Nilsitz Jagd Auf Dem Festplatz

Kapitel 5: Auf dem Festplatz (5. Ingerimm)

Hohe Herrschaften

Auf dem großen, gerodeten Festplatz trafen nach und nach die adligen Gäste und zwergische Würdenträger des Herzogtums ein, darunter auch Graf Ghambir und dessen Kinder. Einige jedoch, vorwiegend Angroschim, hatten einen noch weiteren Weg auf sich genommen. Vertreter aus den Bergkönigreichen Tosch-Mur in Almada, Dumron Okosch im Fürstentum Kosch und Angoramtosch im Phecanowald, dem Reich der Zwerge, welches sich im Lieblichen Feld befand, waren ebenfalls unter den Gästen, welche sich auf der künstlich geschaffenen Lichtung einfanden. Nicht zu vergessen der neue Baron von Drift und fürstlicher Richtgreve Brumil Wackerstock, Sohn des Burgom. Großes Aufsehen erregte darüber hinaus allerdings die Anwesenheit zweier weiterer Grafen. Growin, Sohn des Gobosch von Ferdok nebst Frau Okoscha, Tochter der Orescha, Nichte des Grafen von Schlund aus dem Kosch waren ebenso anwesend, wie Groschka, Tochter der Bulgi, Gräfin von Waldwacht in Almada. Aus der Grafschaft Schlund im Garethischen war indes nicht deren Lehnsherr persönlich angereist. Ingramm, Sohn des Ilkor aus der Zweihammersippe hatte seit über einhundert Jahren keine Reise mehr unternommen und daher seinen Bruder Igrolosch und die gräfliche Seneschallin Indra, Tochter der Indrascha an seiner Statt entsandt.

Der Platz selbst, auf dem sich jene Adlige einfanden, wurde durch den hoch aufragenden, umgrenzenden und urtümlichen Wald der isenhager Hochebene zwischen Eisenwald und Ingrakuppen eingerahmt. In seiner Mitte, wie als wäre das eindrucksvolle Bauwerk schon immer dort gewesen, stand die Nilsitzer Jagdhütte. Das drei Stockwerke hohe Gebäude machte von außen einen wuchtigen Eindruck auf den Betrachter. Seine Grundfläche war mit fünf Drasch auf sieben Drumod beeindruckend. Dicke, nach unten hin breiter werdende Trockensteinmauern aus nahezu perfekt ineinander gefügten Steinen und schmale, hohe, schießschartenartige Öffnungen, welche nach innen breiter wurden, prägten das Bild und deuteten auf herausragende Steinmetzkunst. Ebenso einen Blickfang stellte das oberste, vollständig aus Holz bestehende Stockwerk, mit kunstvollen Balkonen, herausragenden, verzierten Pfetten und einem knapp einem Drumod weit überstehendem Dachstuhl dar. An eine der Breitseiten der Jagdhütte schmiegte sich ein riesiger, kegelförmiger Turm aus Stein, welcher von seinem einem Drasch im Durchmesser im Sockelbereich nach oben hin immer mehr an Breite verlor und an seinem höchsten Punkt zu kaum zwei Drumod verjüngte. Auf diesem an einen stumpfen Kegel erinnernden Bauwerk saß ein dreistöckiger, achteckig geformter Aufbau aus Holz, welcher über seinen Fuß hinausragte. Die sich ganz oben befindende, überdachte Wachplattform mochte ihrem Besucher einen atemberaubenden Blick erlauben, da sie über das Blättermeer hinausragte und so eine Aussicht bis hin zu den begrenzenden Bergen in der Ferne ermöglichen musste. Die andere Breitseite des Baus beinhaltete ein hohes, doppelflügeliges Tor aus massiven Holzbalken, welche mit dicken Eisenstreben im Mauerwerk verankert waren. Ein kunstvoll eingearbeiteter, steigender Gebirgsbock, das Wappentier der Vogtei, schmückte die volle Fläche des Tores, während darüber ein kolossales, aus Eisen geschmiedetes Geweih mit zwölf Enden prangte. Vor dem Tor in den Innenraum standen einige längliche Holztische sowie Sitzbänke und luden zum Ausruhen ein. Fleißige zwergische Knechte und Mägde eilten umher und versuchten den hohen Herrschaften jeden Wunsch dienstbeflissen zu erfüllen.

Auf der anderen Seite der gerodeten Lichtung befand sich ein großer, hölzerner Schrein des Gottes der Jagd, sowie eine steinerne Statue der Ilpetta Ingrasim. Die Heilige des Ingerimm-Kultes wurde in erster Linie für ihre Geduld verehrt. Ob hiermit nun die Geduld der Handwerker und Baumeister bei der Errichtung des Gebäudes, oder der hier in Zukunft unterkommenden Jagdgesellschaften bei der Pirsch gefördert werden sollte, war wohl indes eine Sache der Auslegung. Des Weiteren existierten unweit der Jagdhütte, am Rande der Lichtung, geräumige Stallungen und ein sich daran schmiegender, großer, mit dunklen Schieferziegeln überdachter Unterstand, in dem eine Unmenge an geschlagenem Feuerholz aufbewahrt und getrocknet wurde.

Eine große Anzahl an Zelten, kleinere wie auch größere waren bereits von den angereisten hohen Herrschaften aufgebaut worden und setzten mit ihren teilweise bunten Planen, Bannern und Wimpeln farbliche Akzente zum ansonsten dominierendem Grün des Waldes. Das Zeltlager war dem Umstand geschuldet, dass nur die Grafen und einige der angereisten Barone, so wie natürlich die hohe Gesandte der Reiche unter den Bergen in der Jagdhütte Platz finden würden und so musste der Großteil der Gäste nach draußen ausweichen.

Eine Gauklerin auf Umwegen

Als die Gauklerin das Gebäude durch das Portal und über einige, breite, abwärts führende Treppenstufen betrat, empfingen sie angenehm kühle Luft und gedämpfte Lichtverhältnisse, drang durch die schmalen Fenster im Erdgeschoss doch verhältnismäßig wenig Licht des Praiosrunds in den Bau. Etwas unschlüssig ob der großen Halle, stand sie einen kurzen Moment da und überlegte, ob sie nun eine der rechten oder doch lieber eine der linken, hölzernen Wendeltreppen nehmen sollte, die sich zu Beginn und zum vor ihr aus gesehenem Ende der Längsseiten der Halle befanden und nach oben führten.  Beeindruckend und somit von dieser Frage ablenkend waren einmal die kolossale Tafel aus rötlich glänzendem Nussbaum im Zentrum der großen Halle, an der womöglich fünf Dutzend Personen Platz finden mochten, wie auch die vier schweren, gusseisernen Kronleuchter, die an kleinen Flaschenzügen bewegt werden konnten. "Kann ich euch helfen, gnädige Frau?", riss sie eine dralle Angroschna in der Tracht einer Hügelzwergin, wie Doratrava sie aus Ferdok oder Angbar her kannte, aus ihren Gedanken. Die Gauklerin wusste gar nicht recht, was sie mit dem Gebäude anfangen sollte. Selten war sie in etwas anderem als Schankstuben unterschiedlichster Qualität zu Gast, und das war nicht zu vergleichen mit dem, was sie hier sah. War das hier nun schön? Erhaben? Beeindruckend? Nun, letzteres sicher. Ein kleines Kichern entfuhr ihr, als sie sich überlegte, dass man auf dem großen Tisch ausreichend Platz zum Tanzen hätte, dann räusperte sie sich verlegen, als die Stimme der Zwergin an ihr Ohr drang. „Äh, ja, also der Herr Borng … Boringarth? - hat gemeint, ich könnte unter dem Dach schlafen. Welche Treppe muss ich denn dann nehmen?“ "Das ist egal", entgegnete die Angroschna mit heller, fröhlicher Stimme. "Alle führen sie bis ganz nach oben. Da könnt ihr gar nichts falsch machen.  Achtet nur darauf, dass ihr auch wirklich erst ganz oben die Treppe verlasst und keines der anderen Stockwerke betretet." Die Zwergin machte einen leicht gequälten Gesichtsausdruck und senkte die Stimme. "Die Wachen der dort untergekommen Herrschaften verstehen wenig Spaß." Sollte sie fragen, um wen es sich bei den Herrschaften handelte? Aber Doratrava würden die Namen wahrscheinlich sowieso nichts sagen, also verzichtete sie darauf. Stattdessen bedankte sie sich bei der freundlichen Zwergin und nahm die linke Treppe. Neugierig wie sie war, konnte die Gauklerin es sich aber nicht verkneifen, einen Blick in die anderen Stockwerke zu werfen. Und ein oder zwei Schritte vom Treppenabsatz weg schadeten sicher auch niemandem … . Sie wählte die Treppe, die ihr am nächsten war, also eine zunächst des Eingangsportales und ging nach oben. Das erste, ebenso wie das zweite Geschoss zeichnete sich durch vor allem eines aus, edles Holz und kunstvolle Drechselarbeiten, wobei es im unteren der beiden weniger Türen und damit wohl auch Zimmer gab als im oberen. Gemein hatten sie, dass sie unmittelbar von zwei Angroschim gemustert wurde, sobald ihr Kopf den Fußboden eines Geschosses erreicht hatte. Allein ihre grimmigen Mienen reichten Doratrava, um sich nicht weiter mit ihnen abgeben zu wollen und so schritt sie unbeirrt weiter nach oben. ‚Puh, die sehen ja aus, als bewachten sie Schatzkammer der Zwergenkönige‘, dachte Doratrava bei sich, als sie an den zwergischen Wächtern vorbeikam, ohne auch nur den Hauch einer Gelegenheit für unauffällige Maßnahmen zur Befriedigung ihrer Neugier zu sehen. Das Dachgeschoss wiederum besaß eine riesige, ununterbrochene Grundfläche mit je zwei runden Fensteröffnungen in den Breitseiten des Gebäudes. Mächtige Sparren, Stützbalken und Pfetten des Dachstuhls waren das einzige, das den geräumigen Innenraum durchbrach. Ein Stapel Decken lag mitten im Raum herum, der irgendwie verloren wirkte. Um ihn herum waren vielleicht zwei Dutzend improvisierte Lagerplätze errichtet.  Da sie niemanden sah, schnappte sich die Gauklerin einfach ein paar Decken und bereitete sich in einer Ecke des großen Raumes ein Lager. Sie ließ ihre Tasche dort zurück und machte sich dann auf nach unten, um zu sehen, was sich dort mittlerweile tat. Vielleicht traf sie unten dann ja auch auf diesen Borindadings, der sie eingeladen hatte, und konnte ihn fragen, ob er besondere Vorstellungen bezüglich ihres Aufenthalts hier hatte. Und außerdem hatte sie Hunger und Durst. Sie nahm diesmal absichtlich die andere Treppe, um zu sehen, ob diese genauso gut bewacht war. Viel Hoffnungen hatte sie ja nicht, aber man wusste ja nie … . Doratrava sah sich in ihrer Vermutung bestätigt. Auch beim Weg nach unten, zurück in die große Halle, wurde sie ebenfalls wachsam beäugt und sorgsam darauf geachtet, dass sie sich nicht ‚verlief‘.  Nichtsdestotrotz konnte die Gauklerin im ersten Obergeschoss kurz zwischen zwei schwer gerüsteten Wachen hindurch einen Blick auf eine in einen Hermelinmantel gekleidete Angroschna mit kupfernen Haaren und einem breiten, goldenen Stirnreif erhaschen.  Unten angekommen durchmaß sie die Halle und schritt wieder hinaus ins Freie, wo sie wieder helles Praioslicht und Frühlingsluft empfing, welche in diesem Feuermond, so nannten die Angroschim den Monat Ingerimm, recht mild war. Suchend sah sich die Gauklerin um, irgendwo gab es doch sicher etwas zu essen und zu trinken – und den Vogt. Aber so langsam herrschte hier ziemliches Gewimmel, die vielen Menschen mit den mehr oder weniger bunten Kleidern und Wappen, welche zwischen den teilweise ebenso mit bunten Wappen verzierten Zelten umherwuselten, machten den Platz vor der Jagdhütte sehr unübersichtlich. Neugierig schlenderte Doratrava einfach drauflos, hinein zwischen die Zelte, und betrachtete interessiert, was die Leute alles taten. Da sie sich hier sicher fühlte, hatte sie wegen der nasskalten Witterung zwar ihren Reisemantel nicht ausgezogen, aber die Kapuze zurückgeschlagen, so dass man ihre weiße Haut, die weißen Haare und die leicht spitzen Ohren ohne weiteres erkennen konnte. Ohne wirklich darüber nachzudenken, summte sie vor sich hin und tanzte manchmal ein paar Schritte. Einfach laufen war doch langweilig.

