und hielt ihr ihren Arm hin, um Halt zu finden.  “Shhh…. es ist nichts. Du bist anders als die meisten … Menschen oder Halbelfen…” Sie sagte es, als sei sie sich nicht sicher, wirklich einen Menschen oder eine Halbelfe vor sich zu haben. “Meine Augen sehen etwas mehr als das, was das Licht uns zeigt. Und du trägst etwas in dir, was ich nur selten sehe.”

Dankbar ergriff Doratrava den dargebotenen Arm, um ihn gleich darauf wieder loszulassen, als hätte sie sich verbrannt. Eine Baronin, dazu noch eine echte Elfe, da konnte sie doch nicht einfach … “Es … es geht schon wieder, danke. Ich … wusste nicht, dass Sehen jemand anderen umwerfen kann.” Nun stahl sich schon wieder ein kleines Lächeln auf Doratravas Züge. “Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob du heute Abend für meinen Auftritt spielen kannst, denn alle Elfen beherrschen doch ein Instrument … äh, was trage ich denn in mir?” Mitten im Satz hatte offenbar die letzte Aussage Lianas das bewusste Denken der Gauklerin erreicht und zu einer abrupten Verschiebung der Prioritäten geführt. Nun sah diese die Elfe halb neugierig, halb ängstlich an.

Denn alle Elfen beherrschen doch ein Instrument. Die Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der die junge Frau dies gesagt hatte und das ganze dadurch so profan machte…. Liana konnte nicht anders, als zu lachen. Es war heiter, perlend, ehrlich und freundlich.  “Du scheinst ja schon einiges über uns zu wissen?”, fragte sie dann ein wenig neckisch. “Aber ja, die meisten von uns spielen Instrumente. Meistens sind es Flöten, oder auch kleine Harfen. Ich selbst spiele Laute und habe sie auch immer dabei…” sie zögerte etwas, bevor sie langsam weitersprach. “Allerdings spiele ich sie, um mich selbst zu begleiten, denn ich singe meine Lieder mehr, als dass ich sie spiele. Es sind… besondere Lieder. Ich gehe in ihnen auf, sie sind ein Teil von mir. Ich spiele sie nicht so, wie du es vielleicht von anderen Musikern gewohnt bist, und sie sind nicht geeignet, eine Darbietung zu begleiten.” Sie betrachtete Doratrava noch einmal genau, ehe sie fortfuhr. Sah die Gestalt an, die spitz zulaufenden Ohrmuscheln.

Allein ihre Frage, ihre Reaktion und ihr ganzes Gebaren sprachen für Liana beredt davon, dass die junge Dame sich nicht bewusst war, was sie in sich trug. Dass sie nicht wusste, wer oder was sie war. Vielleicht spürte sie es instinktiv selbst, und das würde dann auch die seltsam widersprüchlichen Gefühle erklären, die Liana bei ihr gespürt hatte. “Ich frage mich, ob das bei dir nicht ganz ähnlich ist wie bei mir, wenn du tanzt oder eine deiner Darbietungen zeigst … ”

Doratrava zog die Brauen zusammen, als sie über die Antwort der Elfe nachdachte. “Hmm, woher weißt du das so genau? Sollten wir es nicht vielleicht einmal ausprobieren?” Sie runzelte die Stirn. “Ich … lebe für meine Kunst. Nichts macht mit mehr Freude, als andere Menschen - oder Elfen oder Zwerge - zu begeistern. Wenn ich tanze, verliere ich mich darin, ich spüre die Musik und lasse sie in mich fließen, und der Tanz entsteht wie von selbst. Aber ich tanze nicht für mich allein, ich brauche ein Publikum und dessen Begeisterung, nur dann war ein Tanz ein guter Tanz. Könnt … kannst du denn nur mit dir selbst glücklich sein?”

Obwohl man aus der letzten Frage durchaus einen Vorwurf hätte heraushören können, war Liana ihr nicht gram. Eher ein wenig enttäuscht. Sie spürte etwas geradezu Drängendes in der Stimme der … Halbelfe? Liana war nicht sicher, wer oder was Doratrava war. Aber die Wege der Elfen und ihrer Musik kannte sie wohl nicht. Sie wusste es nicht besser. Ihr Tanz, ihre Kunst, das war ihr offenbar sehr wichtig. Aber auf eine … sehr fordernde Art. Sie brauchte ein Publikum, wie sie sagte. Brauchte dessen Begeisterung - und hielt einen Tanz nur dann für gut, wenn er anderen gefiel. Nein, das war nicht die Art, wie Liana ihre eigene Kunst betrachtete.

“Natürlich!”, antwortete sie schließlich mit völliger Selbstverständlichkeit auf die Frage. “Ich singe, weil ich so empfinde. Ich singe, weil ich es aus mir selbst heraus möchte. Nicht, um jemanden zu beeindrucken. Nicht, um mein Können unter Beweis zu stellen. Es ist für mich …” sie blickte mit einem Lächeln nach oben, als blicke sie in die Ferne, “es ist, als käme ich zu neuem Atem. Wie die klare Bergluft, die von den Ingrakuppen hinunter strömt, die ich in mir spüre, wenn ich an dem kleinen See zu Füßen der Burg sitze und das kühle Wasser meine Füße kitzelt. Jedes Lied spiegelt mein Inneres wider. Und wenn andere mich dabei begleiten, dann spüren und empfinden sie dasselbe wie ich.” Sie lud die Gauklerin ein, ein paar Schritte mit ihr zu gehen.

“Es macht mich froh, wenn mein Gesang anderen Freude bereitet. Aber wie könnte mir das je gelingen, wenn er zuerst nicht mir selbst gefiele? Und wie könnte er mir je gefallen, wenn ich nicht aus vollem Herzen nur aus mir selbst heraus singen will, ganz gleich, ob es jemand hört oder nicht?”  Vielleicht lag darin ja auch das Geheimnis, warum viele Menschen die Lieder der Elfen als harmonisch empfanden: Sie entstanden aus sich selbst heraus, waren gewissermaßen ein ehrlicher Spiegel des Innersten. War das Lied freudig, war es auch die Elfe. Klang es traurig, so trauerte sie auch und ließ eventuelle Zuhörer teilhaben an ihrer Trauer. Die Einladung, miteinander zu musizieren, bedeutete bei den Elfen, Empfindungen zu teilen, ja, mehr noch, sie gemeinsam zu erleben. Und dies keinesfalls aus dem zwingenden Wunsch, andere damit zu ergötzen.

Liana hatte schon viele menschliche Darbietungen von Musik genossen. Ja, es gab wunderbare Barden und Sänger unter ihnen, großartige Kompositionen harmonischer Musik, der Liana sich regelrecht hingeben konnte, alles um sich herum vergessend. Doch so schön viele dieser Darbietungen auch waren: Oft spürte sie die Nervosität der Sängerinnen und Sänger, der Musiker. Ihre Anspannung. Ihre Zweifel, ob es ihnen gelänge, andere zu begeistern. Je eher sie es schafften, diese Gedanken hinter sich zu lassen, desto besser wurden sie auch. Nervosität war keine gute Voraussetzung einer jeden Darbietung. Sie war ein Zeichen von Unsicherheit. Unsicherheit, den anderen zu gefallen. Doch das war doch überhaupt nicht wichtig!

Sie sah Doratrava nun freundlich, aber mit einem festen Blick an: “Ich singe, weil es meinem Inneren entspricht. Und ich singe, was ich gerade empfinde. Wenn du diese Gedanken ebenfalls in dir tragen kannst, dann spielt es keine Rolle, ob es jemand anderem gefällt oder nicht. Solange es nur dir selbst gefällt. Und dann gefällt es den anderen wie von selbst.”

Mehrfach spürte Doratrava den impulsiven Drang, der Elfe ins Wort zu fallen, doch sie beherrschte sich eisern. Irgendwie spürte sie, dass sie Liana nicht unterbrechen durfte - warum auch immer. Aber nun hatte die Elfe geendet, nun war sie dran. “Seit meinem achten Lebensjahr lerne ich, wie ich anderen gefalle, ihnen eine Freude mache”, sprudelte es aus der Gauklerin heraus. “Obwohl … zu Beginn war es nicht ganz so … da war ich nur das exotische Mädchen, das mit seinem Aussehen die Leute neugierig machen sollte, damit sie die Vorstellung meiner Gauklertruppe besuchten. Aber nachdem ich … fortgelaufen war, hatte ich nicht viel Wahl und war froh, bei den Gauklern untergekommen zu sein.” Doratravas Stimme klang wie von fern, als erzähle sie direkt aus tiefster Vergangenheit. Eine gewisse Bitterkeit mischte sich hinein, in seltsamer Eintracht mit Zuneigung. “Ja, heute weiß ich, dass die Gaukler mich am Anfang nur ausgenutzt haben, aber sie gaben mir auch ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen - und eine Familie. Und ich, ich schaute zu und lernte, hauptsächlich von Plimbabim und Jothor, weil mir die Dinge, die die Jongleurin und der Schlangenmensch taten, am meisten gefielen. Und dann übte ich heimlich und lernte. Bis mich Porquidor - das war unser Anführer - einmal erwischt hat. Dann musste ich ihm zeigen, was ich gelernt hatte  - und durfte bei der nächsten Vorführung den Narren spielen, der alles mögliche probiert und immer spektakulär scheitert und damit die Leute zum Lachen brachte. Ich habe die ganze Nacht geweint.” Doratrava schluckte bei der Erinnerung, ihre Augen füllten sich ob deren Intensität mit neuen Tränen. Sie brauchte einen Moment, bevor sie weitersprechen konnte. “Und dann habe ich richtig geübt, in jeder freien Zeit, die ich finden konnte, musste ich doch als Jüngste auch die ganze Drecksarbeit der Truppe übernehmen. Putzen, waschen, Zeug schleppen und so weiter. Aber ich wollte niemals mehr den Narren spielen, meine Weigerung hätte fast dazu geführt, dass Porquidor mich aus der Truppe warf. Aber Sirayasa, das war die Wahrsagerin, konnte ihn schließlich milde stimmen und prophezeite mir eine große Zukunft. Die anderen lachten zwar, da es das Geschäft der Wahrsagerin war, allen Leuten das zu prophezeien, was sie hören wollten, doch Porquidor konnte sie damit dennoch nachdenklich machen - und ich, das zehnjährige Mädchen, glaubte ihr. Und übte noch verbissener. Als ich elf war, stießen Samarra, eine richtige Akrobatin aus Aranien, sowie der Messerwerfer Dolruchas zu uns. Letzterer faszinierte mich, sodass ich zustimmte, als er mich als Ziel für seine Dolch-Vorführung haben wollte. Und erstere konnte mir endlich richtig zeigen, wie man seinen Körper benutzt, sei es mit akrobatischen Kunststücken oder im Tanz. Denn auch den beherrschte sie.

Endlich hatte ich das Gefühl, mit meinen Bemühungen voranzukommen. Bald konnte ich mit Samarra zusammen auftreten, und auch Dolruchas konnte Porquidor überzeugen, dass ich die zarte Frau, ein Mädchen gar, sein durfte, welches seine Dolche Nacht für Nacht in tödliche Gefahr brachten, damit die Zuschauer in atemloses Staunen verfielen. Nun lernte ich, welches Hochgefühl es hervorrief, wenn ein Publikum in Begeisterung verfiel, wenn die Leute in die Hände klatschten, mit den Füßen stampften und ‘Zugabe!’ riefen, bis wir nicht anders konnten, als ihnen diesen Wunsch zu erfüllen.” Doratrava hielt inne, selbst mitgerissen von ihrer eigenen Erzählung. Standen ihr gerade noch Tränen in den Augen, so flossen diese nun, doch ihr Gesicht strahlte vor Glück. “Anerkennung. Das erste Mal in meinem Leben. Du … du bist eine hochadlige Elfe, hattest wahrscheinlich dich liebende Eltern, liebe Freunde und Verwandte und Spielkameraden und musstest Zeit deines Lebens nie Not leiden. Ich … hatte nichts von all dem. Ich wusste nicht, warum ich auf der Welt war, wenn doch meine Mutter mich gar nicht haben wollte, so dass sie mich gleich nach der Geburt in einem Korb vor die Tür eines Traviatempels legte. Hatte mein Vater sie gezwungen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts. Du kannst dir wahrscheinlich nicht vorstellen, wie es ist, zum ersten Mal im Leben überhaupt Zuspruch und Bewunderung zu erfahren für etwas, das du tust!” Die rubinroten Augen der Gauklerin schienen Feuer zu versprühen, wieder wandelte sich die Miene der Gauklerin von Freude zu  … Anklage? Zorn?

“Also verurteile mich nicht, wenn ich anderen Freude bereiten will! Ich gebe zurück, was ich empfangen habe, voller Demut und Dankbarkeit. Ich bin glücklich, wenn ich andere glücklich machen kann. Wie oft sehe ich ärmliche Bauern oder Leibeigene, welchen ich auf meine Weise eine kurze Zeit in einer anderen, fröhlicheren Welt verschaffen kann. Wenn dieser besondere Funke in den Augen der Menschen, vor allem der Kinder aufleuchtet, der zeigt, dass ich sie erreicht habe. Dann hat mein Leben, das meine Mutter nicht wollte, einen Sinn! Dann fühle ich mich … ganz. Heil. Geheilt.” Die glühende Intensität ihres Blickes bohrte sich in Lianas amethystfarbene Augen. Und da war noch etwas anderes, tiefer gehendes, für die Elfe nicht Greifbares, doch der Moment, die Gelegenheit, etwas Besonderes zu erfassen, verging, so schnell er gekommen war. “Dafür muss ich mich nicht schämen!” Zitternd holte Doratrava Luft und schloss die Augen, um dann viel ruhiger fortzufahren: “Ähm … verzeih … ich wollte nicht … dir nicht … wehtun?” Ängstlich blickte die Gauklerin der Elfe ins Gesicht. Es war kaum zu glauben, in welcher Geschwindigkeit Doratrava die Stimmungen wechseln konnte. “Samarra hat mich Tanzen gelehrt”, setzte die Gauklerin nach kurzer Pause etwas zusammenhanglos fort. “Das war etwas Neues für mich. Ich lernte schnell, auch wenn Samarra nie zufrieden war, denn ich folgte ihren Schritten nicht, sobald Musik erklang. Denn ich spürte … die Musik in meinem Inneren, sie durchfloss mich, flutete jede Faser meines Körpers, und dann musste dieser darauf reagieren. Und tanzte. Fast wie von selbst. In diesen Momenten nahm ich die Umgebung kaum mehr wahr. Ich ließ die Musik durch meinen Körper fließen und übersetzte sie in Bewegungen, ganz natürlich, als hätte ich nie etwas anderes getan. Samarra gab es bald auf, mir formale Tänze beibringen zu wollen, aber sie war beeindruckt, das konnte ich spüren. Sie versuchte manchmal, mit mir zu tanzen, aber das erwies sich als schwierig, denn mein intuitiver Tanz vertrug sich nicht mit dem, was sie in ihrer Ausbildung gelernt hatte. Dennoch schlug sie Porquidor vor, nein, eher beschwatzte sie ihn mit ihrem unwiderstehlichen südländischen Charme, mich beim nächsten Mal als Tänzerin auftreten zu lassen. Sie lud zu der Vorstellung höchstpersönlich zwei gute Barden ein, die zufällig in der gleichen Stadt gastierten, um sicherzugehen, dass mein Auftritt nicht durch irgend welche Heckenmusiker versaut wurde.”

Wieder machte Doratrava eine Pause, Diesmal sah ihre Miene eher nachdenklich aus, sie wischte sich die letzten Tränenspuren aus dem Gesicht. Liana fiel plötzlich auf, dass ihre Rubinaugen erloschen waren. Ganz normale braune Menschenaugen blickten ihr entgegen. “Das … war wieder eine neue Erfahrung. Richtige Musiker - nicht der alte Bratschew mit seiner noch älteren Leier, der die Vorstellungen der Truppe sonst ‘musikalisch’ untermalte. Nach den ersten Schritten meines ersten Tanzes vor Publikum war ich verloren - verloren in der Musik, deren gefühlvoller Schönheit, und diese strömte nun durch meinen Körper und trieb ihn zu Leistungen an, welche niemand, erst recht nicht ich selbst, für möglich gehalten hätte. Das Publikum tobte … na ja, also die fünf Zuschauer, welche wir an diesem Abend, an dem es in Strömen regnete, hatten. Und du … hast recht, ich tanzte nicht für das Publikum, ich tanzte für mich selbst, verlor mich in mir selbst und der unendlichen Halle aus Klängen, welche die Musiker um mich spannen. Ich tanzte, wie ich noch nie vorher getanzt hatte, ohne an die Leute zu denken oder wie ich sie am besten zufrieden stellen könnte. Das Publikum war begeistert. Doch Samarra weinte. Und das wollte damals etwas heißen.”

Wieder quollen die Augen der Gauklerin über, wieder vergoss sie selbst heiße Tränen. Sie erzählte, als geschähen die berichteten Ereignisse jetzt, gerade, im Moment, als entstünde jede Emotion ganz neu in diesem Augenblick und entfalte ihre Wirkung unmittelbar auf das Gemüt der Erzählerin und und ihrer Zuhörerin.

“Ich tue genau das, was du beschrieben hast. Ich tanze für mich selbst, weil ich es will. Und ich tanze für andere, weil ich es will. Und wenn ich tanze, dann weiß ich, dass es den Zuschauern gefällt. Ja, ich bin nervös vor einer Aufführung, und mache mir tausend Gedanken, was alles schiefgehen könnte, aber sobald der erste Takt der Musik ertönt, bin ich in meiner Welt und mache sie zu eurer Welt - wenn ihr, du, die Zuschauer, das zulasst. Dann ist kein Platz für Zweifel, nur noch für Musik und Tanz und Bewegung, für Freude - und diese teile ich gerne. Ja, ich könnte ganz für mich allein tanzen, also fast, einen Musiker brauche ich schon, und allein dabei Freude empfinden. Doch wenn ich die innere und die äußere Freude - die des Publikums - haben kann, dann nehme ich beides. Nein, dann nehme ich und gebe ich und bin glücklich!” Erst jetzt bemerkte die Gauklerin, dass sie mit solche Wucht erzählt hatte, dass ihr langsam die Luft wegblieb, fast wie nach einer anstrengenden Aufführung. Etwas verwundert holte sie tief und leicht zitternd Luft, ihre rosa gewordenen Wangen kündeten von Anstrengung und Verlegenheit. Wieder sah sie Liana plötzlich ängstlich an, wie eine kleine Schülerin, die das Urteil ihrer gestrengen Lehrerin erwartet. “Äh … rede ich Unsinn?” Fast piepste ihre Stimme, die doch eben noch mit unbändiger Kraft das Innenleben der exotischen Gauklerin vor Liana ausgebreitet hatte.

