Nilsitz Jagd Abschied

Kapitel 21: Abschied von der Jagdhütte (8.-10. Ingerimm)

Abschied von der Jagdhütte

Noch ehe die Sonne aufging, gab es Bewegung im Zelt der Altenberger. Die Doctora Maura von Altenberg trieb ihre Familie und ihre neuen Begleiter zur Eile an. Aufregend waren die letzten Tage und sie war sehr zufrieden. Wie es schien, machten sich ihre Verwandten guten Namen im Adel und sie selbst konnte interessante Verbindungen knüpfen. Von Baroninnen zu einem Treffen geladen zu werden ist nicht das alltägliche bei der Familie Altenberg. Doch Eile war geboten, denn sie selbst organisierte eine Brautschau, die Brautschau ihrer Familie in Herzogenfurt. Kaum brach die Morgendämmerung an, waren sie alle schon auf den Pferden in Richtung Elenvina. Belustigt beobachtete sie die Jüngeren. Ihr Sohn Elvan schien ordentlich getrunken zu haben und saß wie ein Häuflein Elend auf seinem Pferd. ´Gut so mein Junge, genau so werden Kontakte geknüpft´, dachte sie bei sich. Ihr ist auch nicht entgangen, dass ihre Nichte Gelda erst mitten in der Nacht ins Zelt gefunden hatte. ´Jagdkönigin, wer hätte das gedacht´. Den Stolz den sie spürte ließ sich kaum verbergen. Auch sie mußte ordentlich gefeiert haben und das hatte sie sich auch verdient. Aus dem unschuldigen Mädchen war in den letzten Tagen eine Frau geworden. Auch wenn nicht alles gut gelaufen war auf dieser Feier, war Mauras Stimmung ungetrübt. Der Fehlgriff, den ihr Schwager ihr angedreht hatte, der Söldner Oren, hatte bekommen, was er verdient hatte. Umso glücklicher war sie, dass die drei die Rückreise nicht alleine antreten mußten. Nivard von Tannenfels und die Gauklerin Doratrava hatten sich ihnen angeschlossen. Die eine als Unterhaltung für die Brautschau, der andere als Begleitschutz der Reisenden. Noch bevor die Jagdhütte von Nilsitz am Horizont verschwand, hielt sie noch einmal inne und atmete die frische Bergluft tief ein. ´Wir werden uns wiedersehen´, verabschiedete sie sich innerlich mit diesen Worten von Nilsitz.

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Während Doratrava darauf wartete, dass die Altenberger Reisegesellschaft aufbruchsbereit war, kaute sie sinnend auf einem Kanten Brot, ihrem einzigen Frühstück bisher. Sie hatte sich heute in aller Frühe mühsam aus den Decken gequält, um eine Chance zu haben, dem Vogt Borindarax (ha, sie konnte sich nun sogar seinen Namen merken!) nochmals ihre Aufwartung zu machen. Tatsächlich hatte dieser sie nochmals empfangen, und sie hatte ihren Dank ausgedrückt für die Einladung, für die Gelegenheit, ihre Kunst vor solch erlesenem Publikum zeigen zu dürfen, für die schöne Feier, die großartige Jagd, die sie sogar zur Jagdköngin gemacht hatte und für das Glück, hier neue Freunde gefunden zu haben. Auch an die Wegelagerer, die sich "Kopfgeldjäger" schimpften, musste sie denken, nun, da ihr Weg sie weg von der Jagdhütte und wieder hinein in den dunklen Wald führen würde. Doch diesmal war sie nicht allein, sie war bei ihren Freunden, bei Gelda und Nivard. Nur Rondradin konnte sie noch nicht begleiten, da dieser zu dieser anderen Feier mit den Zwergen reiste, diesem "Donnergrollen" oder wie sie das nannten. Doch der Geweihte wollte später noch zu ihrer Reisegruppe stoßen, und wie sie ihn kannte, würde er das auch tun. Szenen der letzten Tage liefen nochmals vor ihren Augen ab: wie sie Nivard kennengelernt hatte und fast im gleichen Zuge die rothaarige, blutjunge Gelda. Wie sie zu dritt für die Jagd geübt hatten, mit Nivards "Schubkeiler", und darüber zu Freunden geworden waren. Das bizarre Gespräch mit der Rahjageweihten. Ihr Auftritt, ihr Tanz in der Halle der "Jagdhütte" vor all dem adligen und hochgestellten Publikum. Der Rausch der Sinne, so schön und bittersüß, mit der Elfenbaronin Liana, so jäh unterbrochen von ihrer schnippischen ("niederhöllisch" oder "namenlos" verbot Doratrava sich zu denken, das ging zu weit) Zofe Eduina. Ihre Flucht in die Kälte der Nacht und fast in die Arme und in das Zelt Geldas. Die Jagd am nächsten Tag, der Kampf mit dem Schröter, der schmerzhafte Triumph über das riesenhafte Tier. Wie Gelda sie zurück zur Jagdhütte gebracht hatte, wie sich erst der zwergische Arzt, dann die Magierin Shanija von Rabenstein, Maura von Altenberg und schließlich die Rahjageweihte Rahjania um sie gekümmert, ihre Verletzung geheilt hatten, damit sie ihren zweiten Auftritt beim Bankett absolvieren konnte. Die Krönung zu Jagdkönigen zusammen mit Gelda, Nivard, Borix und Tharnax. Das Bankett selbst, welches sie nur als Zuschauerin hatte beobachten können, da sie vor einer Vorführung nichts essen und nicht viel trinken konnte. Dann die Vorführung als brennender Vogel der Nacht, der tosende Applaus der Menge. Das Gespräch mit dem Vogt, dann die Suche nach dem Bad - nur um dort die blinde Geweihte des Boron zusammen mit einem haarigen, nackten Zwerg, von dem sie nur die Rückfront gesehen hatte, vorzufinden. Doratrava musste schmunzeln bei diesem letzten Gedanken, wenn auch in jenem Moment die Enttäuschung, kein Bad nehmen zu können, groß gewesen war. Da kamen Nivard und Gelda um die Ecke. Sie stand von der Bank, auf der sie gesessen hatte, auf, schnappte sich ihre nicht sehr schwere Tasche mit ihren wenigen Habseligkeiten und eilte lächelnd auf die beiden zu. Zeit aufzubrechen, zu neuen Ufern und neuen Abenteuern.

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Obgleich die Nacht fast keine gewesen war, war Nivard früh aufgestanden, seine Sachen zu packen und sich und sein Ross marschbereit zu machen - die Altenberger sollten keinesfalls auf ihn warten müssen. Alles fühlte sich ein wenig merkwürdig an - ein Kater, der nicht nur vom zunächst feuchtfröhlich durchzechten Abend rührte, sondern auch und noch vielmehr von der nahezu rauschhaften Folge an Erlebnissen während der zurückliegenden Tage: mit Elvan einen Freund wiedergetroffen, in Doratrava und Gelda neue Freunde gefunden, an letztere sein Herz verloren und in kürzester Zeit erfahren, wie eng Glück und Leid, Hoffen und Bangen in Rahja zusammenliegen können, von einem Riesenkäfer niedergeworfen und doch Jagdkönig geworden. Und viele gute Gespräche geführt, mit Menschen und Zwergen, hochrangigen Adligen ebenso wie einer verschüchterten Knappin. Er würde eine Weile brauchen, all diese Eindrücke zu verarbeiten. Aber jetzt hatte er erstmal einen Auftrag. Eigentlich zwei. Einen echten, nämlich die Familie von Altenberg nach Elenvina und dann weiter nach Herzogenfurt zu geleiten. Und einen, hinter dem er eher eine Falle vermutete, als eine wahre Mission: Wunnemine von Fadersberg hatte ihm vorhin noch eine gesiegelte und wetterfest verpackte Schriftrolle übergeben, die er seiner Mutter in Herzogenfurt zu überbringen hatte. Ihr merkwürdiges Lächeln und die Art, mit der sie ihm viel Glück bei dieser und den folgenden Aufgaben wünschte, ließen ihn nichts Gutes ahnen. Er tröstete sich damit, dass er dank seiner Begegnung mit Gelda nicht als willfähriges Lamm dorthin und in die Hände seiner Mutter reisen würde, sondern an jenem Ort, an dem viele der noch verworrenen Fäden zusammenzulaufen schienen, in eigener Herzenssache das Heft in die Hand nehmen würde. Auf einer Bank vor sich sah er Doratrava sitzen. Rasch schritt er auf sie zu und wollte sie gerade begrüßen, als von der anderen Seite Gelda des Weges kam. Gelda, die er gestern Nacht, auf der Höhe ihres Glücks als frischgekrönte Jagdkönige, so gerne nochmals gesehen hätte, nachdem er Elvan in die Obhut seines Lagers übergeben hatte. Wo war sie nur gewesen? Er spürte den Impuls, sie genau danach zu fragen, schluckte diesen jedoch fürs hinunter. Nicht hier, nicht jetzt. Stattdessen lächelte er beide still an und freute sich lieber darüber, sich nicht von ihnen verabschieden zu müssen, sondern ihre gemeinsame Geschichte um weitere Wochen fortzuschreiben. Und vielleicht noch viele mehr.

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Nachdenklich sah Wunnemine dem jungen von Tannenfels hinterher, dem sie gerade, wie vorgestern vereinbart, ihr Schreiben übergeben hatte. Ja, sie hatte es seiner Mutter versprochen, ihren Sohnemann auf diese Weise nach Herzogenfurt zu senden. Die eigentlich nichts anderes als eine abgekartete List war. Und die er mutmaßlich auch durchschaute. Sie hoffte, dass der junge Mann im Dienst an seinem Haus und damit am Ende auch ihrer Baronie sein Glück fand. Oder ein Glück fand, das auch seiner Familie diente. Die Götter mochten es fügen. Vielleicht würden sie dies auch in ihrem Falle irgendwann tun. Während sie auf Leodegar wartete, der gerade Chrodegang und Abarhild zur Eile antrieb, wollten sie heute doch noch eine gute Etappe gen Senalosch zurücklegen, gingen der Baronin von Ambelmund nochmals die zurückliegenden Tage durch den Kopf. Hatte sie vor allem die Politik und ihr Groll auf Ghambir hierher getrieben, so blieb ihr Tänzchen mit dem Grafen am Ende doch nicht der tiefschürfendste Eindruck, sondern vielmehr die Begegnungen und neu geknüpften Beziehungen, auch und gerade außerhalb von Nordgratenfels, sowie die Einladungen, die sie auch einzulösen gedachte, versprachen sie doch, dass jene fortlebten. Denn Beziehungen waren das, was nicht nur sie dringend benötigte. Die Dinge waren in Bewegung. In diesen Wäldern, wie die Begegnung mit dem Troll zeigte, ebenso wie andernorts in den Nordmarken, und vielleicht sogar in ihren Ländereien.