Gastgeschenk mit Beinen

Als die drei Männer um Otgar von Salmfang wenige Zeit später im Schritttempo durch die Schlucht der Zelte auf den Platz vor der Jagdhütte ritten, folgen ihnen so manches Augenpaar. Immer wieder wurde mit ausgestrecktem Arm auf die außergewöhnliche Fracht gedeutet, die sie hinter sich herzogen. „Ein recht ungewöhnliches Geschenk will ich meinen“, sprach sie ein rothaariger Angroscho an, noch bevor sie hätten anhalten und absteigen können. Die breite Kette, die er trug, konnte Otgar nur so deuten, als dass es sich bei ihm um den Gastgeber handelte. Bei ihm standen zwei weitere Zwerge, eben jene, die kurz vor ihnen am Wachposten gewesen waren. Behende aus dem Sattel springend lächelte Otgar von Salmfang den Gastgeber freundlich an. „Väterchen Angrosch zum Gruße“ grüßte er und überragte selbst im Stehen die anwesenden Zwerge bei weitem. Als seine beiden Begleiter sich neben ihm aufbauten verstärkte sich der Eindruck nur noch weiter. Die beiden Männer maßen bereits über 190 Halbfinger, ihr Herr jedoch war nochmals fünf Finger größer. Unaufgefordert wurde dem Junker eine kleine Kiste gereicht, die dieser dem Vogt entgegenreichte. „Eigentlich sollte dies unser Geschenk sein, ein Spiel von Zwergenverstand ersonnen und Zwergenhand auf meinem Gut gefertigt. Ich hoffe Ihr habt Freude daran.“ Im inneren des Kästchens befanden sich zahlreiche Runensteine, die mit viel Mühe auf buntem Speckstein herausgeschält worden war. „Das da …“ fuhr er mit einem Fingerzeig auf die Fischerspinne fort. „… war ungeplant. Wir wollten eigentlich zur Jagd kommen und haben nicht erwartet selbst zur Beute zu werden.“ Als die beiden Zwerge neben dem Vogt den Anführer der Gruppe erkannten, hellte sich selbst die versteinerte Miene des Edlen auf. Etwas aufgeschlossener für die gesamte Situation musterte er das vom Vogt als ungewöhnliches Geschenk eingestufte Mitbringsel. Näher an die Fischerspinne herantretend inspizierte er die Kreatur etwas genauer und trat sogar einmal prüfend gegen dessen schützende Außenhaut. „Mhm…“ Meinte er laut vernehmlich und fuhr sich nachdenklich über den zu einem dicken Zopf geflochtenen Bart. „… es ist lange her und die Gelegenheit ist günstig. Was haltet Ihr davon, wenn wir den Koch aus diesem Mitbringsel eine Spinnensuppe bereiten lassen?“ Wandte er sich an den Vogt. Der erfahrene Edelknecht Siegrond und sein Lehensherr vermochten ihre Gesichtszüge in Anbetracht dieser Vorstellung unter Kontrolle zu halten, dem jüngeren Hainritter Hlûtard hingegen konnte man den Ekel im Gesicht ablesen. Der Vogt hingegen hielt mit seiner Meinung zu diesem Vorschlag nicht hinterm Berg. „Das ist eine ausgezeichnete Idee. Wir sollten unseren Gästen die Küche Isnatoschs näherbringen.“ In diesem Moment erreichte die Baronin von Rickenhausen mit ihrem Gefolge die Gruppe um die Spinne. Die letzten Worte des Zwergen hatte sie gerade noch gehört, konnte sich aber nicht vorstellen, dass diese ernst gemeint waren. Sie drehte sich halb zu Tar‘anam herum und meinte halblaut: „Jetzt weiß ich, was Oberst Dwarosch gemeint haben muss. Den Göttern sei Dank sind wir so einem Vieh nicht begegnet.“ Ihr Leibwächter nickte knapp, äußerte sich aber nicht weiter dazu, während ihre Zofe Melisande große Augen bekam und die Hand vor den Mund schlug. Dann wandte Thalissa sich dem Vogt zu, in dem sie anhand seiner Insignien - und seiner Äußerung – den Gastgeber erkannte. Sie hatte sich schließlich vorbereitet, soweit es ging, und stieg vom Pferd, um dem Vogt mit einer angemessen knappen Verbeugung ihren Respekt zu erweisen. „Seid gegrüßt, Euer Hochgeboren Borindarax, Sohn des Barbaxosch. Ich bin Thalissa di Triavus, Baronin von Rickenhausen, in Begleitung von Tar‘anam sin Corsacca, dem Edlen von Hottenbusch, sowie meiner Zofe Signora Melisande della Yaborim. Ich bin sehr erfreut, diese Einladung erhalten zu haben und freue mich ebenso über die Gelegenheit, meine zwergischen Nachbarn im weiteren Sinne näher kennenzulernen.“ Diese Rede hatte sich recht förmlich angehört, doch Thalissa hatte sie mit einem ehrlichen Lächeln begleitet. Dann deutete sie auf die Spinne. „Gibt es denn noch mehr dieser Monster in der Nähe?“ Dabei sah sie auch die Umstehenden an. Obwohl Thalissa nicht entging, dass sich die Mundwinkel des Angroschos bei dem Wort ‚zwergischen‘ kurz verzogen, strahlte er ihr entgegen, als sie mit ihrer Begrüßung geendet hatte. „Hochgeboren. Es ist mir gleichzeitig eine Freude wie eine Ehre euch in meiner Heimat zu wissen“, sprach der Vogt und nickte im Anschluss auch ihren Begleitern lächelnd zu. Dann ging er auf die Frage der Baronin ein. „Die Wälder von Nilsitz gehören nicht zum gratenfelser Becken oder der elenviner Ebene. Hier ist die Natur noch wild und ungezähmt. Das heißt es gibt hier nicht nur eine große Anzahl sowie Vielfalt an Rot- und Schwarzwild, sondern auch Tiere, die Menschen und Angroschim gefährlich werden können. Dazu zählt lästiges Spinnengetier, ebenso wie beispielsweise auch der Große Schröter. Allerdings kommt es auch immer wieder zu skurrilen Begegnungen mit Wald- und Steinschraten. Diese sind in den letzten Jahren wohl aber alle glimpflich verlaufen“, versuchte er zu beruhigen, als Borax sah, dass sich die Augen seiner Gäste weiteten. Thalissa hörte die Worte des Zwerges und konnte es kaum glauben. Sie waren hier dem Orkland wohl doch näher, als sie es sich erträumt hatte – zumindest, was die Wildheit anbelangte, natürlich nicht derographisch. Sie wandte sich nun direkt an die Spinnenjäger: „Euer Wohlgeboren von Salmfang, könnt Ihr denn noch etwas über die näheren Umstände des Zusammentreffens mit diesem Untier berichten? Wo war denn da genau? Habt ihr die Gegend nach weiteren Artgenossen  - oder gar der Speisekammer – untersucht? Ich habe mal gehört, diese oder ähnliche Tiere fangen manchmal gerne lebende Menschen oder andere Wesen, um sie einen Weile ‚frisch‘ zu halten … .“  Seinen musternden Blick auf die Spinne gewandt ging Otgar auf die an ihn gerichteten Worte der Baronin ein. „Es tut mir Leid Hochgeboren, aber auf die meisten Eurer Fragen muss ich Euch eine Antwort schuldig bleiben.“ Trotz der eigentlich bedrohlichen Situation ihres Zusammentreffens mit der Kreatur, konnte sich der Junker ein mildes Schmunzeln nicht verkneifen. „Es war, für mich und meine Begleiter, das erste Zusammentreffen mit einer solchen Kreatur. Aus dem Hinterhalt heraus griff sie, etwa ein halbes Stundenglas vor unserem Eintreffen hier, einen meiner Männer an und brachte ihn zu Fall. Während sich das Biest in seiner Gier auf ihn stürzte, wendeten wir unsere Pferde und gingen zum Angriff über.“ Betrachtete man die Bewaffnung der drei Männer, wobei zumindest beim Junker die Entscheidung schwer fiel welche der zahlreichen Waffen er wohl genutzt haben mochte, war dem kundigen Auge recht eindeutig klar welcher der beiden Edelknechte auf den Achtbeiner eingedroschen hatte. „Ihr Panzer mag zäh sein, aber mit genügend Nachdruck ließ sie sich unter Kontrolle bringen.“ Das dieser Nachdruck offenkundig aus roher, ungezügelter Gewalt bestanden hatte, war ein offenes Geheimnis, zumal es dem Biest nicht einmal mehr gelungen war die Flucht zu ergreifen. 

Jagdgeheimnisse

Thalissa hatte mit hochgezogenen Augenbrauen interessiert zugehört und nickte nun sinnend. „Nun ja, die Angroschim kennen sich vermutlich mit derlei Getier aus, und wie wir gesehen haben, sind sie auch durchaus um die Sicherheit dieses Ortes bemüht, so dass wir uns wohl keine Sorgen über nächtliche Spinnenbesuche machen müssen.“ Die Baronin zog einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln nach oben. „Während ich ihnen  - und wer es sonst noch mag – Spinnensuppe gönne, werde ich mich jetzt erst einmal einrichten und später etwas meinem Gaumen angemesseneres zu Gemüte führen. Gehabt Euch wohl, wackere Recken!“ Sie blinzelte Otgar und seinen Mannen mit einem freundlichen Lächeln zu und verschwand dann in der Menge. Tar‘anam und Melisande hatten hoffentlich inzwischen das Zelt aufgestellt und hergerichtet. Wobei dort nur Tar‘anam würde schlafen müssen, sie selbst konnte mit Melisande zusammen in der Jagdhütte nächtigen, ein Angebot, das sie selbstverständlich nicht ausgeschlagen hatte. Zwar hatte Tar‘anam Bedenken geäußert, wenn seine Schutzbefohlene so weit weg von ihm selbst untergebracht war, doch diese hatte die Baronin mit Verweis auf die gute Bewachung durch die Zwerge freundlich, aber bestimmt abgeschmettert. Wie immer hatte der alte Krieger ihre Entscheidung zur Kenntnis genommen, ohne eine Miene zu verziehen.

Von Rehen und Raben

Hatte sie nicht irgendwo das Wappen von Rabenstein aufblitzen sehen? Sie würde sich mal umschauen. “Hochgeboren von Rickenhausen, die Zwölfe zum Gruße.” Und trotz allem fühlte sich die Bezeichnung für die blonde junge Liebfelderin noch seltsam und nicht ganz richtig an. Der einäugige Baron begrüßte seine Standeskollegin mit einem höflichen Nicken. “Es freut mich, Euch hier zu treffen. Sagt, kennt Ihr bereits meine Gemahlin, Shanija Stragon von Rabenstein, geborene von Metenar?” Er nahm seine Gemahlin am Arm, die mit einem herzlichen “ich freue mich sehr, Hochgeboren.” Thalissa begrüßte. Die Baronin von Rabenstein trug ein elegantes, langes grünes Kleid mit silberfarbenen Einsätzen, tauglich vielleicht für einen Ausritt durch den Wald, aber sicher nicht für eine Jagd. Mit wachen Augen lächelte sie die vielleicht ein Dutzend Jahre Jüngere an. “Ich habe viel von Euch gehört. Sagt mir, wie gefallen Euch die Nordmarken?” „Hochgeboren von Rabenstein“, verbeugte sie sich knapp vor dem Einäugigen, und dann, etwas eleganter, vor seiner Gemahlin. „Hochgeboren von Rabenstein, die Götter zum Gruße.“ Zum alten Rabenstein gewandt, antwortete sie lächelnd auf seine Frage: „Nein, in der Tat war mir dieses Vergnügen noch nicht vergönnt, aber mit dem heutigen Tage wurde dieses Versäumnis ja zum Glück behoben.“ Sie musterte die ältere Frau kurz. Shanija sah noch immer gut aus und machte einen sehr freundlichen Eindruck, ganz im Gegensatz zu ihrem in der Regel eher abweisenden Gemahl, welchen sie aber dennoch bereits besser kannte als die meisten seiner Standesgenossen hier in den Nordmarken. „Nun ja, die Nordmarken sind nicht gleich die Nordmarken“, antwortete Thalissa nach kurzem Überlegen auf Shanijas Frage. „Wart Ihr schon einmal in Rodaschquell? Dort ist es sehr schön, zumindest im Sommer, während wir uns hier“, sie wies mit einer Hand um sich auf den dichten Wald, welcher den Platz um die Jagdhütte umgab, „für mein Dafürhalten doch eher in tiefster Wildnis befinden.“ Sie lächelte leicht ironisch, woraus man schließen konnte, dass ihre Bemerkung möglicherweise nicht ganz so harsch gemeint war, wie die Worte klangen. „Werdet Ihr denn an der Jagd teilnehmen?“ fragte sie Shanija im Gegenzug, wobei sie auch die meist undurchdringliche Miene des Rabensteiners im Blick behielt.  Diese änderte sich indes nicht, als seine Gemahlin den Kopf schüttelte. „Ich werde nicht dabei sein, Hochgeboren. Irgend jemand muss schließlich aufpassen,dass die Jäger auch wieder heil zurückkommen.“ Kurz huschte ein Grinsen über ihr Gesicht. „Und wie sieht es bei Euch aus – werdet Ihr jagen?“ Thalissa zuckte, etwas gleichgültig, wie es schien, die Achseln. „Dafür wurden wir doch eingeladen, nicht wahr?“ sagte sie leichthin, um dann wieder etwas ernster zu werden. „Meine Jagdkünste sind leider nur bescheiden, aber wenn man mir eine Armbrust in die Hand drückt, treffe ich manchmal sogar. Wichtiger als die Jagd wird aber das Zusammentreffen mit den Zwergen und den anderen Adligen sein. Es gibt nicht allzu viele Gelegenheiten dieser Art.“ Die Baronin stutzte, dann wies sie zum Rand des Festplatzes. „Sagt, ist das dort nicht das Wappen von Rodaschquell? Die Dame Morgenrot ist also tatsächlich der Einladung gefolgt. Ich bin überrascht. Kommt, sollen wir sie nicht begrüßen?“ Sie blickte erst Shanija und dann Lucrann erwartungsvoll an. „Das sei Euch unbenommen.“ antwortete der Einäugige auf den ersten Teil der Ansage der Rickenhausenerin. Immerhin war dies nicht die erste Jagd, die beide zusammen bestritten – und nicht auf das bevorzugte Wild der Liebfelderin. „Selbstverständlich machen wir Ihrer Hochgeboren von Rodaschquell unsere Aufwartung.“ Mit diesen Worten wandte der Schwarzgekleidete sich in Richtung der Neuangekommenen  - sich gewiss und dessen keines weiteren Blickes bedürfend, dass die beiden Damen ihm folgen würden.

Waldbewohner

Zu den umstehenden Gästen zählte inzwischen auch Nivard von Tannenfels, der, sein Ross die letzten Schritte aufgrund des Gedränges am Zügel führend, zur Ansammlung auf dem Festplatz gestoßen war und von hinten den imposanten Achtbeiner besah, während er auf eine gute Gelegenheit wartete, dem Gastgeber seine Aufwartung zu machen. Unwillkürlich entwich ihm zu seinem eigenen Erschrecken ein leiser Pfiff, für den er sich sofort verstohlen umsah. Er war froh, dass die meisten Umstehenden offenbar ebenso erstaunt auf das Untier schauten oder konzentriert darauf warteten, zum Vogt vorzustoßen, wie er und daher keine Notiz von dem ungebührlichen Geräusch zu nehmen schienen. Nivard wandte sich rasch um und löste ein wohlverschnürtes und gut gepolstertes kleines Paket aus seiner Satteltasche. Damit war er bereit, und lauschte zunächst aus zweiter Reihe, was Borindarax zu den Spinnen zu sagen wusste. ‚Wenn es davon mehr geben sollte, heiliger Kurim, dann könnte das eine verdammt interessante Jagd werden … .‘  „Ahhh… der junge Herr von Tannenfels. Rondra zum Gruße“, kam der Vogt unvermittelt auf Nivard zu, als er sich des Kriegers gewahr wurde und reichte ihm die Hand. „Wie schön, dass ihr meiner Einladung folgen konntet. Wie steht es mit euch, würdet ihr von der Spinnensuppe probieren?“ „Angrosch und Rondra zum Gruße, Euer Hochgeboren! Es ist mir eine große Ehre und Freude, an der großen Jagd teilnehmen zu dürfen - habt von Herzen Dank für Eure Einladung! Ich hoffe, es ist Euch seit unserer gemeinsamen Flussfahrt im letzten Sommer wohl ergangen! … Was die hier dargebotenen Speisen anbelangt, so muss ich sagen, dass ausgekochte Spinne zunächst sehr eigen anmutet, doch will ich dennoch gerne von ihr kosten. Man sollte kein genießbares Geschenk des Waldes leichtfertig ausschlagen und kein mit Firuns Segen erlegtes Beutetier einfach ungenutzt wegwerfen, selbst dann nicht, wenn es der Sommer üppig mit einem meint – dies hat mich manch harter Winter im Norden des Herzogtums gelehrt.“ Ein Grinsen zuckte über Nivards Gesicht: „Und für den Fall, dass die Suppe den Hals eher hinabkrabbelt als fließt oder sich sonstwie widerspenstig erweist, habe ich noch etwas Wohltuendes für Eure Kehle im Gepäck … .“ Nivard reichte dem Vogt sein Päckchen, in dem sich eine grüne Glasflasche mit einer (von außen aber nicht erkennbaren) grünlich-gelben Flüssigkeit sowie einigen verzierten Gläschen befanden: „Tannenfelser Tannspitz, ein mit Honig verfeinerter Tannenschnaps und Spezialität meiner Heimat! Der ölt Eure Kehle und macht auch dem letzten Spinnenkrabbeln im Magen sicher den Garaus!“  Als Nivard auf so überraschende Weise auf seine Frage antwortete, stand dem Vogt zunächst Verwunderung ins Gesicht geschrieben. Verwunderung, die alsbald in einem anerkennenden Nicken Ausdruck fand. „Ich danke euch für das Geschenk aus eurer Heimat und die weisen Worte. Mutig seid ihr scheinbar obendrein auch noch. Muss man ja unweigerlich, wenn man derart tollkühn ist.“ Der Zwerg zwinkerte Nivard wohlwollend zu. „Ich werde zu euch kommen, wenn meinen Gästen die Suppe angeboten wird und ganz gleich ob sie euch zusagt oder nicht, danach werden wir zwei einen großen Humpen Bier leeren und euren Tannenspitz probieren. Darauf mein Wort.“ „Darauf freue ich mich sehr!“ entgegnete ihm Nivard lächelnd, und gab, wenngleich er gerne direkt weiter mit Borindarax gesprochen hätte, eine Verbeugung andeutend, den Weg zum Vogt für die weiteren Ankömmlinge frei.