Viele Gedanken waren Liana durch den Kopf gegangen, als sie zu Doratrava gesprochen hatte. Es stand ihr nicht zu, die Motive der Gauklerin zu bewerten. Sie zu „verurteilen“, wie Doratrava glaubte. Sie hatte nicht das Recht dazu. Wobei das noch nicht einmal eine Rolle spielte, denn noch viel weniger hatte sie überhaupt den Wunsch, das zu tun. Es entsprach nicht ihrem Wesen. Es ging sie nichts an. Und sie musste auch niemanden von irgendetwas überzeugen. Doch der Eindrücke, die sie gewonnen hatte, konnte sie sich nicht erwehren. All diese Gedanken und Empfindungen, die in ihrem Kopf umher eilten … Einige davon hatte sie geteilt, andere dagegen nicht. Aus Doratrava indes sprudelte es nur so heraus. Sie sprach sofort aus, was sie dachte. Sie wirkte aufgewühlt, wechselhaft, unsicher, unstet. Ja, geradezu überwältigt von den vielen Eindrücken und Gedanken, die in so kurzer Zeit in ihr aufkamen, und die sie so bereitwillig teilte. Liana schwieg. Sie war eine gute Zuhörerin. Sie unterbrach nicht. Bewertete nicht. Hin und wieder konnte man ihren Zügen entnehmen, was sie dachte, wie sie empfand. Ein Hauch von Verärgerung, aber vor allem Anteilnahme, wenn Doratrava darüber sprach, wie die anderen Gaukler sie ausgenutzt hatten. Wenn sie darüber sprach, Dinge tun zu müssen, die nicht das waren, was sie wirklich wollte. So manches Mal hatte die Elfe etwas einwerfen wollen. Doch Liana sagte nichts. Keine Worte des Mitgefühls ob der Ungerechtigkeit, die Doratrava erfahren hatte. Über die Fassungslosigkeit darüber, dass eine Mutter ihr Kind an einem Tempel hatte ablegen konnte. Dazu noch einen dieser Traviatempel, mit deren Priesterschaft Liana nur wenig im Sinn hatte – im Gegensatz zu denen der Rahja und Tsa, deren Tempel sie gerne besuchte. Kein Wort über ihre Befürchtung, dass womöglich niemand Doratrava jemals gezeigt hatte, wer sie wirklich war. Oder ihr dabei half, genau das herauszufinden. Hatten die Menschen, die sie bei sich aufnahmen, es einfach nicht erkannt? Ob sie überhaupt selbst weiß, dass sie Mandra in sich trägt?

Der Gedanke, „Zauberkraft zu besitzen“, wie die Menschen sagen würden, und nichts davon zu wissen, schien der Elfe unerträglich. Doch sie sagte nichts. Auch kein Wort über Doratravas Vorwurf, Liana verurteile sie, weil die Halbelfe ihre Begeisterung für die Kunst aus einer anderen Quelle schöpfte als sie selbst. Zu aufgewühlt, zu unruhig schien ihr die Gauklerin. Wer weiß, ob sie vorher jemals über all diese Dinge gesprochen hatte, die aus ihr heraus sprudelten. Sie musste wieder zur Ruhe finden. Was hätten einfache Worte bewirken können? Liana sprach auch dann nichts, als Doratrava, etwas erschöpft und aufgewühlt endete. Sie sagte nichts. Sie sang. „Die Nachtigall“ nannte man sie manchmal. Und wer ihren leisen Gesang hörte, zweifelte nicht daran, dass die Baronin von Rodaschquell wahrhaftig eine Nachtigall in ihrem Herzen trug.

„Biandhala fey … lorghana viandúriel … lanwinn d’ain anfárien“ Ihre Stimme war sanft, hoch und so klar wie ein Sommermorgen. Wie ein samtiger, warmer Mantel legte sie sich über die Unruhe, die Doratrava ergriffen hatte. Sie konnte nicht verstehen, was Liana da in der alten Sprache ihres Volkes sang. Doch sie wusste nicht nur, nein, sie fühlte, dass dieses Lied für sie bestimmt war. Sie erinnerte sich an lachende Kinder, die mit Begeisterung eine ihrer Darbietungen verfolgten. Oder wie sie zum ersten Mal mit einem Messer ihr Ziel getroffen hatte. Erinnerte sich an die großen Feiern in der Runde, wenn ein Abend besonders erfolgreich war. Und an die gütigen Gesichter von Menschen, die sie freundlich behandelt hatten. Sie blickte in die Augen der Elfendame, die ihr strahlender als jemals zuvor schienen, während die Rodaschquellerin mit einem sanften Lächeln ihren seltsam fremden und dabei doch so vertrauten Singsang fortsetze. Es war, als würde er all das wecken, was Doratrava Trost und Hoffnung gab. Sie konnte nicht sagen, wie lange das Lied dauerte. Außer vielleicht, dass es schnell vorbei war. Ganz gleich, wie lange die Elfe nun gesungen hatte …

Doratrava blinzelte zunächst irritiert, als die Elfe statt einer Antwort plötzlich zu singen anfing. Sie fühlte sich noch mehr aus dem Gleichgewicht gebracht und nicht ernst genommen. Doch dann entfalteten sich die lieblichen Töne, welche die Stimme - oder vielmehr die Stimmen der Elfe hervorzubringen in der Lage waren, in ihrem Geist. Wie die Gauklerin es vorher in Worten beschrieben hatte, begann die Musik, ihren ganzen Körper zu durchfließen, erst sanft und leise, doch dann langsam mit mehr Kraft. Dabei war diese Art der Musik, gesungen in einer ihr unverständlichen Sprache statt von Instrumenten gespielt, fremdartig und lieblich und … unbeschreiblich, überhaupt nicht zum Tanzen geeignet oder zumindest so … anders, dass selbst Doratravas normalerweise nahezu überbordende intuitive Kreativität damit im ersten Moment nichts anzufangen wusste. Dann begannen die vom Gesang erweckten Emotionen in ihrem Körper emporzusteigen, wie lange vergessene Fische in einem dunklen Meer von plötzlichem, sehnlichst vermissten Sonnenlicht an die Oberfläche gelockt wurden. Im gleichen Zuge stiegen Doratrava wieder Tränen in die Augen, denn so eine geballte Fülle an Zuspruch, Freude und Hoffnung war fast mehr, als sie verkraften konnte, musste sie doch sonst hart für einen seltenen Moment nur eines dieser Gefühle arbeiten. Liana sah, wie die Augenfarbe der Gauklerin sich plötzlich und unvermittelt in ein tiefes, nahezu bodenloses Blau wandelte, während ihr Blick glasig wurde, und sie spürte, dass sich jede Faser ihres Körpers nach körperlicher Nähe sehnte, welche den Trost vollkommen machen würde, doch war sie geistig immer noch so klar, dass sie sich nicht ohne weiteres über die lange auf vielerlei Weise eingebläuten gesellschaftlichen Konventionen hinwegsetzen konnte, so dass sie lediglich zitternd zu Boden sank und schluchzend die Hände vor das Gesicht schlug, überwältigt von der Kraft des Gesangs und ihrer Unfähigkeit, sich diesem bedingungslos hinzugeben. Dann war es plötzlich vorbei, und im ersten Moment erschütterte sie der Schock des Versiegens dieser Quelle der Hoffnung und des Trostes, so dass sie scharf Luft holte, aber mit einem Geräusch, dass eher dem Schrei einer Ertrinkenden glich …

Die Baronin hielt ihr instinktiv ihre Hand hin. Doch …  innerlich wich sie zurück. Sie hatte keine Wahl. Ich habe einen Fehler gemacht. Das Lied, das sie gesungen hatte, kannte sie als ein Lied, das Wunden zu heilen vermochte. Sie hatte es schon oft erklingen lassen, und stets hatte seine besondere Wirkung jenen, die es hörten, Frieden und Ruhe gebracht - auch ihr selbst. Nicht so jedoch heute. Es schien ihr, als habe sie die Wunde vielmehr wieder aufgerissen, die Doratrava plagte. Der Gedanke irritierte sie, er war verstörend.  Sie hätte es länger singen können ja. Aber das wollte sie nicht. Es sollte Trost geben und Freude. Es war die Stimme der Hoffnung. Aber diese Stimme sollte Mut entfachen und nicht das Verlangen, sich darin zu verlieren. Dafür gab es andere Lieder. Lieder, die sie aus gutem Grund nicht unter den Menschen sang. Ohnehin waren die Momente selten geworden, in denen Liana öffentlich sang. Und einmal mehr wurde sie sich bewusst, wie gefährlich es sein konnte, wenn sie ihr elfisches Erbe mit jenen teilte, die es nicht kannten. Ihre Miene wurde fast ausdruckslos. Ihre Augen verloren einen Teil ihres Glanzes, und der Stein in ihrem Diadem wirkte plötzlich fahl.  “Es tut mir leid, dass du keinen Frieden findest. Ich wollte dich nicht so in …. Unruhe stürzen. Ich… ich  glaube es ist besser, wenn ich gehe, damit du wieder zur Ruhe kommst.”

Doratrava saß noch immer auf dem Boden, aber bei Lianas Ankündigung nahm sie die Hände vom Gesicht und sah mit tränenüberströmenden Augen zu der Elfe hoch. ‘Fremd’, kam ihr in den Sinn, ‘die Elfe ist mir so fremd’. Konnte es wirklich sein, dass einer ihrer wirklichen Eltern ein Elf oder eine Elfe war? Sie fühlte diesem Gedanken nach, doch so sehr sie fühlte und suchte, es brachte keine Saite in ihrem Inneren zum Erklingen. Und wieder hatte ein magisches Lied ihr Inneres in ungewollter, brachialer Weise durcheinandergebracht, nicht so schlimm wie das erste Mal, aber dennoch … Der Nachhall der … künstlich … erzeugten Gefühle klang langsam ab, so dass sie sich allmählich wieder in der Lage fühlte, vernünftige Sätze zu sprechen. Erneut holte sie zitternd Luft und erhob sich langsam. Die Hand der Elfe zu nehmen, wagte sie nicht. Immerhin stand sie noch da. War diese selbst unschlüssig, was sie nun tun sollte? Doratrava stand nun vor Liana, doch sie schlug den Blick nieder. “Es … tut mir leid. Ich … wir sollten … ich wollte nicht …” Sie zwang sich, aufzusehen und Liana ins Gesicht zu blicken. Nochmal holte sie Luft, verzichtete aber darauf, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. ‘Ich werde niemals Schminke tragen können’, schlich sich ein kleiner, ungebetener, schelmischer Gedanke in ihren Geist, ‘die hält bei mir keine halbe Stunde, weil ich ständig heulen muss.’ Unwillig schüttelte sie den Kopf, sich gleich darauf bewusst werdend, dass die Elfe diese Geste nur falsch verstehen konnte. Das führte sofort zum nächsten unwilligen Kopfschütteln. “Ach!”, Doratrava warf die Arme in die Luft, “Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist … es tut mir leid, wenn ich dich verärgert haben sollte, das wollte ich nicht. Ich … bitte, ich möchte nicht mehr verzaubert werden … ich muss auch weiter, es gibt hier wohl auch andere Musiker … wir sollten vielleicht später nochmals miteinander sprechen … wenn … wenn du das denn willst …” Die Gauklerin brach zaghaft ab und blinzelte feucht.

Sie ließ ihre Hand sinken, da Doratrava sie nicht ergreifen wollte. Ein vorsichtiges, aufmunterndes Lächeln war die erste Antwort, welche die Dame Morgenrot der Gauklerin gab.

“Du musst dich nicht entschuldigen. Wofür auch? Und nein, du hast mich nicht verärgert. Ich bin nur ein wenig… überrascht. Das ist alles. Ich versichere dir, dass ich dich nicht “verzaubern” werde, wie du es nennst. Und ich hoffe, dass du deinen Weg findest.” Einmal mehr betrachtete sie Doratrava sehr eindringlich mit ihren Amethysten. So sehr, dass diese fast glauben mochte, die Elfe strafe ihre eigenen Worte Lügen und webe einen neuen Zauber. Es dauerte die Rodaschquellerin, dass diese junge Frau so offenkundig nicht wusste, wer sie war. Und mehr noch, dass sie nicht einmal wusste, was sie in sich barg! Diese unsäglichen, bornierten Priester hätten es doch wissen oder zumindest erkennen müssen! Man musste sie ja nur ansehen! Aber es hätte sie völlig durcheinander gebracht, wenn Liana ihr dies nun gesagt hätte. Davon war die Elfe überzeugt - und hielt es daher für besser, die Gauklerin ihrer Wege ziehen zu lassen, anstatt neue verwirrende Gedanken in ihr zu entfachen. Sie nickte ihr noch einmal freundlich zu und ging dann weiter. Sie konnte nicht alle Wunden heilen. Ihr Gleichmut hatte sie wieder ereilt. Und der Stein in ihrem Diadem nahm zufrieden die Farbe von leuchtendem Hellblau an.

Alleingelassen

Irgendwie verloren stand Doratrava da und sah der Elfe nach. Waren alle Elfen so? So … unnahbar? Sie wusste nicht, wie sie es besser ausdrücken sollte, Liana war ja freundlich und nett gewesen und hatte ihr mit dem Lied sogar helfen wollen, aber ansonsten … hatte die Gauklerin das Gefühl, keinen Zugang zu ihr finden zu können, als sei ihr Wesen eine eingeölte Kugel, die man vergeblich versuchte zu greifen. Und im Gegenzug hatte Liana es … unbewusst? … geschafft, sie völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen, wie es ein Mensch in so kurzer Zeit noch niemals geschafft hatte - oder sie hatte es nur verdrängt, wer wusste das schon. Manchmal meinte sie, große Lücken in ihrem Gedächtnis zu haben, wenn sie an die Vergangenheit dachte, aber darüber hatte sie noch niemals länger nachgedacht.

Und das würde sie auch jetzt nicht tun, denn es gab noch einiges zu erledigen vor der Vorführung später. Sie musste die Musiker endlich aufsuchen und mit ihnen sprechen, vielleicht ein paar Stücke durchgehen, dann musste sie die handwerklichen Vorbereitungen der Zwerge in der großen Halle überprüfen und dabei gleich noch das ein oder andere Kunststück proben, dann ging es weiter mit den Jagdübungen, und schließlich musste sie sich noch waschen und umziehen. Nach der Jagd auf den ‘bewegten Heuballen’ würde sie wahrscheinlich von oben bis unten verdreckt sein. Sie seufzte, verbannte alle ungewollten, unliebsamen Gedanken in den Keller ihres Geistes und wischte sich mit einem letzten Blick auf die dahinschwindende Elfe die Tränen aus dem Gesicht. Dann setzte sie entschlossen ihren Weg fort.

Zwei Damen beim Bier

Zwei ganze Humpen Bier hatte sich die Doctora Maura von Altenberg gegönnt und fing an die Wirkung des Alkohols zu merken. `Ach herrje. Dieses Nilsitzer Bier hat es aber in sich.´ Noch immer war sie bei den Bänken, doch ihr Sohn Elvan und ihre Nichte Gelda hatten sich schon in ihr Zelt zurückgezogen. Zu ihrem Bedauern hatte sie die Baronin von Rabenstein heute noch nicht gesehen, aber der Tag war auch noch nicht vorbei. Leicht beschwingt vom Bier fing sie an zu schlendern, winkte hier und da mal jemanden zu und überlegte sich, vielleicht noch einen Humpen zu holen. Oder sollte sie sich vielleicht ausruhen, um für das Festgelage wieder frisch zu sein? Noch mit sich hadernd, fiel ihr eine Frau auf. ´Moment mal, ist das nicht die junge Baronin von Rickenhausen?´ Soweit sie gehört hatte, war diese im Horasreich aufgewachsen und war auch in der Connetablia Criminalis Capitale tätig gewesen. Eine äußerst interessante Person. Maura entschied sie anzusprechen. Sie richtete ihr blondes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, strich über ihren roten Rock und schlenderte zu der Baronin rüber. Auch wenn die ersten Schritte ein wenig schwankend waren, hatte sie sich schnell wieder im Griff. Leicht beschwingt sprach sie die jüngere Frau an. “Den Göttern zum Gruße, Euer Hochgeboren Thalissa di Triavus! Es ist mir eine Ehre Euch endlich persönlich kennenlernen zu können.” Die Altenbergerin machte einen vollendeten Knicks und setzte ihr gewinnbringendes Lächeln auf. Überrascht blickte Thalissa die ältere Frau an, verbeugte sich aber knapp und formvollendet nach horasischer Art. “Ebenfalls die Götter zum Gruße, meine Dame ...  ?” Fragend ließ die Baronin ihre Stimme ausklingen. Sollte sie die Frau kennen? Umgekehrt schien das zumindest der Fall zu sein. Ein prüfender Blick in ihr Gesicht offenbarte ihr nichts außer offener Freundlichkeit, wenn auch die Pupillen ein wenig klein waren. Möglicherweise eine Folge des Biergenusses, dem sich die Dame dem Geruch nach bis vor kurzem hingegeben hatte? Aber das war ja nichts Verwerfliches auf einer solchen Feier, wenn auch Thalissa selbst einen guten südländischen Wein bevorzugte.  “Doctora Maura von Altenberg. Ihr habt sicherlich noch nie von mir gehört. Ich kümmere mich um die gehobene Gesellschaft in Elenvina und Euer Name ist schon des öfteren gefallen. Wie ich hörte stammt ihr aus Vinsalt und ward in der CCC tätig. Ich selbst habe in Vinsalt an der Anatomischen Akademie studiert und hätte fast selbst bei der CCC angefangen.”, sprudelte es aus Maura heraus.  Thalissa lächelte leicht amüsiert über den Eifer der Doctora. Nein, tatsächlich hatte sie noch nicht von dieser gehört. Aber … “Von Altenberg? Ihr gehört zu der Familie, welche die Brautschau ausrichtet? - Und ja, Eure Informationen sind korrekt. Was hat Euch denn abgehalten, bei der CCC in Anstellung zu gehen, wenn ich fragen darf?”

Maura spürte wie sich ihre Wangen leicht röteten. “Ich wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Ich gehöre zu genau dieser Familie. Wir fühlen Uns auch sehr geehrt dass ich teilnehmen möchtet, Euer Hochgeboren. Die neue Baronin von Schweinsfold wird ebenfalls anwesend sein. Und das ganze findet in dem schönen Lilienpark von Herzogenfurt statt.” Sie räusperte sich kurz. “Der tragische Tod meines Vaters kam dazwischen. Mir wurde die Position einer Assistentin an der Seite einen Inspectors angeboten, doch mußte ich dann zurück in die Heimat, die Nordmarken, reisen. Auf dieser Reise habe ich auch meinen zukünftigen Ehegatten getroffen. Nun ja, der Rest ist Geschichte.” Sie bekräftigte ihre Erzählung mit einem weiteren Lächeln, aber in ihren Augen konnte man klar etwas Wehmut erkennen. “Nehmt ihr auch an der Jagd teil?”, fragte die Doctora weiter wissbegierig. 

“Ja, die Pflicht …”, ließ sich Thalissa mitfühlend vernehmen und sah einen kurzen Moment sinnend in die Ferne. “Vielleicht ergibt sich noch die Gelegenheit für ein tieferen Austausch von Geschichten”, lächelte die Baronin dann. “Um auf Eure Frage zurückzukommen: ja, ich werde teilnehmen und hoffen, dass mir kein Wildschwein und keine Spinne zu nah kommt. Wobei ich dafür ja einen guten Beschützer hätte.” Sie sah sich nach Tar’anam um. Ganz untypisch für diesen ließ es sich im Moment nicht blicken. Sie hatte ihm zwar sozusagen frei gegeben, doch meist hielt ihn dies nicht davon ab, trotzdem in ihrer Nähe zu bleiben. “Und Ihr, Doctora? Was werdet Ihr während der Jagd unternehmen? Ich gehe nicht davon aus, dass Ihr teilnehmen werdet?”

“Nein, die Jagd ist etwas, das nicht zu meinen Talenten gehört. Jedenfalls nicht die auf Tiere. Wenn ihr versteht was ich meine. Ich erhoffe mir die Jagd von weiten mit der Baronin von Rabenstein zu betrachten. Und falls sich jemand verletzen sollte, bin ich ja zur Stelle. Falls Euch aber die Jagd zu langweilig werden sollte, könnt ihr Euch gerne dazu gesellen.” Sie senkte ihren Blick. “Nun, ich möchte Euch nicht länger aufhalten, Euer Hochgeboren. Wir werden uns ja später wiedersehen. Allerspätestens dann wieder in Herzogenfurt.” Maura verneigte sich zum Abschied.