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Als Borix in seinem Zelt aufwachte und versuchte seine Augen zu öffnen, stellte er fest, dass da irgendwas seine Lider festhielt und am Öffnen hinderte. Und dann war anscheinend auch noch direkt nebenan ein Schmied eingezogen, der schon die ganzen Zeit laut auf seinem Amboss herum hämmerte. Also noch einen zweiten Anlauf: Augen auf - nein - immer noch nicht. Nachdem er sich das Ganze noch einige Male vorgenommen hatte, klappte es und die Augen waren auf, allerdings ließ das Hämmern nicht nach. Und es kam nicht von nebenan, sondern es kam aus seinem Kopf. Was machte es nur dort? Und wie kam es da hinein? Nach und nach dämmerte es ihm so ungefähr, was er am letzten Abend nach der Kür zum Jagdkönig alles zusammen mit Tharnax gebechert hatte. Anscheinend muss sich da wohl mindestens ein schlechtes Bier befunden haben. Also die Füße aus dem Bett geschwungen … die Füße langsam aus dem Bett geschwungen und dann irgendwie aufstehen. Das ging, mehr schlecht als recht. Bevor er sich irgendwo anders blicken lassen wollte, musste er zuerst zu Tharnax um sich zu erkundigen. Zum Glück war er ja noch angezogen, daher konnte er sich mehr oder weniger schnell zu Tharnax Zelt begeben. Oder besser dahin wo sein Zelt und das seiner Männer einmal gestanden hatte. Vollkommen verdattert blieb Borix stehen und starrte auf das Bild, dass sich ihm bot. Auf einem Lager mitten auf der Wiese lag sein Freund und schnarchte. Das Zelt, welches letzte Nacht noch über Tharnax gewesen war, lag inzwischen ein paar Schritte abseits, ordentlich zusammengelegt. Die Männer des Bergvogts, allesamt Krieger der Hämmer von Arxozim, verschnürten gerade die Stangen und machten alles reisefertig. Die Ponies standen bereit beladen zu werden. Als die acht Gerüsteten Borix bemerkten und die Art und Weise wie dieser mit offenem Mund auf Tharnax starrte, zuckte der Nächststehende nur mit den Schultern und grinste. “Der Vogt von Nilsitz wird in einem Stundenglas aufbrechen”, kommentierte er in einem fast entschuldigendem Ton. “Wir dachten wir gönnen Meister Tharnax so viel Schlaf wie möglich.” Die anderen lachten. Doch es war keineswegs hämisch, sondern klang für den Veteranen nach echter Kameradschaft, zu der auch solche Scherze gehörten. Borix fiel die Kinnlade runter. “Was in einem Stundenglas? Bei Angroschs Klöten! Ich muss doch auch noch packen. Und Murla einen Brief schreiben. Und … verdammt … wie soll ich das alles nur schaffen? Und hört doch mal auf hier herum zu hämmern!” Mit einem Stöhnen und der Rechten sich den Kopf haltend, machte er auf der Stelle kehrt und ging zurück zu seinem Zelt und begann seine Sache zusammen zu kramen und in die Satteltaschen zu stopfen. Dann machte er sich auf die Suche nach den Wachen, die ihm bei seiner Ankunft das Pony abgenommen hatten. Tatsächlich Begriff der Zwerg, dass die so emsig auf dem Platz umherwuselnden Soldaten des Garderegimentes dabei waren ihre Lager abzubrechen. Beaufsichtigt wurden die routiniert ablaufenden Arbeiten von Boringarth, dem Adjutanten des Oberst. Dwarosch selbst war nirgends zu sehen. Auf Nachfrage wurde Borix umgehend sein Pony gebracht, satt und zufrieden, wie der Bergvogt feststellte. “Habt Dank!” freute sich der alte Zwerg. “Das habt ihr gut gepflegt, aber bevor ich mit euch reite, habe ich noch eine Bitte: Ich muss noch einen Brief nach Ishna Mur schicken. Aber dazu brauche ich nicht nur einen Boten, der den Brief dorthin bringt, sondern zuerst mal Pergament und einen Stift.” Fragend blickt er die ihm nahe stehenden Soldaten an. Der Soldat nickte dienstbeflissen in Richtung des Bergvogtes. “Sehr wohl Meister Borix. Ich werde euch sogleich Gewünschtes aus dem Kommandozelt bringen lassen”, bestätigte der uniformierte Angroscho und wandte sich mit eiligen Schritten ab. Nachdem man ihm Pergament und einen Stift gebracht hatte, ließ sich Borix neben seinem Pony im Gras nieder und begann in sorgfältigen Rogolan-Runen zu schreiben: “Norgamasch Murla, eigentlich wäre ich jetzt schon fast auf dem Weg nach Hause. Aber Du weißt wie es so ist, manchmal kommt irgendwas dazwischen und dann ist es wieder anders. So auch heute, denn Borindarax hat noch nach Senalosch eingeladen und da dachte ich, dass ich die Gelegenheit nutze und mit ihm reise. Und außerdem kann ich Boram einen Besuch abstatten. Also warte noch ein wenig auf mich, ich komme dann wenn ich in Senalosch fertig bin. Oh, meine Liebe, bevor ich es vergesse, ich soll Dich von Tharnax grüßen. B.” Dann faltete er das Pergament zusammen und gab es einem der wartenden Soldaten. “Bring es nach Ishna Mur und gib es dort der Herrin Murloschtaxa.” Dann lud er seine Sachen auf das Pony und machte sich bereit mit dem Vogt nach Senalosch aufzubrechen.

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Nach dem Schmerz fühlte er nur innere Leere. Geschunden mit schweren Blessuren, geschwollen Gesicht und einigen gebrochenen Rippen lag der Söldner Oren in einem dunklen Raum. Die Verletzungen waren so schwer, dass es Tage, vielleicht Wochen dauern würde, bis er sich wieder bewegen konnte. Und dann mußte er den Ort der Ungerechtigkeit verlassen. ´Oh ihr Götter, was ist nur geschehen? Womit habe ich diese Schmach und Strafe verdient?´. Diese Frage schwirrte ihm im Kopf herum. Noch nie hatte er sich einer Frau unwissentlich genähert. Doch was war hier geschehen? Hatte er wirklich die Zeichen dieser Geweihten falsch gedeutet? Und warum hatte sie sich ihre Robe zerrissen? War der Sturz nur eine Finte? All die Fragen die er hatte würden wohl nie beantwortet werden. Die sturen Zwerge hatten ihm jedwede Möglichkeit für Erklärungen und Antworten verweigert. Die Zeit verging elendig langsam und er verlor das Gefühl für die Zeit. Bis auf den Diener, der ihn fütterte und wusch, bekam er niemanden zu sehen. Und selbst dieser sprach kein Wort mit ihm und betrachtete Oren hasserfüllt. Mit der Zeit füllte sich die Leere mit Wut. Wie konnte es sein, dass sich niemand für ihn interessiert hatte? Wie konnte ein Korgeweihter es zulassen, ihn als Söldner in einen Kampf zu schicken, der von Anfang an nie ein ´guter Kampf´ sein konnte? Warum hatte diese Borongeweihte ihn tot sehen wollen? Warum hatte sich seine Auftraggeberin nicht blicken lassen? Und diese Maraskanerin, Oren war sich sicher, dass sie gesehen hatte, was passiert war, warum hat sie geschwiegen? Selbst der Rondrageweihte und die Rahjageweihte hatten sich nicht blicken lassen. Wo war da die Gerechtigkeit? Mit der Zeit wußte er die Antworten. Natürlich konnte ein Zwerg die Lehren des Kor nicht verstehen. In ihrer eigenen Dummheit beteten sie Angrosch an, ohne zu sehen, dass es eigentlich der Herr Ingerimm war. Zwerge waren eben keine Menschen und sahen nur, was sie sehen wollten. Kor war kein Gott der Zwerge. Diese Boroni spielt ein falsches Spiel. Machte mit einem Zwerg unnatürliche Dinge, ließ sich aber von anderen Männern ein Kind machen. Wahrscheinlich war es ihr peinlich, bei ihren Machenschaften beobachtet zu werden. Und diese Rahjageweihte und die Maraskanerin deckten sie. Frauen hielten halt zusammen. Was war auch schon das Leben eines einfachen Söldner wert? Die Altenberger Schlampe war auch kein Deut besser. Nur auf sich und ihren Ruf bedacht. Ja, so schnell wurde man dann fallen gelassen. Allein, ja, er war allein. Niemand kümmerte sich um sein Wohl, seine Seele. Kein Mensch, kein Gott. Warum hatten sie ihn nur am Leben gelassen? Sollte das Gnade oder weitere Strafe sein? Oren verzweifelte in der Dunkelheit. Bis eines Nachts, oder war es Tags, er eine Stimme hörte: “Du bist nicht allein” zischte es. “ Mach dir keine Sorge Oren, ich werde dir zur Gerechtigkeit verhelfen”. Als er versuchte, zu erkennen, wer mit ihm sprach, sah er zwei funkelnd-glühende Augen, die ihn betrachteten. Als der Söldner zur Antwort ansetzte, huschte der Schatten mit den Augen auf ihn zu und umfing ihn mit einem wohligen Schlaf. Als Oren Rasch wieder aufwachte, fühlte er sich zufrieden. Trotz all des Schmerzes und Enttäuschung hatte er nun Gewissheit. Eines Tages würde er zurückkehren. Sollten sie erst einmal seinen Namen vergessen. Aber er, der Verstoßene, würde ihre Namen niemals aus seinem Gedächtnis löschen. Und Oren wußte, er würde nicht alleine sein, seine Rache zu vollziehen.

