Maskenball Magie

Kapitel 12: Magie

Unter Handgeklapper zog sich Thymon vom Mittelpunkt der Feierlichkeiten zurück zum Rest der Feiernden. Die ´Bühne´ gehörte nun Meister Aelfwin und seinen beiden Feenküsschen. Rahjalind rollte mit den Augen, als die Gruppe ihr Stück zu spielen begann. Dabei war es eine wunderschöne Darbietung. Eine sanfte Melodie, die die Gäste nicht nur hören, sondern auch – so schien es zumindest – mit jeder Faser ihres Körpers spüren konnten. Besonders beeindruckend war dabei auch die vom Barden beherrschte elfische Kunst des zweistimmigen Gesangs, die für eben jene Zauberlieder der Spitzohren erforderlich war.

Wiewohl fast niemand der Anwesenden die elfische Zunge beherrschte und demnach den Text dieses ´Liedes der Freundschaft´ nicht verstehen konnte, hatte es eine kaum zu übersehende Wirkung auf fast alle Umstehenden. Gebannt lagen die Augenpaare der Gäste auf den drei Künstlern, und nicht wenige begannen jetzt schon, Blicke und Berührungen mit anderen Teilnehmern auszutauschen.

Wie es mit Fortdauer der Darbietung offensichtlich wurde, sollte das Lied nicht auf alle Feiernden dieselbe Wirkung haben. Rahjalind gefiel der Gesang, doch schafften es die dargebrachten Zeilen nicht, die Gefühle der jungen Novizin in Wallung zu bringen. Doch auch an ihr sollten die Auswirkungen des Liedes der Freundschaft nicht vorüber gehen. Von hinten näherte sich ein sichtlich angetrunkener, junger Mann und legte seine Arme um ihre Taille. Eine Berührung, die gepaart mit dem Geruch nach Wein aus dem Mund des Mannes, ein Gefühl des Ekels in der jungen Adeligen hervorrief. Sogleich streifte sie die Hände des Jünglings ab, doch sollte dieser ihr offensichtliches ´Nein´ nicht akzeptieren wollen. Abermals legte er seine Arme um ihren Körper – dieses Mal mit etwas mehr Spannung, sodass Rahjalind ihn nicht so einfach wieder los werden konnte.

Doratrava war vorbereitet, so gut man es eben sein konnte. Sie hatte gewusst, was auf sie zukam, und ihren Geist gewappnet, soweit es ihr möglich gewesen war. Da dies allerdings erst das zweite magische Lied war, dem sie sich ausgesetzt sah, und dazu ein elfisches, mit welchem sie gar keine Erfahrung hatte, erwies sich der Widerstand als deutlich schwieriger, als sie es sich eingestehen wollte. Die Klänge des Liedes, die Silben des Gesangs brandeten über sie hinweg, doch wie bei Musik, zu der sie tanzen wollte und sie daher bewusst in ihren Geist ließ, fanden die elfischen Harmonien den Weg in ihr Inneres, gegen ihren Willen und trotz aller Gegenwehr. Hatte sie nicht mal gehört, das sei nicht der elfische Weg? Was passierte hier mit ihr? Bald schon war sie nicht mehr in der Lage, klar zu denken, sondern musste sich des Sturms der Gefühle erwehren, welcher aus ihrem tiefsten Inneren heraufdrang und dabei alles aus den Tiefen mitriss, das sie seit Monaten dort sorgfältig verschlossen hatte. Plötzlich begannen die Tränen zu fließen, der Verlust schnürte ihr die Kehle zu und das Verlangen, den Verlust zu ersetzen, diese schreckliche Leere zu füllen, nahm schier überhand.