“Nun, in gewisser Weise hoffe ich auf eine langweilige Jagd,” erwiderte Thalissa mit leichtem Auflachen, fuhr aber fort, bevor die Doctora nachfragen konnte: “Aber auch das ist eine Geschichte. Wer weiß, vielleicht komme ich auf Euer Angebot zurück. Ansonsten gibt es hier ja noch die eine oder andere Gelegenheit, sich auszutauschen. Ihr könntet mir zum Beispiel von Euren Familienmitgliedern erzählen, welche vermählt werden sollen. Vielleicht heute Abend beim Bankett?”

“Die Einladung nehme ich doch gerne an. Dann bis heute Abend, Euer Hochgeboren!” Maura war zufrieden. Sie versuchte würdevoll zum Altenberger Zelt zurückzukehren, auch wenn das Bier noch immer ihren Gang leicht schwanken ließ. Die Baronin war eine schöne Frau. Und wer weiß, vielleicht würde ihr auch ein Altenberger gut gefallen. Mit einem breiten Grinsen erreichte sie ihr Lager und ignorierte den verwunderten Blick ihrer Leibwache Oren. Thalissa sah der Altenbergerin sinnend hinterher und lächelte still in sich hinein. Dann ging auch sie wieder ihrer Wege.

Der Rondrianer und sein Vetter

Mit Verspätung kam Rondradin gerade rechtzeitig an um die kurze Ansprache des Geweihten der Schwanengleichen zu hören. Wieder einer der sich in der Einsamkeit der Wildnis wohler fühlte als unter Menschen. 

Neben ihm stand der Grund für seine Verspätung, sein Vetter Palinor von Wasserthal. Palinor, etwa sechzehn Lenze alt, trug den meilinger Wappenrock. Man konnte die Familienähnlichkeit erkennen, wenn man wusste worauf man achten musste. Schwarze Haare, blaue Augen und groß gewachsen. Wobei er natürlich noch ein gutes Stück kleiner war als Rondradin, aber das würde sich im Laufe der nächsten Jahre sicherlich noch ändern. Im Gegensatz zum Vortag hatte Rondradin sein Kettenhemd gegen eine weiße Robe getauscht und auch den Wappenrock gegen einen sauberen getauscht.

Der Geweihte legte die Hand auf die Schulter des Jüngeren. “Komm, wir holen uns was zu trinken und suchen uns dann einen Platz.” Nachdem sie ihre Krüge in Händen hielten, sah sich Rondradin um ob er ein bekanntes Gesicht in der Menge fand, zu dem man sich setzen konnte.

Erst hatte Elvan vor zurück zum Zelt zu gehen, um sich ein wenig auszuruhen, doch als er endlich einmal alleine unterwegs war, ohne Mutter und Cousine, schaute er sich ein wenig um. Alle diese vielen Edelleute. Er war noch immer etwas überwältigt von dieser ´Neuen Welt´ die sich ihm seit der Fahrt auf der Concabella eröffnet hatte. Es war zwar immer der Traum seiner Mutter gewesen, mehr in Adelskreisen wahrgenommen zu werden, doch so langsam gefiel es auch ihm. Vor allem war er jetzt den Rittern und Kriegern nähe, die er sonst nur von Weitem betrachten konnte. Auch wenn sein Idol, der Herzog Hagrobald, nicht hier war, konnte er nicht sagen, enttäuscht zu sein. So viele gutaussehende Männer an einem Ort hatte er schon lange nicht mehr gesehen.  Er ließ seinen Blick schweifen, bis ihm zwei Männer auffielen. Ein gutaussehender Rondrageweihter mit einem jüngeren, der ein Wappenrock trug. Waren sie Brüder? Eine gewisse Ähnlichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Beschwingt von den Bieren ging er auf die beiden zu, die anscheinend einen Platz auf den Bänken suchten. “Entschuldigt die Herren und Rondra zum Gruße!”, sprach er die beiden an.  Die Angesprochenen hielten inne und wandten sich dem Grüßenden zu. “Rondra  zum Gruße.” kam es beinahe gleichzeitig von den beiden zurück. Der Jüngere, wohl noch ein Knappe, musterte den Neuankömmling und versuchte ihn einzuordnen. Er war sich fast sicher, den Älteren schon mal gesehen zu haben. Aber wo, in Elenvina vielleicht? Der Geweihte hingegen sah den Unbekannten freundlich lächelnd an. “Was können wir für Euch tun?”

“Das ist eine gute Frage. Aber sollte ich mich erst einmal vorstellen. Elvan von Altenberg.”, er deutete eine Verbeugung an. “Ich bin Schreiber aus Elenvina und folge den Künsten der weisen Herrin Hesinde. Ich war gerade auf der Suche nach Inspiration. Und da seid ihr mir aufgefallen. Und nun zu meiner Frage.” Elvan griff in seine Gürteltasche und zog ein Stück Kohle heraus. “Ich würde gerne ein Portrait von Euch zeichnen. Wie würde das Euch gefallen?” fragte er und schaute beide neugierig an. 

Palinor feixte innerlich, als sein Vetter nach einer Erwiderung auf die Eröffnung des Altenbergers suchte. “Schön Euch kennenzulernen, dies ist mein Vetter Palinor von Wasserthal, Knappe bei Baroness Durahja vom Berg und ich bin Rondradin Wasir al’Kam’wahti von Perainefurten, Knappe der Göttin.” erwiderte Rondradin schließlich etwas mechanisch, als könne er die Anfrage des Schreibers immer noch nicht ganz fassen. “Ihr wollt uns zeichnen? Habe ich das richtig verstanden?” Hatte die Vorstellung ob des Unglaubens noch etwas kühl geklungen, so wich diese der freundlichen Wärme, mit der Elvan begrüßt worden war. Palinor indes hielt sich zurück und überließ Rondradin das reden. Wie hatte seine Schwertmutter ihn doch gelehrt, ein Knappe sollte vornehmlich zuhören und lernen. Ein kaum verhohlenes Grinsen, konnte er aber nicht unterdrücken.  Elvan lachte kurz auf. “Verzeiht mein unerwartetes Anliegen. Aber ja, ich würde Euch gerne malen. Und ihr, junger Herr”, er richtete sein Wort an Palinor,” kommt mir bekannt vor. Weilt ihr ab und zu in Elenvina?” Während er antwortete  deutet er auf die Bank, eine deutliche Aufforderung sich zu setzen. Dankend ließen sie sich auf die Bank sinken. Palinor nickte auf Elvans Frage. “Ja, die vergangenen zwei Götterläufe war ich oft in Elenvina. Ihr müsst wissen, meine Schwertmutter ist die herzogliche Kämmerin.” Der Knappe errötete bei dem Gedanken an seine Schwertmutter. Rondradin, der dies sah, sprach Elvan an. “Wie lange würde es denn dauern, uns zu zeichnen?”  “Das kann schon möglich sein, das ich Euch daher kenne. Nun”, er zog sich einen Schemel ran und öffnete seine Ledertasche. “Es dauert ungefähr ein Bier.” Nun lächelte er und zwinkerte den beiden zu. Er zog ein Stück Kohle und ein Bogen Pergament heraus. “Bleibt einfach ganz natürlich, genießt Euer Bier. Den Rest mache ich schon!” Mit geschickten Handbewegungen brachte Elvan die ersten Striche aufs Papier. Schon als Kind zeigte sich seine Begabung für das Zeichnen, das später in die Leidenschaft der Kalligraphie endete. Wenn es um Gesichter ging hatte er ein gutes Gedächtnis und  ein Auge fürs Detail. Mit ernsten Blick und ständig auf der Unterlippe beißend, brachte er die Kohlestriche in Form. Während die beiden ihr erstes Bier tranken, war er fertig, bevor Rondradin und Palinor ihren leeren Humpen abgesetzt hatten. Der Altenberger schaute  sich die Zeichnung noch einmal kritisch an. Er hatte sie gut getroffen, auch wenn sie ein wenig würdevoller und kräftiger wirkten, als die lebendige Vorlage. Elvan nahm einen melancholischen Blick in der Figur von Rondradin war und fragte sich, ob das auch so bei dem echten Rondradin so sei. Mit festen Blick an beide gerichtet, drehte er das Pergament um. “Das ist für Euch. Was meint ihr?” fragte der Schreiber die beiden. Zuerst kritisch, aber dann mit wachsendem Staunen betrachteten die Beiden das Pergament. “Mein Kompliment, Ihr versteht euch wahrlich auf diese Kunst und noch dazu so schnell.” Kommentierte Rondradin die Zeichnung und Palinor nickte zustimmend. “Was wollt Ihr dafür haben? Ich denke, es wäre ein schönes Geschenk für deine Mutter, Palinor.” Der Knappe nickte zaghaft. “Oder willst du es lieber deiner Angebeteten geben?” Neckte Rondradin seinen Vetter, der vor Scham sofort tiefrot anlief und auf den Boden starrte. Rondradin lachte kurz auf und legte seine Hand entschuldigend auf Palinors Schulter. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Elvan zu. “Sagt, seid Ihr mit dem Pinsel auch so geschickt?”  “Da muss ich gestehen, das ich mit dem Pinseln noch recht unerfahren bin. Es freut mich das es Euch gefällt. Und lasst gut sein, ich möchte nichts dafür haben.”  Elvan erhob sich und schaute auf seine rußigen Finger. “Es war mir eine Freude. Ich muß mir allerdings erst einmal die Hände waschen. Und ich bin spät dran, das Bankett beginnt ja bald. Ich hoffe wir werden Uns bald wieder sehen.” Er verneigte sich wieder und machte sich auf zu seinem Familienzelt.  “Oh, habt Dank!” Als Elvan sich verneigte, standen auch die Wasserthaler auf und verneigten sich ihrerseits. Nachdenklich sah Rondradin abwechselnd zum Bild und dann wieder auf den weggehenden Altenberger. Hatte er wirklich nur eine Zeichnung anfertigen wollen, oder war da etwas anderes gewesen?

Tsa oder Rahja

Nivard nahm bewusst einen gar nicht so kleinen Umweg zum Lager der Baronin von Ambelmund - er umrundete nahezu das ganze Areal des Jagdhauses und der angeschlossenen Rodungen, lugte da in den Wald hinein und ließ hier seinen Blick über das Lager schweifen. Er tat dies, um seinen Geist wieder klar zu bekommen - klar vom Alkohol, und klar von den kurz nach seinem Aufbruch aufgekommenen verwirrenden Gedanken und Gefühlen. Wenigstens sein erstes Teilziel erreichte er, auch wenn ihm im Zweifel das zweite wichtiger gewesen wäre. Er wähnte sich im Widerstreit der Göttinnen - in der Kaverne des Muschelfürsten hatten Tsa und Rahja die Führung in seinem Herzen übernommen und Gefühle für das wohl unmöglichste weibliche Wesen in ihm geweckt, in das sich ein Krieger wie er verlieben konnte. Noch immer wühlten ihn diese auf, auch wenn sich diese zwischenzeitig von anfänglicher Verliebtheit nach allen Erlebnissen zu einer eher fürsorglichen Zugewandtheit gewandelt hatten, und stark zog es ihn immer wieder in den Tempel des launischen Efferd zu Elenvina, in der Nähe "seiner" Nixe zu weilen und ihr seine Lieder darzubieten. Aber er spürte auch, dass allem Glück, das er dabei erlebte, zum Trotze, ein anderer Teil in ihm in dieser Liebe keine Erfüllung finden würde. Die Sehnsucht, seinem eigenen "kleinen Goblin" Reitschwein zu sein. Die Liebe zu und von einer eigenen Familie zu spüren. Travias wärmendes Feuer fand sich nicht in den kalten Fluten. Nivard versuchte, diesen Gedanken beiseite zu wischen. Er dachte an vorhin zurück, den... seltsamen Abschied gerade. Travias Rufen schien von allen Seiten zu erklingen, ja geradezu auf ihn einzudringen... umso nachdrücklicher, je mehr er sich vornahm, sich diesem, wenigstens zunächst, zu verschließen.   Angesichts seiner Verwirrung wurde ihm wieder bewusst, warum er sein sonstiges Leben vor allem unter das Zeichen Rondras stellte - in Rondra lagen Klarheit und Entschiedenheit … . Und Deutlichkeit. Entschiedene Deutlichkeit, mit der sich Nivard am Wams gegriffen und energisch gezogen fühlte. Ein Blick nach unten offenbarte zwei riesengroße, kugelrunde, fast schwarze Augen in einem klaren, feinen Kindergesicht.

“Tapfen, Gobbihopp?” fragte das kleine Mädchen mit heller Stimme. Nivard schrak aus seinen kreisenden Gedanken, als er das Ziehen des Mädchens spürte. "Mirla? Was machst Du denn hier, so nah am Waldrand, und ganz allein?" Er begab sich in die Knie, auf Augenhöhe der Kleinen. "Bist Du wieder ausgerissen, Du kleine Abenteurerin? " War das der nächste Wink Travias? Er schüttelte den Gedanken ab. Mirla musste in sichere Obhut. Und er war ihr noch einen versprochenen Ritt schuldig. Nivard versuchte Marbolieb auszumachen, oder ein Zelt in der Nähe, das danach aussah, als könne es die eher weniger wohlhabende Geweihte beherbergen. Oder war ihm das Mädchen etwa bereits länger gefolgt?

"Komm, wir reiten zurück zu Deiner Mama. Zeigst Du mir den Weg?" Er setzte sich Mirla zu deren vernehmbarer Freude wieder auf die Schultern. Diese zappelte und strampelte bereits beim Aufsitzen begeistert mit den Beinchen, wollte sogleich und mit Inbrunst ihr Reitschwein antreiben. Nivard spannte die Brustmuskeln an, um der Wucht der trommelnden Fersen entgegenzuwirken. "Hey, nicht so wild, ich galoppiere doch schon los." protestierte er, zunächst unter den Tritten ächzend, dann lachend.

"Wie macht der Goblin?... Hoppel-di-hoppel-di-hoppel-di-hopp..." Während das Zweier-Reitgespann nach dem Zelt der Boroni suchte, fiel Nivards Blick wieder auf Gelda, die auch das Treffen an den Bänke verlassen hatte und anscheinend zurück zu dem Altenberger Zelt zurückkehren wollte. Erst jetzt fiel ihm auf, das die junge Frau eine athletischen, aber mit recht weiblichen Rundungen, Figur gesegnet war. Das Kleid das sie trug, war recht eng und wie sie schon erwähnt hatte, recht unpraktisch für eine Jagd. Einige Strähnen hatten sich aus ihrer kunstvoll geflochtener Frisur gelöst und gaben ihr ein unfreiwilliges, zerzaustes Aussehen. Das kupferrote Haar schimmerte im Sonnenlicht und ließen ihre Haut blass, aber edel erscheinen. Auch sie bemerkte die beiden, blieb kurz stehen, lachte und winkte. “Bis später, Herr Krieger”, rief sie ihm erheitert zu. Dann führte sie ihren Weg fort. 

Nivard hielt inne in seinem Galopp und sah zu Gelda, zunächst etwas verdutzt wirkend, als ihm gewahr wurde, wie hübsch die Cousine Elvans war. Und wie warmherzig Ihr Lachen wirkte. Noch immer etwas verwirrt, aber lächelnd winkte er zurück und sah ihr noch einen Augenblick nach. Noch ehe er sich aber wieder in Grübeleien verfangen konnte über Travias Zeichen und Wirken, gab ihm seine Reiterin mit den Fersen zu verstehen, dass noch längst keine Zeit zum Verweilen war. “Ist ja schon gut, wir reiten weiter zu Deiner Mama! Hier lang?” “Hopp, hopp, schnell!” jauchzte das kleine Mädchen, das vor Freude ganz spitze Bäckchen besaß. Die “Tapfen” hatte sie für’s Erste vergessen. So viele neue Eindrücke - und Menschen, die mit ihr spielten! - bedeutete für das kleine Kind ein ganz eigenes Paradies. Und so deutete sie nach vorn und jauchzte aus vollem Herzen, vollkommen ignorierend, in welche Richtung das geschundene tannenfelser Reitschwein sprang.

Nach einer Weile hatte Nivard den Eindruck, dass der Ritt ihn wahrscheinlich einmal durch das ganze Lager führen würde und dann nochmal drumrum, wenn er auf die Lenkung durch seine Reiterin vertraute. Einerseits hatte er Verständnis für die Kleine und durchaus auch Freude daran, wenn er ihr glückliches Jauchzen und Glucksen vernahm. Außerdem war das Leben als Reitschwein wenigstens kurzfristig deutlich einfacher, als als grübelnder junger Krieger. Andererseits musste er sich aber so langsam wirklich bei der Baronin von Ambelmund blicken lassen. “Du, hör mal, wir müssen jetzt ganz ganz schnell zu Deiner Mama! Und ihr vorführen, wie toll und schnell du reiten kannst!” (Naja, wenigstens hören konnte sie das hoffentlich). “Sie wird sicher mächtig stolz auf Dich sein! Zeigst Du mir vorher, wie gut Du Dich hier auskennst, und weist mir den Weg zu ihr? Dann kannst Du mir auch Dein Zelt zeigen!”

“Dado - da!” Lachend deutete Mirla nach vorn, wo einige kleinere Zelte zusammenstanden. Nicht die großen und farbenprächtigen der Adligen. Einige Schritte weiter zeigte sich dem Tannenfelser auch eine kleine, in eine verwaschene schwarze Robe gehüllte Gestalt, die vor einem der Zelte stand und sich unsicher umwandte. Tatsächlich! Da war ja die Geweihte! Nivard gab zur hellen Freude Mirlas auf den letzten Schritten nochmal alles, umkurvte Zelte und übersprang Abspannungen. Im rasenden Schweinsgalopp gelangten sie schließlich bei Marbolieb an, wo Nivard jäh stoppte, im Spiel ein wenig tänzelte und wankte, seine Reiterin unter einem hellen Jauchzer von den Schultern griff, sie noch einmal nach oben warf und am Ende sicher abfing (das hatte ihr bereits gestern so gut gefallen). "Wir sind im Lager der Schweinereiter angekommen - alle kleinen Goblinreiter absitzen!"

Er setzte Mirla vor Marbolieb auf den Boden. "Seid gegrüßt, Euer Gnaden", wandte er sich, zunächst noch schwer atmend vom wilden Ritt, an die Götterdienerin. "Eure Tochter hat mich in der Verlassenheit des Waldrandes gefunden, wo sie offensichtlich zu Recht die sich herumtreibenden Reitschweine vermutete. Nun ist sie, wie es sich gehört, zu Euch zurückgeritten." Auf den Zügen der zierlichen Boroni zeichnete sich gewaltige Erleichterung ab, als sie Nivards Stimme hörte. Sie ging in die Knie und fing ihre Tochter, die sich halbwegs gutwillig, aber mit einem breiten Grinsen in Richtung Nivards, wieder hochnehmen ließ. “Gobbihopp!” lachte sie ihn glücklich an. “Schnell!” Angesichts dieser so sorgenlos zur Schau getragenen Freude breitete sich auch ein herzliches Strahlen auf dem Gesicht der jungen Frau aus. “Ich danke Euch, Euer Wohlgeboren. Gibt es etwas, womit ich Euch Eure Mühe vergelten kann?” Ihre Augen leuchteten, als sie das Kind an sich drückte, und sie strich liebevoll mit ihren vollen Lippen über die Stirn des Mädchens.