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Der Zug ins Dorf zu einem Dienst im Kortempel und anderem Kram, der die Angroschim interessieren mochten, was abgezogen und nur wenige waren noch in der Jagdhütte. Der zweite Faden... Rahjania ging zu dem nächstbesten Angroschim in der Jagdhütte, der aussah, als würde er sprechen können und blickte ihn streng an. “Wer ich bin, denke ich, wisst Ihr. wer Ihr seid, interessiert mich derzeit noch nicht, aber ich will wissen, wo der Söldner Oren ist. Ich möchte ihn sprechen.” Der Zwerg sah die Rahjageweihte eine zeitlang verblüfft an. Es schien, als müssten ihre Worte erst zu ihm durchdringen. Dann jedoch lief er auf einmal rot an und seine Miene verfinsterte sich zusehends. “Mich interessiert noch viel weniger wer ihr seid”, entgegnete er. Damit hatte er anscheinend auch schon alles gesagt, was für Rahjanias Ohren bestimmt war. Die folgenden, harschen Worte in stark akzentuiertem Rogolan waren für die Geweihte vollkommen unverständlich. Sie konnte sich aber denken, dass es keine Schmeicheleien waren, die der Soldat vorbrachte. Typisch, unter allen Angroschim, die Wache hielten, musste sie einen wohl untergeordneten Trottel ohne Manieren treffen. Sie bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick und einem Schwall melodisch-exotischer Worte, die trotz ihres Wohlklangs sicher eine sehr düstere Bedeutung hatten. Stolz drehte sie sich um, ohne den Wicht weiter zu beachten. Es mussten doch noch Männer anwesend sein, die man nach dem Söldner fragen könnte... Es war der Vogt höchstselbst, den Rahjania erblickte. Borindarax marschierte gerade mit Boringarth, dem Adjutanten des Oberst an seiner Seite durch die Hohe Halle. Die Zwerge schienen sich angeregt zu unterhalten, jedenfalls nahmen sie von dem Gemecker und Gezeter keinerlei Notiz. Die wenigen Worte, die die Geweihte aufschnappen und verstehen konnte, verrieten ihr, dass sich das Gespräch um den Aufbruch und die Rückreise nach Senalosch drehte. Irgendwie ahnte sie, wohin es führen würde, aber sie wäre in Fasar hure geworden, wäre sie nicht mit einem gewissen Willen, Hartnäckigkeit und einem dicken Fell ausgestattet gewesen. Sie lächelte freundlich, immerhin hatte Borax mit seiner Auserwählten tanzen dürfen. “Vogt, darf ich Euch kurz stören? Ich würde gerne mit dem verdroschenen Söldner sprechen. das wird doch möglich sein, oder?” “Nein”, entgegnete der Vogt energisch und schüttelte dabei den Kopf. “Ich habe Befehl gegeben niemanden zu ihm vorzulassen. Ich bedaure, dass gilt auch für euch. Der Gefangene wird nach dem Ende des Donnergrollens nach Senalosch überführt werden, um dort vor den beiden Hochgeweihten des Angrosch und des Ingerimm im Tempel der Schätze des Allvaters einen Eid abzulegen. Sollte er sich frei sprechen von jedweder Rache, so wird er frei sein. Wird er sich weigern, oder sollte Zweifel an seiner Aufrichtigkeit bestehen, so wird er sterben.” Sie hatte mit so einer Reaktion gerechnet, dennoch war sie kurz sprachlos ob dieser Verdrehung und willkürlichen Auslegung des Rechts. „Ach so. Ich dachte, seine Schuld, die sowieso nie bewiesen und sogar von dem Opfer unklar angegeben wurde, sei durch diese Prügelei abgeglichen? Und dass ihn niemand sprechen darf, das ist mir auch neu. Wahrscheinlich ein hiesiger Brauch, oder?“ Sie wartete die Antwort nicht ab sondern schon noch eine Frage hinterher. “Rahja scheint unter dem Berg wenig Platz zu haben. Wie sieht es denn mit Ingrimms anderen Geschwistern aus ? Praios, Efferd, Firun, Boron.. um nur einige zu nennen. Lehrt man über sie? Verehrt man sie?“ “Nein”, war die trockene Antwort. Eine andere gab es nicht, denn sie entsprach der Wahrheit. “Die Angroschim, die um den Angbarer See leben, in Ferdok, sie Verehren Travia. Unsere Brüder, die dem Amboßgebirge entstammen Rondra und Kor. Doch steht dieser Glaube immer hinter dem an den Allvater zurück. Die anderen ‘Geschwister’, so wie ihr sie nennt, haben bei uns keinerlei Bedeutung. Wir leben seit Jahrtausenden gut ohne sie.” Dann seufzte Borindarax und fuhr in anderer Sache fort. “Ich habe weder Zeit noch Lust auf eine Diskussion mit euch Hochwürden, also versuche ich mich betreffend eurer zuvor getätigten Fragen klar auszudrücken. Ich nehmen an, dass ich euch falsch verstanden habe und ihr meine Entscheidungen entgegen meiner Wahrnehmen nicht anzweifelt. Ansonsten müsste ich daraus schließen, dass ihr meine Autorität anzweifelt. Dem ist nicht so, richtig?” Boringarth, der die ganze Zeit ruhig neben dem Vogt gestanden hatte, spannte sich nun ob der Worte und trat einen Schritt vor, so dass er schräg vor Borindarax stand. Eine Geste nur, oder meinte der Soldat tatsächlich, dass von der Geweihten eine Gefahr ausging? Der Vogt indes schien dies gar nicht wahrzunehmen und blicke Rahjania nur betont gelassen an und wartete auf eine Antwort. Überraschend oder auch nicht, jedenfalls grinste Rahjania vergnügt. “Aber nicht doch, Vogt. Das sind Eure Sitten, ich werde mich in der Sache des Söldners nicht mehr einmischen. Vielleicht könntet Ihr ihm aber von einer Wache mein Mitgefühl ausrichten.” Sie senkte kurz das Haupt zu Verabschiedung. Sie trug ihren Wollmantel, darunter konnte natürlich ein Dolch verborgen sein, dennoch belustigte sie die Vorstellung, dass sie, als zierliche Menschenfrau geschafft hatte, die Angroschim, die sich fast nie ohne Waffe und Rüstung blicken ließen, zumindest zu verunsichern. Borindarax konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als die Geweihte abzog. Natürlich war sie klug genug gewesen klein beizugeben. Ihn infrage zu stellen hätte schließlich bedeutet die Autorität des Grafen zu missachten, für den er Nilsitz verwaltete. Das wäre ein Affront gewesen, der Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Dwarosch und auch Boringarth hatten ihm vor der Spitzzüngigkeit der Rahjageweihten gewarnt und Borindarax war überzeugt davon, dass seine Taktik ihr sofort Kontra zu geben, die richtige gewesen war. Immerhin hatte er so weiteren Ärger vermieden und darüber war Borax erleichtert. Er fühlte sich zu müde und wenn er ehrlich zu sich selbst war auch immer noch zu betrunken, um sich mit einem derartig kratzbürstigem Weibsbild zu streiten. Ob sie wirklich gefährlich war und ob etwas hinter der Drohung stand, von der ihm der Oberst berichtet hatte wusste Borax nicht, aber dies spielte nun auch keine Rolle mehr. Nun galt es aufzubrechen gen Senalosch.