Da wurde die Gauklerin gewahr, wie dieser Kerl ihre Freundin bedrängte, die dies trotz der Wirkung dieses … ‚Freundschaftsliedes‘ offensichtlich nicht mit Freundschaft und schon gar nicht mit Freuden über sich ergehen ließ. Der Weindunst schlug der Gauklerin ins Gesicht, die ja stocksteif direkt neben der Novizin stand, was den Kerl überhaupt nicht beeindruckte, der Ekel im Gesicht ihrer Freundin war wie ein Schlag ins eigene Gesicht. Ihre Sinne klärten sich endlich wieder ein wenig, als der Jüngling Rahjalind gerade ein zweites Mal betatschte. War es das, wovor ihre Freundin gebeten hatte, sie zu beschützen? Glühender Zorn loderte in Doratrava hoch, durch Aelfwins Lied ungebremst von allen Schranken, die Gewohnheit, Übung, Zwang und Erwartungen einem sonst auferlegten. Ihr erster Impuls war, den offensichtlich jetzt schon Betrunkenen von ihrer Freundin wegzureißen, doch ein dünnes, verbliebenes Rinnsal ihres Verstandes sagte ihr, dass das die Gäste und vor allem die Gastgeber nicht gut aufnehmen würden. Also folgte sie ohne weitere Gegenwehr ihrem zweiten Impuls: in einer blitzschnellen Bewegung schwang sie zu Rahjalind herum, warf ihre Arme um deren Hals und drückte ihr einen heißen Kuss auf die Lippen, um dann, nach viel zu kurzer Zeit, den Jüngling anzuzischen: „Hände weg! Sie gehört mir!“ Schwarz wie die Nacht waren ihre Augen hinter der Maske, und doch versprühten sie gleißendes Feuer.

Rahjalind wirkte überrascht vom Impuls ihrer Freundin. Mit weit aufgerissenen Augen und etwas steifer Haltung ließ sie sich den Kuss Doratravas schenken. Überraschung, die jedoch schnell von ihr abfiel und es demnach nicht lange dauern sollte, bis sie in das ´Spiel´ miteinstimmte. Sofern es denn überhaupt ein Spiel war. Die junge Novizin wurde und hatte schon oft geküsst, doch selten verlor sie dabei so die Fassung wie beim gegenwärtigen Mal. Vielleicht war es aber auch nur der Überraschung oder der Wirkung des Liedes geschuldet gewesen – sie wusste es nicht.

Dennoch gab sie nun auch ihren Impulsen nach, ohne darüber nachzudenken. Den Jüngling bedachte sie mit einem frechen Blick; die junge Adelige legte, gleich einer Spottdrossel, die zu ihrem meckernden Gesang anhob, den Kopf schief und schürzte dabei spöttisch die Lippen. Dann strich sie Doratrava, die immer noch direkt vor ihr stand, eine Strähne ihrer weißen Haare zurück, fasste ihr in den Nacken, zog sie zu sich und küsste sie leidenschaftlich und unter Einsatz ihrer Zunge.

Überrascht und erfreut und erschreckt und sehnsuchtsvoll erwiderte Doratrava den Kuss, der nun nicht mehr von ihr, sondern von ihrer Freundin ausging, ließ beide Zungen sich erkundend umspielen und vergaß für einen Moment den unverschämten Jüngling. Alle unterdrückten Gefühle der letzten Monate gingen mit ihr durch, und sie drohte sich im Taumel zunehmender Ekstase zu verlieren. ‚Das ist nur das Lied‘ , flüsterte eine kleine, kaum vernehmbare Stimme in einem verlorenen Winkel ihres Kopfes. ‚Du wirst es bereuen, bereuen wie beim letzten Mal …‘

Die perfekte Inszenierung eines Liebesspieles – sofern es denn überhaupt inszeniert war. Diese Frage beantwortete sich nicht einmal für Rahjalind, deren Gedanken und Gefühle sich nun wild im Kreis drehten. Auch der junge Mann ließ sich von dem Schauspiel nicht abschrecken – im Gegenteil, er empfand es wohl eher als Einladung und hatte nun beide Frauen als Ziel auserkoren.

Die Stimme in Doratravas Kopf vermochte den Sturm in ihrem Inneren kaum zu besänftigen, doch wurde sie wieder klar genug, um zu bemerken, dass der Jüngling sich keinesfalls getrollt hatte, sondern im Gegenteil nun nicht nur Rahjalind, sondern auch sie selbst mit seinen Armen zu umfassen suchte. Sofort verlagerte sich der Ärger über diese kleine, lästige Stimme wieder auf den offensichtlichen Feind. Ihr erster Impuls, sich auf Rahjalind zu stürzen, war deren Wunsch nach Schutz geschuldet, redete die Gauklerin sich zumindest ein, doch nun schwang neben der Wut auf die Unverfrorenheit des Kerls plötzlich auch etwas anderes mit: reine, heiße Eifersucht! Nicht, dass sie das in ihrem Zustand selbst so klar analysieren konnte …