"Das ‘Wohlgeboren’ kann ich nicht stehen lassen - so ist zwar meine Mutter anzureden und irgendwann mein älterer Bruder. Ich bin nur der Zweitgeborene unseres Hauses… Und macht Euch keine Gedanken - die Freude … und Ablenkung ..., die mir Eure Mirla schenkte, sind bereits Dank genug. Ich hoffe nur, Ihr habt Euch nicht allzu sehr gesorgt. Eure Tochter ist eine richtig mutige kleine Abenteurerin, und offensichtlich nicht allzu leicht zu hüten." Er musste dabei an seine jüngste Schwester Silfrun denken, die als Kind ebenfalls öfter ausgebüchst ist und teils tagelang im Wald verschwunden blieb, nur um dann wieder mit gesammelten Schätzen wie Tannenzapfen, Steinen und Eicheln wieder aufzutauchen, als ob nichts gewesen wäre. Seine Mutter war mehr als einmal am Rande der Verzweiflung wegen ihr… “Und Du kleiner Goblinkrieger, sagst Du Deiner Mama Bescheid, wenn Du auf die Jagd gehst - das machen die echten Goblins so, weißt Du?”

“Oooch! Gobbigob!” Probehalber steckte Mirla einen Daumen in den Mund und blickte mit riesengroßen, leuchtenden Augen zu Nivard auf. “Die kleine Dame ist mittlerweile schneller als ich. Sie hatte Glück, dass sie so einen freundlichen Begleiter fand.” Die zierliche Geweihte lächelte Nivards Richtung. “Ich tue mein Möglichstes, dass sie Euch  künftig nicht mehr zwischen die Füße gerät, Hoher Herr.” Ein warmes und freundliches Lächeln besaß die Südländerin, und keines, in dem Hintergedanken gestanden hätten.

“Wenn ich Euch einmal bei etwas unterstützen kann, lasst es mich bitte wissen.” Sie setzte die Kleine auf ihre Hüfte und streckte Nivard eine Hand entgegen, hell und schlank vor ihrer ehemals schwarzen, längst aber zu einem undefinierbaren Grau gebleichten Robe. "Ihr müsst Euch wahrlich keine Gedanken machen, ob Mirla mir zwischen die Füße gerät - wir verstehen uns ganz gut, nicht wahr, Mirla?" Nivard zwinkerte Mirla zu. Dann wurde er ernster, und seine Stimme leise: "Ich sorge mich nur, dass Eure Tochter irgendwann nicht mir oder einem anderen hilfsbereiten Menschen oder Zwergen über den Weg läuft, sondern sich im Wald verirrt und dort vielleicht gefährlichere Begegnungen macht … ."

Der junge Tannenfels ließ seine Worte einen kurzen Moment stehen, dann ergriff er die entgegengestreckte Hand der Geweihten und erwiderte deren sanften Druck. "Das werde ich gerne tun, habt Dank, Euer Gnaden." nahm er deren Angebot an, mit sanfter Stimme, in die er alle Wärme legte, wissend, dass sie sein Lächeln nicht wahrnehmen würde. Nachdem sie ihre Hände gelöst hatten, berührte Nivard Mirla kurz an der Schulter, mit einem Lächeln auf den Lippen. "Bitte verzeiht, aber ich muss noch weiter, der Baronin meiner Heimat die Aufwartung machen..." Marboliebs Lächeln erhielt bei Nivards Worten einige Atemzüge lang eine etwas wehmütige Note. Sie hatte bislang nur Glück (und den Segen der Götter) genossen, dass Mirla nicht kurzerhand auf der Suche nach ihren ‘Tapfen’ im Wald verschwunden, sondern von dem Herrn von Tannenfels aufgelesen worden war, und ihr war ebenfalls klar, dass sie ihr Glück diesbezüglich besser nicht herausfordern sollte. Kurz erwiderte sie den Druck seiner Hand, ehe sie diese wieder freigab, leicht nur, warm ihre Haut, die schon lange nicht mehr weich und glatt war - deutlich spürte der junge Krieger die Schwielen auf ihrer Handfläche, nicht jene vom Gebrauch eines Schwertes, dennoch deutliche Kundschafter von regelmäßiger Arbeit.

“Ich werde Euch nicht aufhalten. Glück Euch auf Eurem Weg. Ich freue mich, wenn sich die unseren wieder kreuzen.” Was nun zweideutiger klang, als es beabsichtigt war. Die kleine Boroni schmunzelte ein warmes, ein wenig nachdenkliches Lächeln, und fasste ihr Kind mit einer Hand, während sie mit der anderen nach der Scheitelstange ihres Zeltes tastete. Die Jagdgesellschaft war klein  genug, dass sie einigermaßen sicher damit rechnen konnte, früher oder später diesem überaus freundlichen und gutmütigen jungen Ritter wieder zu begegnen. “Die Zwölfe mit Euch, Hoher Herr.” “Die Zwölfe mit Euch, Euer Gnaden.”

Besuch bei den Ambelmundern

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Schließlich erreichte Nivard aber doch die Jagdunterkunft der Ambelmunder. Eine junge, ihm unbekannte Büttelin, nur wenige Jahre älter als er, blickte ihm gelangweilt entgegen. Erst, als sie des goldenen Hirschhaupts auf seinem Wappenrock gewahr wurde, kam Bewegung in die Wache. Die Frau straffte sich, stand stramm und begrüßte ihn nun ebenso übereifrig, wie ihr zuvor die Körperspannung zu fehlen schien: "Rondra zum Gruße, junger Herr von Tannenfels! Soll ich Ihrer Hochgeboren Eure Ankunft melden?" Von drinnen hörte er die Baronin: "Er soll hereinkommen - ich habe bereits mit ihm gerechnet!" Nivard wurde ins Zelt geführt - dieses war zwar weit geräumiger und komfortabler als das seine, aber gemessen am Stande Wunnemines von Fadersberg ebenfalls recht spartanisch eingerichtet - ganz und gar rondrianisch, wie er sie in Erinnerung hatte. "Der junge Herr Nivard von Tannenfels, wie schön, hier ein Gesicht aus der Heimat wiederzusehen! Auch wenn ich Euch nach all den Jahren fast nicht wiedererkannt hätte!" Wunnemine hatte sich zwischenzeitlich von ihrem hölzernen Reiseklappstuhl erhoben und war freundlich lächelnd auf den jungen Krieger zugekommen. "Eure Mutter, von der ich Euch im Übrigen grüßen soll, hat mir berichtet, dass ich Euch hier antreffen würde." "Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Hochgeboren!" antwortete Nivard, zunächst etwas unsicher. Die Baronin sah auf den ersten Blick nahezu genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Ihr wallendes dunkelbraunes Haar, ihre tiefblauen Augen, dazu ihre immerzu, so auch jetzt, alles andere als damenhafte, vielmehr ritterliche Kleidung - mit zehn oder elf hatte er sich Rondra immer wie die damals blutjunge Baronin vorgestellt. Von näher besehen schienen ihre Züge jedoch ernster geworden. "Hattet Ihr eine gute Anreise?" "Nachdem Firun das Land in diesem Jahr erst spät aus seinem Griff gelassen hat, war die Reise teils noch recht beschwerlich, vor allem zu Anfang, durch Nordgratenfels. Wege und Straßen waren weit mehr als nur einmal noch nicht wieder instandgesetzt. Umso schöner ist es, dass wir dennoch rechtzeitig hier angekommen sind." Wunnemine deutete auf einen zweiten Klappstuhl. "Nehmt doch Platz. Darf ich Euch auf einen Becher Wein einladen, zu dem Ihr berichtet, wie es Euch in den letzten Jahren ergangen ist? Eure Mutter erzählte, Ihr wärt von der Herzogenmutter auf eine Flussfahrt eingeladen worden, auf der Ihr Euch offensichtlich in kritischer Lage beweisen musstet?" Bei einem Becher Wein, von dem Nivard zunächst nur recht zurückhaltend nippte, wollte er doch Herr seiner Sinne bleiben, begann er zu erzählen, kriegerisch nüchtern und knapp, weitgehend getreulich, nur manches aussparend, wie er es geschworen hatte, darunter die Schönheit in den Fluten. Und seine dieser gewidmeten Lieder. Er endete damit, sich inzwischen bei den Plötzbognern verdingt zu haben. Wunnemine nickte wissend, und ihm schien kurz, als ob ihre Mundwinkel zuckten. Sicherlich hatte der junge Krieger sich nur versehen. "Das trifft sich gut." fing sie nämlich mit ernster Stimme an. "Die Gesellschaft, der Ihr angehört, bietet dann doch auch Eure Dienste als Botenreiter an, richtig?" Nivard nickte: "Ja, durchaus, Euer Hochgeboren!" "Ich bräuchte einen zuverlässigen, wehrhaften und ... unerschrockenen... Boten, für eine äußerst dringliche und vertrauliche Depesche in Richtung Heimat - ich werde noch einige Tage mehr als ursprünglich geplant im Isenhag weilen, müsst Ihr wissen. Dürfte ich Euch mit dieser Aufgabe betrauen, selbstverständlich erst nach diesem Fest?" "Grundsätzlich gerne, Euer Hochgeboren. Es ist nur... Aufträge werden eigentlich... eigentlich nur in Elenvina angenommen." "Wärt Ihr dann so gut, auch mein Auftragsschreiben entgegenzunehmen und rückwirkend in Elenvina abzugeben? Ihr habt doch noch keinen Auftrag für die nächsten Wochen, oder?" Nivard grübelte kurz, wahrscheinlich würde das gehen. Er wollte der Lehnsherrin seines Hauses eine so wichtige Bitte nicht abschlagen. "Nein. Ich meine: Ja. Selbstverständlich mache ich das für Euch, Euer Hochgeboren." Die Baronin drehte sich kurz weg,  offensichtlich um sich Wein nachzuschenken, und so sah Nivard nicht, wie sie sich ein Schmunzeln aus dem Gesicht wischte. "Ihr müsst auch nicht den ganzen Weg nach Ambelmund zurücklegen." Sie drehte sich ihm wieder entgegen. "Mögt Ihr noch Wein?" - "Nein - ihr habt noch? Gut… - Es reicht jedenfalls, wenn Ihr mein Schreiben an Eure Mutter übergebt, die vor mir in die Heimat zurückkehren wird. Wie ihr vielleicht wisst, werdet ihr sie Anfang Rahja in Herzogenfurt antreffen, das ist nur etwas mehr als halbe Strecke. Wärt Ihr so gut, mir diesen Dienst zu erweisen?" "Euer Wunsch sei mir Befehl!" hörte Nivard sich sagen. Seine Kehle war trocken. Er hörte Travia nicht mehr rufen. Sie schrie. Er leerte den restlichen Becher in einem Zug. Leodegar von Quakenbrück sah den zweitältesten der Edlen von Tannenfels noch in die andere Richtung davonstapfen, als er selbst am Zelt seiner Herrin angelangte. Drinnen fand er Wunnemine halb amüsiert grinsend, halb schuldbewusst vor. "Ich fürchte, ich spiele dem jungen Tannenfels gerade mit. Aber es ist ja nur zu seinem Besten. Sagt Celissa von Tannenfels. Und wer bin ich, den Willen einer ebenso fürsorglichen Mutter wie treuen Edlen für Ihren Sohnemann zu hinterfragen?" Sie leerte ihren Wein. In Gedanken fügte sie hinzu: 'Außerdem liegt sie mir dann vielleicht ein Weilchen nicht in den Ohren mit ihrer Fürsorge um meine Dynastie. Auch wenn dies ebenfalls nur zu meinem Besten ist... und sie wahrscheinlich Recht hat...' Wunnemine goss sich nochmal nach. Auch Leodegar musste grinsen. "Was genau soll ich jetzt in dem Brief schreiben?"

Das Trio

Es war bereits gar nicht mehr so früh am Nachmittage, als Nivard wieder zurück an seinem Zelt war. Und damit auch in der Nähe der Zeltstätte derer von Altenberg. Er begann, geschäftig an seiner Jagdausrüstung zu werkeln, diese nochmals zu prüfen und zurecht zu legen. Nichts davon wäre jetzt erforderlich gewesen, zumal er alles erst heute morgen durchgegangen war, doch brauchte er diese nahezu rituellen Handlungen, um sich nach dem Gespräch soeben und den Begegnungen zuvor zu sammeln. Und seinen Mut. Von dem er sonst, wenn es um wirkliche Gefahren ging, doch soviel hatte. Jetzt hatte er sich aber versteckt, und es brauchte ein Weilchen, in wieder aufzustöbern.  Mit einem Nicken beschloss er die Ausrüstungskontrolle, dann nahm er allen wiederentdeckten Mut zusammen, und schritt rasch auf das Zelt der Altenberger zu (ehe der Mut sich's wieder anders überlegt), um Gelda wie verabredet abzuholen. Unmittelbar vor dem Zelt straffte er sich und holte nochmals tief Luft. Endlich machte er sich durch ein Klopfen gegen die Zeltplane bemerkbar. "Verzeiht, ist jemand zugegen?", darauf hoffend, dass Gelda direkt antworten würde, und niemand anders, dem er sich erklären müsste. Es dauerte einen Moment bis Nivard etwas hörte. Es war ein Rascheln und die Zeltplane schlug zur Seite. “Da bist du ja endlich. Ich dachte du kneifst vor den Übungen.” Gelda lachte und zwinkerte ihm zu. Diesmal hatte sie ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz geflochten und trug einen dunkelgrünen Wams mit Hose und feste Stiefel. In ihrer rechten hielt sie einen Bogen. Sie griff nach ihren Pfeilköcher und lief an Nivard vorbei. Dann drehte sie sich nochmal um und bemerkte wie er ihr hinterher sah. “Was starrst du so? Komm jetzt und lass uns Doratrava finden.” 

"Es hat halt... ein bisschen länger gedauert, als gedacht..., aber ich halte mich natürlich an meine Verabredungen. Immer." Hatte Gelda ihn etwa gerade beobachtet? Hatte sie wirklich geglaubt, er würde kneifen? Obwohl Nivard ja da war, fühlte er sich ertappt, wenigstens ein bisschen. Wieder musste er feststellen, wie hübsch sie aussah, auch und gerade in Jagdmontur... Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, während er einen Moment zu lange in diesem Anblick verharrte - und sich schon wieder ertappt fand: "Ich starre ja gar nicht, ich... ich überlege nur, wo wir... wo wir Doratrava am ehesten finden." Seine Wangen schienen zu glühen. "Sie wollte sich bei den Zwergen nach Musikanten umtun. Vielleicht ist sie ja dort hängen geblieben. Gehen wir zuerst dahin?"

Eilig schloss er zu Gelda auf.  Nicht zuletzt auch, um seine anfängliche Unsicherheit zu überspielen, fing er beim Laufen sogleich an, laut (und ein wenig zu hastig plappernd) zu überlegen: "Die Schießübungen können wir gut mit den Stroh- und Heuballen angehen, aber wir müssen uns noch was einfallen lassen, wie wir ein bewegtes Wildschwein simulieren... hm... vielleicht haben die hier irgendwo eine halbwegs wendige Schubkarre, die wir mit Heu beladen und die ich ganz schnell auf Euch beide zu bewege... das könnte doch gehen, oder? Und wenn wir unter das Heu noch eine Heugabel drauflegen, dann sieht der Karren auch fast wie eine Wildsau aus, naja, zumindest ein bisschen... im Prinzip..." Während er seinen letzten Gedanken aussprach, lächelte er Gelda halb grinsend, halb ein wenig scheu, an. Gelda mußte lachen. Dieser Nivard war echt ein lustiger Geselle. Er gefiel ihr. “Wenn ich mich recht erinnere, dann bist du doch geübt wie ein Wildschwein herum zu galoppieren. Der Kleinen hat's offensichtlich gefallen!” Sie zwinkerte ihm zu. “Aber Spaß beiseite. Wir werden schon noch was finden und wenn es nur ein alter Baum ist. Und die Idee ist gut, lass uns Doratrava bei den Zwergen suchen.” Nun überließ sie Nivard die Führung.  Mit einem Grinsen im Gesicht hielt sie nach der Gauklerin Ausschau. Die beiden fanden Doratrava nicht direkt bei den Zwergen, sondern im gestenreichen Gespräch mit einer Gruppe bunt gekleideter Musiker. Zum Glück schienen sie bereits alle Argumente ausgetauscht zu haben, denn die Gauklerin wandte sich den beiden zu, sobald sie ihrer ansichtig wurde. “Sucht ihr mich?” rief sie fröhlich.

Bogenschießen

“Wir wollten doch nochmal das Bogenschießen über.” begrüßte sie Nivard. “Und den Kampf gegen bewegte Wildschweine. Ich hätte da eine Idee, wie wir deren Angriffsverhalten nachstellen könnten, ohne dass einer von uns die Treffer der übenden Jäger einstecken muss. Das macht nämlich weniger Spaß, als Reitschwein der kleinen Mirla zu sein, vor allem, wenn die Übungen fruchten.” ergänzte er mit einem grinsenden Seitenblick in Richtung Gelda. Dann fragte er Doratrava: “Hast Du hier vielleicht irgendwo eine Schubkarre gesehen?” Doratrava schüttelte den Kopf, meinte aber sogleich: “Gesehen nicht, aber wenn, dann gibt’s sowas vielleicht da hinten.” Sie deutete vage in die Richtung der Nebengebäude der Jagdhütte. “Was ist denn nun euer Plan? Und ihr seid sicher, dass ich in zwei Stunden noch das Bogenschießen lernen kann? Ach, versuchen wir es einfach!” Sie lächelte erwartungsvoll. "Nicht nur das Bogenschießen - auch den Kampf gegen bewegte Wildschweine." Nivard grinste nun. "Gelda zeigt Dir gleich schon mal, wie man mit Pfeil und Bogen umgeht, oder, Gelda? Und ich besorge uns unterdessen ein bewegliches Wildschwein. Treffen wir uns gleich wieder dort, wo wir heute morgen geübt haben?" Gelda nickte Nivard zu und wandte sich dann an Doratrava, nahm sie an der Hand und ging zum alten Übungsplatz. “Eine Meisterschützin werden wir wahrscheinlich nicht in dieser kurzen Zeit aus dir machen können, aber du wirst auf jeden Fall was treffen können. Bogenschießen ist echt nicht schwer”, sagte sie voller Vertrauen. Sie zog einen Pfeil aus ihrem Köcher, spannte ihn in den Bogen, kniff ihr linkes Auge zu und zielte auf einen Baum. Nach kurzer Zeit ließ sie die gespannte Sehne los und der Pfeil sauste geradezu auf dem Baum zu, wo er dann stecken blieb. “Siehst du, ganz einfach!” Gelda lächelte sie an. “Und jetzt du.” Die Altenbergerin gab der Gauklerin den Bogen und ein Pfeil. “Ich helfe dir beim Spannen.” Damit stellte sich sich hinter ihr und berührte ihre Ellenbogen. Gelda war jetzt so nahe, das Doratrava ihren leichten Atem in ihren Nacken spüren konnte. Die Gauklerin erschauerte leicht, ungebetene Gedanken an eine andere rothaarige Frau drängten sich in ihr Bewusstsein, welche sie ganz schnell wieder verbannte, sonst würde das mit dem Bogenschießen nichts werden. Langsam dirigierte Gelda Doratravas Arme und Hände in die richtige Position. “Halt die Spannung. Ja, genau so. Und visiere einen Punkt an. Und dann lass los.”, raunte sie ihr zu. Mit einem Sirren verließ der Pfeil die Sehne und verfehlte den Baum. Gelda lachte wieder und löste sich von der Gauklerin. “Für den Anfang gar nicht schlecht. So nun versuche es alleine.”