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Rahjania verspürte kein Verlangen, dem Vogt und den anderen zu folgen, sie freute sich darauf, mit vielen neuen Eindrücken nach Wargentrutz zurückzukehren. In ihren roten Wollmantel gehüllt atmete sie tief die frische Luft ein und genoss die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Sie war früh aufgestanden, denn es gab zwei Fäden, die noch lose waren. Bevor sich der Zug zum Kortempel sammelte, suchte sie Marboliebs Zelt auf und bat artig um eine Unterredung mit ihrer Glaubensschwester. Die Rahjageweihte wurde erst nach einigem Hin und Her mit dem Wachhabenden vorgelassen. Der Oberst selbst war nicht in seinem Zelt anwesend - seine Pflichten banden ihn bei der Sicherung des Aufbruchs der ersten adligen Gäste. Die Boroni hatte sich heute dem Frühstück ferngehalten und begnügte sich damit, das über diese Behandlung ungnädig nörgelnde Kind mit seinem neuen Geschirr vertraut zu machen. Ein entspanntes Lächeln lag auf ihren Zügen, als sie auf der Bank vor dem Feldtisch saß, die bloßen Füße untergeschlagen und die Kinderleine in den Händen. Heute morgen hatte sie ihre Robe fertig geflickt, so dass das Kleidungsstück wieder einigermaßen präsentabel war. Als ihre Schwester im Glauben eintrat, sprang sie auf und streckte ihrem Gast die Hände entgegen. “Hochwürden. Euer Besuch freut mich sehr. Was führt euch hierher?” Rahjania nahm Marboliebs Hand, sie sollte sie spüren und Nähe vermitteln. „Marbolieb, meine Gute, ich denke, wir haben bezüglich der Sache gestern noch etwas zu besprechen. Willst du in mein Zelt kommen ? Es gibt ein paar Dinge… nenn es Schwingungen, die ich mit dir besprechen will.“ Sachte strich sie der almadanischen Schönheit über’s Gesicht „Ohne Kind, ohne Männer. Von Frau zu Frau oder, sollte es nötig sein, unter Glaubensschwestern. Weißt, es könnte mir egal sein, ich bin nicht von hier. Aber so ist es. Ich kam aus Fasar nach Weiden, alleine, da ich wusste, dass man mich dort braucht. Als Rahjani hat man leider immer noch einen gewissen Ruf. Doch das ist mir gleich. Ich bestimme mein Schicksal und handle, wie ich es von Rahja spüre. Deshalb will ich auch zu dir. Du bist nicht alleine, nie. Ich bin da und bin stärker, als die meisten Lappen hier glauben.“ Sie drückte Marboliebs Hand und begann, sie mit sich zu führen. Verdattert übergab die Geweihte ihre Tochter dem wachhabenden Zwerg am Eingang des Zeltes, mit der inständigen Bitte, sie bei Dwaroschs Rückkehr diesem auszuhändigen, und folgte ihrer Schwester im Glauben. Doch ganz wohl, so erzählte ihre Körpersprache, war ihr nicht dabei. Im Zelt der Geweihte blieb sie stehen, faltete ihre Finger ineinander und gab das müßige Unterfangen, die Richtung, in der ihre Schwester im Glauben stand, herauszufinden, auf. “Ich bitte euch um Entschuldigung für das abweisende Benehmen des Oberst, Hochwürden. Es tut mir sehr leid, dass der Abend gestern so unschön verlief.” Quer durch das Lager führte Rahjania die blinde Geweihte zielsicher ohne Stolperfallen zu ihrem Zelt und platzierte sie schlichtweg und durchaus etwas dominant (jedoch mit dem nötigen Maß an Fürsorge) auf einem weichen Kissen. „So, Marbolieb.“ Sie seufze tief und resigniert. „Für Dwarosch brauchst du dich nicht entschuldigen, er ist wohl, so weit ich das nach der kurzen Zeit schon beurteilen kann, ein typischer Vertreter seiner Art. Voreingenommen, stur, und - deshalb muss ich mit dir reden - am Rande der Götterlästerung. Wenn dieser Grad nicht schon überschritten ist. In Weiden würde man ihn hinrichten, da bin ich mir sicher. Das Volk dort ist froh, wenn kein Finsterzwerg seinen zotteligen Kopf aus der Höhle streckt …. aber sag, willst du dein Kind wirklich als Geweihte der Zwölfe dorthin bringen? Das kann doch nicht sein, du hast gesehen, wie sie richten, sie scheren sich nichts um die göttlichen Geschwister— ich kann sie auch nehmen. Dich würden wir übrigens ebenso unterkriegen.“ Marbolieb senkte ihren Kopf und schlug die Augen nieder. “Ich weiß, dass seine Aussagen gegenüber einem Zwölfgöttergläubigen mitunter grenzwertig sind. Ich tue, was ich kann, ihn fort von Götterlästerung zu lenken - aber er ist so schrecklich stur, dass ich manchmal fast verzweifele.” Ihre Schultern sanken nach unten und sie schlang sich schutzsuchend die Hände um die Schultern. “Die Erzzwerge sind in ihrem Glaubensumfeld alle so - wenn sie mit den Menschen in Kontakt kommen, dann wird es schwierig.” Oder, was sie langsam befürchtete, zunehmend unmöglich. “Ich danke euch sehr für euer großzügiges Angebot für Mirla und mich, Hochwürden. Aber mein Tempel ist in Calmir - und meine Kirche erlaubt es nicht, dass ich diesem ohne Erlaubnis längere Zeit fernbleibe.” Dass sie sich diese Reise niemals würde leisten können, verschwieg sie - die Frage stellte sich schlechterdings nicht. “Ich werde im Herbst wieder in meinen Tempel zurückgehen und meinem Herrn dienen.” Einige Atemzüge lang versank sie in Schweigen, ehe sie mit unsicherer Stimme anfügte. “Denkt ihr, dass ich selbst Götterlästerung begehe, wenn ich mich mit einem Ungläubigen einlasse?” Denn nach ganz strenger Lehre waren das die Angroschim, die nicht an die Zwölfe in ihrer Gesamtheit glaubten. Doch das war keine Überlegung, die sie mit einem von ihnen hätte teilen mögen - oder können. Rahjania umarmte Marbolieb zärtlich, gab ihr Schutz und Halt. Beides verdiente und benötigte die Boroni. Noch in der Umarmung sprach sie zu ihr. "Weißt du, ich habe heute mit dem Vogt geredet, da mir der Söldner wegen dieser Angelegenheit leid tat. Ich hätte den armen Kerl gerne gesprochen, damit er weiß, dass er nicht alleine ist, immerhin wollte er dir primär helfen, und ich wollte seine Schmerzen etwas lindern. Schade übrigens, dass du dich aus der ganzen Sache so heraus hältst, ich weiß, ich bin nicht einfach, aber ich gebe nicht so leicht nach, habe einen Sinn für Gerechtigkeit und eigentlich schuldest du ihm zumindest, dass du dich blicken lässt." Sie ließ Marbolieb los, trocknete deren Tränen mit ihrem Schal und hielt aber weiterhin ihre Hände fest, der Kontakt durfte nicht abreißen. "Ihm steht noch irgendeine weitere Anhörung oder so vor den Angroschim bevor, die Gedanken sind frei, doch ich glaube nicht, dass er dort unbeschadet, körperlich wie geistig herauskommt. Vielleicht richten sie ihn sogar hin, wer weiß." Nun gab sie der blinden Frau einen Becher mit Wasser in die Hand, falls sie durstig sein sollte. Rahjania war noch lange nicht am Ende ihrer Ansprache. "Götterlästerung von dir aus würde ich nicht sagen, du handelst aus Liebe, oder zumindest hältst du es dafür. Aber benutze deinen Verstand. Objektiv. Der Vogt sagte wortwörtlich zu mir, als ich ihn nach dem Stellenwert der Zwölfgötter in seiner Heimat, wohin du Mirla bringen willst, fragte." Die Rahjani kramte in ihrem Gedächtnis und zitierte Borax: Manche verehren Travia. Manche Kor und Rondra. Die anderen ‘Geschwister’ haben bei uns keinerlei Bedeutung. Wir leben lange gut ohne sie. Ja, das hat der Vogt gesagt, so ähnlich halt. Ich meine, dass Mirla viel besser in Wargentrutz aufgehoben wäre. Ich bin dort, gute, götterfürchtige Menschen sind dort. Du bist Boroni, und die Angroschim scheren sich nicht um deinen Gott. Denk bitte einfach nach." Sie betrachtete Marbolieb in ihrer erbärmlichen Kleidung und fügte zur Sicherheit noch etwas hinzu. "Bei uns ehrt man Geweihte. Man begegnet mir mit Respekt und würde mich ohne Bezahlung auf der Reise unterbringen und mir zu essen geben. Ich weiß aber, wie schlecht es den Menschen geht, meist revanchiere ich mich mit dem Wenigen, was ich habe oder segne Tiere, Neugeborene, Sterbende... Man muss flexibel sein, dann kann man helfen." “Ihr habt in so vielem recht, Hochwürden.” Die Boroni schluckte, und ihre gesamte Miene verriet ihre tiefe Verzweiflung. “Ich war selbstsüchtig - den gestrigen Abend habe ich mit dem Oberst im Bad verbracht.” Die Wangen der jungen Frau röteten sich. “Und ich möchte euch für das Öl danken.” kam deutlich verschämter. Sie umschlang die Hände der Rahjageweihten und hielt sich an diesen fest. “Es ist nicht verzeihlich, dass ich mein Vergnügen über das Seelenheil des armen Söldners gestellt habe. Ich werde ich gleich nach unserem Gespräch aufsuchen und sehen, wie es dem Armen geht. Es war wohl wirklich ein Missverständnis von ihm - und ich habe mich nur zu sehr erschreckt. Dwarosch war so sehr in Sorge um mich, dass er das nicht hören wollte.” Sie seufzte. Und auch nicht gehört hatte. “Dass er sich mit dem Söldner prügelt, wollte ich nicht. Aber es ist wohl Gesetz unter den Zwergen, dass dieser so bestraft werden musste. Und meine Stimme besitzt dabei kein Gewicht.” Marboliebs Stimme wurde leiser. Weil sie den Zwergen als Geweihte nicht wichtig war. Und auch außer Dwarosch auch niemandem als Person. Ihr Kopf sank Richtung Boden. “Es ist wirklich das Beste, wenn ich bald nach Calmir zurückgehe, Hochwürden.” erklärte sie mit erstickter Stimme. “Ich kann nicht zu euch, auch wenn mich eure Einladung sehr erfreut.” Sie schluckte, die Worte bitter in ihrer Kehle. Ihre Augen brannten. “Ich liebe ihn so sehr, Hochwürden, ich … .” Sie schluckte und schniefte, mühsam um einen Anstandsrest von Fassung bemüht, der ihr aber immer wieder zu entgleiten drohte, auch wenn sie energisch nach ihm fischte. Deutlich sah man den inneren Kampf in Rahjania. Einerseits wollte sie ihrem Temperament und ihrer Meinung über diese Farce