Doratravas in schwarzem Feuer brennenden Augen richteten sich wieder auf den weinseligen Jüngling. Ohne weiter nachzudenken griff sie ihm in den Schritt und drückte, und zwar nicht sanft. Plötzlich zeichneten sich Überraschung, dann Erschrecken, dann Schmerz in den Zügen des jungen Mannes ab, der endlich seine gierigen Finger von den Frauen ließ, weil er nun andere Probleme hatte. Doratrava nutzte den Moment der Freiheit, fasste Rahjalind nun wieder mit beiden Armen in festem Griff, ohne indes ihren Mund oder ihre Zunge freizugeben, und begann, sie aufgrund der engen Umschlingung mit kleinen, trippelnden Tanzschritten zur Musik der Barden in Richtung der ‚Bühne‘ zu drehen. Hoffentlich hatte der Kerl jetzt genug! Dann verschwendete sie keinen weiteren Gedanken mehr an den Jüngling oder ihre Umgebung, sondern verlor sich wieder in der Ekstase des Kusses, traumwandlerisch schaffte sie es dabei, allen Hindernissen aus dem Weg zu tanzen. Mittlerweile war es ihr völlig egal, ob ihre Gefühle von dem magischen Lied ausgelöst wurden oder nicht, sie gab sich ihnen einfach hin, schwelgte in ihnen, ließ sie durch ihren ganzen Körper und ihr Herz strömen und hoffte, dass es Rahjalind genauso ging.

Rahjalind lachte ihrerseits amüsiert auf als sie bemerkte, was Doratrava dem Jüngling antat. Dann ließ sich mitreißen. Ihr Herz schlug wild und ihre Wangen waren vor Auf- und Erregung gerötet, als sie sich gemeinsam mit ihrer Freundin weg vom nach Wein stinkenden Lüstling und hin zur Bühne drehte. Die Novizin war eine gute Tänzerin und eine sehr leidenschaftliche junge Frau, die jedoch stets etwas Zeit benötigte, um sich zu öffnen und ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Einmal geöffnet, und das konnte nun vor allem die Gauklerin am eigenen Leib spüren, brach es aus ihr heraus – unaufhaltsam, unaufhörlich und fordernd, wie die hohe See, wenn Rondra und Efferd darauf ihre Hochzeit hielten. Weg war das schüchterne Mädchen, die neben ihrer Mutter beim ersten Zusammentreffen mit Doratrava keinen Mucks machte. Weg war das liebe Mädchen mit der Begeisterung für ihre schönen Kleider, das sich im Zimmer der Gauklerin verspielt im Kreis drehte um ihr die fliegenden Röcke zu präsentieren. Nun war sie ganz jene aufregende Frau und gute Liebhaberin, die man von einer Dienerin der Schönen Göttin auch erwarten konnte.

Es waren Momente, in welchen sie einen ganzen Schwall an schönen Gefühlen erlebte, und als das Lied zu Ende war und sie sich voneinander lösten, konnte Rahjalind erstmals das Ausmaß dessen sehen, was ihr Impuls angerichtet hatte. Doratravas Lippen, Wangen und ihr Hals waren bedeckt vom Lippenrot, das die Novizin sich aufgelegt hatte. Die fließenden weißen Haare waren zerrauft und eine ihrer Schultern war entblößt und ebenfalls mit Lippenrot bedeckt. Die Adelige lächelte verlegen. Ihre Wangen glühten immer noch und ihr junger Körper schrie nach mehr. Dennoch war sie nun aber auch wieder so sehr Herrin ihrer Sinne, um zu erkennen, dass es hier vor den Augen aller – und ihrer Eltern (!) - und nach Beendigung des Liedes vielleicht nicht die beste Idee war.

„Es tut mir leid…“, meinte sie nur knapp, zückte ein Taschentuch und begann damit Doratrava zärtlich ihr Lippenrot aus dem Gesicht zu wischen.

*

Doratrava war noch immer ganz gefangen im Rausch der Gefühle. Intuitiv hatte sie ihre Freundin mit sanftem Druck gelenkt, bis diese sich nach kurzer Zeit wie von selbst in den Tanz eingefunden und sie in einer harmonischen Gemeinschaft aufgegangen waren. Wer die Muße gehabt hatte, den beiden zuzusehen, dem war nicht nur die sprühende Leidenschaft der beiden ins Gesicht gesprungen. Nein, trotz allem Taumel der Erregung waren die beiden künstlerisch so gut, dass allen Zuschauern mit einem Sinn dafür etwas geboten wurde, das weit über die primitive Befriedigung urtümlicher Gelüste hinausging. Vor allem der Widerstreit zwischen Doratravas intuitiver Tanzkunst und Rahjalinds eher formalem Ansatz übte einen besonderen Reiz aus, wenn das Gesamtkunstwerk immer wieder in die eine oder andere Richtung geschwungen war.