Eine Elfe unter Zwergen

Der kleine Tross, den Andragrimm auf den Festplatz führte, sorgte für einiges Aufsehen, war das Wappen Rodaschquells doch dank seines lokalen Bezugs äußerst bekannt im Isenhag. Jeder wusste, wer die Herrscherin der Länder im Firun der Ingrakuppen war und vor allem was sie war. Als Dwarosch sich der neuen Gäste gewahr wurde, marschierte er ihnen entgegen und hob den Arm zum Gruße. Er hatte ernsthaft daran gezweifelt, dass Liana Morgenrot kommen würde. Nun freute er sich auf das Wiedersehen und das schloss den Ritter an ihrer Seite mit ein. „Sanyasala gis biundao gwendala Liana Alyandéra Morgenrot“, sprach er laut und deutlich, wenn auch mit zwergischem Akzent, der dem Isdira eine ungewohnt harte Note gab, als die Elfe auf seiner Höhe war. Mit einem breiten Grinsen blickte er ihr entgegen. Die Elfe ließ ihre Elenviner Stute ein wenig tänzeln, während sie den Angroscho zunächst etwas erstaunt betrachtete. Sie hatte gewusst, dass er einer der wenigen Zwerge war, die ihrer Sprache mächtig waren. Und sie hatte sich eine Weile selbst gefragt, ob sie ihn vielleicht auf elfisch hätte grüßen sollen, wenn sie sich wieder begegneten. Doch sie war sich nicht sicher gewesen, ob dies nicht vielleicht den ein oder anderen der vielen Angroschim hier irritiert oder gar sein Missfallen erregt hätte. Und sie war sich unsicher gewesen, ob sie Dwarosch damit in Verlegenheit gebracht hätte. Und nun kam ihr dieser Oberst frech grinsend entgegen und zerstreute all ihre Gedanken mit derselben Begrüßung, mit der er sie seinerzeit schon in ihrer Halle auf der Rodaschblick begrüßt und sofort ihre Sympathie errungen hatte. Noch während sie auf dem Pferd saß, fand schnell das Lächeln wieder einen Weg auf ihre feinen Züge, und wich dann kurz einem perlenden Lachen. Erneut hatte Dwarosch sie überrascht. Mit einem eleganten Schwung saß sie ab und ging auf den massigen Zwergen zu. Sie beugte sich nach vorne und hielt ihm ihre Hände entgegen, um nach den seinen zu greifen. „Ich werde es Euch ersparen, Dwarosch, Sohn des Dwalin, Euch und all den anderen stolzen Angroschim hier das wenige Rogolan, dessen ich mächtig bin, vorzusetzen.“ Sie sprach für ihre Verhältnisse recht laut, so dass Umstehende sie gut hören konnten und somit Zeugen der Herzlichkeit dieser Begrüßung wurden. „Doch seid versichert, dass Ihr einmal mehr mein Wohlwollen errungen und mir eine große Freude bereitet habt. Ich freue mich sehr hier auf den Ländereien von Nilsitz zu Gast zu sein. Und umso mehr, Euch hier wiederzusehen.“ Auch Darian sprang nun vom Pferd und ging mit einem breiten Grinsen auf Dwarosch zu, nachdem seine Herrin ihn begrüßt hatte. „Dwarosch! Wie schön, Euch zu sehen“. Er packte fest den Unterarm Arm des Zwergen in der Art, wie es Krieger tun. Eduina, die Zofe der Baronin, betrachtete all das von ihrem Fuchs mit einem gütigen Lächeln, während sich die Laune des Vogtes, der weiter hinten stand, beim Anblick des Oberst noch weiter verschlechterte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass dies überhaupt hätte möglich sein können … . Tatsächlich waren Lianas Bedenken nicht unbegründet gewesen. Einige der umstehenden Angroschim rümpften tatsächlich die Nase oder sahen weg, als sich Baronin und Oberst so herzlich und speziell begrüßten.  Doch die Elfin war durch ihr Handeln in der nahen Vergangenheit nicht schlecht gelitten unter den Zwergen. Sie war es schließlich gewesen, die eine Brieftaube mit einer Nachricht nach Senalosch entsandt hatte, in der sie von marodierenden Orks berichtete, die die grenznahen Ländereien bedrohten.  Nur wegen dieser Warnung war es den Isenhager Gebirgsjägern, einer kleinen Elite-Sondereinheit des Eisenwalder Garderegimentes, gelungen, sich auf die Fährte der Schwarzpelze zu setzen und sie in Wolfsstein, vor den Mauern von Wolfenhag zu stellen und aufzureiben. Ohne die Nachricht der Elfe hätte der Marktflecken gebrandschatzt werden können, wie einige kleine Gehöfte, die die Orks auf ihrem Weg geplündert hatten. Wahrscheinlich deswegen, vielleicht aber auch weil der Oberst in seiner Position seit seiner Ernennung unangefochten und obendrein sehr beliebt war, waren keine abfälligen Bemerkungen oder auch nur Gemurmel zu vernehmen.  Fest war Dwaroschs Griff um Darians Unterarm und herzlich auch seine Begrüßung gegenüber der Zofe. Selbst der Vogt erhielt ein freundliches Lächeln im Verbund mit einem Nicken in seine Richtung und das trotz der zum Teil heftigen Streitigkeiten der Vergangenheit. Der Oberst wusste schlicht, dass dies die richtige Taktik war um seinen vermeintlichen Kontrahenten zu triezen.  Der Vogt von Rodaschquell vermochte nur mit Mühe zu unterbinden, seine Nase kraus zu ziehen ob dieses Zwerges, der ihm als eine Ausgeburt an Impertinenz erschien. Dann besann er sich, wo er sich befand: unter vielen Zwergen – und eben nicht in seinem „Revier“. Und in gewisser Weise brachte er sogar ein kleines Maß an Verständnis auf: Immerhin war der Zwerg in seinen Augen nur ein einfacher Soldat, der es eben nicht besser wusste. Was verstand schon ein Krieger von der Politik! Vom Rechnungswesen, vom Zoll- und Steuerrecht oder all den anderen Sorgen und Nöten, die ihn, den genialen Bernhelm Korninger, Tag für Tag umtrieben! Immerhin waren die Zwerge ja ganz passabel darin, die Wege und Pässe frei zu halten von allerlei Geschmeiß wie etwa jenen Orks, die sich kurioserweise in den Isenhag verirrt hatten. Und dieser kriegerische Angroscho dort war offenbar ein ganz zäher Hund. Also fasste Korninger sich, zählte innerlich bis drei und richtete ein Stoßgebet an den himmlischen Fuchs, dessen Diener er war, und bedachte den Oberst mit einem dezenten Nicken, wobei er die Augen schloss und sich ein Lächeln abrang. Es fiel ihm umso leichter bei dem Gedanken, diese zwergische Enklave hier schon bald wieder verlassen zu können … .

Alsbald war auch der Vogt von Nilsitz informiert, dass ein weiterer Nachbar aus dem Isenhag gekommen war, und er eilte herbei. Mit strahlendem Lächeln, aber auch vor Neugierde blitzenden Augen trat er zu den Neuankömmlingen hinzu.  "Seid mir willkommen Hochgeboren. Endlich lernen wir uns persönlich kennen.  Bisher beschränkte sich unser Austausch auf einige hastig niedergeschriebene Sätze und das in Zeiten der höchsten Not. Ich hoffe diese weniger dramatische Gelegenheit nutzen zu können, um in Zukunft ein engeres Band zwischen Rodaschquell und Nilsitz knüpfen zu können." Die Baronin von Rodaschquell blickte Dwarosch noch einmal freundlich an und wandte sich dann an den Gastgeber, den sie mit einer anmutigen, fließenden Verbeugung grüßte. Sie sprach laut und mit fester Stimme. „Euer Hochgeboren, mit Eurer Einladung habt Ihr mir eine große Freude bereitet. Nur zu gern bin ich ihr nachgekommen! Ich kannte Euren Vorgänger, auch wenn wir einander nur selten sahen. Die Bande der Freundschaft und Verbundenheit mögen tiefer und fester werden zwischen Nilsitz und Rodaschquell. Nilsitz, der Heimat so vieler Eures stolzen Volkes, die in Gemeinschaft mit den Menschen leben. Ich will Euch danken. Euch und all den ehrbaren Angroschim, die so schnell herbeigeeilt sind, um die braven Bürger von Wolfstein zu beschützen, dem Nachbarn Rodaschquells. Nicht auszudenken, was hätte geschehen können, wenn die tapferen Angroschim meinem Ruf nach Hilfe nicht so schnell gefolgt wären! Die Bewohner des Isenhag dürfen sich glücklich schätzen, dass die Söhne und Töchter der Berge die alten Bündnisse stets aufrecht halten und in Zeiten der Not die stärkste und verlässlichste Bastion unserer Lande sind.“ Der Vogt von Rodaschquell, der die Worte seiner Lehnsherrin, für die er ansonsten nur wenig Achtung empfand, ebenfalls hörte, lächelte listig und rieb sich das Kinn. Eines muss man ihr lassen, dachte er bei sich. Sie versteht es durchaus, gewinnbringende Worte einzusetzen … . Das empfanden offenbar auch andere Zuhörer ihrer kleinen Rede so, denn vielstimmige Zustimmung war zu vernehmen, als Liana zu Ende gesprochen hatte.  Der Vogt indes strahlte über beide Ohren und ließ es sich sodann nicht nehmen die Zofe der Baronin, wie auch ihren Vogt Korninger standesgemäß zu begrüßen, bevor er sich wieder an Liana wandte.  "Mein Freund Dwarosch hat sich den Schutz unser aller Heimat zur Lebensaufgabe gemacht und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, ihn dabei zu unterstützen, wobei ich meine Aufgabe in etwas anderem sehen.  Isnatosch und mit ihm Senalosch waren eine sehr lange Zeit faktisch isoliert. Jetzt, wo unsere Hauptstadt zu alter Größe zurückgefunden hat, sollten wir danach streben unser Gewicht auch wieder geltend zu machen.  Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass der Isenhag in Elenvina nicht mehr länger als einige, wenige Einzelstimmen gehört wird, oder dort gar nicht vertreten ist, sondern dass wir Anliegen gemeinsam vortragen. Mit den anderen, gräflichen Vögten bin ich mir in dieser Hinsicht bereits einig geworden und Ghambir gab mir seinen Segen, was diese Bestrebungen angeht. Nun suche ich weitere… nun ja… Verbündete. Doch genug der hohen Politik. Ich will euch nicht gleich damit überfallen. Ich hoffe wir finden später Zeit für einen intensiven Austausch. Es würde mir jedenfalls eine große Freude bereiten." Borax klopfte kurz in die Hände und zwei zwergische Mägde eilten herbei.  "Geleitet ihre Hochgeboren und ihre Zofe in ihr Zimmer", bat der Vogt. "Sorgt dafür, dass es ihnen an nichts mangelt."  „Habt Dank, Euer Wohlgeboren, Ihr seid sehr freundlich! Seid versichert, dass ich mir jede Zeit nehmen werde, um mit Euch zu besprechen, was ich tun kann, um Euch bei Eurem ehrbaren und wichtigen Anliegen zu helfen.“  Sie neigte noch einmal das Haupt zum Abschied, während die Zofe neben ihr knickste. Dann folgten die beiden den Bediensteten. Liana war überaus erfreut. Der Vogt von Nilsitz schien Ziele zu verfolgen, die den ihrigen entsprachen. Den Zwist und die Hader in der Grafschaft, die beide noch immer häufig herrschten, wenn schon nicht zu beenden, so zumindest einzudämmen. Nicht wenige der Isenhager lagen mit ihren Nachbarn ständig im Streit. Fast schien es eine Art der Beschäftigung zu sein, Fehden aufrechtzuerhalten und zu pflegen. Und wie sie sich selbst gegenüber eingestehen musste, konnte nicht einmal sie selbst sich davon ausschließen, wenn sie an den grässlichen Baron von Eisenstein dachte, von dem sie insgeheim hoffte, dass er nicht bei dieser Gesellschaft dabei sein möge. Und doch war es seit jeher ihr Ziel, solche Hürden zu überwinden, damit sich solch Hader nicht ausbreiten und noch mehr Schaden anrichten konnte. Denn gleich einem unkontrollierten Feuer wuchsen solche Geschichten bisweilen zu einem gefährlichen Flächenbrand heran. Kurz musste sie an den furchtbaren Nachbarschaftskrieg zwischen den Nordmarken und Albernia denken. Die Wunden waren noch immer tief … . Von Graf Ghambir können wir keine Hilfe erwarten, dachte sie bei sich. Der alte Rechenmeister hatte sich tief in seiner Festung Calbrozim verschanzt, um dort, wie es hieß, Tag für Tag über den Folianten zum Rechnungswesen zu brüten. In gewisser Weise war er damit ihrem eigenen Vogt nicht unähnlich. Ein kurzes Lächeln huschte über ihre feinen Züge, und sie blickte zu Bernhelm Korninger hinüber, der missmutig und angespannt zugleich auf seinem Pferd hockte und darauf wartete, dass sein schlaksiger Diener ihm beim Absteigen half. Dann hielt die Baronin auf halben Weg zum Jagdhaus kurz inne und ließ ihren Blick über den Festplatz streichen – wohl wissend, dass viele Augenpaare sie wohl mit derselben Neugier betrachten würden, mit der sie selbst das emsige Treiben hier beobachtete. 

Sie betrachtete das imposante Gebäude. Es war in ihren Augen wuchtig, geradezu klobig. Mächtig. Mehr eine Burg, die man hier inmitten des Waldes hingesetzt hatte. Und doch kam sie nicht umhin, sich einzugestehen, dass dieses Bauwerk Menschen und Zwergen ein untrügliches Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben musste. Etwas, das ihr wiederum Achtung abverlangte, auch wenn sie selbst leichtere und lichtere Bauten bevorzugte. Ein freundlich dreinblickender Angroscho – offenbar einer der vielen Bediensteten hier – bat Ritter Darian, ihm die Pferde zu überlassen, auf dass er sie versorgen könne. Der erste Ritter der Rodaschquellerin blickte kurz zu seiner Dame und griff nach den Zügeln ihrer schneeweißen Stute. Doch die Elfe winkte ab. „Nein, lass. Ich werde Olanyara selbst in die Stallungen bringen. Darian nickte, übergab die Zügel des Pferds der Zofe dem Zwergen und folgte diesem dann. Liana wandte sich von dem Gebäude ab und strich kurz sanft über den Hals des schönen Tieres an ihrer Seite. „Wie ich sehe, scheint Euch das Pferd aus meinem Gestüt gute Dienste zu leisten, Euer Hochgeboren.“ Die Elfe drehte sich um und blickte in das Auge des Barons von Rabenstein. Dann sah sie dessen Gemahlin Shanija und neben ihr Thalissa, die Baronin von Rickenhausen. Ihre Mine hellte sich umgehend auf, als sie die beiden Baroninnen sah. Als der Baron sie angesprochen und sie sich ihm zugewandt hatte, lag neben der Überraschung zunächst auch ein Hauch von Distanz in ihren Augen. Fast hätte man es Furcht nennen können. Etwas, dessen der Rabensteiner nur zu gewahr wurde … .