nachgeben, andererseits wirkte Marbolieb so zerbrochen und schwach, dass sie sich nun doch dazu entschied, ihr ein Tuch zu geben und kurz in sich zu gehen. Der Frau war in Bezug auf diesen Dwarosch nicht zu helfen, das musste man einsehen. Als sich ihr Gegenüber gefangen hatte, sprach sie weiter. "Also, um es kurz zu machen. Zu dem armen Söldling brauchst dich nicht mehr zu bemühen. Die haben mich da auch nicht vorgelassen. Den Mann hast du wohl oder übel ins Unglück gestürzt. Na, wie auch immer. Was du tust, ist deine Entscheidung." Sie schwieg, um Marbolieb Zeit zum Nachdenken zu geben. "Aber ich als Geweihte der Zwölfe würde unter keinen Umständen mein Kind in der Gesellschaft der Angroschim aufwachsen lassen. Sie geben keinen Deut auf unsere Götter und Werte und würden sie nicht ausreichend lehren. Gib sie mir, wir kümmern uns und wenn du die Rahjakirche für nicht geeignet hältst dann hätte ich auch Kontakte zu dem Kloster der Peraine in Pergelfurt oder einem Traviatempel. Oder was wäre mit deinem Baron? Seine Frau macht einen liebevollen Eindruck und die Familie ist götterfürchtig. Warum fragst du ihn nicht?" Erschrocken schüttelte die Boroni den Kopf. “Ich kann ihn doch nicht bitten, mein Kind aufzuziehen. Er ist ein Baron. Und die Kleine kennt ihn überhaupt nicht.” Sie atmete einige Male tief durch, hob den Kopf und wandte sich in Richtung ihrer Schwester im Glauben. “Ich habe den Oberst gebeten, dass er Mirla bei sich behält und so gut er es eben vermag im Sinne der Zwölfe erzieht. Sie mag ihn und er mag das Kind. Ich bin mir ganz gewiss, er wird gut für sie sorgen. Sie wird immer ein Dach über dem Kopf und ein warmes Essen haben - und hin und wieder werden sie mich vielleicht sogar besuchen.” Widerspenstig hob sie den Kopf, presste die Lippen aufeinander und klammerte sich entschlossen an den dünnen Faden Hoffnung, den ihr das Arrangement mit ihrer Tochter bot. Rahjania zuckte mit den Schultern. “Warum nicht? Er ist Geweihter des selben Gottes. aber wenn er nicht will… Wäre sie dann nicht bei uns, in einem soliden, götterfürchtigen Land besser aufgehoben, als unter dem Berg, wo ihr Schicksal ungewiss ist? Es ist deine Tochter und deine Entscheidung, du solltest aber in Mirlas Sinne handeln, nicht in deinem.” In einer kurzen Pause gab sie Marbolieb Zeit, das Gesagte zu verarbeiten. “Sie ist noch klein und wird sich schnell an andere Bezugspersonen gewöhnen. Am meisten hängen sie sowieso an der Mutter. Das Leben ist hart, sie hätte es in Wargentrutz im Tempel besser, als anderswo. Sie wäre in einer intakten Dorfgemeinschaft gleicher Rasse. Viele Kinder dort haben ein Elternteil verloren und man hätte Verständnis für sie… ach ja, wie war das mit dem Söldner? Warum sollte man dich vorlassen, wenn man mir eine `Audienz ` verwehrt hat?” “Ich danke Euch sehr für Euer Angebot, Euer Gnaden. Aber ich möchte Mirla bei jemandem lassen, der sich um ihrer selbst Willen um sie kümmert. Ich weiß, dass Ihr sie ganz gewiss auch gut umsorgen würdet - aber wie ihr sagt habt ihr dort viele Kinder.” Ihre Tochter so weit und für immer fortzugeben - Marbolieb merkte, wie ihre Gesichtszüge einfroren und ihr bei dem Gedanken kalt wurde. “Die Angroschim werden gut für sie sorgen - es gibt kaum Kinder bei ihnen, und sie hüten sie wohl.” Sie rieb sich ihre Oberarme, um die Kälte daraus zu vertreiben, die sich dort breitmachte - obwohl sie doch jetzt bereits wieder ihre Robe trug. “Ob des Söldners werde ich es einfach versuchen. Aber warum sollte es mir jemand verweigern?” Sicher, die Angroschim waren eigen - und stur. Sehr stur. Aber nicht im Grunde bösartig. Auch wenn Dwarosch ganz sicher brummen würde ob ihres Ansinnens. Die Boroni zog ihre nackten Füße unter den Körper und wartete, was ihre energische Schwester im Glauben wohl darauf zu sagen hätte. Rahjania gab Marbolieb eine ihrer Decken und half ihr, es sich auf den Kissen bequem zu machen. Dann kruschte und wühlte sie, teilweise tulamidisch fluchend, im Zelt . Zumindest hörte es sich für Marbolieb so an. Kurz zog ein wohliger, exotisch - herber Duft an ihr vorbei. „Na schön.. wenn du Mirla wirklich dort unterbringen willst, so sei es.“ Resigniert seufzte sie. „Hoffentlich sind sie fähig, ihr etwas von der Glaubenswelt und den Werten der Menschen beizubringen. Die Kleine wird auch nicht viele Spielgefährten haben.“ Zarte Hände mit weicher Haut berührten sie sachte. „So, ich will Menschen glücklich und in innerem Gleichgewicht. Hier hast du noch eine Flasche Öl und meine alten Reiseschuhe. Sie sind warm, deshalb hatte ich sie behalten, aber hübsch sind sie nicht mehr. Ich habe noch meine Stiefel… und daheim wird man mir neue geben, er freut sich, wenn ich wieder da bin.“ Rahjania fühlte wohlige Wärme in sich bei dem Gedanken. Und es war gut, nichts wegzuwerfen, das hatte sich erneut bewährt. “Oh. Aber warum?” Nach den ersten Worten der Hochgeweihten hatte sie eine weitere Maßregelung ob ihrer Lebensführung erwartet - aber gewiss keine Geschenke. Ihre Verwirrung zeichnete sich deutlich auf ihren Zügen ab, bis sie nach ein, zwei Lidschlägen ihre Miene wieder im Griff hatte. “Habt vielen Dank.” Sorgsam hielt sie die kostbaren Gaben der Rahjani fest. “Warum gebt ihr mir dies, wenn ihr doch mein Handeln so sehr missbilligt?” Ein vergnügtes Kichern war zu hören. ”Tja … man hat dir wohl erzählt, ich, oder die Art des Glaubens, wie ich ihn vertrete, wäre seltsam .. abartig, oder gar zu streng ... Nimm es, es ist, wie es ist, und wie ich es für richtig erachte. Und … ich bekomme dies eingegeben, keine Sorge. Das mit dem Kind heiße ich nicht gut, auch nicht, wie … na, egal. Aber wer leidet, soll etwas von mir bekommen.” Marbolieb schloss die Augen und atmete tief ein und aus. “Ich danke euch für eure Absicht, Hochwürden, doch ich bedarf keiner Almosen.” Sie legte Schule und Phiole zu Boden und erhob sich mit einer unsicheren Bewegung. “Ich habe mein erstes Paar Schuhe zu meiner Weihe erhalten - weder mein Herz noch mein Glaube hängen davon ab, ob ich barfuß gehe. Und wenn Ihr meine Beziehung zu dem Oberst nicht gut heißt, so gebt mir dafür keine gesegnete Gabe eures Kultes.” Sie richtete sich zur ihrer ganzen Größe auf (die jener der Tulamidin indes bei weitem nicht gleichkam) und schob ihre Hände in die weiten Ärmel ihrer Robe. “Ich möchte zurück in mein Zelt.” Wie bescheuert und verblendet war diese Geweihte denn, hing einem gottlosen Kerl an und pflegte ihre Armut. Schärfer, als beabsichtigt (ja, sie war grantig, diese Zwerge verderben einfach jeden), antwortete sie. “Ihr. Ihr nehmt gefälligst Rahjas Gaben an, das ist das Mindeste. Was fällt dir ein, ein Geschenk von mir abzulehnen? Wer glaubst du, was du bist? Was andere Menschen ertragen müssen? Wenn du es nicht nimmst, ist es gleichbedeutend einer Beleidigung mir und Rahja gegenüber. Ja, dein Mann der Wahl hat bei ihr sowieso schlechte Karten, du solltest Rahja besser gnädig stimmen, solltest du in den nächsten Jahren mit diesem Kerl noch einmal intim werden wollen. Das weißt du genau.” Marbolieb hatte es geschafft, den tulamidischen Zorn zu wecken. “Jetzt mal ehrlich. Von Frau zu Frau, von Geweihter zu Geweihter. Was bildest du dir ein, ein Geschenk von mir abzulehnen, mit einem Ungläubigen zu hausen und ihm dein Kind zu überlassen? Wer glaubst du, das ich bin? Eine kleine, unwichtige Geweihte vom Rande der Welt? Wer bist du? Sag es mir!” Sie wollte noch so viel mehr von sich geben, doch sie mäßigte sich. “Wer ich bin?” Die Stimme der Boroni war leise geworden, und besaß dennoch eine endgültige Unnachgiebigkeit. “Eine kleine, unwichtige Geweihte, die nur die Seele eines einzigen Ungläubigen gerettet hat.” Sie wandte ihre blinden, tiefdunklen Augen der Hochgeweihten der Rahja zu. “Wenn ihr Rahjas Gaben Gläubigen vorbehaltet, tut dies. Ihr müsst keine Ungläubigen überzeugen. Und wenn ihr mich zwingen wollt, Eure Gaben anzunehmen, so fragt euch, wie eure Herrin zu Zwang steht. Meinem Herrn ist es gleich, ob jemand in Lumpen oder einem edlen Gewand vor ihn tritt. Behaltet Eure Schuhe.” Sie grub ihre Hände tiefer in die Ärmel. So verzweifelt, dass sie blind durch das Zelt gestolpert wäre, auf der Suche nach dem Ausgang, war sie nicht. Noch nicht. Noch lange nicht. Rahjania wurde ruhig und nahm ihre Kleidung wieder an sich. “Wie du meinst. Ich führe dich zum Zelt. Werde glücklich mit deiner Entscheidung.” Sie nahm Marboliebs Hand und ging neben ihr her. “Egal was war, Wargentrutz wird dir offen stehen.” Mehr gab es nicht zu sagen. Vielleicht hatte Marbolieb wirklich eine Seele gerettet, aber sicher hatte sie auch am vorigen Tag eine andere Seele ins Verderben gestürzt. Wenn sie es vorzog, blind in Lumpen zu laufen, sollte sie es tun. Der Winter in Weiden war hart, und ihre Schützlinge waren sich nicht zu stolz, etwas anzunehmen. Nicht, wenn man jemanden gesehen hatte, dem die erfrorenen Zehen amputiert werden mussten. Man konnte nicht allen helfen, aber man konnte es versuchen. Die Borongeweihte nickte stumm und ließ sich von der Rahjahochgeweihten wieder zurück zu ihrem Zelt bringen. Sie würde den Oberst nochmals nachdrücklich darum bitten, mit dem gefangenen Söldling sprechen zu können - hätte sie sich nicht so sehr erschreckt und ihre Selbstbeherrschung so wenig unter Kontrolle gehabt, wäre dies alles nicht geschehen. Sie zog ihre Kapuze ins Gesicht und senkte den Kopf. Die Seele, die sie ab sofort auf dem Gewissen hatte, drückte sie schwer.