Als die Barden nach dem Stück eine kurze Pause machten und Rahjalind sich von ihr löste, fühlte Doratrava sich so, als würde man ihr etwas Teures entreißen, als würden sie beide kurz vor einem Höhepunkt stehen, den man ihnen nun verwehrte. Die Wellen ihrer Leidenschaft tobten in ihrem Körper, doch war ihnen plötzlich das Ventil genommen. Mühsam kämpfte sich Doratravas Verstand an die Oberfläche, während Rahjalind begann, sie zu säubern. „Was … tut dir leid? Warum? Was … was machst du da?“ stammelte die Gauklerin verwirrt, denn sie konnte sich ja nicht selbst sehen.

Rahjalind lächelte ihr sanft zu und ließ sich durch die Nachfrage ihrer Freundin nicht beirren. „Ich stelle sicher, dass du bei deinem Auftritt wieder gut aussiehst.“ Mit beinahe mütterlicher Sorgfalt säuberte sie das Gesicht der Gauklerin, dann Schulter und Schlüsselbein und ließ am Ende ihre schlanken Finger durch die weißen Haare gleiten um ihr auch die Frisur zu richten. „So…“, bemerkte die Novizin einige Momente später und war mit ihrem Werk sichtlich zufrieden, „…jetzt kannst du für die Menschen hier tanzen ohne, dass du von meinem Lippenrot verunstaltet bist.“

Nun, da sie so langsam wieder zu klareren Gedanken fähig war, kam Doratrava erst so richtig zu Bewusstsein, was sie beide da gerade getan hatten, vor allen Leuten, vor dem frechen Aelfwin und seinen Feenküsschen und womöglich, ja wahrscheinlich vor den Augen von Rahjalinds Eltern. Plötzlich lief es Doratrava heiß und kalt den Rücken hinunter, wenn sie an die möglichen Reaktionen vor allem Addas dachte. Unwillkürlich wollte sie sich suchend nach der Gastgeberin umsehen. Doch mit sichtlicher Kraftanstrengung unterdrückte sie diesen Impuls. Stattdessen riss sie geradezu Rahjalind ein weiteres Mal in ihre Arme und küsste sie erneut heiß und leidenschaftlich, in der wilden Hoffnung, dies würde ihrer Freundin nicht erneut leid tun. Dann löste sie sich vom erhitzten Körper der Novizin und raunte ihr ins Ohr: „Wir müssen reden, später. Wenn ich dich jetzt nicht gehen lasse, kann ich für nichts mehr garantieren. Und ich soll doch noch etwas vorführen!“ Mit allergrößtem Widerwillen trat die Gauklerin einen Schritt zurück und ließ Rahjalind ihr Werk vollenden, während sie versuchte, sich trotz der ständigen sanften Berührungen ihrer Freundin, deren jede weitere wohlige Schauer durch ihren Körper jagte, zu sammeln. Sie wusste genau, dass sie sich (Sie sich? Rahjalind sie? Die Elfenmusik? Alles zusammen?) gerade eben mal wieder in einen emotionalen Ausnahmezustand versetzt hatte, welcher alle Voraussetzungen für einen monströsen ‚Kater‘ bot, doch das war ihr jetzt gerade egal. Sie würde jetzt gleich ihren Überschwang, ihre Zerrissenheit und Sehnsucht in Tanz und Akrobatik ausleben, aber nur, um sich all ihre Gefühle für später aufzubewahren, wenn sie mit Rahjalind allein war. Und dann würde man sehen.

Die junge Novizin strich Doratrava zärtlich ein paar weiße Strähnen hinter ihr Ohr. In ihren großen grünen Augen lag ein ganz besonderer Glanz und die Wangen der Adeligen glühten immer noch vor Verlangen, dennoch hielt sie sich nun soweit im Zaum. „Gut …“, flüsterte sie in das angespitzte Ohr der Gauklerin, „… ich werde nach dem Fest auf deinem Zimmer warten … dort können wir … reden …“ Sie hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich dann mit einem frechen Lächeln. „Und jetzt zeig ihnen was du kannst.“