Doratrava stellte sich in Position und versuchte alle Handgriffe so zu machen, wie Gelda sie ihr gerade gezeigt hatte. Von der Altenbergerin hatte sie auch einen Schießhandschuh und einen Armschutz bekommen, denn ohne ersteren schnitt die Sehne beim Spannen so stark in die Finger, dass man sich nach nur wenigen Schüssen vor Schmerzen nicht mehr konzentrieren konnte. Dass der Armschutz nicht immer schützte, erfuhr die Gauklerin sogleich, denn als sie die Sehne losließ, knallte diese mit voller Wucht oberhalb des Schutzes auf das Ellenbogengelenk. “Autsch!” rief Doratrava erschreckt und schmerzerfüllt auf, legte schnell den Bogen weg, riss sich den Armschutz vom Unterarm und krempelte sich das Hemd bis zum Ellenbogen hoch. Dort prangte ein jetzt schon dunkelblauer, handtellergroßer Bluterguss, den sie Gelda vorwurfsvoll zeigte.  

Mit bedauerndem Blick schaute Gelda erst den Bluterguss, dann Doratrava an. Dann nickte sie. “Ich kann mir vorstellen, als du deine ersten akrobatischen Übungen gemacht hast, dass du  viele solcher Güsse hattest. Übung macht die Meisterin, wie frau so schön sagt. Ich hole den Pfeil, dann versuch's gleich nochmal. Aber sei diesmal kontrollierter, du schaffst das schon.”  Von ihren eigenen Worten überzeugt ging sie los und holte den Pfeil.  Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb sich Doratrava den Bluterguss, doch dann riss sie sich zusammen, krempelte den Ärmel wieder herunter und befestigte den Armschutz. Gelda hatte ja recht. Auch heute noch zog sie sich regelmäßig Verletzungen zu, wenn sie neue Kunststücke ausprobierte, nur nicht mehr so oft wie als Kind.

Als Gelda mit dem Pfeil zurückkam, nahm sie diesen entschlossen an sich und legte ihn wieder auf die Sehne. Sorgfältig drehte sie diesmal den Arm nach außen, und diesmal schlug die Sehen nur gegen den Armschutz, fügte ihr aber keinen weiteren Bluterguss zu. Unter Geldas Anleitung schaffte es die Gauklerin, sogar ab und zu den Baum zu treffen. Jedes Mal, wenn die junge Altenbergerin sie dabei berührte, fuhr ein leises Kribbeln durch ihren Körper. Solche Nähe war sie einfach nicht gewohnt, und die einzige andere Frau, die ihr jemals so nahe gekommen war, war Jel gewesen … die sie erst vor wenigen Tagen verlassen hatte … schon drohte ihre Konzentration wieder zusammenzubrechen.  Nivard eilte rasch in Richtung Nebengebäude der Jagdhütte, wo er nach ein bisschen Suchen und Herumfragen sowie Beteuerungen,  das gute Stück wieder heil zurückzubringen, tatsächlich einen kleinen, da auf zwergische Nutzer ausgelegten, aber auch sehr robusten Schubkarren auftreiben konnte.  Wie staunten die zwergischen Zuschauer dorten,  als sie zunächst kopfschüttelnd,  dann amüsiert beobachteten, wie sich der Schubkarren in Windeseile in einen (recht hellen) Schwarzkittel verwandelte: ein Strohballen stehend aufgeladen und unten platt gedrückt, vier Stöcke seitlich eingesteckt, die die Beine sein sollten, zwei große dunkle Steine als Augen und vorne eine nur mit den Spitzen aus dem Stroh ragende Astgabel als Hauer. Nun so richtig in Fahrt bekam das Vieh auch noch eine Heumähne, einen Laubschwanz und zwei benadelte Ohren.

Zufrieden nickend begutachtete Nivard sein Werk, dann eilte er damit zu den anderen. Manch einer rieb sich die Augen, manch anderer hielt inne und grinste sich einen, als Krieger und Schubkeiler vorbei stürmten. Da sah Doratrava plötzlich Nivard mit seinem ‘Wildschwein’ herangaloppieren. Vor lauter Verblüffung ließ sie den Pfeil von der Sehne, ohne an ihren Arm zu denken, und prompt schlug diese mit aller Wucht auf denselben Bluterguss. Diesmal schrie die Gauklerin auf und ließ den Bogen fallen, Tränen des Schmerzes traten ihr in die Augen, als sie den geschundenen Arm eng an den Körper drückte und um ihre Beherrschung kämpfte. Nivard strotzte vor Vorfreude, Doratrava und Gelda mit seinem Schubkeiler zu überraschen, weswegen seine Schritte ihn umso schneller trugen, je näher er dem Übungsplatz kam. Es war beinahe so, als ob der Keiler zum Angriff überginge. Die überraschten, amüsierten und teils kopfschüttelnden Blicke der Umstehenden, die er passierte, fochten ihn nicht an - er fand, dass sein Wildschwein im Prinzip auch nichts anderes war als der wie ein Ritter ausschauende Drehbalken, mit dem Kriegsreiterei und Tjosten geübt wurden.

Da waren ja auch schon die beiden jungen Frauen. Justament in diesem Augenblick blickte sich Doratrava zu ihm um - und schrie sofort vor Schmerz auf. Erschrocken stellte Nivard sein Geschöpf ab und eilte die letzten Schritte heran: "Hast Du Dich verletzt?" erkundigte er sich besorgt. "Bei Kurim, ich wollte Dich nicht so sehr erschrecken." 

“Du hast mich nicht erschreckt - aber abgelenkt”, presste Doratrava hervor, sich mühsam die Tränen verbeißend. Wieder löste sie den Armschutz, das nutzlose Ding, und krempelte den Ärmel ihres Hemdes hoch. Der Bluterguss hatte sich in der Größe verdoppelt und in der Mitte, wo die Sehne zum zweiten Mal getroffen hatte, eine blaurote Färbung angenommen. Zum Glück klang der akute, brennende Schmerz inzwischen ab und ging in ein dumpfes Pochen über. “Aber das Wildschwein gefällt mir”, lenkte die Gauklerin von ihrem erneuten Missgeschick ab. Schon stahl sich wieder ein schwaches Lächeln auf ihre Züge. “Ohje, hoffentlich beeinträchtigt Dich das heute Abend nicht - heilt zwar schnell ab, und bremst einen Krieger nicht aus, aber Du hast ja sicher Filigraneres vor… wickel Dir am besten erstmal ein nasses Tuch um..." begutachtete Nivard die Verletzung.

Als Doratrava sein Schwein ansprach, trat jedoch wieder ein Grinsen in sein Gesicht: “Hab ich mir extra für unsere Übungen ausgedacht. Wenn Ihr mit dem Bogenschießen durch seid” er blickte dabei Doratrava und Gelda fragend an - “können wir damit den Kampf gegen anstürmende Wildschweine üben. Ich nehme den Schubkeiler und renne auf Euch zu, und Du zeigst mir und Gelda, was wir heute morgen geübt haben. Wie sieht’s aus? Habt ihr Lust?” “Auf jeden Fall. Aber erstmal muss sich Doratrava konzentrieren. So, versuch es noch einmal!”, sagte Gelda immer noch ernst und hielt ihr den Bogen hin.

Zwar ging die Gauklerin davon aus, dass ‘Wildschweinstechen’ sicher interessanter werden würde als Bogenunterricht, aber es lag ihr fern, Geldas Lektionen deshalb im wahrsten Sinne des Wortes in den Wind zu schießen. Sie besann sich auf die ihr eigene Disziplin und drängte den Schmerz in den Hintergrund. Auf ein nasses Tuch verzichtete sie, denn das würde ihren Arm ja noch dicker machen und das Schießen wäre dann wohl kaum mehr möglich. Statt dessen nahm sie den Schmerz als Mahnung, besser auf ihre Haltung zu achten. In der nächsten halben Stunde erlebten ihre beiden Lehrer Doratrava von einer ganz anderen Seite. Keine scherzhafte Bemerkung kam über ihre Lippen, ja eigentlich überhaupt keine Worte, welche nicht mit den unmittelbaren Übungen zu tun hatten. Mit konzentrierter Ernsthaftigkeit widmete sie sich den Lektionen und befolgte alle Anweisungen Geldas nach bestem Vermögen, berücksichtigte auch den ein oder anderen Einwurf Nivards. Doratrava schaffte es, ihren geschundenen Arm aus der Bahn der Sehne zu halten und traf mit der Zeit tatsächlich zuverlässiger den Baum, den Gelda als Ziel auserkoren hatte. Doch dann forderte die ungewohnte Anstrengung ihren Tribut. Die Gauklerin stellte fest, dass das Bogenschießen ganz andere Muskeln forderte als diejenigen, welche sie für ihre akrobatischen Kunststücke und für den Tanz brauchte. Da Geldas Waffe kein Übungsbogen für Anfänger war, musste Doratrava für jeden Schuss schon ordentlich an der Sehne zerren, um diese ausziehen zu können. Nach einer halben Stunde begann ihre rechte Schulter zu brennen und es wurde immer schwieriger, den Arm durchgestreckt zu halten. Als dann die Sehne beim nächsten Schuss leicht an ihrem Bluterguss zupfte, da sie streifend an ihrer Haut entlang schrammte, was eine neuerliche Welle des Schmerzes durch ihren Arm jagte, senkte sie den Bogen. “Gelda, es ist gut. Ich kann nicht mehr. Für heute ist es genug.” Doratrava verbiss sich jegliche Regung wegen der Schmerzen, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Finger zitterten.

“Meinst Du, dass Du noch ein bisschen Saukampf üben kannst? Oder willst Du Dich lieber für heute Abend schonen?” Nivard hatte die Erschöpfung der Gauklerin deutlich wahrgenommen und wollte nicht, dass sie den Auftritt gefährdete, wegen dem sie extra angereist war und auf den sie sich so ausgiebig vorbereitet hatte.  Insgeheim hoffte er aber natürlich, sein Konstrukt ausprobieren zu können. Vielleicht ließe sich ja Gelda auch alleine dafür begeistern. Doratrava grinste schon wieder. “So leicht kommt mir die Sau nicht davon. Nur weil ich keine Bogen mehr ziehen kann, heißt das ja nicht, das ich gleich vor Schwäche umfalle.” Um ihre Worte zu unterstreichen, schlug sie mal eben ein Rad - ohne dabei ihre Hände zu benutzen. Dass sie der Kraft ihrer Arme noch nicht ganz traute, musste sie ja niemandem auf die Nase binden. Das würde sich schon geben. “Los, los, die Sau nehme Anlauf. Äh, wo sind denn die Speere?” “Ich bin echt stolz auf dich, du hast dich wacker geschlagen. Ich glaub das sind die Speere für uns. Ich bin auf jeden Fall dabei, die Sau zu stechen!”, sagte Gelda erheitert und deute auf 4 einfach Speere die an einem Baum angelehnt waren. Kaum ausgesprochen nahm sie sich einen und verteilte zwei weitere an Nivard und Doratrava. Erwartungsvoll schaute sie den Krieger an.

Doratrava strahlte ob des Lobes und nahm einen der Speere entgegen, dann machte sie verstohlen ein paar Lockerungsübungen, um ihre Schultern und Arme wieder in Schuss zu bringen. Schließlich sah auch sie Nivard erwartungsvoll an. "Ja, dann legen wir los. Passt auf: Ich schieb' das Wildschwein, von da hinten kommend, und dann gehe ich auf Euch los, immer schneller. Doratrava, Du weißt noch, was ich Dir heute morgen gezeigt habe: kommen lassen, rechtzeitig zur Seite und Passierstich in die Flanke. Auf keinen Fall versuchen, die Wucht des Angriffs frontal abzufangen, nicht bei Deiner filigranen Gestalt - das gilt natürlich auch für Dich, Gelda." Nivard lächelte ihr dabei zu, ganz unwillkürlich. Er war sich sicher, dass er das Gelda nicht zu erklären brauchte. "Und nie die Deckung unterlaufen lassen. Und vor allem: immer ruhig Blut bewahren. Bereit?" Nivard packte die umgerüstete Schubkarre und schob sie etwas hangaufwärts von den beiden jungen Frauen weg, dann wendete er, prüfte rasch, ob noch alles richtig saß, und begann, das Wildschwein vor sich, leicht schräg auf jene zuzulaufen, immer schneller stürmte er auf sie zu. Die Karre war zwar für einen Menschen etwas niedrig, dafür befand sich die Front aber genau in der richtigen Höhe, um einen Wildschweinangriff zu simulieren. Auch die wippende Bewegung passte zu einem Schwarzkittel, wenigstens halbwegs. Auf den letzten Metern drehte er ein und sprintete nun frontal auf seine "Opfer" zu. Genau so hatte er das im Wald tatsächlich mal erlebt. "Jetzt!" Er hoffte, sie würden rechtzeitig und richtig reagieren. Zur Not machte er sich darauf gefasst, sich im letzten Moment mit dem Schubkeiler auf die Seite zu werfen, denn verletzen wollte er seine beiden Jagdgefährtinnen auf keinen Fall. Gelda machte sich bereit. Sie kniff ein wenig die Augen zusammen und spannte ihren Körper. Dann zählte sie innerlich. Eins, Zwei, Drei - ihr Speer schnellte vor und traf den Schubkeiler. Sie jubelte auf. ´So, Doratrava nun zeig was in dir steckt´ dachte sie bei sich und beobachtete die Gauklerin.

“Sauber! Das war richtig gut! Mein Karren ist sicher nicht Deine erste Wildsau, das merkt man!” zollte Nivard Gelda strahlend Respekt. Er freute sich über ihr Können. Und über das Funktionieren seiner Idee. Auch Doratrava hielt den anrennenden Schubkarren fest im Blick. Im letzten Moment warf sie sich elegant zur Seite, konnte sich aber nicht schnell genug drehen, um den ‘Keiler’ noch mit dem Speer zu treffen. Als ihr Speer die Luft hinter Nivards Rücken zerteilte, fiel ihr siedend heiß ein, dass sie verdammt vorsichtig sein musste, den ‘Keilerantrieb’ nicht aus Versehen zu erwischen. Trotz ihres momentanen Schrecks musste sie ein wenig kichern. 'Das war knapp!' Er hatte die Gefahr, die in einer ungeübten Jägerin und Kämpferin lag, unterschätzt. Sollte er abbrechen? Nein, im Ernstfall wäre die Geschichte jetzt auch noch nicht ausgestanden.

"Lass mich leben!" rief er stattdessen Doratrava über die Schultern zu, während er sein Schwein wendete und direkt wieder zum Angriff überging. "Und los, gleich wieder aufstehn, wütende Wildschweine kommen zurück. Du bist noch immer zu nahe an ihren Frischlingen!" Diesmal machte er sich darauf gefasst, nicht nur mit dem Karren auszuweichen, sondern auch selbst zur Seite zu hechten.

Diesmal hatte Doratrava weniger Zeit, um sich vorzubereiten, doch wieder konnte sie dem ‘Keiler’ mit einem schon fast tänzerischen Schritt entgehen. Ihr nachfolgender, aus der Drehung ausgeführte Stoß verfehlte den Heuballen nur noch haarscharf - brachte Nivard damit aber erst recht in Bedrängnis. Die Gauklerin hatte absichtlich von schräg oben Richtung Boden gestoßen, denn erstens war der ‘Keiler’ niedrig und zweitens hoffte sie, so wenigstens nicht Kopf und Oberkörper des Kriegers in Gefahr zu bringen - was für seine Beine nicht galt. Schon schoss die Speerspitze bedrohlich auf seinen linken Oberschenkel zu … Nivard erahnte intuitiv, welches Ziel die Speerspitze Doratravas finden würde. In einem Reflex warf er sich zur Seite, weg von der Gauklerin. Die Hände noch immer am nun sofort taumelnden Schubkeiler wurde er im Fallen zunächst weiter nach vorne gezogen und schlug, nachdem er losgelassen hatte, nahezu der Länge nach, nur leicht seitlich, auf der plattgetrampelten Wiese auf, von wo er sich einmal über den Rücken weiter wieder auf den Bauch überschlug und schließlich liegen blieb.

Der Keiler war eine Armlänge weiter in dieselbe Richtung gekippt, und der Inhalt der Schubkarre, die er einmal war und nun wieder wurde, wurde an Ort und Stelle entladen. Der zuvor noch gut verschnürte Strohballen schlug zwei Mal hangaufwärts auf, um sich dann langsam hangabwärts zu neigen und neben dem Krieger aufzuschlagen, Teile von sich über diesen schüttend. Kurz hob Nivard sein Haupt, sah die Leiche des Übungsschweins, dann ließ er seinen Kopf wieder sinken. Da lag er nun, teils von Stroh begraben, an seinem linken Oberschenkel eine blutige Strieme zu erkennen. 

“Ich glaube du hast die Sau getroffen.”, sagte Gelda, schaute dann aber besorgt zu Nivard. Dann lief sie zu ihm. “Alles in Ordnung?”, fragte sie, jetzt sichtlich besorgt.  Nivard begann die Schramme an seinem Oberschenkel schmerzhaft zu spüren, außerdem ein leichtes Pochen an der Seite, auf die er gefallen war. Noch mehr als diese Blessuren setzte ihm aber sein aufkommender Ärger über sich selbst und seinen Leichtsinn zu - bereits der erste Keilerangriff auf Doratrava hätte ihn lehren sollen, dass das ganze dumm ausgehen konnte. Insofern konnte er von Glück reden, dass er noch so glimpflich bestraft worden war. Außerdem schade um seine Erfindung. Auch wenn ihr Übungseinsatz ihre Schwächen aufgezeigt hatte, hätte doch die kleine Mirla sicherlich ihre Freude daran gehabt... Der junge Krieger hörte Schritte heraneilen, Gelda sich zu ihm hinab beugen und nach ihm erkundigen. Nivard schluckte seinen Ärger fürs erste herunter und versuchte, sich behende wirkend zu drehen und aufzurichten, was ihm aber nur bedingt gelang, und sein beschwichtigendes, mit einem leicht verzerrten Lächeln vorgetragenes "Alles in Ordnung! Ist nur ein kleiner Kratzer, nicht der Rede Wert." klang angestrengter, als er dies gerade Gelda gegenüber wollte.

Doratrava war Gelda dicht auf den Fersen. “Das tut mir schrecklich leid”, beteuerte sie zerknirscht. Bei Nivards Beteuerungen sah sie eher skeptisch drein, wollte den Krieger instinktiv aber auch nicht vor Gelda bloßstellen, also sagte sie nichts dazu. “Das ist viel zu gefährlich. Wir sollten einfach Holzstangen ohne Spitze und Klinge nehmen”, schlug sie stattdessen vor. “Da hätte ich auch gleich drauf kommen können.” Sie fing an, die Bestandteile des Schubkeilers zusammen zu sammeln, hielt aber aber aus den Augenwinkeln Nivard im Blick, um ihm beispringen zu können, wenn der ‘Kratzer’ doch nicht so harmlos war. Immerhin war es ihre Schuld, wie ihr schlechtes Gewissen ihr unmissverständlich unter die Nase rieb.