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Zeit, endlich aufzubrechen. Irgendwann und irgendwie hatte es Aureus in der Nacht doch zum Zelt zurück geschafft, natürlich nicht mehr Herr seiner Sinne. Lust, zu schimpfen hatte Rahjania nicht mehr, ebenso wenig wollte sie warten, bis der Kerl seinen Rausch ausgeschlafen hatte. “Los, Kleiner, wach auf, wir müssen los.” Nicht grob, aber auch nicht sanft, holte sie ihren Begleiter mit ein paar Schubsern ihrer Stiefelspitze aus seinen Träumen. Der Junker brauchte einen Augenblick um wach zu werden. Er wollte nicht. Ihm war kalt, der Schädel brummte und er hatte einen üblen Geschmack im Mund. Als er die Augen endlich aufschlug, durchfuhr ihn ein Schauer:”Ohhhh - mein Kopf. Was ist denn los?” “Du hattest etwas zuviel von Rahjas Gaben… “ ihr anzüglich zweideutiges Lächeln gab Aureus trotz seinem derzeitig desolaten Zustand zu denken. Kurz zumindest, dann reichte ihm seine Schutzbefohlene einen nassen Lappen. “Komm, wasch dich, dann schauen wir mal, woran du dich erinnerst. Ts, ts... junge Männer darf man nicht alleine lassen.” Der Junker griff nach dem Lappen und reinigte seinen Körper. Zerknirscht gab er dann zu:”Ich hätte gestern besonnener reagieren müssen, tut mir leid.” Er schaute Rahjania traurig an:”Ich hoffe, ich habe Dich nicht zu sehr verärgert.” Rahjania antworte mitleidig, was wohl noch mehr schmerzte.“Es passt schon, Kleiner. Vielleicht hast du was daraus gelernt” Mit ausholender Armbewegung wies sie auf das Zelt und ihre Sachen, die sie schon gepackt hatte. “mach dich fertig und hilf, damit wir aufbrechen können.” Sie ging Richtung Lager, drehte sich aber nochmal um. “Irgendwann wird dein Gedächtnis wieder kommen oder dein Körper wird sich an die Nacht seines Lebens erinnern. Man sollte mich in Erinnerung behalten, wenn man mich bekommt.” Schien es ihm so, oder zwinkerte sie ihm zu ? Offenbar hatte sie ihm vergeben. Aureus war wieder frohen Mutes. Trotz des enormen Katers, packte er schleunigst seine Sachen, riss das Zelt ein, um es zu verstauen und packte alles auf die Pferde. Dann ging er zur Hütte, um sich etwas Proviant fürs Frühstück zu holen, denn er wollte unterwegs essen. Er verabschiedete sich noch von seinen neuen Freunden, menschlicher, wie auch zwergischer, verabredete sich hier und da und sammelte Rahjania ein, die noch einige wichtige Erledigungen gemacht hatte. Auf dem Weg nach Elenvina hatte er noch einige Fragen an sie, die sie ihm gewiss beantworten konnte. Und natürlich erinnerte er sich an die Nacht mit ihr. Doch brauchte man(n) manchmal Geheimnisse, damit Frau mit sich zufrieden ist. Und umgekehrt genauso.