Alte und neue Freundschaften

Die Baronin von Rickenhausen bemerkte zwar die kurzzeitige Reserviertheit der Elfe, konnte sich aber keinen Reim darauf machen und ging deswegen darüber hinweg. „Seid gegrüßt, Eure Hochgeboren von Rodaschquell“, ging sie mit herzlicher Stimme auf die Elfenbaronin zu und verbeugte sich elegant in angemessener Weise. „Ich bin überrascht, aber sehr erfreut, Euch hier zu treffen.“ Dann trat sie zunächst wieder einen Schritt zurück, um das Feld den Rabensteinern zu überlassen.  „Ihr befindet Euch wohl, Hochgeboren?“ Der alte Baron neigte seinen Kopf zur Begrüßung vor der Herrin von Rodaschquell. Die Distanz in Lianas Augen kommentierte er nicht – vielleicht auch, weil sie ihm nichts Neues war. Viel hatte er bereits mit der Herrin vom Rodaschquell zusammen erlebt, doch sie wirklich und auf eine Weise, wie dies mit menschlichen Standesgenossen möglich war, zu kennen, das würde er nicht als Aussage beanspruchen. Schnell hatte sich Liana wieder gefangen. Es war ihr unangenehm, dass der Rabensteiner sehen konnte, dass sie im Affekt innerlich zunächst hatte zurückweichen müssen, da er sie so überrascht hatte. Sie blickte kurz und mit einer gewissen Verlegenheit zu Boden. Es hatte nicht in ihrer Absicht gelegen, ihn in diese zweifellos unangenehme Situation zu bringen. Und dennoch: Viele Gedanken kamen ihr in den Sinn, wenn Sie den Herrn von Rabenstein betrachtete, und viele davon waren durchaus von ambivalenter Natur. So lange kannten sie einander schon, und mehr als jeder andere Adlige ließ er sie allein durch sein Auftreten gewahr werden, dass er alterte. Dass die Menschen alterten. Er hatte sich sehr verändert. Nicht bloß optisch, nein, vielmehr innerlich. War in den vergangenen Jahren noch schweigsamer und verschlossener geworden, zynischer gar. Und wenn man das Talent des Rabensteiners bedachte, sich ausgesprochen häufig in missliche und sehr gefährliche Situationen zu bringen, konnte es kaum verwundern, dass die Rodaschquellerin instinktiv zurückschrecken musste.   „Sie ist leicht zu erschrecken”, hatte er einmal über sie gesagt. Nun, vielleicht mochte er damit sogar recht haben … . Und doch hatte er es immer verstanden, ihr auf seine ihm eigene Weise Achtung entgegenzubringen. Sie sah den Rabensteiner freundlich und offen an und beantwortete seine Frage. „Durchaus, Euer Hochgeboren. Ich war nur etwas ... in Gedanken und muss gestehen, dass Ihr mich überrascht habt.” Sie hielt ihm die Hand entgegen. Der ergriff sie, das schwarze, glatte Leder seiner Handschuhe kühl auf ihrer weichen Haut, und betrachtete ihre feine Hand und die schlanken Finger einige Herzschläge lang - die doch durch das Leder für Liana nicht zu fühlen waren. Mit einer geschmeidigen Bewegung, die seinem Alter in den Augen eines anderen Beobachters Hohn gesprochen hätte, beugte er sich über ihre Hand und sein Atem strich als angedeuteter Handkuss über ihren Handrücken. “Lasst Euch von Schatten nicht schrecken, Hochgeboren. Ich würde dies bedauern.”  Einen Lidschlag lang streifte sein  tiefschwarzes, verbliebenes Auge ihre amethystfarbenen, eine Frage mehr als eine Feststellung, ehe er ihre Hand wieder freigab und einen halben Schritt zurück trat. Sie wollte etwas erwidern. Doch sie sah ihn nur wohlwollend an. Schweigend und nachdenklich. Ungleich herzlicher war die Begrüßung der Gemahlin des Barons, Shanija von Rabenstein. Es war offensichtlich, dass die beiden Damen recht vertraut waren. „Wir haben einander zu lange nicht mehr gesehen!”, sagte die Elfe und herzte ihre alte Freundin. „Ich hoffe, Ihr seid wohlauf. Und ich hoffe sehr, zu erfahren, wie es Madalea ergeht. Sie muss nun 15 Jahre alt sein, richtig?” Die Rabensteiner hatten viele Kinder, und die Drittgeborene, Madalea, besaß magisches Talent. Tatsächlich hatte man das Kind im Pagenalter nach Rodaschquell gegeben, und Lina hatte ich sehr dafür eingesetzt, dass das Mädchen später in Donnerbach ausgebildet wird. Eine Empfehlung, der Haus Rabenstein zu ihrer größten Verblüffung gefolgt war. Shanija von Rabenstein erwiderte die Umarmung ihrer Standesgenossin und ihre Augen leuchteten glücklich. “Ich bin rundum zufrieden, Euer Hochgeboren von Rodaschquell. Und ich freue mich über unser Zusammentreffen hier und heute. Madalea hat mir unlängst geschrieben und von ihren Fortschritten erzählte. Sie hat zum Teil noch die gleichen Dozenten wie mein Herr Vater, stellt Euch dies vor! Sie schrieb, dass auch eine Botschaft zu Euch unterwegs sei und sie so einige Fragen magietheoretischer Natur an Euch stellen wolle. Doch erzählt mir, Hochgeboren, wie geht es Euch? Ich habe gehört, Ihr habt seit Kurzem zwergischen Besuch in Eurem Lehen?” “Magietheoretischer Natur?” Liana musste lachen. “Nun, ich will versuchen, ihre Fragen zu beantworten, so gut ich es vermag. Doch weiß ich, dass die Magister in Donnerbach eine andere Herangehensweise an die Magie pflegen, als die meisten Zauberer. Eine, die dem Wirken meines Volkes recht nahe ist.” Nach einer kurzen Pause ging sie auf die zweite Frage ein. “Was die Besuche der Angroschim anbelangt, so seid Ihr gut informiert. In der Tat habe ich im vergangenen Sommer Besuch erhalten vom Oberst des Eisenwalder Garderegimentes, Dwarosch, Sohn des Dwalin, den Ihr hier ebenfalls sehen werdet. Es war ein sehr angenehmer Besuch, und seine Gefolgsleute sind eine Weile danach durch Rodaschquell gelaufen, um Karten anzufertigen.” Sie nahm einen ernsten Gesichtsausdruck an. “Ich muss gestehen, dass sie es mir angetan haben, da sie nicht nur Rodaschquell ihrer Hilfe in Zeiten der Not versichert haben, sondern zudem auch sehr schnell zur Rettung von Wolfsstein geeilt sind, um eine größere Gruppe marodierender Orks zu zerstreuen. Ich hatte das Schlimmste befürchtet. Meine Ritter hatten die Wehr Rodaschquells bereit gemacht, nachdem wir von dem Überfall erfuhren, doch die armen Wolfssteiner traf es völlig unvorbereitet, und wir hätten hier nur wenig ausrichten können. Die Angroschim waren schnell bereit, um der Bedrohung zu begegnen, und meine Dankbarkeit ist ihnen gewiss. Der Isenhag kann sich glücklich schätzen, solch treue Verbündete zu haben.” “In den vergangenen Götterläufen bin ich mehr Angehörigen des kleinen Volkes begegnet als in den zwanzig zuvor. Es ist gut, wenn die Zwerge und Menschen wieder mehr miteinander sprechen.” Sie betrachtete die Elfe aufmerksam. “Und ich habe gehört, dass die Kampfkraft der Angroschim hier im Eisenwald wirklich beachtlich sein muss. Zuhause im Kosch habe ich die Zwerge eher mit einer exzellenten Küche, außergewöhnlichem Handwerk und hervorragendem Bier in Verbindung gebracht.” Sie lächelte. “Für die armen Wolfssteiner war der schnelle Einsatz dann wahrlich ein Segen. Der Oberst  hat vor einiger Zeit auch Rabenstein besucht und sich mit meinem Gemahl über die Erstellung einer Karte unterhalten - seine Zwerge waren dann wohl einigemale in Rabenstein, doch bin ich ihnen damals nicht begegnet. Ich denke aber nicht, dass es nur die Pflicht war, die ihn nach Rabenstein brachte.” Ihre Augen funkelten vergnügt. “Er hat unsere Borongeweihte aus Calmir dazu bewogen, nach Senalosch überzusiedeln. Und unser Tempel in Calmir steht nun seit über einem Götterlauf wieder leer.”  Was ihrem Gemahl nicht schmeckte, auch wenn er diesbezüglich keine Silbe verloren hatte. “Habt Ihr eigentlich Geweihte der Zwölfe in Rodaschquell, Euer Hochgeboren?” “Oh ja, die haben wir. Schwester Mirawanda ist eine Dienerin der Peraine und kümmert sich um den kleinen Tempel am Ostende von Kelnen, dem Hauptort Rodaschquells, der gleich unter der Burg liegt. Aber sie spricht nicht von einem “Tempel”. Das sei ihr viel zu feierlich und klinge nach großen Hallen mit mächtigen Säulen.” Die Elfe lachte heiter. “Nein, sie nennt das kleine Gebäude “unser aller Kräuterhaus”, denn sie pflanzt dort im Garten allerlei an. Und sie hat immer einen guten Rat oder ein paar warme Kräutertees parat. Sie ist auch oft auf der Burg und sieht nach dem Garten, den wir dort haben. Ich mag sie gern.” Sie überlegte kurz und fuhr dann fort. “Es gibt zudem eine Hesindekapelle auf der Rodaschblick. Sie ist nur sehr klein, aber dem alten Geschlecht derer zu Rodaschquell war der Glaube an Hesinde sehr wichtig. Doch die Priesterin ist seit einigen Jahren nicht mehr bei uns. Ich kann das verstehen. Wir haben uns oft unterhalten, und gerne. Doch letztlich liegt mir nur wenig an dem Eifer und dem Drang nach Wissen. Sie verließ uns. Ich glaube, sie wollte nach Elenvina. Ich vermisse die Unterhaltungen mit ihr, aber sie war einfach nicht mehr glücklich bei uns. Vielleicht ist das so ähnlich wie mit der Borongeweihten aus Calmir. Wobei es mich überrascht. Euer Gemahl ist doch diesem Gott sehr zugetan …” Die Rodaschquellerin zögerte etwas. “Und dann haben wir noch Alforon. Er ist ein Diener der Travia und kümmert sich um den kleinen Tempel am Dorfplatz in Kelnen. Wir haben nur wenig miteinander zu tun.” Es klang etwas abrupt, ja, fast ablehnend.

“Ihr mögt ihn nicht besonders, nicht wahr?” Die Rabensteiner Baronin betrachtete ihre Standeskollegin neugierig. “Aber ich weiß, dass die Priester der Herrin Travia manchesmal sehr starrsinnig in ihren Überlegungen sein können. Die beiden Priester in Calmir haben sich bei meinem Gemahl über die Borongeweihte beschwert, da diese ein liederliches Leben führe - mit Kind, ohne Mann, und ohne Absicht, sich zu verheiraten. Er hat sich damals bei ihnen für ihre Fürsorge bedankt, ihnen aber geraten, die Angelegenheiten eines anderen Geweihten der Zwölfe diesem zu überlassen, was ihnen absolut nicht schmeckte. Andererseits kann ich es ihnen nicht hoch genug anrechnen, wie sehr sie sich um den Zusammenhalt der Familie und die Harmonie in dieser kümmern. Gäbe es sie nicht, wäre viel mehr Unfrieden in unseren Landen.”  Shanjia lächelte. “Bei unserer Borongeweihten glaube ich, dass es andere Einflüsse waren, die sie zu ihrem Auszug bewogen. Und ich glaube nicht, dass es mein Gemahl für alle Zeiten dabei bewenden lassen wird. Ihr kennt ihn und wisst um seine Entschlossenheit.”   Sie schwieg einige Augenblicke, und seufzte dann. “Mögt ihr mir erzählen, was Euer Alforon tut, das euch derart missfällt?”

Heiratspolitik

Eine sehr direkte Frage. Lose Zungen waren nur zu schnell bereit, über ihre kleinen, persönlichen Dinge zu sprechen, wenn man sie nur freundlich genug fragte, doch eine solch lose Zunge war die Baronin von Rodaschquell nicht. Allerdings entsprach Shanija nicht den üblichen Adligen der Marken, die bisweilen gerne einen Vorteil aus solchen Informationen schlugen … . Sie deutete den Weg und lud die Rabensteinerin ein, ein paar Schritte mit ihr zu gehen. “Ich würde weniger von Missfallen sprechen als vielmehr von … unterschiedlichen Ansichten, die dazu führen, dass wir einander nur wenig begegnen. Ich zweifle nicht daran, dass der Priester aus voller Überzeugung handelt und davon ausgeht, das Richtige zu tun oder getan zu haben. Es war für ihn vermutlich so schwierig wie für mich. Und doch … .” Sie gingen ein wenig abseits, am Wald entlang. Vorbei an einer Gruppe von Zwergen, die sorgfältig einige Speere und Klingen mit Waffenfett behandelten und einige Armbrüste überprüften. Vermutlich eine Vorbereitung der Jagd. Der Festplatz war erfüllt vom Lachen der zahlreichen Gäste, die in kleinen Gruppen beieinander standen, vom Wiehern neu ankommender Pferde, den Rufen der Wachen und dem geschäftigen Treiben der Diener. Schließlich ergriff die Rodaschquellerin wieder das Wort. “Vor einigen Jahren besuchte mich ein Baron aus einer anderen Provinz. Er blieb eine Weile, lauschte meinen Liedern, ritt mit mir aus und schwor, schon bald zurückzukehren, was er dann auch tat. Dann war er längere Zeit  mein Gast. Es bereitete ihm Freude, hier zu sein, und auch ich war ihm zugetan. Und doch er war innerlich zerrissen. Denn schon vor vielen Jahren hatte er um die Hand einer anderen angehalten. Doch die Hochzeit schien eher der Verbindung der Häuser gegolten zu haben, und die Glut war längst erloschen. Seine Gnaden Alforon indes hielt ihm ein ums andere Mal eindringlich vor Augen hielt, dass er Verpflichtungen habe, und dass sein Aufenthalt auf Rodaschquell … nicht gut sei. Schließlich kehrte der Baron zurück in seine Heimat. Pflichtbewusst, und innerlich gram und freudlos.”

“Was für eine traurige Geschichte.”  Mitgefühl lag auf den Zügen der Rabensteinerin, aber nicht ganz so tiefe Wehmut, wie sie vielleicht ihre Standeskollegin verspüren mochte. “Selbst als Baron keine freie Wahl bei seinem Gemahl zu haben, das würde ein Gemeiner wohl nie verstehen.” Sie schwieg einige Augenblicke, für sich selbst verankert in diesem Herkommen und gewiss, dass sie zusammen mit ihrem Gemahl auch die Ehegesponse ihrer Kinder bestimmen würden, so wie dies ihr Vater für sie getan - und damit viel Weitsicht bewiesen - hatte. “Darf ich Euch eine persönliche Frage stellen?” Sie nickte. “Wie wird eine Heirat im elfischen Volk vereinbart? Ist es dort üblich, sich seinen Partner selbst zu wählen?” Ihr Vater hatte seinerzeit in Donnerbach studiert und ihr einiges über die Elfen erzählt, die er damals dort getroffen hatte - allerdings waren dies mehr Anekdoten und Berichte über die Sicht der Elfen auf Magie und die Welt gewesen, weniger Dinge über Familie und Regierung. “Selbstverständlich!” Für ihre Verhältnisse wirkte die Rodaschquellerin geradezu aufgebracht. “Die Vorstellung, eine solche Bindung einzugehen, ohne dass beide es wollen, ist für Elfen schlichtweg unvorstellbar! Diese arrangierten Pflichtheiraten, wie sie von manchen Häusern praktiziert und von der Kirche der Travia offenbar geduldet werden, sind uns Elfen absolut unverständlich. Das, was bei uns am ehesten einer Heirat im menschlichen Sinne entspricht, ist ein magisches Lied, das beide gemeinsam singen. Diese Bindung kann dann tatsächlich nur der Tod beenden.” “Eine schöne Vorstellung.” Shanija lächelte versonnen. “Andererseits erschreckt mich der Gedanke, dass sich meine Kinder ihre Ehegesponse selbst aussuchen könnten. Stellt euch vor, sie verlieben sich in eine Herumtreiber - oder einen Schurken, der nicht ihr Bestes will. Sie sind viel zu jung, um so etwas zu erkennen.” Fast hatte Liana erst fragen wollen, ob auch sie, Shanija, von ihren Eltern seinerzeit an den deutlich älteren Baron von Rabenstein verheiratet wurde, damit dieser seine Linie fortsetzen konnte. Doch sie scheute zurück. Viele Menschen schätzten eine solche Offenheit nicht und hätten diese Frage als zu privat empfunden. Und sie wollte die Baronin nicht verärgern. “Ich verstehe Euren Punkt. Doch würdet Ihr andererseits riskieren wollen, Euer Kind unglücklich zu verheiraten in dem vielleicht falschen Glauben, das Richtige zu tun? Würdet Ihr es einem Leben aussetzen, in dem die Liebe vielleicht nur als eine schöne Fassade nach außen hin aufrecht erhalten wird?” Sie schüttelte den Kopf. “Etwas so bedeutendes wie ein solcher Schwur der gegenseitigen Bindung, der ein Leben lang gilt, muss auch ehrlich empfunden werden. Sonst wäre er eine Lüge. Ein leeres, fahles Versprechen.”  Sie schluckte den Gedanken herunter, dass es ihr wie ein Hohn vorkam, einen solchen kirchlichen Schwur zu leisten und dabei die Gottheit, die man anbetete, zu belügen, wenn er nicht ehrlich empfunden war.  Shanija überlegte einige Augenblicke und wog die Argumente der Herrin von Rodaschquell. Sie neigte den Kopf, nicht ganz zustimmend. “Aber ist es nicht so, dass die Eltern ungleich mehr Erfahrung und Weitsicht besitzen - und im Gegensatz zu ihren Kindern sich nicht durch eine kurzzeitige Verliebtheit blenden lassen?” Sie schmunzelte. “Auch wenn sie fehlen können - so tun sie doch, was ihnen möglich ist. Ein Kind dagegen ist Spielball seiner Leidenschaften und kennt noch nichts vom Leben, wenn es den Ritterschlag erhält. Wieviel leichter ist es zu täuschen - oder sieht noch nicht, was notwendig und gut ist für sein Land und seine Untertanen.”   Sie neigte den Kopf. “Sagt, ist das der Grund, weshalb ihr noch unvermählt seit?” Sie runzelte die Stirn. “Oder war dies eine zu persönliche Frage? Dann möchte ich sie zurückziehen.” Eine Frage zurückziehen. Der Gedanke amüsierte die Elfe. Es war die Art der Menschen, mit dieser Floskel einer aus ihrer Sicht pikanten Frage die Schärfe zu nehmen. So, als würden sie ihr Gegenüber von der vermeintlichen Pflicht entbinden, zu antworten. Dabei war es doch ohnehin die Sache des Befragten, ob er antworten mochte oder nicht. Liana neigte ihren Kopf zur Rabensteinerin und sah sie mit einem freundlichen Lächeln an, wobei sie ihr zugleich einen seltsamen Blick zuwarf. Sie antwortete nicht mit Worten – doch ihr Schweigen war beredt. Die Frage, warum sie noch keinen „Gemahl“ hatte, mochte sicherlich schon das ein oder andere Mal Gegenstand geschwätziger Runden gewesen sein. Das war Liana einerlei. Sie musste nicht jede Neugierde befriedigen.