Gelda klopfte den Krieger auf die Schulter. “Ich bin mir sicher, das Nivard bestimmt schon schlimmeres erlebt hat. Ich habe gehört das die Ausbildung an der Elenviner Kriegerschule kein Zuckerschlecken ist.” Sie versuchte Doratrava das schlechte Gewissen zu nehmen. “Wir sollten noch ein wenig üben, aber ich denke Doratrava hat die Basis verstanden. Ich muss auch bald zurück. Meine Muhme besteht darauf, sich richtig “auf-zu-hübschen” für heute Abend. Nun strahlte sie wieder und zwinkerte den beiden zu. "Wie schon gesagt, alles halb so schlimm. An der Kadettenschule habe ich wirklich schon viel mehr einstecken müssen... Und Dich trifft keine Schuld, Doratrava. So schlau hätte ich selbst sein können... nein... müssen." Nivard biss die Zähne zusammen und erhob sich. Sein Brustkorb schmerzte, gebrochen war aber nichts. Und die Schramme am Oberschenkel war wirklich nur das, eine oberflächliche Strieme. Schade nur um die Hose. Und Flicken war nicht seine Stärke... "Ein oder zwei Runden noch mit unbewehrten Stangen, denn so kann die Saujagd nicht enden... dann muss ich mich aber auch umkleiden... damit ich mich nachher neben Euch sehen lassen kann." zwinkerte Nivard zurück. 'Hoffentlich kann ich das', dachte er sich, leicht besorgt.. Erleichtert baute Doratrava den Schubkeiler wieder einigermaßen zusammen, dann folgten noch ein paar Übungsrunden, bis sie sich von ihren Freunden verabschiedete. Auch sie hatte noch ein paar Vorbereitungen zu treffen. Verstohlen rieb sie sich den Bluterguss. Hoffentlich würde sie das nachher nicht behindern.

Licht und Dunkelheit

Der Tag war schon merklich fortgeschritten und die Bäume warfen lange Schatten über die Lichtung vor der Jagdhütte. Ein Euphemismus, angesichts des wuchtigen, mehrstöckigen steinernen Bauwerks, wie der Rabensteiner bei sich dachte. Seine tiefschwarze Robe aus hochwertigem Tuch schien das Licht aufzusaugen und verursachte kaum ein Geräusch. Doch sein neuer Rang hatte den alten Baron nicht davon abgehalten, sein Wehrgehänge mit Rapier und Linkhand am Gürtel zu führen. Auch die schlichten, aber um so besser gearbeiteten schwarzen Stulpenstiefel, die er trug, wollten so gar nicht zu der demütigen Robe eines Borongeweihten passen. Der Einäugige steuerte zielsicher auf das schwarz-rote Zelt der Korgeweihten zu und wandte sich mit einem höflichen, aber nichtsdestotrotz knappen “Kor zum Gruß, Euer Gnaden.” an Radomir. “Lucrann von Rabenstein.” stellte er sich vor. “Mögt Ihr morgen mit mir zusammen auf die Jagd gehen?” 

Die Baronin und der Herr von Ostendorf

Endlich hatte Thalissa das Zelt des Landjunkers von Ostendorf gefunden und fand denselben davor sitzend vor, wie er sich mit der Pflege seiner Ausrüstung befasste. “Seid gegrüßt, Euer Wohlgeboren von Salmfang”, sprach die Baronin ihn mit einem freundlichen Lächeln an. “Verzeiht, wenn ich gleich mit der Tür ins Haus falle, aber ich dachte mir, ein fähiger Spinnenjäger wäre sicher ein guter Partner für die Jagd morgen - oder seid Ihr schon anderweitig gebunden?” Sie verbeugte sich nach horasischer Art. “Thalissa di Triavus, Baronin von Rickenhausen.” Sichtlich überrascht, ob der unvermittelten Anfrage brauchte Otgar  einige Augenblicke bis er Antwortete. “Es freut mich sehr Eure Bekanntschaft zu machen Hochgeboren, ich hatte vor einiger Zeit das Vergnügen Eure Vorgängerin kennen zu lernen.” Dabei deutete er eine leichte Verbeugung an. “Nein, bisher habe ich noch keinerlei Verabredungen für eine Jagd getroffen. Umso mehr wäre es mir eine Ehre gemeinsam mit Euch auf die Pirsch zu gehen.” Thalissa neigte leicht den Kopf, als Zeichen, dass sie die Annahme der Einladung zur Jagd durch den Junker wohlwollend zur Kenntnis nahm. “Die Freude ist ganz meinerseits, Wohlgeboren. Und tatsächlich muss ich gestehen, das Eure Bekanntschaft mit Biora Tagan nicht unerheblich zu meiner Bitte bezüglich der Jagd beigetragen hat.” Eigentlich hatte die Baronin das Thema erst während der Jagd ansprechen wollen, aber wenn der Junker gleich von sich aus darauf kam, packte sie die Gelegenheit lieber gleich beim Schopfe. “Denn ich wäre sehr neugierig, was Ihr mir über sie erzählen könnt. Ich kannte sie ja selbst kaum und bin deshalb an allem interessiert, was mit ihr zu tun hat.” Sie lächelte den großgewachsenen Krieger, der sie im Stehen sicher um eineinhalb Köpfe überragte, entwaffnend an. “Wenn Ihr Zeit habt, suchen wir uns einen Platz in der Nähe des Ausschanks. Allerdings eilt es nicht, wir haben ja morgen bei der Jagd fast den ganzen Tag Zeit. Oder auch heute Abend beim Bankett.” Fragend sah Thalissa den Krieger an. 

“Sehr gern Hochgeboren, auch wenn ich befürchte Eure Neugier nur sehr eingeschränkt befriedigen zu können.” Schmunzelte Otgar und überlegte bereits wie er es schaffen sollte die Geheimen Erlebnisse der Mission geschickt auszusparen. Thalissa beschloss, das “ja” auf alle ihre drei Angebote gleich auf das erste zu beziehen. “Das freut mich zu hören. Wollt Ihr mich dann begleiten?” Sie machte eine einladende Bewegung mit dem Arm in Richtung des Ausschanks. Das Angebot der Baronin war forsch, fast schon ein wenig frech, doch hatte er nichts dagegen. Tatsächlich freute er sich darauf den Ausschank und auch die anderen Vorbereitungen in Augenschein zu nehmen. Den Arm der Baronin ergreifend, führte er Thalissa von seinem Zelt fort.  Mit hochgezogenen Augenbrauen nahm Thalissa den unangebracht vertraulichen Griff Otgars zur Kenntnis. Doch da sie etwas von ihm wollte, beschloss sie, den Verstoß der Etikette zu ignorieren. Beim Ausschank angekommen bestellte die Baronin ein Bier für den Krieger und  einen Wein für sich selbst. Mal sehen, was die Zwerge auf diesem Gebiet zu bieten hatten. Allerdings hängte sie ihre Hoffnungen in dieser Beziehung nicht allzu hoch. Aber das war jetzt nicht wichtig.

Als die Getränke auf dem Tisch standen, sah Thalissa Otgar erwartungsvoll - und tatsächlich ein wenig nervös - an. “Nun,” begann sie zögernd, aber dann doch entschieden, “ich habe Euch ja bereits gesagt, was mich so brennend interessiert. Wollt Ihr beginnen?” Mit der Etikette nahm es der Krieger nicht immer so. Zwar hatte man ihm versucht das korrekte Verhalten in solcherlei Situationen einzubläuen, aber von Zeit zu Zeit fand er es schlichtweg zu umständlich und hinderlich. Schließlich war er ein Krieger und als solcher musste er sich auf den Kämpfer an seiner Seite verlassen, ganz gleich welchem Stand dieser angehörte.  Seinen Krug Bier gedankenverloren drehend, beobachtete er wie sich die Schaumkrone im schummrigen Licht veränderte. Was die junge Baronin von ihm hören wollte, war untrennbar mit den Erlebnissen des Feldzuges verbunden. Mit der blutigen Schlacht an der Tesralschlaufe, den unzähligen Scharmützeln, den verheerten und verseuchten Landen, dem Sturm auf Mendena und natürlich mit seinen Sondereinsätzen - allesamt keine schönen Erinnerungen.

“Ich weiß nicht was Ihr bereits über Eure Tante wisst oder eventuell annehmt zu wissen, doch befürchte ich Euch weniger Mitteilen zu können als Ihr erhofft.” Erneut verfiel der Krieger ins Schweigen, der Feldzug war nicht einfach gewesen und noch auf Götterläufe würden die Schäden, die Tobrien und Darpatien erlitten haben, das Mittelreich noch beschäftigen.  Thalissa kniff die Augen zusammen. Als die Pause zu lang wurde, warf sie ein: “Ich weiß fast nichts. Biora Tagan ging mit einer erlesenen Truppe zusammen während des Feldzuges auf eine Mission nahe der Tesralschlaufe. Sie kam als einzige nicht zurück. Bei offiziellen Stellen trafen alle meine Nachfragen auf eine Mauer des Schweigens. ‘Verschollen im Dienst am Reich’ lautet wohl der entsprechende Akteneintrag.” Bitterkeit sprach aus ihrer Stimme, während ihr Blick an Otgar vorbei in unbekannte Fernen schweifte. “Andererseits - verschollen heißt nicht zwingend tot”, setzte die Baronin nach kurzem Zögern noch hinzu.

Einen kräftigen Schluck aus seinem Bierkrug nehmend, ergriff Otgar schließlich das Wort. “Gemeinsam mit der Baronin und einigen anderen Adligen der Nordmarken, war ich auf einer Erkundungsmission. Wenn ich mich richtig erinnere hat sie bereits zuvor längere Zeit im Rahja des Reiches oder vielleicht auch jenseits der Grenzen des Reiches gelebt. Unter anderem wusste auch sie vieles über die alten zaubermächtigen Herrscherinnen der Region, wusstet ihr das sie sich in eine Schlange verwandeln konnte?”  Überrascht schaute Thalissa auf. “Was? Nein - nein, das wusste ich nicht. Ja, meine Tante reiste viel umher, als sie noch jünger war, vermutlich gibt es nur wenige Flecken des Kontinents, in deren Nähe sie sich zumindest nicht wenigstens einmal in ihrem Leben befunden hat. Und ich weiß, dass sie den Hesindetempel in Ask gegründet hat und lange Zeit im oder in der Nähe des Bornlandes gelebt hat. Von zaubermächtigen Herrscherinnen habe ich noch nicht viel gehört. - Aber was hat das nun alles mit ihrer letzten Mission zu tun?” Worauf wollte der Krieger hinaus? Hoffentlich wollte er sie nicht nur hinhalten, ablenken oder blumig umschreiben, dass er ebenfalls nichts sagen konnte oder wollte. Forschend sah sie ihm in die Augen.

Tatsächlich war der Krieger nicht Willens mit Details zu ihrem Auftrag herauszurücken, hatte er sich Stillschweigen gelobt. Informationen die jedoch nichts mit dem Inhalt der Mission zu tun hatten, wollte er gerne teilen.  "Sagen wir so, ihr Wissen war uns eine sehr große Hilfe." Wiegelte er die Frage der jungen Baronin ab. "Eure Tante ist eine sehr mutige Frau, die für das Reich und wie sich später herausstellte auch für ihr Kirche einen wichtigen Dienst geleistet hat, einen Dienst an dem andere womöglich verzagt wären."

Thalissa starrte den Krieger weiterhin fordernd an. Wie schon vermutet wich er aus. Auch hier würde es schwer werden, mehr zu erfahren, aber … “Ihr sagtet ‘ist’ und nicht ‘war’”, stellte die Baronin mit leiser Stimme fest. “Also wisst Ihr, dass sie noch lebt? Und vielleicht auch, wo sie ist?” Ihre dunkelblauen Augen saugten sich am Gesicht Otgars fest, sie wollte sich keine einzige Regung entgehen lassen. Fast schon wirkten die Züge des Kriegers entspannt. Gelassen gönnte er sich einen weiteren Schluck des durchaus gelungenen Bieres und ließ dieses langsam die Kehle hinunterrinnen. “Was bedeutet schon Wissen?” Stellte er spöttisch die Gegenfrage, ließ ihr jedoch keine Zeit zu antworten. “Als ich Eure Tante das letzte Mal sah lebte sie noch, allerdings ist das Monde her!.”  Jetzt war es an Otgar sein Gegenüber genau zu beobachten. Offensichtlich hatte die junge Frau eine Ahnung, doch mangelte es ihr an Informationen um Gewissheit zu erlangen. “Das ‘Wo?’ kann ich Euch hingegen nicht beantworten. Nicht nur wegen der verstrichenen Zeit, sondern weil es von Anfang an mein Verständnis überstieg. Ich bin Krieger, ich finde mich in der Wildnis zurecht oder zimmere einen Tisch zusammen, aber von Magie habe ich keine Ahnung.” Fast meinte Thalissa etwas entschuldigendes in seiner Stimme zu hören.  Gut, Otgar gab sich keine Blöße, schien sehr gelassen. Vielleicht war er aber auch nur ein guter Schauspieler. In ihrer zugegebenermaßen nicht allzu langen Dienstzeit bei der CCC hatte sie dennoch den ein oder anderen auf diesem Gebiet äußerst bewanderten Delinquenten kennengelernt. “Magie?” ging die junge Baronin nur auf den zweiten Teil der Aussage des Kriegers ein. “Was hat Magie damit zu tun? Soweit ich weiß, war meine Tante nicht magisch begabt. Oder hat sie sich etwa vor Euren Augen in Luft aufgelöst?” Ein undeutbarer Unterton lag in der Stimme der Rickenhausenerin.

Ein Schauspieler war Otgar mit Sicherheit nicht, galt die Schaustellerei doch gewiss nicht zu den Künsten die er im abgelegenen Avesstein gebraucht hätte. "Leider kann ich Euch nicht wirklich sagen wo sie ist. Ich könnte sagen ich dürfe es Euch nicht erzählen, damit wäre ich recht fein raus. Vielmehr ist es so, dass machte ihre Finger im Spiel haben, die meine sehr derische Sicht übersteigen. Ich verstehe nichts von Magie oder fremden Sphären, Eure Tante jedoch hat sich darauf eingelassen."

Thalissa schloss kurz die Augen und holte tief Luft. Trotz der Beteuerungen des Ostendorfers fühlte sie sich hingehalten, Die Antworten des Kriegers kratzten nur mehr an der Oberfläche, enthüllten so gut wie nichts. Nun gut, dann anders herum. “Wohlgeboren, da meine Fragen offensichtlich schwierig zu beantworten sind: wie wäre es, wenn Ihr mir einfach in Euren Worten erzählt, was Ihr erzählen könnt?” Ganz offensichtlich wollte die junge Baronin nicht verstehen, es lag nicht an ihrer Frage dass er nicht recht zu antworten vermochte. Es lag daran daß er schlichtweg nicht wusste wie er es beschreiben sollte. "Eure Tante wählte ein Leben außerhalb unserer Sphäre. Durch einem Riss im Gefüge Deres hat sie die Ebene der Menschen verlassen um künftig im grauen Nichts zwischen den Sphären zu wachen."

Beim besten Willen fiel ihm keine bessere Bescheinigung ein. Noch immer bereitete es ihm Unbehagen wenn er an seinem Aufenthalt, dort im Nichts, dachte. Schwerelos, bar jeder Wegmarke hatten sie auf unerklärliche Weise mit anhören müssen wie ihre Kameraden an der Tesralschlaufe ihre Leben gaben. Sie hatten ihr letztes Flehen, wenn Niemand mehr an ihrer Seite weilte und sie kurz davor waren über das Nimmermeer getragen zu werden, mit anhören müssen. Intimste, bedrückende und herzzerreißende Momente. Bis sie auf die Agenten des Verräter Helme Haffax gestoßen sind. Die aus sicherer Entfernung die stählernen Ungetüme gesteuert und Tod und Verderben inmitten der Truppen des Mittelreiches getragen hatten.  Wie vom Donner gerührt starrte Thalissa Otgar an und wusste zuerst nicht, was sie sagen sollte. Zum ersten Mal hatte sich jemand zum Verschwinden ihrer Tante mit einer … nun ja, wenn nicht klaren, dann zumindest brauchbaren Aussage geäußert. Wobei ‘brauchbar’ hier wohl nur eingeschränkt zur Geltung kam. Biora war also nicht tot, sondern … irgendwo anders? Thalissa kannte sich mit Magietheorie nicht aus, konnte also mit der Beschreibung des Junkers nicht wirklich viel anfangen, aber es war ein Ansatzpunkt. Zudem schien er die Wahrheit zu sprechen, wenn diese seinem Gesichtsausdruck nach auch unangenehme Erinnerungen an die Oberfläche spülte.

Die Baronin räusperte sich schließlich. “Das ist … überraschend”, brachte sie schließlich mit belegter Stimme heraus. “Aber … Ihr sagtet, sie wählte … dann muss ihr jemand diese Wahl geboten haben?” Wieder sah sie Otgar intensiv in die Augen. Sehr genau erinnerte sich Otgar an die Begegnung mit dem Fremden, der Biora besagtes Angebot unterbreitet hatte. Ein alter Mann, ein Magier der sich bereits derart lang in dieser Umgebung aufhielt das seine Erscheinung an Konsistenz einbüßte und sein Leib begann durchscheinend zu werden. "Ein Bund, ich weiß nicht mehr wie sie sich nannten, aber sie haben sich eben dieser Aufgabe verschrieben die auch Eure Tante gewählt hat."  Thalissa widerstand dem Drang, sich die Haare zu raufen. So nah war sie dem Geheimnis noch nie gekommen, und doch schien es, als müsste sie sich jeden Fingerbreit des Weges hart und mühsam erkämpfen, sogar bei Leuten wie Otgar, der doch einen durchaus auskunftswilligen Eindruck machte, aber offensichtlich Schwierigkeiten hatte, das Erlebte in Worte zu fassen. “Ihr spracht von ‘zwischen den Sphären wachen’ und einer Aufgabe. Wachen worüber? Wovor? Welches ist der Inhalt der Aufgabe? Und wie ist dieser Bund aufgetreten?” Mühsam hielt die junge Baronin inne, das waren schon vier Fragen auf einmal, erfahrungsgemäß tendierten Delinquenten dazu, mit zunehmender Zahl von Fragen die eine oder andere Antwort zu unterschlagen. Nun war der Ostendorfer zwar kein Beschuldigter, aber die ganze Situation war einem Verhör doch nicht unähnlich. Thalissa bemühte sich aber nach Kräften, nicht in alte Muster zurückzufallen und ihre Fragen in freundlichem und höflichem Tonfall zu stellen.

Was wusste er schon, wider wen im Raum zwischen den Sphären die Wacht zu halten war? "Unbemerkt von allem Derischen können Feinde der Schöpfung dort ihr unheiliges Tun betreiben, bis es womöglich zu spät ist. Eure Tante wollte helfen diesen blinden Fleck, diese ungedeckten Flanke, in unserer Wahrnehmung zu kontrollieren." Versuchte er wage zu umschreiben, denn erst selbst kannte nur den Fall daß sich Magier dort verborgen hatten um monströse Metallgolems gegen die Truppen zu lenken. "Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, doch gehe ich davon aus dass sich dieser Bund, der uns gegenüber lediglich durch einen alten Magier auftrat, ein Vordringen und Hereinlassen dämonischer Wesenheiten vereiteln will und damit den Wall wider die Niederhöllen bemannt." Innerlich aufstöhnend musste sich Thalissa beherrschen. Wie befürchtet hatte Otgar nur die letzte Frage versucht zu beantworten. Sie konnte nur hoffen, dass seine Geduld noch ein Weilchen hielt und bestellte ihm noch ein Bier. Willentlich beruhigte sie ihre Stimme, um ihre nächste Frage zu stellen: “Könnt Ihr diesen Magier beschreiben? Trug seine Kleidung irgend welche auffälligen Symbole?” Habt Ihr sein Gildensiegel gesehen?” Die junge Baronin klappte den Mund zu, bevor diesem die nächste Frage entwich. Immerhin, diesmal hatte sie nur drei derselben gestellt. 