~*~

Der Aufbruch drang als Tumult von vielen Stimmen - menschlichen und tierischen - an Marboliebs Ohren. Auch im Lager der Eisenwalder wurden bereits Zelte abgeschlagen und Ausrüstung verladen. Marbolieb hielt hier begeistert erzählende Tochter fest, die dies alles als wundervolles Spektakel erachtete. Und dennoch. “Dwarosch?” Irgendwo in diesem Getümmel musste er sein und versuchte sich vermutlich daran, alles im Überblick zu behalten. “Hast Du einen Moment für mich?” Eine Sache hatte sie auf dem Herzen, und diese erlaubte wenig Aufschub. Tatsächlich vernahm die Geweihte Dwaroschs dunklen Bass in dem Gewirr an Stimmen schon recht bald näherkommen, er musste sie also gehört haben. Der Oberst sprach in der Zunge seiner Rasse. Soweit Marbolieb es beurteilen konnte, gab er Befehle. Sie erkannte kurze Sätze und eine Erwiderung, eine Antwort einer anderen Person blieb stets aus. Kurz darauf war der Oberst bereits heran, Marbolieb erkannte das unverkennbare Rasseln seines Toschkril-Kettenpanzers, das Reiben der Metallplatten übereinander und sie roch das Öl, mit der Dwarosch seine Rüstung so hingebungsvoll pflegte. Als Dwarosch zu reden aufhörte, stand er unmittelbar vor Marbolieb und ergriff ihre Hand. Derjenige, dem die Befehle gegolten hatten, hingegen entfernte sich nun rasch, das helle Klirren eines einfachen Kettenhemdes ließ auf Laufschritt schließen. Die blinde Geweihte, die nun bereits seit längere Zeit unter Zwergen lebte, hatte gelernt die feinen Nuancen zu unterscheiden und entsprechend zu interpretieren. “Wir sind in einer halben Kerze soweit, dass wir gen Senalosch aufbrechen können”, erklärte der Oberst im warmen, gut gelaunten Ton und Mirlas Glucksen ließ darauf schließen, dass er sie gerade geknufft oder anderweitig geneckt hatte. “Was gibt es?” “Der gefangene Söldner, Oren.” Die Geweihte schloss ihre Finger um die breite Hand des Angroscho, so weit diese reichten. “Ich möchte mit ihm sprechen.” Unwillkürlich zuckten ihre Mundwinkel, als sie den Oberst so nahe wusste, und sie umfasste ihre Tochter fester, die sich mit einem überaus begeisterten “Dado!” in eben dessen Arme werfen wollte. “Willst du das wirklich”, fragte der Oberst zweifelnd und Marbolieb erkannte Sorge in seiner Stimme, die Unbeschwertheit war dahin. Dwarosch senkte die Stimme. “Ich kann dich zu Metenax bringen lassen, er ist es, der im Auftrag Boraxs über den Gefangenen wacht und der über sein Leben entscheidet, bis er nach Senalosch überführt ist. Dies wird erst in einigen Tagen geschehen, wenn die Feierlichkeiten des Ingerimmmondes in der Stadt beendet sind. Metenax macht keinen Hehl daraus, dass er Oren tot sehen will und nur einen Anlass sucht, ihn zu richten. Er sieht die potentielle Gefahr in ihm und die ist nicht zu leugnen. Wenn du mit diesem Oren sprichst, wird Metenax dabei sein und sollte sich der Gefangene im Ton vergreifen oder auch nur eine Rache andeuten, wird er ihn sofort und eigenhändig töten. Bedenke dies. Leistet Oren aber in Senalosch einen Bluteid vor den Göttern und den Hochgeweihten Angroschs und Ingerimms, schwört jedweder Rache ab, so ist er ein freier Mann und kann seiner Wege ziehen.” “Es gab noch kein Gericht gegen den Söldner.” wandte die Boroni ein. “Und ihn ohne ein solches standrechtlich aufzuhängen, während der zuständige Graf danebensteht, steht auch einem Diener des Blutigen nicht an. Das wäre Frevel, und das weiß Metenax ebenso.” Sie holte tief Luft nach dieser langen Rede. “Es darf nicht sein, dass er ohne Beistand bleibt.” Wenn schon kein anderer dies tun wollte. “Bitte lass’ mich hinbringen. “ Dwarosch seufzte, er hatte befürchtet, dass eine solche Diskussion kommen würde. “Dies ist der Isenhag, hier herrscht Blutrecht und kein Gericht, wie du es kennen magst. Ghambir interessiert sich nicht für diesen Söldner, dass hat er Borindarax klar gemacht, wie er mir berichtete. Der Vogt als weltlicher Vertreter des Grafen hat zu entscheiden wie verfahren wird und Borax hat den Zweikampf als Strafe befohlen, ebenso wie das der Verurteilte einen Eid ablegen muss, damit er wieder auf freien Fuß kommen darf. Meiner Meinung nach ist vor allem letzteres eine weise Entscheidung. Über ersteres werde ich nicht diskutieren, du kennst meine Meinung.” “Blutgerichtsbarkeit für die Adligen bedeutet, dass diese zu Gericht sitzen dürfen - hier die Barone, nicht der Graf. Das heißt aber nicht, dass jemand ohne Gericht aufgeknüpft werden darf, Dwarosch.” Marboliebs Finger strichen über den behaarten Handrücken des Oberst. Kräftige Hände hatte er - die doch unerwartet sanft sein konnten. “Aber ich möchte keinen Gefangenen ganz ohne Zuspruch lassen.” Trotz der Tatsache, dass Dwarosch natürlich wusste, dass Marbolieb es nicht sehen konnte, zuckte er mit den massigen Schultern. Selbstverständlich hatte sie recht, zumindest was die Theorie betraf, das wusste der Oberst. Er bezweifelt jedoch stark, das rechtliche Entscheidungen im Isenhag auf diese Weise getroffen wurden. Und letztendlich war es nicht seine Sache, warum sollte er sich also auf eine Diskussion einlassen, die sowieso zu nichts führe? “Dieser Oren ist nun selbst an der Reihe über sein Schicksal zu entscheiden. Er weiß was ihm bevorsteht und worauf es ankommen wird. Man gibt ihm jetzt einige Tage, um sich darüber klar zu werden, ob er bereit ist seiner Rache sein Leben zu opfern, oder ob er die Sache auf sich beruhen lässt und den Isenhag nie wieder betritt - dann wird er leben.” Dwarosch pfiff durch die Finger und Marbolieb erschrak ein wenig, da er es ohne Vorankündigung tat. Sogleich eilte herbei, was sie erneut dem Rasseln eines Kettenhemdes entnahm. Absätze knallten, jemand nahm Haltung an. Das, “Zu Befehl, Herr Oberst”, kam stark akzentuiert. Dwarosch wandte sich abermals eindringlich und mit gesenktem Ton an Marbolieb. “Es ist immer noch dein Wunsch, mit Oren zu sprechen?” Die Boroni nickte schweigend. Sie würde sich zumindest einmal anhören, was ihr Bruder im Glauben und der Gefangene zu sagen hatten. Und damit hoffentlich auch die kleine Stimme in ihrem Inneren beruhigen, die ihr eine sehr entscheidende und keinesfalls ruhmvolle Rolle im Niedergang dieser Dinge zuschrieb und einen nicht überhörbaren tulamidischen Tonfall besaß. "Gut", befand der Oberst mehr oder doch eher minder begeistert. "Andragrimm wird dich zu Metenax führen." Auf Dwaroschs Wink hin trat der bereitstehe, bullige Soldat zur Geweihten und ergriff sanft ihren Arm, um sie zu geleiten. Unterwegs hörte Marbolieb von allen Seiten die geschäftigen Geräusche des Lagerrabbruchs. Vor allem die Zwerge schienen gut gelaunt zu sein, zumindest was den Enthusiasmus ihrer Stimmen betraf, über deren Inhalt vermochte sie ja nicht zu urteilen, auch wenn sie dann und wann etwas aufschnappte, dessen Sinn sie verstand. Der Weg durch das Lager währte jedoch ohnehin nicht lang. Plötzlich blieb Andragrimm stehen und Marbolieb vernahm zunächst ein Räuspern, dann die kratzige Stimme des Korgeweihten. "Euer Gnaden." Auch er klang alles andere als glücklich. "Ich kann mir denken, weshalb ihr mich aufsucht." Metenax seufzte. "Gestattet mir die Frage, ob Dwarosch versucht hat, es euch auszureden?" “Hätte er es Eure Ansicht nach tun sollen, euer Gnaden?” fragte die blinde Borongeweihte mit sanfter Stimme und hielt dem Korgeweihten ihre Hand entgegen. “Dwarosch sagte, ihr würdet mich zu dem Söldner begleiten?” Die Antwort war ein leises aber unverkennbares, krächzendes Lachen, dass die ganze Gnadenlosigkeit des Korpriesters zum Ausdruck brachte und Mirla Angst bereitete, denn sie wurde plötzlich ganz still und krampfte sich an ihre Mutter. "Wie ihr wünscht”, beschied Metenax und führte Marbolieb zu einem nicht weit entfernt stehenden, großen Mannschaftszelt. Eine Plane streifte ihre Schulter beim Eintreten. Drinnen schickte der Korgeweihte die beiden wachhabenden Soldaten nach draußen und ließ Marbolieb los, um sich an den Rand des Zeltes zu begeben, zwischen Borongeweihte und Gefangenem, die etwa drei, vier Schritt trennten. Dieser saß an einen Pflock gelehnt auf einem Strohlager. Seine Kleidung schien abgerissen, aber er war sauber, gewaschen. Einzig Schuhwerk fehlte. An Fußfesseln und Handgelenken waren Eisen geschlagen worden, die mit Stangen verbunden waren. Beide Fesseln waren durch eine Kette verbunden und diese am Pflock befestigt. Orens Gesicht war immer noch zum Teil geschwollen, seine Rippen, ebenso wie seine Eingeweide schmerzten, doch er war auf dem Weg der Genesung. Der Kräutersud, den er bekam, stärkte ihn. Dennoch würde es noch lange dauern, bis er sich ohne Pein würde bewegen können. “Zwei Regeln”, verkündete Metenax und sein Ton ließ keinen Raum für Widerrede. “Ihr bleibt wo ihr seid und die Entscheidungen des Vogtes werden in keinster Weise in Zweifel gezogen, andernfalls ist diese Unterredung beendet. Sprecht, der Gefangene hört euch.” Marbolieb lauschte dem anderen Geweihten schweigend und nickte lediglich zur Bestätigung. Sie nahm Mirla auf die Arme, die nur widerstrebend ihre Hände von ihrer Mutter löste, und hielt sie Metenax entgegen. “Haltet sie bitte.” Das Menschenkind runzelte unglücklich mit der Situation die Stirn. Die harsche Stimme des Zwergen hatte sie nicht vergessen. Andererseits besaß er etwas, das sie nur aus ganzem Herzen gutheißen konnte. Und so streckte sie zögerlich eine Hand aus, krauste die Nase und deklarierte mit ihrer hohen Kinderstimme entschieden “Bat!”. Doch niemand nahm ihr das Kind ab, das etwas verloren die Hände nach vorn ausstreckte, so dass Marbolieb sich notgedrungen ihre Tochter wieder unter den Arm klemmte, darauf bedacht, dass sich die kleine Dame nicht unversehens davonmachte. Die Priesterin selbst kniete sich auf den Boden, um einigermaßen in einer Höhe mit dem gefangenen Söldner zu sein. “Was wolltest Du gestern auf der Treppe tun, Oren?” Weder Anklage noch Urteil lag in ihrer Stimme, nur reine Aufmerksamkeit. Oren horchte auf. Mit schweren Blessuren, einem geschwollen Gesicht und einigen gebrochenen Rippen lag er am Boden. Seit der Bestrafung, dieser Farce von einem guten Kampf, hatte er kein Wort mehr gesprochen. Noch immer Kreisten seine Gedanken darum, was hier passiert war und warum nicht einer, nicht mal ein Geweihter, ihn anhören wollte. Durch sein rechtes Auge, das andere war zugeschwollen, beobachtete er seine Besucher. Wird das ganze nun endlich ein Ende nehmen? Er richtete sich langsam auf. Und erkannte seine Peiniger. Der sogenannte Korgeweihte, der die Worte des Herr der Schlachten nicht verstehen kann, die anklagende Geweihte, sowie ihre verzogene Göre, die das ganze Schlamassel ins Rollen gebracht hatte. Als sie ihre Frage stellte, war er überrascht. Statt eines verächtlichen Lachen, kam nur ein Röcheln über seine aufgeplatzten Lippen. “Die Frage ist falsch. Was wolltet ihr auf der Treppe tun? Ich wollte euch auffangen, als ihr so tatet, als ob ihr stürzen würdet. Ich war nicht derjenige der sich auf mich setzte und sich die Robe aufriss. Es gibt eine Zeugin.” Er machte eine kurze Pause. Seine Emotionen überwältigen ihn fast. Eine Träne lief seine Wange hinunter und ein Schluchzen entwich seinem Mund. “Aber was soll das. Ich wurde schon verurteilt. Seid ihr gekommen, um mich weiter zu verhöhnen? Ich habe keine Angst vor dem Tod mehr.” Der Korgeweihte lächelte amüsiert. Er wusste, warum er die anderen Soldaten rausgeschickt hatte. Marboliebs Ruf würde hierbei sicher stark beschädigt werden, wenn die lästerlichen Worte Orens die Runde machten. Metanax nahm all dies zum Anlasse den lange Stahlsporn aus einer ledernen Tasche am Gürtel zu nehmen und in seine Prothese zu schrauben. Ein Vorgang, der ein im Ohr leicht unangenehmes, metallisches Kratzen verursachte. “Ihr müsst keine Angst vor dem Tod haben.” Unwillkürlich hatte die Boroni die Hand in Richtung des Gefangenen ausgestreckt. Im anderen Arm hielt sie noch immer ihre Tochter mit eisernem Griff. Den mehrere Schritt entfernten Gefangenen erreichte sie damit indes nicht. “Niemand muss das. Der Rabe, den der Herr jedem von uns am Ende seiner Tage schickt, bringt kein Unheil.” Sie schwieg einen Atemzug lang. Auf der Treppe bin ich gestolpert. Ich wollte euch nicht mit hinunter reißen.” Die Borongeweihte legte ihre ausgestreckte Hand auf ihre Knie. Das mit aller Kraft um seine Freiheit kämpfende Kind verwahrte sie mit energischem Griff. Wie gut wäre es gewesen, wenn sie jemanden gehabt hätte, dem sie die Kleine für dieses Gespräch hätte anvertrauen können. So blieb ihr nur, das zappelnde Kind so gut es ging zu ignorieren. Sie senkte den Kopf und holte tief Luft. “Hätte ich mich nicht so sehr über euch erschrocken, wäre das nicht passiert. Es war meine Angst, die alles auslöste. Ich bitte euch um Entschuldigung für das Geschehene, Oren.” Sie seufzte. Doch niemand hatte auf sie gehört, geschweige denn nach ihrer Erfahrung der Dinge gefragt. Die Verbitterung des armen Söldners indes konnte sie verstehen. Dem Söldner blieb fast die Luft weg. ´Was hatte sie da gerade gesagt. Ihre Angst. Eine Entschuldigung?´ Eine innere Erleichterung machte sich breit, das auch sie es als Missverständnis ansah. Aber … Oren hatte das Gefühl in ein Loch zu fallen. Es würde nichts ändern an dem, was ihm bevorstand. Die sturen Zwerge wollten nicht zuhören. “Ich wünsche ihr wäret nicht gekommen, Marbolieb. So hätte ich wenigstens gewusst, dass Willkür über mein Leben verhängt wurde. Natürlich nehme ich eure Entschuldigung an, so wie ich mich bei euch entschuldige euch erschrocken zu haben.” Oren stockte kurz. “Aber … ich glaube kaum, dass das den Anklägern interessiert, so solltet ihr es nicht sein. Bis jetzt wollte niemand mir zu hören.” Sein Blick wanderte zu dem Angroscho. “Jemand hier, kann es kaum abwarten noch mehr Leben aus meinem Leib zu prügeln.” Leichter Spott schwang in seiner zittrigen Stimme. “Ihr solltet jetzt gehen, Marbolieb. Das hier ist nichts für kleine Kinder.” Dieser Meinung war auch Metenax, doch war es nicht an ihm dies zur Sprache zu bringen. Marbolieb wandte sich an den anderen Geweihten. “Werdet ihr ihn schlagen?” Dwarosch hatte anderes behauptet. Doch konnte das der Korgeweihte nicht wissen - und auch der Söldner schien davon alles andere als überzeugt. "Nein", entgegnete Metenax ruhig, aber ohne wirkliche Überzeugungskraft gegenüber Marbolieb in der Stimme. Er schien aufgrund der Frage weder entrüstet noch gereizt. "Die Geweihten in Senalosch werden über ihn entscheiden. Ich darf lediglich auf ihn aufpassen, euer Gnaden. Der Weiteren hat der Oberst beim Vogt erwirkt, dass meine Söldner ihn von hier überführen, wenn die Feierlichkeiten zum Ingerimmmond enden, keine seiner Männer. Er möchte nicht, dass sich einer der Soldaten verführt fühlen könnte, ihm einen vermeintlichen 'Gefallen' zu tun. Ich werde also ein paar Nilsitzer Spießbuben mit dieser Aufgabe betreuen." “Gut.” nickte die Borongeweihte. Alles weitere würde sich in Senalosch entscheiden - zu einem Zeitpunkt, an dem sie dort wäre. Weiterhin in die Richtung ihres Bruders in Kor gewandt fügte sie hinzu. “Ich will ihm meinen Segen geben.” Was bedeutete, dass sie den Söldner berühren musste. Dennoch stand in ihrer Aussage nur ruhige Überzeugung. Mirla, die überhaupt nicht überzeugt von dem festen Griff ihrer Mutter war, wibbelte unglücklich und hätte sich gar zu gerne befreit, fand hierzu aber, zu ihrem großen Leidwesen, keine Möglichkeit. Metenax seufzte. "Das hatte ich befürchtet." In der Tat, das hatte er. Trotz dieser Äußerung trat der Korgeweihte ohne zu Zögern wieder näher an Marbolieb heran. Er packte sie etwas unsanft am Arm und führte sie langsam in Richtung des Gefangenen. Schon nach nur wenigen, kleinen Schritten wies Metenax die Geweihte an einen Moment auszuharren. Er selbst trat um Oren herum und zwang ihn durch kräftigen Zug an den Ketten aus seiner sitzenden Position auf die Knie. Als Oren diese für ihn etwas unbequeme Haltung eingenommen hatte, richtete Metenax den Dorn, die Verlängerung seines Metallarms auf das Genick des Gefangenen. "Wenn ihr nun einen Schritt nach vorne macht und die Arme ausstreckt, werdet ihr den Kopf des Gefangenen erreichen können. Er befindet sich auf seinen Knien." Marbolieb nickte, ließ sich auf die Knie nieder und legte ihre freie Hand locker auf ihren Schenkel, während sie mit der Linken energisch nach ihrer Tochter griff, die mit einem zutiefst entschlossenen Gesichtsausdruck erneut versuchte, ihre Freiheit zu erlangen. “Wünscht ihr meinen Segen, Oren?” fragte sie mit sanfter Stimme. Resigniert schaute er die Geweihte an. ´Dann steht es also fest. Trotz Klärung der Missverständnisse werde ich gerichtet werden.´ “Ich nehme euren Segen, auch wenn das wohl bedeutet, dass ich trotzdem alle bei den Zwergen streben werde” Oren senkte seine Kopf und wartet den Segen der Geweihten. Doch langsam aber sicher fühle er einen wütenden Keim auf die Ungerechtigkeit der Zwerge aufflammen. Sanft legte ihm die Priesterin eine Hand auf das Haupt, stutzte dann aber. “Warum sollt ihr bei den Zwergen sterben?” Sie lauschte einige Atemzüge lang in die Dunkelheit, wachsam, ob Metenax etwas dazu sagen wollte. Doch dem war anscheinend nicht so. Für den Korgeweihten war offenbar alles gesagt, er schwieg. Marboliebs schlanke Hand war warm auf dem Haar des gefangenen Söldners. “Der Oberst erzählte mir, dass Ihr in Senalosch die Gelegenheit erhalten würdet, dem Vogt die Urfehde zu schwören. Wenn Ihr dies unterfingt, wärt Ihr frei. Und ich erwarte nicht, dass es irgend jemandes Plan ist, Euch bis dahin noch körperlich zu misshandeln.” Ein leichter, nichtsdestotrotz deutlicher Unterton wies in die Richtung ihres Bruders in Kor, der dies, hörbar auch für Oren, doch bereits bestätigt hatte. “Eure Worte in der Zwölfe Ohren.” Er senkte den Kopf und ließ die Berührung zu. Auch wenn er Zweifel an den Versprechen der Zwerge, vor allem dem Korgeweihten, hatte, so konnte er Frieden mit der Geweihten und Boron schließen. “Ich werde euch in Senalosch besuchen, Oren. Alles wird sich weisen.” Sie schwieg einen Atemzug lang, und noch einen. “Herr, sieh, diese Seele ist verletzt und dieser Leib geschlagen. Ich bitte Dich, heile seinen Leib und schenke seinem Geist Frieden.” Sie schloss die Augen, als tiefe Ruhe ihren Geist ausfüllte, ein vollständiges Schweigen, das keiner Worte bedurfte und seinen Widerhall fand in der Wärme ihrer Hand, so dass es sich bis auf den geschundenen Körper des Gefangenen ausbreitete. Die Dunkelheit, wie eine vorübergehende Wolke, die für einen kurzen Augenblick nur das Licht im Zelt erlöschen lies, sah sie indes nicht.