Ansichten und Einsichten

Ein Moment betretener Stille trat ein, als die Rabensteinerin erkannte, dass sie zu weit gegangen war – trotz aller Vertrautheit, die sie mit der Rodaschquellerin verband. Dann sagte Liana nach einer kleinen Weile: „Das Lied der Freundschaft nennen wir es. Ich war noch sehr jung, als ich es das erste Mal hörte. Mailára Tauglanz und Firánn Luchsfreund sangen es. Dort, wo die alte Weide nahe unserem Dorf in den Auen wächst, zwischen Schilf und Farn. Ich hörte es, und so jung wie ich war, spürte ich dennoch sofort, dass es etwas ganz Besonderes war. Wir singen dieses Lied nur einziges Mal. Und sein Band ist so mächtig, dass nur der Tod es auseinanderreißen kann. Und wenn einer der beiden sein Ende sieht, so folgt ihm der andere schon bald gewiss … .“ Sie blickte nachdenklich in den Himmel, während Shanija neben ihr schritt. „Nur diejenigen, die absolut sicher sind, dass sie einander ergänzen und dabei in Harmonie miteinander leben, singen dieses Lied. Daher werdet Ihr verstehen, dass dieser „Schwur“ uns nicht so leicht von den Lippen geht. Aber zum Glück haben wir keine Eile. Wir gründen keine Dynastien. Wir bekommen Kinder nicht, damit sie den Namen unserer Familie fortführen. Wir spüren keinen Druck, der umso größer wird, je mehr wir an Jahren zählen.“ „Doch ich frage mich, wie manch menschliche Eltern sich so sicher sein können, was „das Beste“ für ihre Nachkommen ist. Ich verstehe den Wunsch, sie zu schützen und vor Unheil zu bewahren. Und es mag sein, dass die jungen, unerfahrenen Menschen sich falsch entscheiden. Das ist schlimm. Aber sollten die Angelegenheiten des Herzens nicht von ihnen selbst erkundet werden? Wenn zwei Kinder verheiratet werden, weil die Eltern darin eine „gute Partie“ sehen, sie jedoch nichts für einander empfinden, sondern nur ihre „Pflicht“ erfüllen … dieser Gedanke behagt mir nicht.” Doch die Rodaschquellerin schloss mit einer Frage, die sie mit einem geradezu verschlagenen, schelmischen Blick untermalte:  “Und was ist so schlecht daran, seinen Leidenschaften zu folgen? Sind es nicht unsere Leidenschaften, die das Leben so lebenswert machen?” “Es sind aber auch unsere Leidenschaften, die großes Leid hervorrufen.” Shanija hätte noch vor gut zwei Dutzend Jahren der Aussage der Elfenbaronin vorbehaltlos zugestimmt, doch hatten sie die Jahre reifen lassen und in vielerlei Belangen Einsicht geschenkt. “Ich bereite meinen Kindern keinen Gefallen, wenn ich Ihnen einen Ehegatten gewähre, der sie schlimmstenfalls um ihren Stand, Ansehen und Erbe bringt und meine Enkelkinder zwingt, als Bürgerliche für ihr Auskommen zu sorgen. Es gilt bei einer Heirat mehr als die kurzzeitige Verliebtheit eines Kindes zu bedenken.” Sie lächelte versonnen. “Euer Volk lebt lange und hat wenige Nachkommen, Euer Hochgeboren. Doch bei meinen Kindern werde ich, so die Zwölfe es wollen, erleben, wie sich meine Enkel verheiraten - und wie sie unserem Haus Ehre angedeihen lassen - oder ihren Namen in den Schmutz treten. Letzteres würde ich meiner Familie gern ersparen.”

Sie hörte den Gemahl Shanijas sprechen, und nicht wirklich sie selbst. Pflicht, Stand, eine wie auch immer definierte Ehre ... und natürlich die Furcht, die Kinder könnten etwas tun, was den eigenen Plänen und Wünschen, die man mit ihnen hatte, zuwider lief. All das gepaart mit einem grundlegenden Misstrauen in die eigene Urteilskraft der jungen Menschen. Shanija hatte sich verändert.  Liana erinnerte sich an die Frau, die sie damals kurz vor der Hochzeit kennengelernt hatte. Ihre Herzlichkeit. Ihre Neugierde. Ihren Lebensmut. Sie hatte damals gehofft, der jungen Maga würde es gelingen, mit ihrer Lebensfreude einen Wandel in die alten Mauern von Rabenstein zu bringen. Doch letzten Endes schien sie sich … angepasst zu haben. 

Es war weder ihr Wunsch, noch stand es ihr zu, Shanija mit ihren Ansichten dazu weiter zu behelligen. Wozu auch? Und so sehr sich ihre Meinungen diesbezüglich unterschieden, so sehr vermochte sie es zumindest, die Sorge der Rabensteiner nachzuvollziehen, auch wenn sie sie nicht teilte. Nur zu gut erinnerte sich Liana an die Geschichte des alten Erben von Rabenstein, von dem es hieß, er habe sich verliebt und dann davon gemacht. Pikanterweise war es eine Elfe gewesen, die sein Herz erobert hatte. Woraufhin der alte Baron ihn enterbt und dann dafür gesorgt hatte, das neue Erben folgten. Sei's drum. Es konnte ihr einerlei sein. Sie würde die Baronin und den Baron ohnehin nicht umstimmen können.   Und doch … . Und doch hatten die Rabensteiner ihr seinerzeit Madalea anvertraut und für ihre Zeit als Pagin nach Rodaschquell geschickt, weil sie die magische Begabung ihrer Mutter geerbt hatte. Liana erinnerte sich gerne an Madalea. Ihr Lachen, ihre Freude und ihre Begeisterung über die vielen kleinen “Zauberkunststücke”, die Liana ihr zeigen oder beibringen konnte. An das Leuchten in ihren Augen, als sie zum ersten Mal einen SOLIDIRID sah. Oder ihren Eifer als Liana ihr das Spiel mit der Laute beibrachte. Ihren Sanftmut. Ihre Klugheit, mit der sie ihre Mentorin immer wieder überraschen konnte. Es hatte sie seinerzeit sehr verwundert, aber noch mehr gefreut, dass Shanija und Lucrann ihr die Erziehung Madaleas anvertraut hatten. Als dann die Frage aufkam, auf welcher Magierakademie Madalea ausgebildet werden sollte, hatte Liana inbrünstig darum gebeten, das Mädchen nach Donnnerbach zu senden. Donnerbach … jene Akademie, die den Elfen näher stand als jede andere. Welcher mittelreichische Baron hätte dem wohl zugestimmt? Lucrann wäre der letzte gewesen, der dies erlaubt hätte, da war Liana sich sicher gewesen. Und doch hatte sie sich geirrt. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung. “Sagt, Euer Hochgeboren, darf ich Euch fragen, was Ihr Euch für Madalea wünscht?” Die Elfe trat abrupt vor Shanija und brachte sie so zum Stehen. Sie ergriff ihre Hände. “Ich liebe Eure Tochter, als wäre es mein eigenes Kind. Und ich ertrüge es nicht, wenn ihr wacher Geist und ihr freundliches Wesen dem Joch einer Ehe ohne Liebe und Leidenschaft bestimmt wären.” Sie blickte Shanija tief und geradezu flehentlich in die Augen, und die Baronin von Rabenstein erkannte sofort, wie wichtig der Elfe dieses Anliegen war. Shanija sann einige Zeit nach. “Ich wünsche mir für sie, dass sie ihren Studien folgen kann und die Möglichkeit besitzt, zu lernen, was ihr Herz begehrt.” Antwortet sie schließlich. Dies umfasste schon viel für ihr fremd gewordenes Kind, dass sie vor drei Götterläufen zum letzten Mal hatte in die Arme schließen können.  Mit der Möglichkeit zu lernen gingen Freiheit und benötigte Barschaft dazu Hand in Hand - beides Dinge, die sie ihrer klugen Tochter von Herzen gönnte. “Würde es Euer Herz erleichtern, wenn wir Euch, als Ihre Gevatterin, vor der Verlobung um Eure Meinung zu ihrem Gemahl bitten, so die Zeit dafür einmal gekommen ist?”  So recht zu deuten wusste die Rodaschquellerin die Antwort zunächst nicht. Wollte Shanija sie beruhigen? Oder stellte sie sie einfach nur auf die Probe?  Sie antwortete etwas zögerlich. “Meine ... Meinung ... dazu …., nun ich wünsche Madalea alles Glück. Und ich bin davon überzeugt, dass niemand besser weiß als sie selbst, wie sie es findet - und mit wem. Und sie weiß auch, dass ich ihr immer zur Seite stehe, wenn sie sich nicht sicher ist. So, wie auch Ihr Euch dessen gewiss sein könnt.”  “Dafür danke ich euch.” Shanija griff nach einer Hand Lianas und drückte sie. “Glaubt mir, dass ich nicht wissentlich etwas tun werde, das meinem Kind schadet.”  Als Shanija davon sprach, dass sie nicht wissentlich ihrem Kind schaden wolle, hielt Liana einen Moment inne und sah ihr geradezu bestürzt in die Augen. “Nein, natürlich nicht! Und derlei würde ich auch niemals von Euch annehmen, und das wisst Ihr.” Und doch war der richtige Weg vermutlich weder Liana noch ihr selbst bekannt - und würde wie so vieles sich erst zum rechten Zeitpunkt offenbaren. “Doch ist heute ein Tag der Freude und des Feierns und nicht des Grübelns. Wollen wir Madalea ihre Studien und ihre Freude daran gönnen.Und wenn ihr dies wünscht, benachrichtige ich euch, wenn es so weit ist, ihr einen Gemahl zu wählen. Ich schätze Eure Weisheit, Liana - und Euren bedachten Rat. Wollt ihr mir diesen dann geben?” Die Rodaschquellerin fasste sich wieder. Wenn es Shanija Frieden gab, dann würde sie ihr diese Bitte gerne erfüllen. “Ich würde mich freuen, wenn Ihr und Madalea mich weiter teilhaben ließet an dem, was sie bewegt. Und wenn Ihr es wünscht, so teile ich gerne meine Gedanken mit Euch und Eurer wundervollen Tochter. Sie ist mir kostbar. So, wie auch Ihr es seid … .” “So werden wir das tun.” Shanija strahlte erleichtert und ergriff die Hand Lianas. “Ich danke Euch, Liana.” Der Rabensteinerin war sichtlich eine Last von der Seele genommen, und einen Lidschlag lang vermochte Liana zu erahnen, dass der Tanz zwischen Pflicht und Mutterliebe, der Sorge um das Auskommen der Tochter und eben genau der Sicherung desselben der Rabensteinerin einiges abverlangte. Es bedurfte keiner weiteren Worte zwischen den beiden Baroninnen. Sie sahen einander noch eine Weile an und gingen dann zurück zum Jagdhaus.