Der Krieger war ein Mann von großer Geduld, anders konnte man eine Kindheit im abgeschiedenen Avesstein vermutlich auch nicht aushalten. Eintönige Praiosläufe, lange Winter und einsame Wälder, also alles, was das Leben nicht grad' mit Abenteuern füllte. Erlebnisse wie der Feldzug und besonders sein Sondereinsatz an der Tesralschlaufe waren hingegen etwas ganz anderes. Sie waren etwas Besonderes, etwas das sich in das Gedächtnis ein brannte. “Ein alter Magier, durch die Gefangenschaft, aus der wir ihn befreit haben, geschwächt und erschöpft. Seine Robe war abgerissen, bar irgendwelcher Symbole, und sein Bart wild, aber mit Verlaub Hochgeboren. Für mich sieht ein Gildensiegel aus, wie jedes andere!”   Das wurde ja immer bunter! Musste man dem Mann denn alles aus der Nase ziehen? Aber gut, sie hatte ja Erfahrung mit allerlei verstockten Delinquenten. Nicht, dass Otgar verstockt gewesen wäre, nur etwas … maulfaul, ja, das war wahrscheinlich der richtige Ausdruck. “Aha. Nun - würdet Ihr das Siegel wiedererkennen, wenn Ihr es nochmals seht? Und - was heißt aus der Gefangenschaft befreit? Wo war er denn gefangen? Wie ging die Befreiung vonstatten?” Wieder biss sich Thalissa auf die Lippen, bevor sie getrieben von Ungeduld noch ein halbes Dutzend Fragen  mehr stellte.

Mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen beantwortete Otgar die erneute Nachfrage der Baronin. "Würde es sich um sein Reittier oder seine Klinge handeln, so wäre ich vermutlich in der Lage sie wiederzuerkennen. Das Gildensiegel, von dem ich nicht einmal mehr bewusst weiß ob ich es gesehen habe, allerdings eher nicht." Mit den kräftigen Schultern zuckend, machte der Krieger nochmals klar das hier wenig Hoffnung bestand, er war schlicht der falsche Ansprechpartner für solcherlei Fragen. "Die Feinde des Mittelreiches hielten ihn gefangen, wo darf ich Euch jedoch nicht verraten!" Den letzten Teil seiner Antwort betonte er dabei besonders. Dieses Wissen würde er mit ins Grab nehmen und selbst in Borons Hallen würde er es wahrscheinlich nicht preisgeben. Irgendwie … kam Thalissa hier nicht weiter. Sie beschloss, ihre Strategie zu ändern. Immerhin war hier noch jemand anwesend, der damals an der Tesralschlaufe dabei war. “Nun … Ihr habt meinen aufrichtigen Dank für Eure Offenheit”, beendete sie dieses Thema vorerst. “Ich muss meine Gedanken ordnen, Es mag sein, dass ich nochmals auf Euch zurückkomme. Aber für den Moment mag es genug sein.” Die Baronin lächelte Otgar an und prostete ihm mit ihrem Weinkelch nochmals zu. “Wir sehen uns spätestens bei der Jagd.” Damit machte sie Anstalten, den Ausschank zu verlassen.

Cella und die Langeweile

Cella vom Traurigen Stein saß etwas abseits vom Trubel der Festgesellschaft auf einem Baumstumpf. In ihrer Rechten hielt sie einen Stock und zeichnete damit Figuren und Muster in den lehmigen Waldboden. So aufgeregt sie seit dem Beginn der Reise auch gewesen war, so groß war die Ernüchterung, die langsam aber stetig einsetzte. Während der Eröffnungsrede des hiesigen Landvogts war es dann soweit und ihr Fluchtinstinkt setzte ein. Sie musste weg. Weg von jenem Trubel und fröhlichem Beisammensein, der ihr noch einige Stundengläser zuvor kindliche rote Flecken der Aufregung auf die Wangen gemalt hatte. Ihre Schwertmutter, Rondriane Cella von Rodenbrück, hatte ihr für den heutigen Tag frei gegeben, sie aber noch ermahnt, es ja nicht zu übertreiben. Ja, die alternde Edle von Rodenbrück kannte ihre Schwerttochter gut; Cella war ein schwer zu kontrollierender Wirbelwind. Sie war laut, impulsiv, leidenschaftlich und trug ihr Herz stets auf der Zunge - eine Tatsache, die ihr schon die eine oder andere Maulschelle eingehandelt hatte. Charaktereigenschaften, die jedoch gerade an diesem Tage und trotz ihrer unverhofft gewonnenen Freiheit nicht zum Problem werden würden. Cella war nämlich gelangweilt und obwohl sie dieses Gefühl des Öfteren zum Anlass nahm Schabernack zu treiben, war ihr dieses Mal nicht danach - auch mangels Möglichkeiten. Es war hier ganz anders als auf den Festen, die sie sonst kannte. Sie wollte tanzen, lachen und gut essen. Genauso wie sie es von den Festen bei ihrer Familie auf Linnartstein gewohnt war - dort gab es Traubensaft, Musik, ihre stets gut gelaunte Schwester Rahjalind und auch tolles Essen. Hier wurde Bier und eine seltsame Suppe kredenzt, die aufgeschnappten Gesprächsfetzen zufolge aus Spinnen gemacht wurde. Sie verzog beim Gedanken daran angeekelt ihr Antlitz und schüttelte enttäuscht seufzend den Kopf. Dann wandte sie sich wieder dem Kunstwerk vor sich am lehmigen Boden zu, um diesem den letzten Schliff zu verleihen. Als der Lärm der vielfältig beschäftigen Jagdgäste ein wenig nachließ, vermeinte Cella plötzlich ein unerwartetes Geräusch zu hören: Das Pfeifen, das erklang, wenn eine Schwertklinge mit hoher Geschwindigkeit Luft zerteilte, sehr leise zwar, gerade noch zu vernehmen, aber dennoch … Sie sah auf, das Geräusch, das sich eben wiederholte, musste von da vorne, hinter den Bäumen, gekommen sein, doch standen diese so dicht, dass nichts zu sehen war. Nun schwoll der Lärm vom Festplatz auch wieder an und verschluckte, was immer es aus dem Wald zu hören gab.

Dennoch war Cellas Neugier nun geweckt. Sie erhob sich von ihrer provisorischen Sitzgelegenheit, richtete ihren Schwertgurt und schlich dann gleich einer Raubkatze zu eben jenem Punkt, bei dem sie glaubte das seltsame Geräusch vernommen zu haben. Dort angekommen streckte die junge Knappin ihren Arm nach dem Blatt- und Strauchwerk aus und schob es zur Seite um einen Blick auf das zu erhaschen, was sich dahinter verbergen mochte. Hinter der dichten, von Unterholz verstärkten Baumreihe befand sich eine kleine Lichtung. Auf dieser bewegte sich ein alter Mann wie zu einer unhörbaren Melodie. Er trug trotz der kühlen Witterung nichts als Stiefel und eine weite Hose, der muskulöse Oberkörper war frei und offenbarte dichte, überwiegend schon weiße Haare auf Brust und Rücken. Auch der Kopf war von weißen Stoppeln bedeckt, das in einem konzentrierten Ausdruck gefangene Gesicht glatt rasiert. Diverse Falten zeugten von einem bewegten Leben. In beiden Händen führte der Mann ein Schwert, genauer gesagt ein Tuzakmesser, wenn sich Cella nicht täuschte. Damit vollführte er präzise, genau abgezirkelte Bewegungen, zerschnitt die Luft, drehte sich, machte Ausfallschritte, zog sich wieder zurück und schlug die Waffen imaginärer Angreifer zur Seite. Dem glänzenden Schweiß auf seinem Körper nach tat er das wohl schon eine ganze Weile. Schon nach kurzer Zeit konnte Cella nicht umhin, die Perfektion des gezeigten Schattenkampfes, denn um nichts anderes handelte es sich hier, zu bewundern. Mit großen Augen folgte sie jeder der Bewegungen. Offenbar war sie bislang leise genug gewesen, dass der Krieger sie noch nicht bemerkt hatte.

Nach einigen Momenten, in welchen Cella weiterhin die gewandten Bewegungen des alternden Kriegers bestaunte, entschied sie sich dazu hinaus auf die Lichtung zu treten. Es war ihr zu blöd sich weiter im Unterholz zu verstecken als wäre sie ein ungewaschener Goblin. Während die junge Knappin sich leise fluchend aus der Vegetation schälte, richtete sie ihren Wappenrock, strich sich die ihr ins Gesicht gefallenen, überlangen Stirnfransen in einen ansehnlichen Zustand und lehnte sich dann frech an einen nahen Baumstamm, wobei sie ihre Arme vor der mädchenhaften Brust verschränkte und ihr linkes Bein anzog um dieses gegen den Stamm zu stemmen.

“Rondra zum Gruße…”, rief die junge Frau dem Unbekannten dann förmlich zu, “...es scheint als versteht Ihr Euer Handwerk.” Sie reckte ihr Kinn und fiel dann, wie es eben ihre Art war, mit der Tür ins Haus. “Mein Name ist Cella vom Traurigen Stein, Knappin der Edlen Rondriane von Rodenbrück und es würde mich freuen, wenn Ihr mir denen einen oder anderen Kniff beibringen könntet.”

Lektionen

Beim ersten Rascheln fuhr der weißhaarige Krieger blitzschnell mit kampfbereiter Waffe herum, um sich gleich darauf zu entspannen, als er der jungen Knappin ansichtig wurde, die sich immerhin sogleich vorstellte. Kritisch und abschätzend musterte er sie von oben bis unten, bevor er sich zu einer Antwort bequemte. "Tar'anam sin Corsacca. Edler von Hottenbusch und Leibwächterin von Baronin Thalissa di Triavus von Rickenhausen." Die Worte kamen etwas brummig und abgehackt, während der Krieger zu einem unordentlichen Haufen am Rand der Lichtung trat, aus dem er ein Tuch hervorzog, um sich trocken zu reiben. Dann zog er in aller Gemütsruhe ein einfaches, weit geschnittenes Leinenhemd an, bevor er sich Cella wieder zuwandte. "So, lernen willst du etwas. Sehr lobenswert." Mit Etikette hielt sich Tar'anam nicht auf, auch war er kein Freund vieler Worte. Aus dem Tonfall seiner Stimme konnte Cella nicht genau entnehmen, was er über ihr Ansinnen dachte, aber immerhin schickte er sie nicht gleich weg. "Bevor ich dir etwas beibringen kann," fuhr der Krieger fort, "muss ich wissen, was du schon kannst." Er nahm das Tuzakmesser wieder auf und deutete mit der Klinge auf Cellas Schwertgehänge. "Also?" Sogleich huschte ein Lächeln über die Züge des jungen Mädchens. Furcht kannte die junge Linnartsteinerin allem Anschein nach nicht - ebenso wenig konnte sie jedoch auch mit Respekt und einer adäquaten Selbsteinschätzung anfangen. Nur so ließe sich das folgende Gebaren der Knappin erklären.

“Du kommst nicht von hier, Tar...ähhh...mam…”, es war weniger eine Frage und mehr eine Feststellung, die das Mädchen dem Krieger entgegen warf, “...wo hast du gelernt zu kämpfen?” Sie zog ihr schlankes Kurzschwert, das gut und gerne auch als zweischneidiges Rapier hätte durchgehen können und dem sie den Namen “Acus” gegeben hatte. Cella war geläufig, dass die junge Baronin von Rickenhausen eine Horasierin war. Ob ihr Leibwächter auch aus dem Alten Reich stammte? Es war ein Gedanke, den sie sogleich wieder verdrängen sollte. Stattdessen lockerte sie ihre Muskeln, schritt im Halbkreis um den fremden Krieger und griff ihn dann aus heiterem Himmel und ungefragt an. “Tuzak”, war die einzige Antwort des alten Kriegers, während seine Waffe nach oben zuckte und den überstürzten Angriff der jungen Knappin parierte. In der Bewegung lag keine Lässigkeit, lediglich konzentrierte Technik. Gleich darauf ging Tar’anam selbst zum Angriff über und brachte Cella damit zum Rückwärtsstolpern, allerdings hatte es sich nur um eine Finte gehandelt, der dann aber keine weitere Aktion folgte. Statt dessen ließ Tar’anam es zu, dass Cella nun mehrere Angriffe hintereinander ausführen konnte. Die Knappin versuchte verschiedene Varianten, schlug mal hoch, mal tief oder von der Seite, doch immer endeten ihre Schläge an der Waffe ihres Gegners, wobei dieser sich kaum zu bewegen schien. Jede seiner Aktionen war so sparsam wie möglich und so ausladend wie nötig, auch verzichtete er auf jegliches Tänzeln, wie es junge Horasier so gerne taten.

“Jetzt ich”, kündigte Tar’anam nach einigen Versuchen der Knappin an, dann ging er ernsthaft zum Angriff über. Den ersten Streich gegen den Hals konnte Cella noch gerade so parieren, doch schon der zweite Stich unterlief ihre Deckung und hätte ihr den Bauch aufgeschlitzt, wenn der Krieger die Waffe nicht rechtzeitig zurückgehalten hätte. Siedend heiß kam der Knappin der Gedanke, dass sie beide nicht mit Übungswaffen kämpften.  Und dennoch kostete die junge Knappin diese Erkenntnis nur ein müdes Lächeln. Sie schien sich sogar darüber zu ärgern vom weitaus überlegenen Tar´anam derart abgezogen worden zu sein und ließ jeglichen Sinn für den Ernst der Sache vermissen. “Hrmpf…”, grummelte Cella schmollend, “...nicht schlecht.” Sie steckte ihre Waffe weg. “Wirst du mich unterweisen?”  Die Linnartsteinerin hatte keine Ahnung, wo dieses Tuzak lag, aber allem Anschein nach verstanden es die Menschen dort zu kämpfen. Sie freute sich auf die Möglichkeit von etwas Abwechslung zu jenen Schwertkampf-Lektionen, die Cellas Schwertmutter ihr sonst angedeihen ließ. Für einen kurzen Moment zog Tar’anam die Brauen zusammen, doch dann entspannten sich seine Züge wieder. “Bis zum Abend mag ich dir ein paar Dinge beibringen. Die erste Lektion lautet: Respekt. Fürchte deinen Gegner nicht, aber respektiere ihn. Zieh deine Waffe, los. Nun?” Cella sah nicht so aus, als könne sie den Worten des alten Kriegers wirklich folgen, doch gehorsam zog sie ihr Schwert erneut aus der Scheide. Schon erfolgte der erste Hieb ihres Gegners, den sie mit Mühe parierte. Ihr Unterarm vibrierte vom Aufeinandertreffen der Waffen, ihr Handgelenk wurde bereits taub. Dann erfolgte der zweite, der dritte Streich. Einmal konnte sie auspendeln, doch dann wurde ihr Kurzschwert mit Wucht zur Seite gefegt, und das nächste, was sie spürte, war ein scharfer Schmerz in der linken Schulter. “Autsch”, rief Cella unterdrückt, doch ganz konnte sie den Ausruf nicht verhindern. Ein schneller Blick auf ihre Schulter zeigte ihr Blut, welches sich auf dem Wappenrock ausbreitete. “Du hast mich verletzt!” rief sie empört und ungläubig aus. “Jeder Gegner kann dich verletzen, sei es ein Tier oder ein Bauer mit einer Mistgabel. Sei dir dessen bewusste und rechne damit”, antwortete Tar’anam kühl. “Egal, wie gut du bist, der oder die andere können einfach nur Glück haben. - Lass’ mal sehen.” Tar’anam senkte die Waffe und trat einen Schritt auf die Knappin zu. Die Knappin bleckte ihre Zähne und richtete sich wieder auf. Ihr erster Schreck und Moment der Schwäche war so schnell vorbei, wie er gekommen war. Sie schob ihr Wams zur Seite, entblößte ihre linke Schulter und prüfte die Wunde. Der Schnitt war nicht tief und es war auch nichts gebrochen. Mit einem beinahe schon grausam anmutenden Lächeln auf den Lippen griff sie abermals zu ihrer schlanken Waffe.  “Ist nicht so schlimm…”, kam es verbissen aus ihrem Mund und eben jener kämpferische Ton wollte nicht so recht zu den Tränen in ihren Augenwinkeln passen. Ob diese jedoch dem in ihr tobenden Schmerz oder dem Zorn über ihre abermalige Niederlage zuzuordnen waren, konnte der Maraskaner nicht sagen. 

“Respekt…”, meinte Cella dann weiter, “...ich ziehe es vor auf mich selbst zu sehen. Ich will die beste Kämpferin sein, die ich kann. Ganz egal wer mir gegenüber steht.” Sie reckte trotzig ihr Kinn. Im Grunde genommen lag Weisheit in den Worten des Schwertmeisters, das wusste selbst die junge und heißblütige Linnartsteinerin, doch war es ihr in diesem Moment unmöglich Einsicht oder auch nur den Anflug einer Schwäche zu zeigen. “Geht es weiter?” Die Knappin hob abermals ihre Waffe und blickte Tar´anam fragend an. Sie versuchte aus diesen Übungen so viel mitzunehmen wie möglich und ließ sich durch kleinere Blessuren mit Sicherheit nicht davon abhalten.

Tar’anam hob nur die Augenbrauen, dann trat er wieder einen Schritt zurück und hob ebenfalls die Waffe in Kampfhaltung vor sich. Welche Gedanken hinter seiner Stirn vorgingen, konnte Cella nicht erkennen, es war ihr auch egal. Schon startete sie den nächsten wilden Angriff, wilde Wut erstickte jeglichen Schmerz, den sie noch verspüren mochte. Der alte Krieger ließ sie anrennen, ein ums andere Mal. Während die Knappin sich mit weit ausholenden Bewegungen und ständigem Vorstürmen und Zurückweichen immer mehr verausgabte, machte Tar’anam kaum eine Bewegung. Nur leicht zuckte das Tuzakmesser hin und her und parierte die Angriffe der Knappin, während er sich auf der Stelle drehte, so dass Cella immer frontal vor ihm stand. Meist verzichtete er auf eigene Angriffe, doch immer dann, wenn die Aufmerksamkeit der Knappin erlahmte, zuckte sein Tuzakmesser plötzlich unvermittelt nach vorne und forderte Cella sofort wieder alle Konzentration ab, die sie nur aufbringen konnte, um nicht ernsthaft getroffen zu werden. Wenn ihr die Parade völlig misslang, stoppte Tar’anam den Schwung seiner Waffe rechtzeitig, doch der ein oder andere Schnitt ließ sich nicht vermeiden. Alles nur oberflächliche Kratzer, aber blutend und merklich. Nach vielleicht einem halben Stundenglas, Cella kämpfte unablässig und verbissenen, sogar verbissener mit jedem weiteren Kratzer und zunehmender Erschöpfung, drehte sich Tar’anam plötzlich zur Seite und hieb mit dem Tuzakmesser so heftig auf das Heft des Kurzschwerts, dass dieses Cella aus der Hand geprellt wurde. Kein Laut entfuhr ihr, aber ihr Gesicht verriet die Schmerzen, als sie ihre Hand eng an die Brust gepresst hielt. “Genug”, beschied ihr der alte Krieger, der kaum außer Atem gekommen war, während Cella keuchte wie ein (junges) Walross. “Du musst dich ausruhen und über diesen Kampf nachdenken. Wenn wir jetzt weitermachen, wirst du dich womöglich richtig verletzen, und das will ich deiner Schwertmutter nicht zumuten. Du könntest mich ihr übrigens vorstellen. Immerhin werde ich ihr zumindest das hier”, er deutete auf all die blutenden Kratzer, “erklären müssen.” Nach dieser langen Rede hielt Tar’anam mit gesenkter Waffe  inne und sah die Knappin abwartend an. Mittlerweile hatte Cella allerdings mindestens eine Sache gelernt: die entspannte Haltung des Kriegers ließ keine Rückschlüsse auf seine Wachsamkeit zu. Der Kampfgeist Cellas war zwar noch nicht gebrochen, dennoch fügte sie sich der Anweisung des alternden Kriegers und ließ sich auf den weichen, moosigen Waldboden nieder. Nun, da sie wieder etwas zur Ruhe kam und das Rauschen des Blutes in ihr etwas abnahm, schaffte es auch der Schmerz vollends in ihr Bewusstsein einzudringen. Die Knappin versuchte sich trotzdem keine Schwäche anmerken zu lassen und atmete durch ihr Leid durch.