~*~

Ein letztes Mal blickte sie zurück auf das imposante Jagdhaus, bevor sie schließlich die Kutsche betreten wollte. Das Jagdhaus, das so viel mehr war als nur das. Ihr Blick glitt langsam über die Mauern und das Holz. Über die Wiesen mit all den Zelten, die nun abgebaut wurden. Erinnerungen stiegen in ihr auf. Erinnerungen, die sie mitnehmen würde. Manche davon gut. Andere weniger. Um den kleinen Tross der Rodaschquellerin herum war Leben. Viele Gäste machten sich bereit zum Aufbruch, verabschiedeten sich voneinander und erneuerten zugleich ihre Versprechen, einander schon bald wiederzusehen. Lianas schweigsamer Kutscher sah nach den Pferden. Der leicht untersetzte Mittfünfziger rückte sich seine Mütze zurecht und kontrollierte die Hufe, während die Zofe Eduina zwei Knechte des gastgebenden Vogts zu Nilsitz dirigierte, das Gepäck richtig zu verstauen. „NEIN! Das nicht nach unten, das muss nach oben!“, rief sie entsetzt, als die beiden die Hülle, in der sich ihre kostbare Hakenharfe verbarg, gleich als erstes auf die Kutsche legen wollten. Die schweren Koffer obenauf würden das Instrument ohne Zweifel zertrümmern. Liana sah den Vogt dieses Landes gutgelaunt im Gespräch mit einigen anderen Gästen und dachte an die feierliche Stimmung, als die Angroschim gemeinsam eine Art Hymne angestimmt hatten. Die Melodie lag ihr noch immer in den Ohren. All diese tiefen Bässe, die Pauke, die dazu geschlagen wurde. Der Rhythmus, die Ergriffenheit, die dann auch sie erfasst hatte … All das hatte sie zutiefst bewegt. Sie schloss ihre Augen und hob ihren Kopf – so, als würde sie diesen Augenblick erneut erleben, die Musik erneut hören. Dass die Boroborinoi grundsätzlich unmusikalisch wären, hatte sie nie geglaubt. Doch wer hätte gedacht, dass eine kleine Wette zwischen ihr und seiner Gnaden Rondradin eine solch denkwürdige Darbietung zur Folge haben konnte? Jene Wette, in der die aufgeschlossene und freundliche Baronin von Ambelmund sich als eine treue Verbündete erwiesen hatte, dachte Liana vergnügt. Ob Wunnemine sie schon bald auf der Rodaschblick besuchen würde? Liana hoffte es, sah sie doch so viel von Wunnemines Vater in ihr. Ihre Gedanken schweiften weiter zu dem Geweihten der Leuin. Rondradin, der sich in seinem jugendlichen Eifer zu einem sicher nicht ganz ungefährlichen Spiel mit Eduina hatte treiben lassen ... Sie sah zu ihrer Zofe hinüber, die noch immer sehr genau beobachtete, was die beiden Knechte da mit dem Gepäck trieben. Ein Hauch von Sorge und Vorsicht mischte sich in die wie immer schnelle Rede der blonden Dame. „Und … und dann noch eine weitere Plane darüber, damit nichts nass werden kann … und… und verschnürt das ganze recht ordentlich, ja?“ Die beiden Knechte warfen sich kurz einen verstohlenen, wissenden und dabei nachsichtig-amüsierten Blick zu. Sie wussten, was sie taten. Dies war nicht die erste Edeldame, deren Gepäck sie verstauten. Einige Söldlinge bauten in der Nähe der Kutsche ihre Zelt ab, und dunkle Wolken zogen in Lianas Gedanken auf. Nur am Rande hatte sie von der unglückseligen Geschichte über einen Söldner und eine junge Boroni erfahren, und von dem harten Gericht, das daraufhin folgte. Sie hatte sich bewusst davon fern gehalten und sich nicht eingemischt. Ganz gleich, was geschehen war: Dies war eine Angelegenheit des Gastgebers. Die Angroschim konnten sehr hart und unerbittlich sein. Aber galt das nicht auch für viele Angehörige meines eigenen Volkes, dachte sie. Ihr kamen Geschichten von Menschen in den Sinn, die sich in den Salamandersteinen verirrt hatten, ohne jegliche Hoffnung auf Hilfe durch die dort lebenden Elfen. Sie selbst stammte aus Donnerbach, was zwar recht nah an jenen magischen Wäldern lag. Doch hatte ihre eigene Sippe, die Sippe Morgentauglanz, schon vor vielen, vielen Jahren mit den Télori, den Menschen, zu leben gelernt. War es gerecht gewesen, was jenem Söldling widerfahren war? Liana wusste es nicht. Sie wusste ja nicht einmal, was vorgefallen war. Man hatte ihr erzählt, dass es Oberst Dwarosch gewesen sei, der den Söldling bestraft und dabei fast erschlagen habe. Bekümmert, und mit einem Anflug von Enttäuschung senkte sie kurz ihren Blick. Dwarosch war ihr bislang immer so freundlich und gutmütig erschienen. Wann immer er mit ihr sprach, war er geradezu sanft. Er hatte ihr charmantere Komplimente gemacht als so manch junger Barde, als er vor einigen Monden auf der Rodaschblick zu Gast gewesen war – und das sogar in ihrer Sprache, dem Isdira. Sie hatte diesen altgedienten, pflichtbewussten und doch gewitzten, klugen und charmanten Angroscho auf Anhieb gemocht. Und doch hatte sie zu jener Zeit auch den Bären gesehen, der sich im tiefsten Inneren des Oberst verbarg, sein Seelentier, sein Iama. Und sie hatte den Zorn gesehen, zu dem dieser Bär imstande war, wenn man ihn reizte … . Nahe dem Waldrand lenkten einige Schmetterlinge sie ab und brachten sie auf andere Gedanken. Sie schwirrten zwischen den Blüten umher - ein eigentümlicher Tanz. Tanz ... die junge Halbelfe Doratrava kam ihr in den Sinn. Nein, sie war vermutlich nicht wirklich elfischen Blutes, nach allem, was Liana sich zusammenreimen konnte und was sie mit ihrem inneren Auge gesehen hatte. Sie hatte sich noch nicht wirklich von der jungen Akrobatin verabschieden können. Doch vielleicht war jener dies ohnehin gar nicht recht? Zweimal hatte sie sich sehr abrupt von Liana abgewandt, war regelrecht vor ihr geflohen. Allein der Gedanke an diesen Wirbelsturm von Empfindungen, den Liana bei ihr hatte spüren können und der auch sie selbst erfasst hatte, ließ sie den Atem anhalten. Der Tanz... sie beide hatten sich ihm voll und ganz hingegeben, waren darin aufgegangen, hatten alles andere um sich herum vergessen. Sie waren miteinander verbunden gewesen auf eine Weise, wie es nur wenigen vergönnt ist. Und vielleicht war all das zu viel auf einmal gewesen. Sie wollte die junge Tänzerin nicht verwirren oder ihr gar Unbehagen bereiten. Mögest du deinen Weg finden, ich wünsche es dir. Irgendwo weiter hinten zeterte wild gestikulierend Meister Korninger, der Vogt von Rodaschquell und riss die Baronin aus ihren melancholischen Gedanken. „Du taubstumme Krötenzehe! Ich hatte es dir doch eindringlich aufgetragen! Was soll ich nun die ganze Fahrt über tun, hm? Den Vögeln beim Zwitschern zuhören vielleicht? Oder Bäume zählen?“ Sein schlaksiger Diener hatte offenbar vergessen, ihm das Lesebüchlein für die Fahrt zur Seite zu legen und es stattdessen tief in der Reisekiste verstaut. Ein Traktat, in dem die jüngsten Änderungen im Handelsrecht diskutiert wurden - für Korninger eine höchst ergötzliche Lektüre. Schon bald würde der Vogt dem Tölpel auftragen, zur Baronin zu laufen, um sie um etwas Aufschub zu bitten, damit man das kostbare Büchlein herauskramen möge, ehe der Tross aufbrechen sollte. Entweder sie würde nachgeben und der Vogt hätte seinen Frieden, oder Korningers Laune wäre zumindest bis zur nächsten größeren Pause unerträglich. Liana lächelte in sich hinein. Es gab Dinge, die blieben unverändert. Komme, was da wolle.

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Wehmütig blickte Borindarax noch einmal über die Schulter zurück zur großen Lichtung im Wald. auf der die Jagdhütte stand. Schöne, ereignisreiche, gleichzeitig aber auch aufregende Tage waren es gewesen und selbst wenn sie auch ihre dunkleren Schattenseiten aufgewiesen hatten, so war die erste, große Jagd von Nilsitz ein voller Erfolg gewesen, auf den er sicher immer mit Stolz zurückblicken würde. Bande waren geknüpft worden, Freundschaften geschlossen, Kontakte hergestellt. Gerne wäre Borax noch ein paar Tage länger geblieben und hätte die nun einsetzende Ruhe an jenem Ort inmitten des schier nie enden wollenden Meers der Bäume genossen, doch war ihm dies nicht vergönnt. Weitere Festlichkeiten standen an und machten es notwendig unverzüglich nach Senalosch heimzukehren. Das Isenhager Donnergrollen begann schon in Kürze und mit ihm der Veteranentag im neuen Kortempel der Stadt, den er mitinitiiert hatte, da konnte der Vogt nicht fern bleiben. Senalosch, die letzte Festung würde sicher immer noch aus allen Nähten platzen, wie es stets war im Ingerimmmond, wenn aus ganz Isnatosch Angroschim in die Hauptstadt kamen, um die höchsten Feiertage des Allvaters im Kreise ihrer Familien, ihrer Sippen zu verbringen. Am Kopf eines langen Zuges, auf einem Eisensteiner Pony sitzend, ging es also grob Richtung Praios, den in der aufgehenden Sonne leicht rötlich schimmernden Eisenbergen entgegen. Hinter den wenigen Vierbeinern an der Spitze, auf denen auch Dwarosch, Mirlaxa und Marbolieb saßen, marschierten die Soldaten Ingerimms Hammer mit einem fröhlichen Marschlied auf den Lippen, welches Metenax Einhand, der sich unter sie gemischt hatte, gut gelaunt angestimmt hatte. Am Ende der Kolonne ritten oder gingen dann jene Jagdteilnehmer, welche sich hatten überzeugen lassen auch während des Donnergrollens Gäste des Vogts zu sein.

~~ Ende ~~