Reh und Nachtigall

Schließlich ging Liana auf die Baronin von Rickenhausen zu und nahm sie in ihre Arme in der Art und Weise, wie hochgestellte Damen sich bisweilen begrüßten, indem sie sich kurz an den Schultern berührten. „Ihr seid überrascht, mich hier zu sehen? Sollte ich dann nicht minder überrascht sein?“, fragte die Elfe mit einem heiteren Unterton.  Verwirrt ließ Thalissa die überraschende Umarmung über sich ergehen, bevor sie sie etwas zaghaft erwiderte. “Ich … ich weiß nicht? Seid Ihr es denn?” brachte sie schließlich etwas unsicher heraus? „Nein, nicht wirklich. Und Ihr solltet es auch nicht sein”, sagte die Rodaschquellerin mit einem breiten Lächeln. „Ebensowenig wie Ihr wäre ich bereit gewesen, diese wunderbare Zusammenkunft verstreichen zu lassen.” Etwas leiser fügte sie hinzu: „Und es tut gut, Euch zu sehen. Vieles, was ich an Eurer Tante schätze, finde ich auch in Euch wieder.” Erneut überrascht blickte Thalissa die Elfe an. “Wie … meint Ihr das? Ich … habe schon viel von meiner Tante gehört und wage deshalb in den meisten Bereichen nicht, mich mit ihr zu vergleichen. Zumal vieles, was meine Tante getan und erlebt hat”, die Baronin von Rickenhausen senkte ihre Stimme merklich, “dem Hörensagen nach unter größter Geheimhaltung stand und in den meisten Fällen noch immer steht.” Thalissa sprach nun wieder in normaler Lautstärke, wenn auch noch immer mit Verwunderung in der Stimme. “So habe ich also viel von Biora Tagan gehört, aber doch nicht genug, um sie vollständig erfassen zu können, und schon das wenige, dass ich weiß, reicht aus, um mir nicht anmaßen zu wollen, mich wirklich mit ihr zu vergleichen.” Andererseits hatte ihre Tante auch ein ganzes Leben Zeit gehabt, einen Ruf aufzubauen. Eigentlich müsste sie sich mit der siebenundzwanzigjährigen Biora Tagan vergleichen, doch wo war sie im Jahre 1005 nach Bosparans Fall gewesen? Was hatte sie zu dieser Zeit gemacht, was erlebt, was erreicht? War sie da nicht noch im Dienste der Draconiter gestanden? Es gab so viel, was Thalissa über ihre weitgereiste und welterfahrene Verwandte nicht wusste, aber wissen wollte. Vielleicht würde sie selbst ein ganzes Leben aufwenden müssen, um sich diesen Wunsch zu erfüllen. Liana bemerkte, wie Thalissa nach ihrer recht ausführlichen Rede in grüblerisches Schweigen verfiel, ihr Geist in weite Fernen schweifte, bevor ihr Blick wieder fokussierte und sie die Rodaschquellerin fast verwundert ansah.  Unsicherheit. Das war es, was Liana am ehesten spürte. Diese junge Baronin, die so sehr zu wissen wünschte, was das Schicksal ihrer verschollenen Tante Biora Tagan war, war unsicher, wenn es darum ging, als Baronin von Rickenhausen eben jener Tante zu folgen. Es stimmte: In gewisser Weise erinnerte Thalissa sie an eine jüngere Biora Tagan. Es war kein falsches Kompliment, dass Liana ihr gemacht hatte. Es war nicht die Art der Elfe, zu versuchen, andere mit Schmeicheleien gewogen zu machen. Sie meinte, was sie sagte. Thalissa schien ihr wissbegierig, ein wenig neugierig, und schnell mit der Zunge. Etwas zu forsch mitunter, wie auch ihre Tante, wenngleich auf eine andere Art. Wo Biora kühl und sachlich, aber unnachgiebig fragte, um Dingen auf den Grund zu gehen, schien ihr Thalissa manchmal ein wenig unbeherrscht, ja, geradezu impulsiv. Doch jetzt schien sie unsicher, verwirrt, überrascht.  “Mehrfach sagtet Ihr, dass Ihr Euch nicht anmaßen wolltet, Euch mit Biora Tagan zu vergleichen, Euer Hochgeboren.“ Sie machte einen Schritt auf die Baronin von Rickenhausen zu und sah sie ernst an. “Dabei habt Ihr Euch gar nicht mit Eurer Tante verglichen. Ich habe das getan.” Thalissa blinzelte. Diese Elfe und der übergroße Schatten ihrer Tante schafften es immer wieder, ihr die Objektivität und Gelassenheit zu nehmen, welcher sie sich sonst rühmte und welche in ihrer ehemaligen Tätigkeit als Vinsalter Ermittlerin unverzichtbar gewesen waren. Sie trat innerlich einen Schritt zurück und antwortete: “Ihr habt recht. Dann sollte ich das wohl als Kompliment auffassen. Habt Dank.” Nach einer kurzen Pause wechselte sie das Thema, auch wenn ihr eine ganz bestimmte Frage auf der Zunge brannte, doch sie wollte sich nicht schon wieder in Dinge verrennen, welche möglicherweise mit einer Enttäuschung für sie endeten. “Hattet Ihr eine gute Anreise? Die Wege hierher”, sie sah sich kurz um, ob keiner der Angroschim zufällig zuhörte, “sind ja manchmal kaum als solche zu bezeichnen. Und wie man hört, gibt es in den Wäldern Riesenspinnen!” Unweigerlich zog die Rodaschquellerin die Stirn kraus und sah so aus, als habe sie auf eine Wacholderbeere gebissen. “Riesenspinnen, sagt Ihr?” Ich habe solche Geschöpfe schon lange nicht mehr gesehen. Es ist ja auch nicht weit von Rodaschquell in die Vogteien von Nilsitz. Solange es ging, haben wir die Kutsche genommen. Ab dem Waldrand nahe dem Dorf Nilsitz dann die Pferde. Die Reise verlief ... einigermaßen ruhig.” Sie sah hinüber zu dem Bauwerk, das die Zwerge hier errichtet hatten. “Ich muss gestehen, dass ich etwas überrascht bin ob der Größe dieser “Jagdhütte”, wie der Vogt von Nilsitz sie nennt. Es freut mich, so viele Personen zu treffen, die ich zum Teil schon lange nicht mehr gesehen habe. Auch wenn ich einer Jagd nur wenig abgewinnen kann”, wie sie etwas leiser hinzu fügte. “Ja, diesen Eindruck hatte ich schon”, bestätigte die Baronin von Rickenhausen, wobei ein gewisses Mitgefühl in ihrer Stimme mitschwang. “Passt beim Festmahl auf, ich habe gehört, eine getötete Spinne soll zu einer Suppe verarbeitet werden.” Diese Bemerkung konnte Thalissa sich dann doch nicht verkneifen, doch sie lächelte dabei. Dann kam sie auf den vorletzten Satz der Elfe zurück: “Ihr kennt hier noch mehr Leute als die Rabensteiner?”  Die Elfe lächelte amüsiert. Immerhin war sie schon seit mehreren Jahrzehnten im Isenhag ansässig und hatte schon so einiges hier erlebt und viele Adlige kommen und gehen sehen. “Ja, das tue ich”, sagte sie schlicht. “Es war damals noch Kaiser Hal, der mich nach Rodaschquell berief. Das hatte für viel Aufsehen gesorgt! Ich hatte das selbst nicht so recht verstanden. Aber ich lebte schon so lange unter euch Menschen und hatte auf meinen Reisen die Gelegenheit, so manches Haus kennenzulernen, auch außerhalb der Nordmarken. Das Lehen war eine … Belohnung, wenn man so will. Reichsrat Pelion Eorcaidos von Aimar-Gor sagte mir damals, es sei der Wunsch seiner kaiserlichen Majestät, dass ich in diesen Landen lebe, gewissermaßen als Stimme meines Volkes.” Sie sah einen Moment sehr nachdenklich aus und blickte  Thalissa dann ernst in die Augen. “Ihr müsst wissen, dass es damals wieder einmal viele Unstimmigkeiten zwischen Elfen und Menschen gab. Die Lebensweise der Menschen und die der Elfen unterscheidet sich in einigen Dingen recht deutlich voneinander. Das gilt auch für die Angroschim. “ Ihre Miene hellte sich wieder auf. “Das gilt ganz besonders für die Küche. Von daher danke Euch für Eure Warnung bezüglich der Spinnensuppe. Ich hoffe, dass ich etwas für mich Bekömmliches an der Tafel finden werde, bin aber guter Dinge. Der Vogt hat alles aufs Beste organisiert. Und er wird sicher wissen, dass eine Elfe aus Donnerbach andere Kost zu sich nimmt als Spinnensuppe und Bier”. Sie beendete den Satz mit ihrem perlenden Lachen.  Thalissa fiel in das ansteckende Lachen mit ein. “Gern geschehen. - Und was Eure Kenntnis des nordmärker Adels angeht, wäre ich an einem näheren Austausch gerne interessiert”, kam die Baronin von Rickenhausen auf ihre Frage zurück. “Zumal Ihr vermutlich wie kaum jemand sonst auch die Historie dieser Lande kennt, wie Ihr eben angedeutet habt. Wann hättet Ihr denn Zeit?” “Ich bin sicher, dass wir im Laufe der kommenden Tage die Gelegenheit finden, ein wenig mehr darüber zu sprechen, Hochgeboren.”, antwortete Liana heiter. 

Von unnützem Pack und vollen Betten

„Nun mach schon!“, zischte der alte Korninger. „Sollen wir seine Wohlgeboren etwa warten lassen?“ Mit einer hastigen Geste deutete er auf den Vogt von Nilsitz. Wirkte das Pferd, auf dem er saß, schon generell unruhig, so hatte die plötzliche Bewegung Korningers noch einmal für weitere Strapazen gesorgt. Sein Diener steckte in argen Schwierigkeiten. Jedes Mal, wenn er seinem Herrn beim Absteigen helfen wollte, bewegte sich der vermaledeite Gaul wieder und schnaubte. Und je mehr die Laune des Vogtes abnahm, je stechender und ungeduldiger sein Blick wurde, desto nervöser wurde der arme Diener, und desto mehr Unruhe kam auch in das Pferd. Zuletzt war er völlig überfordert mit seinem gereizten Herrn und dem widerspenstigen Pferd. Der Ritter zu Rodaschquell saß ab, schritt auf den Elenviner des Vogtes zu, packte fest die Zügel, tätschelte den Hals des Tieres und brachte das Pferd zur Ruhe, wobei er dem Knochengerüst von Diener kurz zuzwinkerte. Der wiederum blickte den Ritter nur stumpf und ausdruckslos an und machte sich dann daran, den alten Vogt endlich vom Pferd zu hieven. Als Korninger endlich, endlich (!) abgesessen war, bedachte er seinen Helfer mit einem wütenden Blick und warf ihm die Reitergerte geradezu entgegen. Dann drehte er sich zum Vogt von Nilsitz – und setzte seine Maske auf. Das freundlichste Lächeln, die Augen geschlossen und mit einer Mine und Geste, aus der eine gewisse Ergebenheit sprachen, verbeugte sich der grantige Vogt von Rodaschquell vor seinem Gastgeber, dem Vogt von Nilsitz. „Mein hochgeschätzter Vogt von Nilsitz, Euer Hochgeboren! Welch überaus große Freude, Euch zu sehen! Seid bedankt für Eure freundliche Einladung, der zu folgen ich mir um nichts in der Welt hätte nehmen lassen wollen!“ Noch bevor der Angesprochene etwas erwidern konnte, salzte Korninger nach: Mit weit ausgebreiteten Armen neigte er seinen Oberkörper mal zur einen, mal zur anderen Seite, während er lautstark das große Jagdhaus anpries: „Und welch' ein stattlicher Bau! Da erkennt der Kenner doch gleich das solide Zwergenhandwerk!“ Abrupt wandte er sich wieder dem Angroscho zu und sagte etwas leiser mit einem fast entschuldigenden Unterton, in den sich ein Hauch von Selbstverständlichkeit mischte: „Ich darf doch hoffen, ebenfalls die Freude zu haben, die Vorzüge einer Unterbringung im Hauptgebäude genießen zu dürfen, mein lieber Vogt?“ "Wohlgeboren, es ist mir ein Vergnügen euch zu begrüßen. Leider so muss ich euch gestehen, ist eine Unterbringung in der Jagdhütte nicht mehr möglich, auch wenn ich dies ursprünglich natürlich ebenfalls für euch so geplant habe.  Drei Grafen samt Gefolge und eine Gesandtschaft des Grafen vom Schlund benötigen leider viel Platz, nicht zu vergessen die Botschafter der Bergkönigreiche.  Zusätzlich bin ich deswegen lediglich in der Lage, den Baronen ein festes Dach über dem Kopf zu garantieren." Der Vogt machte eine leicht betretene Miene. Man sah, dass ihm diese Antwort unangenehm war.  "Aber sorgt euch nicht", versuchte er gleich zu beschwichtigen, "selbst wenn ihr keine eigenen Zelte mitgebracht habt, so haben wir ausreichend hier und zum Teil schon aufgebaut. Mein Freund Dwarosch hat einige Zelte des Eisenwalder Garderegiment zur Verfügung gestellt. Und wie ich höre, ist die Stimmung im Zeltlager sehr gut. Baron und Baronin von Rabenstein haben ihre Zelte sogar deswegen der Jagdhütte vorgezogen. Ihr befindet euch dort also in überaus angenehmer Gesellschaft." Korninger drehte sich kurz weg in Richtung des Zeltlagers und zog die Nase kraus – eine Geste unmissverständlicher Enttäuschung und Verärgerung, die er seinem Amtskollegen nicht in voller Pracht offenbaren wollte.  Auf dem Zeltplatz? Wie ein einfacher Knappe? Und das in meinem Alter!, dachte der für seine Geduld nicht gerade gerühmte Vogt von Rodaschquell. Womöglich noch mit Ritter Darian zusammen in einem Zelt, was? Und was heißt hier „gute Stimmung“? Da wird dann wohl das einfache Pack von morgens bis abends saufen und grölen – das versteht man dann unter „guter Stimmung“. Nein danke, da verzichte ich gerne! Die Aussicht, in Nachbarschaft zu Hochgeboren von Rabenstein und seiner Gemahlin zu nächtigen, machte es nicht wirklich besser und überzeugte Meister Korninger kein Stück. Was soll ich denn bei dieser alten Krähe! Ist doch Sache des Rabensteiners, wenn er unbedingt den Knappen oder den großen Rittersmann spielen will, der auswärts in Turnierzelten nächtigt! Da muss ich doch nicht auch noch! Eine echte Zumutung ist das! Typisch Zwerge, veranstalten hier ein großes Gelage, kümmern sich aber nicht um ordentliche Unterbringung! Er drehte sich wieder um und wandte sich an den Nilsitzer, peinlichst darauf bedacht, dass die Maske wieder saß: „Nun, wenn das so ist... Ich verstehe vollkommen, dass es nicht einfach für Euch ist, all diese hohen Herrschaften zu versorgen. Der logistische Aufwand ist immens, und ich bewundere Eure Ruhe.“ Dann kam dem Vogt ein listiger Gedanke. „Selbstverständlich werde ich mich damit begnügen, in einem der vorzüglichen Zelte der Armee zu nächtigen, das ist ja mal ein Abenteuer! Ich hoffe, meine Gicht und die Zugluft werden mir nicht allzu sehr zu schaffen machen, da ich das Nächtigen in Zelten ja nun schon so viele Jahre hinter mir sehe, aber da werde ich mich einfach etwas zusammennehmen! Zumal ja auch Hochgeboren von Rabenstein sich trotz seines Alter nicht dieses Vergnügens beraubt wissen will und deswegen kurzfristig sogar sein eigenes Zimmer aufgegeben hat. Ein Zimmer, dass offenkundig schnell einen neuen Abnehmer gefunden zu haben scheint … ?“ Er sprach mit schmeichelnder, für seine Verhältnisse gerade zu sanfter Stimme, untermalt von einem breiten und dabei leicht herausforderndem Lächeln … . Zeit verstrich. Deutlich mehr Zeit, als für eine gewöhnliche Konversation üblich gewesen wäre. Als die Antwort dann doch noch kam, war Borindaraxs Stimmlage vollkommen tonlos.  "In der Tat, einer auswärtigen Baronin. Denn geplant hatte ich, dass nur die Isenhager Lehnsherren im Gebäude Quartier beziehen." Hier gab es kein Weiterkommen für ihn, also ließ der Vogt von Rodaschquell ab und wechselte die Taktik. Sturer alter Bock!, dachte er bei sich. Als wenn ihn das was kosten würde, seinen Amtsbruder in einer ordentlichen Stube unterzubringen anstatt ihn im Zelt neben den Soldaten versauern zu lassen oder irgendeine Auswärtige vorzuziehen. Andererseits besann er sich, dass der Zwerg von einer Baronin gesprochen hatte. Korninger seufzte innerlich. Da konnte man halt nichts machen! Vogt hin oder her: Er war nicht wirklich ein Adliger im Sinne eines Barons, sondern nur der berufene Verwalter. Daher würde selbst ein Baron aus dem verschlafendsten koscher Kaff ihm vorgezogen.   Das passte  Meister Korninger natürlich ganz und gar nicht. Aber er war Pragmatiker. Ein Choleriker zwar, weswegen ein Auskommen mit ihm sicher nicht immer leicht war, aber eben nicht nachtragend. Das war schließlich dumm und schlecht fürs Geschäft. Einmal mehr sorgte er dafür, dass die Maske richtig saß, ehe er dem Gastgeber antwortete. „Ah ... mein lieber Vogt, ich bitte um Entschuldigung.“ Korninger schloss die Augen, lächelte gönnerhaft und hob dabei die Arme. „Vergebt einem bequemen alten Geschäftsmann, dass er Euch piesackt und verhandeln will, wo Ihr doch zweifellos schon genug Scherereien um die Ohren habt, Euer Wohlgeboren. Alte Gewohnheiten legt man nur schwer ab“, sagte er mit einem abwiegelnden Ton. „Es ist Euch gelungen, viele adelige Häupter in dieser Jagdhütte, nein, diesem Jagdschloss, muss man ja eher sagen, unter ein Dach zu bekommen. Da will ich Euch nicht länger behelligen – Ihr habt genug andere Sorgen. Ich hoffe, Ihr seht es mir nach. Ich danke für Eure Gastfreundschaft und empfehle mich.“  „Wohlgeboren, ich wünsche euch einen angenehmen Aufenthalt und eine erfolgreiche Jagd.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Borax und atmete sogleich innerlich auf, diesen 'spitzzüngigen Gesellen' endlich los zu sein.  Dwarosch hatte wahrlich untertrieben mit seinen Worten zu Vogt Korninger - ‚es gäbe angenehmere Zeitgenossen.‘ Der Vogt lachte kurz auf. Oh ja, die gab es. 