“Meine Schwertmutter…”, es zeigte sich ein spitzbübisches Lächeln auf den Zügen der jungen Linnartsteinerin, “...ähm ja. Ich kann sie dir vorstellen. Begleite mich einfach ins Lager zurück. Sie lagert bei den anderen Kyndochern.” Sie blickte an sich herab, sah die Schnitte und das Blut auf dem Wappenrock in den Farben der Familie ihrer Schwertmutter. “Das wird wohl wieder Ärger geben”, setzte Cella dann, mehr zu sich selbst als an Tar´anam gewandt, hinzu. Dennoch bereute sie das Training mit dem fremden Schwertmeister nicht. Er kämpfte einen viel schnelleren Stil als man dies von Nordmärker Rittern lernte und trotz ihres mehrmaligen Versagens war es dennoch eine wertvolle Erfahrung einmal einem solchen Krieger gegenüber gestanden zu sein.

“Ich danke dir für die Lektionen…”, Cella richtete sich leise stöhnend auf, doch sollte es ihr allem Anschein nach schwer fallen sich in weiterer Folge auf ihren Beinen zu halten. Als hätte die Knappin ein Fass Zwergenbier intus, torkelte sie ein paar Schritte weg vom Maraskaner, dann wurde ihr schwarz vor Augen und sie kippte vornüber zurück auf den kühlen Waldboden.

Tar’anam, der gerade dabei war, sich wieder den rickenhausener Wappenrock überzuwerfen, war sofort zur Stelle und barg die Knappin vom Boden in seinen Armen, nachdem eine kurze Untersuchung ergeben hatte, dass sie eigentlich nichts Ernstes haben konnte. Da hatte die kleine Kratzbürste sich wohl ein wenig überschätzt. Ein Aspekt mehr, den sie in Zukunft hoffentlich bedachte. Immerhin schien es Cella nicht an Willenskraft zu fehlen, wie der Krieger mit leiser Anerkennung für sich feststellte. Allerdings erforderte der Weg zum wahren Meister nicht nur diese, sondern auch ein enormes Maß an Disziplin und Durchhaltevermögen. Wie es damit bestellt war, konnte Tar’anam nach der knappen Stunde, welche er die Knappin jetzt kannte, noch nicht beurteilen, obwohl man in einer Stunde Kampf mehr über einen Menschen lernen konnte als auf viele andere Weisen. Cella auf den Armen vor sich her tragend fragte sich Tar’anam zum Zelt derer von Rodenbrück durch, die erstaunten oder gar alarmierten Blicke der Leute, an denen er vorbeikam, stoisch ignorierend.

Entspannt saß Boromar mit einem Becher Met auf einer Holzbank vor dem Zelt der Rodenbrücker und beobachtete beiläufig das allgemeine Treiben und Schaffen. Hier jemand, der ein stattliches Schlachtroß zur Tränke führte, dort eine Knappin, welche die Ausrüstung ihres Schwertvaters pflegte. Dazwischen mal ein Grüppchen Angroschim, die allesamt ihre Bärte hinter den Gürtel geklemmt trugen, und zwischendurch eilte einer der Jagdhelfer oder Bediensteten des Vogtes vorbei. `Der Vogt. Ist auch schon einige Götterläufe her seit wir zusammen den Haffaxschen Komplott um das Attentat auf Ihre Hoheit die Herzoginmutter aufgeklärt und verhindert haben und danach gen Albenhus zogen, um der Sache mit den verschwundenen Kindern auf den Grund zu gehen. Naja, es wäre wohl an der Zeit mal das Gespräch mit Borax zu suchen’, dachte Boromar. ‘Sonst wird Mutter mich sicherlich abermals danach fragen. Oder vielleicht besser heute Abend beim Festgelage…’ Er unterbrach seine Überlegungen, als er eines älteren Mannes gewahr wurde, der allem Anschein nach gemessenen  aber zielstrebigen Schrittes auf ihn zuhielt. Mehr noch als der Griff des Tuzakmessers, welcher über seiner Schulter sichtbar war, verrieten die maßvollen und wohlüberlegten Bewegungen den Krieger. Am auffälligsten war aber die reglose Person, die er auf seinen Armen trug. Die schmächtige Statur und das kurze zum Seitenscheitel gekämmte dunkelblonde Haar, aus dem sich wie so häufig eine längere Strähne befreit hatte und über das rechte Auge ins Gesicht hing, ließen Boromar schnell Cella vom Traurigen Stein, die Knappin seiner Mutter, erkennen. Behände sprang er von der Bank auf und kam dem dem Fremden eilig entgegen. “Was ist ihr widerfahren? Was fehlt ihr?”, wollte er wissen, um ohne eine Antwort abzuwarten zu rufen. “Gero, lauf und hol einen Medicus her!” Tar’anam musterte den Mann vor sich knapp, dann antwortete er mit leiser Stimme: “Kein Grund zur Panik, die junge Löwin hier hat sich nur ein wenig übernommen. Aber könnt Ihr mich zu ihrer Schwertmutter bringen? Dann muss ich nicht alles zweimal erzählen.” “Oohha.” Mit hörbarer Erleichterung entwich die Luft aus Boromars Brust. “Das ist gut. Äh, ja sicher. Ich kann sie holen. Meine Mutter ist im Zelt.” “Nicht nötig.” Mit diesen Worten wurde die Eingangsplane des rodenbrücker Zeltes beiseite geschoben und eine Frau, die um die 45 Götterläufe zählen mochte, trat heraus. Sie trug eine lederne Hose, feste Stiefel, und über der dunkelblauen Leinenbluse den Wappenrock ihres Hauses. Ihr dichtes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ehemals wohl tiefschwarz war es nun von einem dunklen silbergrau einem Kettenhemd farblich nicht unähnlich. “Was geht hier vor sich?”, verlangte sie zu wissen.  “Wohlgeboren von Rodenbrück”, begrüßte Tar’anam die Gleichrangige mit einem knappen Nicken, welches ebenso knapp erwidert wurde. “Ich bin Tar’anam sin Corsacca, Edler von Hottenbusch. Ich bringe hier Eure ein wenig erschöpfte Knappin, kein Grund zur Sorge. Der Wildfang hier hat mich bei meinen morgendlichen Waffenübungen aufgestöbert und wollte mit einer bemerkenswerten Hartnäckigkeit ein paar Lektionen haben. Mit scharfen Waffen. Die hat sie bekommen.” Der alte Krieger sprach ruhig und bestimmt und sah der Rodenbrückerin dabei unverwandt in die Augen. “Das überrascht mich nicht”, erwiderte Rondriane lakonisch und deutete auf die Bank. “Legt sie doch hier ab.” “An Willen mangelt es ihr nicht”, setzte er nach kurzer Pause noch hinzu. Die Rodenbrückerin zog ihre rechte Augenbraue hoch. “Schon, aber noch zu oft ist sie viel zu ungestüm.”  Es war die Stimme ihrer Schwertmutter, die Cella aus Borons Armen zurück holte. Nur langsam wurde sie sich der Situation gewahr, in welcher sie sich gegenwärtig befand und auch nur langsam meldete sich Schmerz und Zorn zurück ins Gemüt der jungen Knappin. Als sie wieder Herrin über ihre schmerzenden Glieder war, wand sie sich wie ein Aal in den kräftigen Armen des Maraskaners, der sie daraufhin absetzte. “Ich … kann alleine stehen …”, presste die junge Linnartsteinerin dabei in gewohnt bockiger Manier hervor. Als sie dann wieder festen Boden unter den Füßen hatte, musste sie jedoch all ihre Beherrschung aufbringen um nicht abermals zu stürzen. Trotzig reckte sie ihr Kinn und erwartete den Sermon ihrer Schwertmutter. “Wie ich höre, ziehst du es nun vor deine Schwertkampflektionen durch den Edlen von Hottenbusch zu erhalten?” Der Blick der jungen Knappin ging daraufhin sehr selbstsicher zwischen Rondriane und ihrem Sohn Boromar hin und her. "Ihr habt mir für heute frei gegeben ...", meinte sie in wenig schuldbewusstem Ton, "... und Boromar meinte stets zu mir, dass ich keine Möglichkeit auslassen sollte um etwas zu lernen." Cella hob ihre Schultern. "Nichts anderes habe ich gemacht. Ich habe gelernt."

Ein schwerer Gang

Die Sonne war gerade untergegangen, als der Rondrageweihte die Zelte der Rabensteiner ansteuerte. Schwer zu finden waren sie nicht, die schwarzen Zelte fielen auf. Je näher Rondradin dem Zelt kam, desto langsamer wurde er. Innerlich schalt er sich dafür. Wovor hatte er den Angst? Ohne mit der Wimper zu zucken hatte er mit Dämonen gefochten, war gegen Vampire angetreten und hatte sich sogar mit einer verhüllten Meisterin angelegt, und jetzt scheute er vor einer Begegnung mit dem Rabensteiner zurück? Tief durchatmend überbrückte er die letzten Schritte und erreichte schließlich sein Ziel. Eine der beiden Galebqueller Paginnen saß vor dem Zelt und polierte an einem Stück Sattelzeug, das selbst im Widerschein der einzelnen Laterne, die den Eingang eines der Zelte erhellte, inzwischen glänzte. Es sah dem Rabensteiner ähnlich, selbst innerhalb eines Zeltlagers noch eine Wache - selbst wenn es nur eine halbwüchsige Pagin war - aufzustellen. Das Mädchen sah auf und blickte den hochgewachsenen Rondrageweihten mit einer Mischung aus kaum verhohlener Bewunderung, Erleichterung und Sorge an. Aus dem größten der drei Zelte nahm Rondradin den unverkennbaren Duft von Räucherkräutern wahr, vermischt mit noch irgend etwas anderem, ein Gefühl mehr als eine wirkliche Wahrnehmung, einlullend und wie ein Schleier vor der handfesten Wirklichkeit des nächtlichen - und mittlerweile bedeutend kühler werdenden - nächtlichen Waldes. Als er die Pagin sah, blieb Rondradin stehen. “Rondra zum Gruß. Ist der Baron von Rabenstein zugegen?” fragte er freundlich. Das Mädchen sprang auf, musterte den Gast aus großen Augen ob dieser Ansprache und nickte. “Er ist noch bei der Abendandacht, mit der gesamten Familie - aber es wird vermutlich nicht mehr lange dauern. Wollt Ihr auf Ihn warten?” Der Geweihte nickte. “Darf ich mich derweil zu dir setzen?” Er deutete auf den Platz neben der Pagin. “Gewiss, Euer Ehrwürden.” Das Mädchen räumte diensteifrig den letzten Lappen samt Fetttopf beiseite und wies auf den Platz neben sich, einen Augenblick lang nicht wissend, wohin mit ihren Händen und all dem Lederzeug. Rondradin musste ob dieser Anrede kurz schmunzeln, dann deutete er auf seine einfache Schwertfibel. “Zu viel der Ehre, ich bin nur ein einfacher Geweihter der Rondra. An der Mantelfibel kann man erkennen welchen Rang ein Geweihter der Rondra hat. Die einfachen Geweihten, so wie ich, haben eine einfache Schwertfibel. Erzgeweihte, also solche welche die zweite Weihe empfangen haben, tragen eine Fibel mit gekreuzten Schwertern. Einen Tempelvorsteher erkennt man an der Fibel in Form eines Löwenkopfes.” erklärte er der Pagin.

“Ah - dann ist das also ungefähr so wie in der Boronkirche?” Aufmerksam hatte die Pagin gelauscht und die Fibel am Mantel des hochgewachsenen und überaus stattlichen Geweihten sehr aufmerksam gemustert. “Dort sind es die Stickereien am Mantelsaum, Kragen und Ärmeln, die zeigen, welchen Rang der Priester hat - und zu welcher Kirche er gehört.”

Irgendwie war ihm klar gewesen, dass die Pagin bereits über die Ränge der Boronkirche und die Unterscheidungsmerkmale Bescheid wusste. “Das ist richtig, sehr gut.” lobte Rondradin die Pagin.

Dieser erwuchsen vor Stolz rote Flecken auf den bleichen Wangen. “Der Baron sagte, das zu wissen, sei lebenswichtig. Er hat es uns sehr nachdrücklich beigebracht.” Sie verstummte jäh und warf einen vorsichtigen Blick in Richtung Zelt. “Wir dürfen nicht zu laut sein - er hat verboten, ihn während des Götterdienstes zu stören, wenn es nicht immens wichtig ist.” Vorsichtig musterte sie Rondradin. “Ist es doch nicht, oder, Euer Eh… Gnaden?”

Dieser schüttelte den Kopf. “Es eilt nicht.” versicherte er ihr leise. “Da sitzen wir und unterhalten uns, dabei kenne ich noch nicht mal deinen Namen. Ich heiße Rondradin Wasir al’Kam’wahti von Perainefurten.” stellte er sich vor. “Und wie lautet der Name meiner reizenden Gesprächspartnerin?”

“Huch!” Erschrocken sprang das Mädchen auf und verbeugte sich tief. “Ich bin Rhena von Leihenhof, Euer Gnaden Rondradin Wasir alkam …. “ Sie verstummte, mit leuchtend roten Flecken auf den Wangen, und sah beschämt zu Boden. “ich hab’s vergessen.” murmelte sie geknickt. “Rondradin von Perainefurten reicht völlig.” winkte Rondradin ab. “Es ist mir jedenfalls ein Vergnügen deine Bekanntschaft zu machen, Rhena von Leihenhof.” Er verbeugte sich nun galant vor der Pagin. Beim Aufrichten fiel sein Blick in Richtung des rauchschwangeren Zelts. Wie lange der Borondienst wohl noch dauern würde? 

Nach erfreulich kurzer Zeit jedoch schon schlug jemand die Zeltplane zurück und ein Mädchen, das Rhena zum Verwechseln ähnlich sah, trat ins Freie und blieb, die Zeltplane haltend, neben dem Eingang stehen. “Ihr dürfte eintreten, hoher Herr.” Neugierig musterte sie den breitschultrigen, hochgewachsenen Gast und warf dann einen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen auf ihre Schwester, die mit einer unschwer deutbaren ‘später!’ Geste alles gewünschte Wissen in Aussicht stellte.

Im Zelt brannten zwei Laternen, jede in einer Ecke, und in der Mitte der vom Eingang abgewandten Stirnwand glommen Kohlen in einer Räucherschale. Als Schatten nur vor dem dunklen Zeltinneren erhob sich die Gestalt eines Mannes, der dort gekniet hatte, und wandte sich zu dem Ankömmling um. 

“Ein unerwarteter Besuch.” stellte der Baron mit ruhiger, dunkler Stimme fest. “Was führt Euch hierher, Euer Gnaden?” “Ein längst überfälliger Besuch, Euer Hochgeborene Gnaden.” erwiderte Rondradin kühl. “Die Worte bei unserem letzten Aufeinandertreffen in Albenhus stehen noch immer zwischen uns.” erklärte er und richtete sich - beinahe bedrohlich - vor dem Baron auf. “Ich bin hier um diese Angelegenheit endlich zu klären.”  Der alte Baron griff zur Seite, nahm sein Schwertgehänge auf und legte es sich um. “Kommt mit.” Mit diesen Worten schritt er zum Zeltausgang. Rondradin rückte sein eigenes Schwertgehänge zurecht und folgte dem Baron, als dieser das Zelt verließ.

Lucrann trat einige Schritte hinaus in die Dunkelheit, sich auch ohne sich umzusehen gewiss, dass der hochgewachsene Bruder in Rondra ihm folgen würde. Einige Dutzend Schritt wanderten sie schweigend durch das Lager, bis sie die Ausläufer des Waldes, ein schwarzes und schweigendes Blätterdach, erreichten. Der Borongeweihte schwieg. Auffordernd. Im Dunkel des Waldes war der Rondrageweihte, trotz des weißen Gewandes, nur noch schwer auszumachen. Die Linke lag locker auf dem Knauf seines Rondrakamms, als er nach den passenden Worten suchte. “Wie schon gesagt, die Worte, damals im Zorn gesprochen, stehen noch immer zwischen uns. Das muss ein Ende haben. Wir sollten es hier und jetzt ein für alle mal klären.”

“Ihr habt recht.” stimmte der Rabensteiner zu. Ruhig und gelassen klang seine Stimme, nicht so, als habe die Ankündigung des Rondrianers den Einäugigen über Gebühr berührt. Dennoch folgten den Worten dieses eine Mal keine Tat. Die Hand locker auf dem Griff seines Rapiers blieb er stehen.  Knapp schweifte sein Blick über die Umgebung und kam dann wieder auf der Gestalt Rondradins zur Ruhe, als böte das undurchdringliche Zwielicht des Waldes kein Hindernis für ihn.

Dieser trat näher heran und blieb dann knapp anderthalb Schritt vor der dunkel berobten Gestalt stehen. “Ich bitte um Entschuldigung für die Anschuldigungen, mit denen ich Euch damals bedachte. Damals war einiges geschehen, was meine Selbstbeherrschung arg ins wanken brachte. Natürlich ist das unentschuldbar, zumal ich Euch viel zu verdanken habe. Eure Hilfe damals in Rickenhausen habe ich nicht vergessen. Ebenso Eure Hilfe bei der Rettung Alrikes aus den Fängen der Vampire. Trotzdem muss ich noch eines sagen. Ihr seid ein wahrer Meister im Umgang mit dem Rapier, noch nie habe ich jemanden getroffen, der besser gewesen wäre und doch verwendet Ihr auch eine Armbrust.” Der Geweihte richtete sich auf und sah Lucrann direkt in die Augen. “Wenn Ihr Satisfaktion wünscht, stehe ich Euch zur Verfügung.”

Einige Herzschläge lang antwortete ihm nur das Schweigen. Dennoch konnte Rondradin sich nicht des Gefühls erwehren, genauestens gewogen zu werden.  Der alte Baron erwiderte seinen Blick ohne zu blinzeln, ohne Regung, fast wie eine Schlange, die nur scheinbar schläfrig nichts von ihrer Umgebung übersieht. Schließlich nickte der Borongeweihte, eine knappe Bewegung nur.  “Ich nehme Eure Entschuldigung an.”

Wobei ein Waffengang mit dem hochgewachsenen, kräftigen Diener der Leuin sich ganz gewiss als überaus bemerkenswerte Erlebnis erwiesen hätte. “Doch arbeitet daran, Eure Emotionen zu zügeln, ansonsten werden sie es sein, die Eure Schritte bestimmen.”

Mit einem deutlichen Nicken quittierte Rondradin den Ratschlag des Rabensteiners. Erleichterung durchströmte ihn, Erleichterung darüber, dieses Kapitel endlich abgeschlossen zu haben und seinen Frieden gefunden zu haben. “Sollen wir zurückgehen?” “Kommt.” Damit hatte sich dieser Grund für einen Spaziergang in der Ruhe außerhalb des Lagers bedauerlicherweise auch erledigt. Doch immerhin würde es bedeuten, dass sein junger Bruder im Glauben etwas mehr mit sich und seinen Erinnerungen ins Reine kam - was dem Borongeweihten in ihm, wenn er ganz weit in sich hineinlauschte, durchaus zupass kam. Allein, seine Miene blieb sorgsam undeutbar, als er kehrt machte und, den Rondrianer an seiner Seite, zurück ins Lager schritt.