Für Korninger spielte der Verlauf des Gesprächs unterdessen keine Rolle. Er hatte längst einen neuen Plan, um doch noch an ein Zimmer im Jagdhaus zu kommen. Dazu müsste er nur schnell das Spitzohr abpassen, ehe sie und ihre unverschämte Zofe sich dort häuslich einrichteten. Er war sich sicher, dass er der Baronin das Zimmer in der engen, klammen Zwergenburg abschwatzen konnte mit der Aussicht auf ein schönes, romantisches Zelt im Freien. Die dumme Gans von Zofe würde aber widersprechen und alles zunichte machen, da war er sich sicher. Also musste er versuchen, die Elfe allein zu erwischen. Mit einer Geschwindigkeit, die man dem kleinen Mann, der noch vor kurzem seine körperlichen Gebrechen erwähnt hatte, gar nicht zugetraut hätte, wuselte der Vogt quer über den Zeltplatz. Ein breites, zufriedenes Grinsen verdrängte die Maske der Freundlichkeit. Dann jedoch hielt er abrupt inne, das Grinsen verschwand, und die Augen waren geweitet. Er hatte die Baronin entdeckt ... doch dummerweise war die gerade im Gespräch mit hohen Herrschaften, also musste er warten.  „Verflixt!“, sagte er laut und schwang seinen Arm mit geballter Faust. 

Ambelmund macht seine Aufwartung

Nur wenige auf dem Festplatz nahmen zunächst Notiz vom Eintreffen des Trosses aus Ambelmund, waren doch viele Augen auf eine anmutige weibliche Gestalt, offensichtlich eine Elfe, vor dem nicht minder beeindruckenden Gebäude der Jagdhütte gerichtet. Wunnemine von Fadersberg beschleunigte den Schritt ihres Rosses, und ritt rondrianisch-schneidig mit schnell stampfenden Hufen auf dem Festplatz ein, dabei aber tunlichst darauf achtend, niemandem zu nahe zu kommen. Etliche Blicke wandten sich nun zu ihr und ihrem Gefolge um. Abrupt brachte sie ihren riesigen Rappen schnaubend zum Halten, sprang ab und reichte die Zügel an die kurz nach ihr ebenfalls vom Pferd gehüpfte junge Büttelin, um direkt mit energischem Schritt und wehendem braunen Haar auf den Vogt von Nilsitz zuzuhalten. Wunnemine hatte Borindarax bereits auf den Feierlichkeiten anlässlich der Rückkehr vom Feldzug gegen Haffax kennengelernt – wenngleich nur flüchtig, doch wenigstens so gut, um ihn hier und jetzt gleich wiederzuerkennen. Gerade tat sich vor ihm eine Lücke auf, die sie direkt zu nutzen gedachte. Hinter ihr folgte in einigem Abstand mit gemessenem Schritt Leodegar, das Gastgeschenk in Händen.  Wunnemines tiefblaue Augen suchten und fanden die giftgrünen ihres Gastgebers: „Seid gegrüßt, Euer Hochgeboren Borindarax, Sohn des Barbaxosch!“ sprach sie auch ihn zunächst auf Rogolan an, um dann in ihrer eigenen Zunge fortzufahren: „Ich freue mich, von Euch eingeladen in Nilsitz zu weilen, zu feiern und zu jagen! Ein wahres Geschenk, um alte Bande zu erneuern und neue zu knüpfen - zwischen unseren Völkern, aber auch innerhalb des Adels der Nordmarken! Und sich manch übergangener Bande und der daraus erwachsenden Rechte und Pflichten zu erinnern … .“  Inzwischen vernahm sie Leodegar wieder knapp hinter sich. Seine bloße Anwesenheit gemahnte sie, dass es nicht hilfreich wäre, das eingeschlagene Thema bereits zur Begrüßung und mit Borindarax zu vertiefen. Stattdessen lächelte sie diesen an: „Ein beeindruckendes Bauwerk habt Ihr hier geschaffen, ich bin neugierig, es von innen zu bewundern! Darf mein treuer Vogt, Leodegar von Quakenbrück, Euch mein kleines Präsent überreichen – eine Sammlung erlesener Schnäpse und Obstbrände aus Nordgratenfels, von denen ich hoffe, dass Sie Euch wohl bekommen und munden mögen!“ Der Vogt, dem zwischenzeitlich anzusehen war, dass er die anklagende Anspielung durchaus verstanden hatte, rang sich zu einem Lächeln durch und nahm das Geschenk entgegen. „Vielen Dank Hochgeboren“, begann er zunächst diplomatisch in Richtung der Baronin. „Ihr macht mir eine Freude, bin ich doch großer Liebhaber solcher Köstlichkeiten.“ Ein wenig leiser und mit bedachterem, ernstem, wenn auch nicht unfreundlichem Ton kam er auf das zuvor Gehörte zurück. „Meine Einladung an euch war keine reine Höflichkeit. Sie sollte auch Ausdruck dessen sein, dass von meiner Seite keinerlei Groll über vielleicht im Zorn vorgebrachte Worte gegenüber meinem Lehnsherrn vorherrscht. Das heißt, ich bin ausdrücklich dafür, dass wir einen guten, konstruktiven Umgang miteinander finden. Ich muss jedoch auch vorbringen, dass diese Feierlichkeiten nicht der rechte Zeitpunkt sind, um derlei Streitigkeiten auszutragen, auch wenn Graf Ghambir zugegen seien wird.  Ich mag sein Ohr haben und zum Teil für ihn in Elenvina sprechen, doch seine Entscheidungen sind seine Entscheidungen.“ Einen kurzen Augenblick kehrte Stille ein zwischen dem Vogt von Nilsitz und der Baronin von Ambelmund. Wunnemine blickte Borindarax in die Augen: „Ein konstruktiver und guter Umgang miteinander ist auch in meinem Sinne, das versichere ich Euch! Dann und wann gehört dazu aber eben auch ein offen gesprochenes Wort – ein solches muss auch und gerade unter Hochadligen immer möglich sein – besonders unter solchen, die gemeinsam gegen Haffax gezogen und nach all dabei Seite an Seite durchstandenem Schrecken zurückgekehrt sind. Ihr habt Recht – dies soll ein Fest der Freundschaft sein und nicht des Streits. Aber bedenkt auch: Wo so viel Adel zusammenkommt, ist die Politik zwar nicht immer im Vordergrund, aber am Ende doch allgegenwärtig!“  Auf Wunnemines Gesicht breitete sich ein ebenso aufrichtiges wie ernstes Lächeln aus, als sie nach einer kurzen Pause mit deutlich sanfterer Stimme hinzufügte: „Euer Hochgeboren Borindarax, bitte wisst: ich hege keinerlei Groll gegen Euch, und bedauerte es aufrichtig und zutiefst, sollte ein anderer Eindruck entstanden sein. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, wenn sich im Rahmen der Jagd die Gelegenheit ergäbe, uns bei dem einen oder anderen Trunk in einem ausführlichen Gespräch besser kennenzulernen.“  Leodegar im Hintergrund, der das Gespräch bis hier mit angehaltenem Atem verfolgt hatte, entspannte sich bei den letzten Worten seiner Herrin. Auch wenn sie gerade in jungen Jahren, als er sie kennenlernte, mit Blitz und Donner aus rondrianischem Stahl geschmiedet schien, so hatten die Jahre als Baronin (und vielleicht auch seine beratenden Worte, wenigstens ein bisschen) sie reifen lassen und mit Umsicht und Mäßigung gesegnet.  „Diese Zeit wird sich finden, Hochgeboren, davon bin ich überzeugt. Nun, da wir dies offene Wort geteilt haben und jeder seinen Standpunkt klargemacht hat, stehe ich weiteren Gesprächen offen gegenüber“, sprach Borindarax, während auch aus ihm zumindest teilweise die Anspannung wich, die die Worte der Baronin ausgelöst hatte. Leodegar nutzte die Gelegenheit, zu unverfänglichem Protokoll (sofern es ein „unverfängliches Protokoll“ in diesem Rahmen überhaupt geben konnte) überzugehen, trat nach vorne und überreichte die mitgebrachten, repräsentativ verpackten Spirituosen mit einer Verbeugung zunächst an den Vogt von Nilsitz, der diese aber direkt an einen seiner Mannen weitergab. Nach dem Abschluss dieses kleinen „Zeremoniells“ fuhr er mit Organisatorischen fort: „Ich nehme an, für uns ist Logis auf dem Zeltplatz vorgesehen, wenn ich Euch kurz mit derart profanen Dingen behelligen dürfte? Sind bereits heute wichtige gesellschaftliche Ereignisse angesetzt?“ Er hielt kurz inne.  "Selbstverständlich", entgegnet Borindarax, froh über den Themenwechsel. "In der Tat, fragt bei den Soldaten des Garderegimentes nach. Sie organisieren die Ordnung auf dem Zeltplatz und werden euch einen Bereich zuweisen. Was den Ablauf angeht: Im Laufe des morgigen Vormittags werde ich eine kleine Ansprache an meine Gäste richten. Dann dürften alle eingetroffen sein. Abends dann wird es ein Gelage in der großen Halle der Jagdhütte geben. Übermorgen wird die Jagd eröffnet.“ Wunnemine nickte Borindarax derweil in gemessener Geste zu und schritt, nach dessen Erwiderung, auf das Jagdhaus zu.  Leodegar wartete kurz, bis sich die Aufmerksamkeit des Vogts wieder ihm zuwandte. ‚Was sein muss, muss sein.‘ Es war ihr Wunsch. Und damit Befehl für ihn. In aller verbindlichen Freundlichkeit sprach er weiter, darauf hoffend, mit seiner Bitte keine erneuten Spannungen zu erzeugen: „Und wie Ihr sicher angesichts Eures Austauschs soeben erahnt, ist Ihrer Hochgeboren von Fadersberg sehr um eine Audienz beim Grafen gelegen. Ließe sich eine solche einrichten?“ "Wenn ich offen sprechen darf, so würde ich an eurer Stelle fragen, ob ihr im Anschluss an die Feierlichkeiten in Nilsitz eine Audienz in Calbrozim bekommt. Dieses Ersuchen hat sicher bedeutend mehr Aussicht darauf, positiv beantwortet zu werden, als hier, wo der Graf von seinen Standesgenossen, sowie den Botschaften der Rogmarog und des Angarok Rogmarog in Beschlag genommen wird. Ich könnte diese Bitte vortragen, wenn ihr dies wünscht." ,Das wird ihr nicht schmecken‘, dachte Leodegar bei sich, sah aber auch ein, dass er hier und jetzt wohl nicht mehr erreichen konnte. „Habt Dank für Euer Angebot, Hochgeboren! Gerne nehme ich dieses im Namen meiner Herrin an.“  Vielleicht würde sich unverhofft eine spontane Gelegenheit zum Gespräch mit dem Grafen ergeben, und ansonsten bestanden hier sicher hinreichend Möglichkeiten für Wunnemine, diese Reise nicht allein zur delektierlichen Jagd, sondern auch politisch zu nutzen. Leodegar verabschiedete sich vorerst mit einer Verbeugung von seinem Gastgeber und wies die beiden Büttel an, ihm in Richtung Zeltplatz zu folgen, nicht ohne dies seiner Baronin vorher wortlos signalisiert zu haben. Die Jahre, in denen er zunächst an Wunnemines statt bis zu deren Volljährigkeit die Geschicke der Baronie lenkte und ihr später weiterhin als Vogt diente, hatten sie zu engen Vertrauten gemacht, die sich nahezu wortlos verstanden. Leider nicht zu mehr … .

Ambelmund und Rodaschquell

Wunnemine blieb derweil neben der schlanken Gestalt, die bereits eine Weile dort verharrte, stehen. Auch wenn die Elfe sich nicht nach der Baronin umgeblickt hatte, hatten ihre spitzen Ohren längst das leise Geräusch des mit jedem Schritt bewegten langen Kettenhemds unter dem weiß-blauen Waffenrock mit dem Wappen Ambelmunds und das Knirschen, das die Reiterstiefel der Ankommenden auf dem Untergrund verursachten, wahrgenommen. „Ein beeindruckendes Bauwerk, besonders für ein Jagdhaus, nicht wahr?“ sprach Wunnemine die Elfe wie beiläufig an.  Liana sah sich nicht gleich um, sondern blickte weiter auf das Bauwerk. Ließ es auf sich wirken. In gewisser Weise schien es ihr fremd und fast ein wenig fehl am Platz, wenn sie so darüber nachdachte. Es glich mehr einer Burg als einem Jagdhaus, und das so mitten im Wald. Und doch kam sie nicht umhin, anzuerkennen, dass es von den Boroborinoi offenbar mit großer Hingabe und großem Einsatz gebaut worden war. Sie sprach aus, was sie dachte: „Der große Turm und das ganze Gebäude wirken wie ein stattliches Bollwerk, wie eine Burg. Und doch finde ich auch filigrane Kunstfertigkeit darin, wenn ihr Euch allein das stählerne Geweih über dem Portal betrachtet.“ Erst jetzt drehte sie sich langsam um und schenkte dann der Baronin von Ambelmund ein Lächeln, das zugleich Freundlichkeit, Überraschung und auch ein angenehmes Erinnern ausdrückte. „Frau von Fadersberg, wie schön, Euch wiederzusehen.“ Sie kannte die Baronin nicht gut, obwohl die Dame nun auch schon seit mehr als zehn Jahren in Ambelmund herrschte. Aber Liana hatte sie natürlich durchaus schon das ein oder andere Mal gesehen. Vor allem erinnerte sie sich gut an ihren Vater.  Ihre blauen Augen, das braune Haar, ihre Haltung ... Liana bemerkte erneut, wie sehr Wunnemine ihrem Vater ähnelte, Baron Wunnemar von Fadersberg, den Liana sehr gemocht hatte. Sie würde es unterlassen, Wunnemine zu sagen, wie sehr sie ihrem charmanten Vater ähnelte. Sie musste es schließlich bereits tausend Male gehört haben. „Ich freue mich auch, Euch wiederzusehen, Hochgeboren Morgenrot.“ Wunnemine erwiderte das Lächeln. Und entspannte sich. Die Baronin von Rodaschquell verströmte in ihrer Gestik und Sprache eine bemerkenswerte Aura des Wohlgefühls, fand sie. War das Elfenzauber? Oder einfach das weltentrückt-ätherische und entwaffnende Wesen, das ihr Volk so ausmachte? Sie begann jedenfalls zu verstehen, warum die Stimme ihres Vaters – obgleich er dies so nie zugegeben hätte und ihrer Mutter auch nach deren frühem Tod stets die Treue hielt – immer einen leicht schwärmerischen Klang annahm, wenn er ihr von den anderen Adligen berichtete und die Sprache dabei auf Liana Morgenrot kam. Wie jung sie wirkte, obgleich sie schon weit länger Baronin war als Wunnemine. Wie viele Menschengenerationen sie wohl schon gesehen hatte, bevor sie Hochadlige wurde? Sie ertappte sich dabei, wie ihre Gedanken abschweiften, während sie gemeinsam schweigend auf das Bauwerk blickten. Das elfische Wesen war tatsächlich ansteckend … . Die Baronin von Ambelmund straffte sich: „Ihr habt Recht, es ist mehr Bollwerk als Jagdhütte. Sicherheit und Zuflucht in der Wildnis, und Schutz vor weit mehr Gefahren als nur Witterung und Getier. Wer weiß, wer oder was sich in diesen Wäldern herumtreibt … .“ Sie machte eine kleine Denkpause, eher sie fortfuhr: „Neben allen Gefahren liegt in den Wäldern aber auch Wahrhaftigkeit und Treue verborgen, wie eine meiner getreuesten Edlen zu Recht zu sagen pflegt. Wo die Wildnis Mensch, Zwerg und Elf umzingelt und fordert, schweißt sie diese zusammen und es zeigt sich über kurz oder lang, aus welchem Holz diese geschnitzt sind, ja, ihr Inneres wird offenbar… . Auch wenn diese feierliche Jagd sicher nicht gar so gefährlich werden wird, ist dies dennoch ein guter Ort für eine Zusammenkunft der Völker und des Adels hier im Herzogtum… und für wahrhafte Worte.“ Wunnemine blickte noch ein kleines Weilchen auf das Bauwerk, dann wandte sie sich der Baronin von Rodaschquell zu: „Doch sagt, was gibt es Neues in Rodaschquell und im Isenhag? Habt Ihr diesen harschen Winter gut durchstanden? Aufmerksam hörte Liana ihr zu. Ihren Ausführungen über das, was einander näher bringt. Es dauerte eine Weile, ehe sie der Frage gewahr wurde … . „Oh, das will ich meinen. In den Tälern und in den Ausläufern der Ingrakuppen geht es meistens gut. Allerdings war Bergstädt eine Weile zugeschneit und nicht erreichbar. Aber das ist nichts Besonderes. Das Dorf liegt so weit in den Bergen … der einfache Pfad dorthin ist in jedem Winter unpassierbar. „Mit der Schmelze kommt das Wasser - und die Bergstädter”, sagt Vogt Korninger immer. Sie lachte. „Im Sommer freut er sich über das Erz, das die Angroschim, die dort mit den Menschen leben, mitbringen. Und im Frühjahr beschwert er sich über ihre aus seiner Sicht unverschämten Forderungen nach mehr Mehl und Wolle.” „Doch bitte, erzählt mir auch etwas über Ambelmund. Schon lange bin ich nicht mehr dort gewesen … .” Eine Spur von Schwermut und Bedauern war ihr durchaus anzumerken.   "In Ambelmund waren es unsere Siedlungen im felsigeren Südosten, tief im Tann, die diesen Winter für längere Zeit von der Außenwelt abgeschnitten waren und eine magere Zeit leiden mussten. Dafür hat es an anderer Stelle den Rotpelz mehr als sonst vor Hunger aus dem Dickicht getrieben. Den gibt es noch recht zahlreich in den Wäldern, auch wenn man meist nicht viel hört und sieht von ihm, ist er bei uns doch schon seit längerer Zeit recht friedlich. Ab und an gibt es vielleicht ein paar aufmüpfige halbstarke Goblins, die randalieren und auf die Idee kommen, die Handelspfade unsicher zu machen. Oder in den wärmeren Jahreszeiten aus dem Tann kommen, um sich an den Schafherden, die auf den Hügeln oberhalb von Tommel und Ambla grasen, zu vergreifen. Denen zeigen unsere Edlen von der Tannwacht aber recht rasch ihre Grenzen auf … ." Sie schnaubte kurz. "Naja, jetzt sind jedenfalls auch die Frühlingsfluten abgeschwollen - die haben in diesem Jahr Teile der Holzbrücke über den Ambla weggerissen und unsere Stadt kurz vom Rest der Baronie getrennt. Die Brücke sollte inzwischen aber wiederhergestellt sein … ." Wunnemine hielt kurz inne, um mit zunehmend schwärmender Stimme von den angenehmen Seiten Ambelmunds zu künden: "Bald naht der Sommer, dann ist es besonders schön in meiner Heimat: Wenn der zu dieser Zeit nicht ganz so raue Wind über die saftigen Weiden streicht, Emmer und Gerste im Wuchse stehen, die Beeren reifen und die Bienen zwischen dem duftenden Heidekraut summen, lässt es sich gut dort aushalten. Dann legen auch die Flussschiffe zahlreich in Ambelmund an, und die Flößer bringen ihre Bäume den Ambla hinab.”  Wunnemine sah nach einer kleinen Pause Liana an und fragte neugierig: “Sagt, wann wart Ihr denn zuletzt in Ambelmund? Und was führte Euch dorthin?" Der Ambelmunderin zu lauschen, gefiel Liana. Sie schloss ihre Augen und ließ die Bilder noch ein wenig wirken. Wissend, dass Wunnemine Geduld mit ihr haben würde. Fast hätte Liana sie gebeten, einfach weiter zu erzählen: Vom Lauf des Flusses, vom Rauschen der Wälder, von der Macht des Windes, wenn er durch das Haar fährt … Liana gab sich diesen Gedanken ganz hin. Die abschließende Frage der Ambelmunderin riss sie ein wenig aus diesen angenehmen Gedanken. Sie bedauerte es etwas und brauchte Zeit. “Ich fürchte, das ist schon wieder zu lange her. Doch ich erinnere mich an jeden Besuch. Ganz besonders an den ersten. Ich war damals noch eine sehr junge Baronin.” Es war Wunnemine, als lächelte die Elfe ein wenig schelmisch. “An menschlichen Jahren gemessen sicher nicht mehr ganz so jung, aber noch jung im Sinne einer Baronin.” Sie deutete mit ihrem ausgestreckten Arm einladend auf eine kleine Sitzbank, und die beiden Damen nahmen Platz.  “Euer Vater war es, der mich eingeladen hatte. Damals war noch Euer Großvater der Baron von Ambelmund, Ansgar von Fadersberg, und er konnte nur wenig mit dieser seltsamen neuen Dame von Rodaschquell anfangen.” Sie sah etwas versonnen über den Zeltplatz und in die Wälder, ehe sie weitersprach. “Sein Sohn dafür schon. Euer Vater gehörte zu den wenigen, die mich schnell in den Reihen der Adligen der Nordmarken willkommen hießen und mir sehr dabei halfen, mich zurecht zu finden.  Und wenige Jahre später waren wir mitten in der Answinkrise. Es war damals abzusehen, dass schon bald Euer Vater der Baron von Ambelmund würde, und er gehörte zu jener Schar junger Ritter, die niemals das Knie vor Answin gebeugt hätten. Er und der Baron von Kyndoch und einige andere hatten schnell die halben Nordmarken in Aufruhr versetzt - und sie überzeugten auch mich, ihre Banner zu verstärken. Eine seltsame Zeit war es.” Sie nahm sie wieder einen Augenblick, ehe sie weitersprach. “Seitdem ist es in Rodaschquell wieder friedlich. All die Sorgen mit Rotpelzen oder Schlimmerem, von denen Ihr erzählt habt, haben wir nicht. Rodaschquell ist klein, aber dafür eben auch überschaubar. Aber der wichtigste Grund für den Frieden in der Baronie sind unsere Nachbarn. Rodaschquell liegt in unmittelbarer Nähe zu Xorlosch. Die Angroschim sind etwas … eigen... , aber wir handeln mit ihnen, und sie geben gut auf alles Acht, was in den Landen über ihren Stollen und Bingen geschieht. Und kein Ork, Rotpelz oder gar Räuber wäre dumm genug, die Angroschim zu verärgern.”  Sie deutete auf den hochgewachsenen, breitschultrigen Kämpen, der gerade in ein Gespräch mit ihrer Zofe vertieft war und dann in ein schallendes, amüsiertes Lachen ausbrach. “Und dann sind da noch diejenigen, die an meiner Seite stehen. Ich habe nur wenige Ritter.  Aber es sind die besten, die ich mir wünschen kann.” Dann sah sie Wunnemine wieder direkt an. Voller Wärme und Freundlichkeit. “Eure Familie hat mich stets freundlich willkommen geheißen. Gerne möchte ich dessen eingedenk diese Freundlichkeit erwidern und würde mich freuen, wenn ich Euch einmal auf der Rodaschblick begrüßen darf. Ihr werdet sehen, der Blick auf den Wasserfall des Rodasch, wenn er die Ingrakuppen verlässt, ist atemberaubend.”

Die Elfe und die Kriegerin

Wunnemine folgte der Baronin von Rodaschquell bereitwillig zur Bank und lauschte nun ihrerseits gebannt den Worten der Elfe. Ihr Vater hatte ihr nicht viel aus diesen Tagen erzählt, auch nicht, dass ihn mehr mit Liana verband als nur das eine oder andere Aufeinandertreffen im Kreise des Hochadels. Die Ambelmunderin hatte überhaupt das Gefühl, dass ihre Gegenüber mehr Facetten ihres Vaters kennengelernt hatte als sie selbst. Viel Zeit hatten Wunnemar und sie nicht miteinander verbracht: zum Baron geworden, als sie noch ein kleines Kind war, ging er, getragen von seinem Glauben an die rondrianischen Ideale mit Haut und Haaren in seinem Dienst für die Baronie, das Herzogtum und das Reich auf. Ihr gegenüber war er ein zwar auch gütiger, aber noch mehr gestrenger Vater, zu dem sie immer aufgesehen hatte, ja, den sie glühend bewundert hatte, den sie rückblickend aber viel zu wenig kannte. Als sie noch am Hofe in Ambelmund aufwuchs, standen ihr ihre Lehrer teils näher als er, und ab dem Alter, in dem sie ihrem Vater mehr und mehr Gesprächspartner hätte sein könnte, weilte sie in Knappschaft fernab von Burg Fadersberg, bevor sein früher Tod im Jahr des Feuers ihn ihr schließlich ganz entriss. Bezeichnenderweise war die längste Phase, die sie mit ihrem Vater bewusst am Stück verbracht hatte, die, in der sie seinen in Garetien gefundenen Leichnam persönlich in die Heimat geleitete. Trotzdem oder vielleicht genau deswegen war sie ihm oder besser dem Bild, das sie von ihm gewonnen hatte, so ähnlich geworden: ihre Treue und ihr bis vor kurzem unerschütterlicher Glaube dem Herzog gegenüber, ihre Opposition zum Landgrafen, ihr Leben für ihre Aufgaben. Keine Zeit für Familie. Nur war Wunnemars Nachfolge, im Gegensatz zu ihrer, in jenen gemeinsamen Tagen bereits gesichert. Wie er wohl gewesen war, bevor er so große Verantwortung trug? Bevor er seine Frau verloren hatte? Wunnemine hatte das Gefühl, dass sie im Gespräch mit Liana mehr über ihren Vater und damit auch sich selbst lernen konnte, als sie je gedacht hätte. Wunnemine blickte in die einem Amethyst gleichenden Augen Lianas zurück, und auf ihrem Antlitz breitete sich ein ebenso warmherziges Lächeln aus: "Habt Dank für Eure Einladung. Sehr gerne werde ich dieser folgen - ich freue mich, die Schönheit Eurer Heimat mit eigenen Augen zu sehen. Und mehr von Euch und Eurer gemeinsamen Zeit mit meinem Vater zu hören ... mir ist, als würde ich ihn dadurch ... neu kennenlernen… ." Kurz schwiegen die beiden miteinander, aber es war kein peinliches Schweigen, eher eines der Eintracht. "Vielleicht lässt sich ein Besuch bei Euch bereits mit meiner Rückreise aus diesen Landen verbinden." Dann hätte diese Fahrt noch einen schönen Abschluss. Nach einer erneuten Pause drängte eine weitere Frage aus Wunnemine: "Habt Ihr noch immer enge Bande in die Kyndocher Lande, wie dereinst in den Tagen, von  denen Ihr erzähltet? Habt Ihr den neuen Baron, meinen … Vetter … Liafwin" - ihr gingen diese Worte schwer von den Lippen - "bereits kennengelernt? " Nach dem schönen Gespräch waren es keine Hintergedanken, die aus ihr sprachen, sondern reines Interesse an einer aufrichtigen Meinung. Dem feinen Gespür der Rodaschquellerin entging der plötzliche Stimmungswandel nicht, als Wunnemine von ihrem Vetter sprach. Doch die Frage der Ambelmunderin, ob sie nicht gleich nach dem Jagdausflug mit ihr gemeinsam nach Rodaschquell reisen könne, freute Liana sehr. Sie musste kurz überlegen, ehe sie antwortete.. “Liafwin … . Ich glaube, seine Hochgeboren ist noch nicht lange Baron von Kyndoch. Das ein oder andere Mal mag ich ihn gesehen haben, doch vertraut bin ich nicht mit ihm. In gewisser Weise gilt das allerdings auch für Euch. Daher seid ihr mir willkommen auf der Rodaschblick, wann immer Ihr es wünscht. Gerne mögen wir zusammen den Rückweg antreten, und ich bin mir gewiss, dass ich noch die ein oder andere gute Erinnerung an Eure Familie mit Euch teilen kann.”  "Nur zu gerne würde ich gemeinsam mit Euch direkt nach der Jagd gen Rodaschquell aufbrechen, es würde sicherlich eine schöne Reise. Ob dies möglich ist, hängt aber noch davon ab, ob ich bereits am Rande dieser feierlichen Jagd klären kann, weswegen ich ... auch ... in den Isenhag kam. Falls nicht, muss ich vielleicht noch einige Tage in dieser Gegend verweilen." Am liebsten würde sie Graf Ghambir direkt hier abpassen. Wenn es unbedingt sein musste, würde sie aber auch direkt bei diesem in Calbrozim vorstellig werden. Und nicht eher gehen, bis er ihr Rede und Antwort gestanden hatte. Und wer weiß, ob der Rückreiseweg danach nicht sogar einen noch weiteren Umweg durch diese Grafschaft beschrieb als nur den über die Rodaschblick. Mit alldem wollte sie Liana jetzt aber nicht behelligen, nicht die schöne Stimmung zwischen ihnen trüben, auch nicht mit weiteren Fragen nach Liafwin. "Lasst uns am Ende dieser Jagd den Zeitpunkt des Besuchs verabreden." Sie ließ ihren Blick über die im Frühling sprießenden Wälder schweifen. "Werdet Ihr Euch eigentlich auch an der eigentlichen Jagd beteiligen?"

Liana kam nicht umhin, zu bemerken, dass etwas sehr Ernstes die Ambelmunderin beschäftigte, und dass es zweifellos mit dem neuen Baron von Kyndoch zu tun hatte. Es war aber nicht ihre Art, andere mit ihren Fragen zu bedrängen zu Dingen, die sie nichts angingen.  Sie sah die junge Ambelmunderin geradezu freundlich-herausfordernd an, als diese das Thema auf die Jagd brachte. “So, wie Ihr die Frage stellt, ahnt ihr die Antwort bereits”, sagte sie dann mit einem Lächeln. “Ich muss gestehen, dass ich mir nur wenig aus der Art zu jagen mache, wie sie vielen Adligen offenbar Vergnügen bereitet. Ich reite gerne aus, das schon. Doch die Hatz gefällt mir ganz und gar nicht. Die Art zu jagen, die ich kenne, ist still, leise und schnell. Mein Jagdmeister in Rodaschquell, Herr Keldor, versteht sich vortrefflich darauf. Je nachdem, wie sich die Dinge für Euch entwickeln, mögt Ihr dann erwägen, ob Ihr mir die Freude bereiten wollt, mich auf die Rodaschblick zu begleiten. Dann könnt Ihr auch die dortigen Wälder, Seen und Auen kennenlernen. Ganz so, wie Ihr es wollt.”  Wunnemine bedauerte es, dass die Baronin von Rodaschquell nicht an der Jagd teilnehmen würde - nicht nur, weil diese sicher eine äußerst angenehme Gesellschaft wäre. Vielmehr stellte sie es sich interessant vor, Liana bei der Jagd zu beobachten und einen Eindruck von der lautlosen und eleganten Jagdkunst der Elfen zu bekommen, von der sie bereits so viel gehört hatte. Gleichzeitig glaubte sie aber auch, dass alleine ihre Anwesenheit, so leise sie sich auch bei der Pirsch geben mochte, diese Kunstfertigkeit zunichte machen würde. Sie quittierte die Haltung der Elfe daher mit einem verständnisvoll-ernsthaften Lächeln, das in eines des Danks für das bekräftigte Angebot überging. Sie saßen noch ein kleines Weilchen beisammen, ohne viele Worte zu wechseln, ehe sich die Baronin von Ambelmund schließlich erhob. "Habt Dank für das schöne Gespräch. Ich freue mich sehr, dieses an anderer Stelle in diesen Tagen fortzusetzen." verabschiedete sich Wunnemine schließlich, mit der festen Absicht, dies auch geschehen zu lassen.

“Euren Dank erwidere ich mit Freuden. Habt eine gute Zeit hier”, sagte Liana. Sie blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen und ließ das Treiben auf dem Platz an sich vorüberziehen … .